Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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Vor dem Begräbnis.

Herr Poivret stieg vor dem Laden seines Schwiegersohnes Pierre Gasselin von seinem Kutschierwagen, band das Pferd an einen schweren Eisenring, der in den Rand des Trottoirs eingelassen war, und nachdem er dreimal die Festigkeit des Knotens im Leitseil geprüft hatte, trat er, mit der Peitsche knallend, in den Fleischerladen.

»Heda! Niemand hier?« rief er.

Der Hund, der quer über die Schwelle hingestreckt schlief, erhob sich knurrend und suchte sich einen anderen Platz. Im Laden war kein Mensch; die Fleischbank stand beinahe leer, denn es war gerade ein Donnerstag. Auf dem Hackstock lag, schon schwarz und von summenden Fliegen bedeckt, ein Viertel von einem Ochsen; von der Decke hing an einem beweglichen Haken ein aufgeschnittenes Kalbsherz herunter. Ein Kupferkessel im Winkel war mit blutigen Knochen und gelblichen Fettklumpen angefüllt, die schon in Fäulnis übergingen. Und dem allen entströmte jener ekelhafte Leichengeruch, der einem in Spitälern und Beinhäusern den Athem benimmt.

»Niemand da?« wiederholte Herr Poivret. »He, Gasselin, wo steckst du?«

Gasselin kam aus dem Café Gadaud, das auf der anderen Seite der Straße, der Fleischerei gerade gegenüber, lag. Er wischte sich den Mund, zündete seine erloschene Pfeife wieder an und lief herbei.

»Da bin ich, da bin ich,« schrie er.

Sein Gesicht war ganz rosig, voll und frisch. Er ging bloßköpfig und hatte die Hemdärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Seine weißleinene, mit Blutflecken gesprenkelte Schürze bedeckte ihn vollständig, von dem blauen Tuch, das er lose um den Hals geschlungen hatte, bis zu den Holzschuhen, in denen seine nackten Füße staken. Sein Schlächtermesser tanzte an einer Stahlkette an seinem linken Schenkel. Er ging seinem Schwiegervater entgegen und reichte ihm die Hand.

»Wie geht's, Alles wohl auf?«

»Es geht, mein Junge, es geht so ziemlich.«

»Soll ich dein Pferd füttern?«

»Aber nein, es hat in der Früh gefressen und getrunken. Ich komme vom Markt in Chassants.«

»War's ein guter Markt?«

Poivret wiegte den Kopf und antwortete ruhig: »Na ja, nicht zu gut und nicht zu schlecht, die Preise halten sich noch.«

Dann setzte er mit verändertem Ton hinzu: »Also, wie ist denn das? Als ich nach la Monsonnière kam, hat mir der kleine Bub, der August, von dem Unglück erzählt ...«

»Jawohl, jawohl!«

»Da hab' ich also gar nicht ausgespannt, ich habe meinem Pferd nur schnell vier Liter Hafer gegeben und dann bin ich hierher.«

Pierre Gasselin fragte:

»Willst du vielleicht eine Erfrischung nehmen?«

»Meiner Treu, da geb' ich dir keinen Korb, meine Kehle ist trocken wie ein Backofen. Also ist's wirklich wahr und nicht erlogen? Deine Frau ist gestorben?«

Der Fleischhacker klopfte sich die Pfeife am Absatz seines Holzschuhes aus und sagte dann: »Ja, sie ist wirklich gestorben, heute Nacht, Schlag zwei Uhr; oder vielleicht um halb Drei, so um die Zeit etwa.«

»Heut Nacht?« sagte Poivret und schüttelte den Kopf, »ah, ah, ah, schau einmal an! Was hat sie nur gehabt? Das kann nur eine ganz schnelle Krankheit gewesen sein, vielleicht ein Gehirnschlag?«

Gasselin erklärte:

