Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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Giborys Beichte

Das Pfarrhaus von Lonné-sur-Eau und das Häuschen des alten Gibory sind aneinander angebaut; dieses niedrig, geschwärzt und wackelig, jenes um einen Stock höher, mit schöner, gelbgestrichener Façade und weißen Fensterläden. Die beiden Gärten, durch eine schmale Dornenhecke voneinander getrennt, fallen zur Rille ab, einem kleinen, seichten Bach, dessen Wasser unter Schilf und Rohr leise dahinplätschert. Sie liegen wie zwei Zwillingsgärten da, ganz gleichartig von den Alleen durchschnitten, die eigentlich nur grasumwachsene Fußpfade sind. Ganz gleichartig ist auch die Anlage der symmetrischen Beete, um welche ein Rahmen von Erdbeer- und Stachelbeersträuchen und von zugeschnittenen Baumpyramiden läuft. Aber im Garten des Pfarrers erhebt sich gerade in der Mitte, unter einem Lorbeerbaum, eine Statue der heiligen Jungfrau aus koloriertem Gips, stellenweise von Moos überzogen und vom Regen verwaschen. Der alte Gibory seinerseits hat auch seine Statue, die er, »um den Pfarrer zu giften«, seinen »heiligen Josef« nennt.

Das ist ein Strohwisch, mit einem schäbigen, zerknitterten, röthlich schimmernden Cylinderhut auf. Er baumelt an einer langen Stange, die Arme weit ausgespreizt, mit rothen Fetzen behagen, ein furchtbarer Schrecken für die Spatzen. Rechts und links liegen kleine Obstgärten und niedrige Wohnhäuser. Gegenüber dehnt sich das Tal, breit und grünend, mit seinen Reihen schlanker Pappeln und den dichten Gruppen von Erlen, wie ein Reich der Frische und des üppigen Graswuchses, durch welches man herdenweise die Rinder aus dem Gebirge hinziehen sieht.

An einem Nachmittag war der alte Gibory eben daran, junge Zwiebeln in geharkte Erde umzusetzen, als der Pfarrer, der eben, mit dem Brevier in der Hand, aus seinem Hause getreten war, auf der andern Seite der Hecke auftauchte. Sofort warf sich der Alte auf alle Viere nieder, hielt den Rücken krumm und die Nase fast an die Erde gedrückt. Er blieb regungslos wie ein Hund, der auf eine Feldmaus lauert. Der Pfarrer ging, lateinische Worte murmelnd, an der Hecke auf und nieder, über welche nur sein wackelnder, bläulich angelaufener, von steifen weißen Haaren umstarrter Kopf hinausragte. Als der Priester mit seiner frommen Lektüre zu Ende war, blieb er stehen, legte sein schwarzgebundenes Büchlein auf den oberen Rand der Hecke und kreuzte die Hände über dem Brevier.

»He, Vater Gibory!« schrie er.

Der alte Gibory tat als hätte er nicht gehört. Er blieb unbeweglich, seine Augen glänzten boshaft, die Nasenflügel zuckten wie die eines Tieres, das vom Geruch der Beute berauscht wird. Er rührte sich nicht.

»Mein alter Gibory!« wiederholte der Priester mit etwas stärkerer Stimme. »He, Vater Gibory, hören Sie mich denn nicht?«

Langsam, mit den lautlosen Bewegungen eines lauernden Tieres, hob der Angerufene den Kopf und drehte ihn schief hinüber.

»Schschschst,« machte er und schlug mit seiner großen, knolligen Hand in die Luft, als ob er eine lästige Fliege fortjagen wollte.

Und schnell nahm er die Stellung eines Hundes auf dem Anstand wieder ein, den Körper auf die beiden Arme wie auf zwei Pfoten hingestreckt.

Ein Moment des Stillschweigens trat ein. Man hätte glauben können, eine schwere, ernste, ja furchtbare Sache vollziehe sich nun. Indessen flog in der Hecke ein erschrecktes Rothkehlchen auf, zwei Elstern begannen in weiter Ferne zu schwätzen, ein Windstoß machte die Vogelscheuche auf ihrer Stange knirschen. Der Geistliche verlor schließlich die Geduld, als er sah, daß der alte Gibory hartnäckig unbeweglich blieb und rief von neuem:

»Vater Gibory, holla, Vater Gibory, was ist denn? Schon wieder der Maulwurf?«

Der Alte richtete sich empor, machte eine zornige Bewegung und schlug mit der Faust in den Boden.