»Nein, es war kein Gehirnschlag, Schwiegervater. Nein, das war's gewiß nicht. Es ist vom Bauch gekommen. Der Bauch ist ihr so furchtbar angeschwollen. Und sie hat geschrien, geschrien, Herrgott, wie die geschrien hat! Und dann war sie tot. Jawohl, so ist sie gestorben. Aber es will mir nicht aus dem Kopf, daß ...«

»Was denn, mein Sohn?«

»Nun also: Vor vierzehn Tagen – vielleicht sind es zwölf, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Also, sagen wir, vor vierzehn Tagen hat deine Tochter mit mir was geredet, ich weiß nicht mehr was. Mir scheint, sie hat mich ein Schwein und einen Trunkenbold genannt, wegen einer kleinen Unterhaltung, die ich mit dem jungen Bacoup und dem jungen Manté veranstaltet hatte. Darauf sag' ich ihr, sie soll mich in Frieden lassen. Aber in der Güte, nicht bös, ganz freundschaftlich natürlich. Aber sie schimpfte nur noch mehr und kam vom Hundertsten ins Tausendste. Da hab ich ihr eine heruntergehauen und ihr einen Tritt in den Bauch gegeben. Aber Du kannst Dir wohl denken, Vater Poivret, daß das nur ein Scherz war, ohne böse Absicht. Ich wollte ihr nicht wehe tun. Daraufhin wurden wir wieder gut. Am nächsten Tag aber klagt sie über Schmerzen und sagt: »Ich weiß nicht, was ich im Bauch habe, ich muß da was drin haben; es ist wie ein großes Tier, das mich immerfort beißt.« – Das hielt sie aber nicht ab, hin und her zu gehen und die Kunden zu bedienen. Vorgestern hat es sie stärker gepackt. Sie legte sich hin, und dann schwoll sie an und brüllte, und dann ist sie gestorben! ... Hol' mich der Teufel, wenn ich jemals geglaubt habe, daß ein einfacher Fußtritt in den Bauch, so im Scherz und ohne böse Absicht, eine Frau umbringen könnte.«

Poivret kraute sich im Nacken und sagte nur immer:

»Ah, ah, ah! Schau, schau!«

Dann setzte er mit trauriger, aber resignirter Miene hinzu:

»Was sind doch wir Menschen! So war es auch bei meiner Seligen, der Poivret, ihrer Mutter. Die ist auch ja ganz plötzlich gestorben. Ein Baum ist auf sie gefallen; Du weißt ja, der verfluchte große Nußbaum vom Hof.«

»Jawohl, jawohl!« seufzte Gasselin. »Willst Du vielleicht Deine Tochter seh'n? Sie ist da oben.«

Poivret antwortete:

»Gut, mein Sohn, geh'n wir sie anschauen!« Und beide stiegen eine finstere Treppe im Hintergrund des Ladens hinauf. Vor einer halboffenen Tür blieben sie stehen. Der Schwiegervater sagte:

»Geh' du voran!«

»Nein, du Vater Poivret!«

»Nein, nein, mein Sehn, geh' du!« Auf den Fußspitzen traten sie ins Zimmer ein.

Poivret hatte die Mütze abgenommen und hielt sie respektvoll zwischen den Händen. Seine kleinen Augen waren ganz rund und groß geworden; seine zusammengekniffenen Lippen zogen sich in zwei runden Falten vom Mund abwärts und gaben seinem Gesicht einen seltsamen Ausdruck komischen Entsetzens, gepreßter Rührung. Er sah um sich.

Auf dem Bett lag eine Frau, mit verzerrtem Gesicht, mit gräßlich entstellten Zügen und bleifarbenem Teint. Den starren Körper bedeckte ein Tuch, durch welches die hervorspringenden und die eingefallenen Teile der Leiche deutlich zu erkennen waren. Die über der Brust gefalteten Hände umschlossen ein Kruzifix. Am Bette wachte und betete ein altes Weib. Auf einem weißgedeckten Tischchen bestrahlten zwei Kerzen mit ihrem matten Schimmer ein zweites größeres Kruzifix, das zwischen ihnen stand. Ein Weihwedel aus Birkenzweiglein stak in einem rot-irdenen Topf mit Weihwasser.

Poivret bekreuzigte sich und trat an das Bett. Ein paar Minuten lang betrachtete er seine Tochter und machte eine Bewegung, als wollte er sich über sie beugen, um sie zu küssen. Dann aber richtete er sich plötzlich auf, von einer seltsamen Furcht ergriffen, die er sich selbst nicht zu erklären imstande gewesen wäre. Schließlich legte er seine schwere, knollige Hand auf die Hand der Toten, zog sie aber gleich wieder mit einer Schmerzensgrimasse zurück, wie jemand, der sich an einem heißen Eisen verbrannt hat. Er ging zu seinem Schwiegersohn zurück, der in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war, und sagte mit leiser Stimme:

»Ja, sie ist tot! Ganz kalt ist sie. Herrgott, wie kalt!«

Sie stiegen wieder hinunter, beengt, bedrückt, betäubt von dem großen Mysterium des Todes, das sie nicht verstanden und dem sie nicht widerstehen konnten.

»Herrgott, wie kalt sie ist!« wiederholte Poivret und gab mit diesem Ausruf eine rhythmische Begleitung zu dem dumpfen Klappern seiner Holzschuhe auf den Treppenstufen.

Und Gasselin antwortete: »Und gelb, so gelb!«

Im Laden sahen sie einander eine Zeit lang an.

»Willst du vielleicht Eins zur Stärkung nehmen?« fragte der Schwiegersohn.

Der Alte nahm mit Dank an.

»Das will ich schon, ja, ja! ... Denk' Einer: Fünf Tage sind es her, da war sie so frisch und munter, wie nur irgend jemand. Ah, ah! Schau nur einmal an!«

Langsam gingen sie über die Straße. Poivret murmelte immer: »Kalt ist sie!« und Gasselin gab zurück: »Und gelb, so gelb, Vater Poivret!«

Im Café setzten sie sich zu einer Flasche Wein und blieben vorerst ganz still. Poivret füllte die Gläser, indem er den Wein von hoch herunter fließen ließ.

»Auf dein Wohl!« sagte er.

»Dein Wohl, Vater Poivret!« antwortete Gasselin.

Dann sprachen sie lange von den Fleischpreisen, von der Viehfütterung und vom Markte in Chassans. Poivret klagte, daß die jungen Kälber nicht so gut verkauft werden wie früher.

»Wenn nicht die Spanier und die Amerikaner wären, die uns unser Vieh abkaufen, wer weiß, was dann mit uns wäre!«

Nachdem sie die zweite Flasche geleert hatten, erhoben sie sich wieder ganz munter. Poivret sagte zu Gasselin:

»Ja, das ist noch nicht alles, mein Sohn. Wann werden wir sie begraben?«

»Ja, das ist ja eben das Schwierige! Morgen ist Freitag, da schlachte ich.«

Der Schwiegervater nickte zustimmend.

»Ganz richtig, ja wohl!«

»Da kann ich sie morgen nicht begraben.«

»Nein, gewiß nicht!«

»Samstag ist Markttag.«

»Jawohl, jawohl.«

»Ich kann doch mein Fleisch nicht verfaulen lassen!«

»Nein, gewiss nicht!«

»Das ist eine verflucht schwere Sache, Vater Poivret.«

Sie schwiegen ein paar Minuten. Poivret dachte nach. Dann meinte er in vertraulichem Ton:

»Ich will dir was sagen, mein Lieber. Nämlich: sie wird aber auch verfaulen, das arme Weib!«

»Gewiß, gewiß!«

»Nun, und da kann vielleicht Dein Fleisch davon anziehen!«

»Gewiß, gewiß! Ja, was soll man da tun, Vater Poivret? Sag', was soll ich tun?«

Herr Poivret dachte noch einmal nach, sehr ernst, die Hand am Kinn, und dann sagte er mit einer breiten Geste:

»Wir wollen doch noch eine dritte Flasche nehmen!«


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