»Ah, Sakrament; ah, Sakrament!« fluchte er. »Jetzt sind Sie schuld, daß er wieder davon ist, das Luder! Nichts läßt er in Ruh', alles durchwühlt er. Ich geh' meine Falle holen.«

Er erhob sich und ging auf das Haus zu, den Körper in der Mitte abgebogen, mit den Händen in demselben klapperigen Takt schlenkernd, wie mit den Beinen. Der Pfarrer rief ihn mit einem spöttischen Lächeln zurück.

»Sagen Sie einmal, mein alter Freund Gibory, wie kommt's, daß ich Sie jedesmal, wenn ich in den Garten komme, auf der Maulwurfsjagd treffe?«

»Was weiß ich,« antwortete der Alte in einem barschen Ton. »Vielleicht, daß Sie daran schuld sind. Weiß der Teufel! Ein Maulwurf und ein Pfarrer, ist das nicht im Grund genommen ein und dasselbe? Ich geh' meine Falle holen.«

»Warten Sie doch ein wenig, Gibory! Geht's Ihnen sonst recht gut, ja?«

»Nicht zum allerbesten, Herr Pfarrer, nicht zum allerbesten. Die Beine sind so schwach und dann auch der Kopf; das dreht sich immer da drinnen. Verflucht noch einmal, das dreht sich wie in einer Mühle!«

»Also,« fuhr der Pfarrer nach einer kurzen Pause wieder fort, »also das dreht sich da bei Ihnen immer? Oh, da müssen Sie sehr gut acht geben. Gerade jetzt, wo Ostern herankommt ...«

Auf dieses Wort hin riß der alte Gibory seinen Mund weit auf, einen Mund, grinsend und quergeschnitten, wie mit einem Messer, ein schwarzes Loch, aus dem ein einziger gelblicher Stumpf ragte.

»Wie meinen Sie,« brummte er.

»Ich sage nur, daß wir bald Ostern haben werden,« wiederholte der Geistliche.

»Nun, und? Was wollen Sie damit? Wenn Ostern kommt, so wird es da sein, nicht wahr?«

»Schon recht, machen Sie noch Späße, alter Fuchs. Sie wissen recht gut, wieviel es geschlagen hat! Wollen Sie denn wiederum Ostern vorbeigehen lassen, wie in den früheren Jahren, ohne zu beichten? Schau'n Sie doch!«

»Reden Sie davon nicht, bitte, reden Sie davon nicht! Ich geh' meine Falle holen!«

Da schlug der Geistliche einen autoritativen Ton an.

»Hören Sie mich an, Freund Gibory,« sagte er sehr ernst. »Ihre Tochter ist bekümmert, tief bekümmert. Sie weint, sie verzweifelt. Und Sie machen sie so unglücklich mit Ihrer Gottlosigkeit.«

»Mélie?« gab der Mann heftig zurück. »Die geht das gar nichts an. Sie soll sich um ihre Sachen kümmern und Sie, Herr Pfarrer, desgleichen. Ich hab' den lieben Gott ganz gern, na ja, ich geh' auch jeden Sonntag zur Messe. Aber, was so die Beichte ist, und dann noch dies und jenes – das geht mir einmal nicht in den Kopf, weiß der ...«

»Sie sind alt, mein lieber Gibory, Sie haben schon ein paar Anfälle gehabt. Man kann nie wissen – heute rot, morgen tot.«

Der Pfarrer verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.

»Gesetzt, Sie hätten wieder so einen Anfall – heute abends – oder gleich auf der Stelle. Hm, was sagen Sie dazu?«

»Einen Anfall! Heut nacht? Ich? Oho! Geben Sie nur acht, daß Sie nicht vor mir sterben! Sie sind auch nicht mehr gar so jung und kräftig! Aber ich gehe meine Falle holen.«

»Oha! Halt!«

Der arme Pfarrer wußte nichts mehr zu sagen.

Die Antworten des alten Gibory, verstärkt durch ein boshaftes Zwinkern der kleinen Augen, dieser unerschütterliche Eigensinn des hämischen Querkopfes brachte ihn aus der Fassung, verwirrte und ängstigte ihn, als ob er dem Teufel selber gegenübergestanden wäre. Er hätte dem Bauer am liebsten ein paar Schimpfworte an den Kopf geworfen. Doch aus Furcht, ihn noch mehr kopfscheu zu machen und wohl auch in der Hoffnung, diesen verstockten alten Sünder doch noch der Reue zuzuführen, hielt er an sich.

Die Vögel flatterten in der Sonne von einem Baum zum anderen; unten rauschte leise der Bach und machte die Schilfstengel erzittern. Eine rote Katze, die über ein Beet junger Lattiche gekrochen war, sprang plötzlich fort, durchquerte in zwei Sätzen den Garten und verschwand in einer Lücke im Gebüsch.

Der Pfarrer suchte in seiner Verlegenheit nach einem geschickten Mittel, die Konversation wieder anzuknüpfen. Er zog die Tabakdose aus der Tasche seines Habits, nahm eine Prise, klopfte sich leicht auf die Hand, schnupfte und nieste laut.

»Sehen Sie, mein lieber Gibory,« sagte er dann plötzlich. »Sie sind ein braver Mann, und ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ja wohl, einen sehr schönen Vorschlag.«

Und er trommelte mit den Fingern auf seinem Gebetbuch, nach dem Rhythmus einer Psalmenmelodie.

Der alte Bauer spitzte die Ohren und sah den Pfarrer mit mißtrauischen Augen an. Dieser fuhr fort:

»Ich habe noch eine Flasche Wein übrig, eine einzige Flasche, sehr, sehr alten Wein, über zwanzig Jahre alt. Auf hundert Meilen findet man keinen solchen. Die Flasche hat einen Wert von ... nun, von mindestens zehn, vielleicht sogar fünfzehn Franks. Unsereins weiß ja gar nicht, was eine derartige Flasche Wein kostet; so etwas ist einfach unbezahlbar. Nun also, wenn Sie beichten wollen, so bringe ich Ihnen diese Flasche mit. Sie gehört Ihnen, und Sie können dann mit Stolz behaupten, daß Sie eine köstliche Seltenheit besitzen, einen Tropfen, wie ihn nicht Seine Ehrwürden der Bischof hat, nicht der Schloßherr auf Guilbaut und überhaupt niemand«.

»Hehe, hehe,« meckerte der brave Gibory und kratzte sich hinterm Ohr. »Ist das kein Schwindel? Nur um mich dranzukriegen, was?«

»Wenn ich es Ihnen sage! Na also, mein lieber alter Gibory, paßt Ihnen das?«

»Ich sag' nicht gerade nein.«

»Also ich komme zu Ihnen, sofort!«

»Gleich mit der Flasche?«

»Ja, mit der Flasche!«

»Einverstanden.«

II

Die Mélie war eine vertrocknete alte Jungfer mit schwärmerischen Augen und beständig vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gekleidet, wie eine Nonne. Die Zeit, die sie nicht in der Kirche zubrachte, widmete sie der kleinen Wohnung, deren Wände sie mit Heiligenbildern ausschmückte. Sie hatte immer Gebete auf den Lippen. Mit ihrem Vater sprach sie fast niemals. Nicht, daß sie aufeinander bös gewesen wären. Aber wie der alte Mann seine Tochter niemals in ihren Werken übertriebener Frömmigkeit störte, so hielt er es für selbstverständlich, daß sie ihm vollständige Freiheit ließ und ihm niemals die geringsten Vorstellungen bezüglich der Religion machte. Da nun aber Mélie von nichts anderem als von Gott, der Muttergottes und den Heiligen zu sprechen wußte, so sprach sie mit ihrem Vater gar nicht. So lebten beide schon seit zehn Jahren im tiefsten Schweigen nebeneinander hin.

Gibory kam nachhause und sah Mélie gar nicht an, welche, die Röcke in einem Wulst um die mageren Hüften gesteckt und die Ärmel bis zum Ellbogen aufgeschürzt, einen Kupferkessel scheuerte und dabei ihre Gebetsprüchlein hersagte. Er ging auf sein Zimmer und schloß die Türe ab.

Eine Viertelstunde darauf hörte er aus dem Vorraume ein Geflüster von Stimmen, unterdrückte Ausrufe, und als sich die Türe öffnete, erschien der Pfarrer lächelnd und strahlend, mit der Flasche in der Hand.

»Na, mein alter Gibory!« rief der Pfarrer triumphierend, »da haben wir sie! Da ist sie, die einzige, die letzte, die beste aller besten Weinflaschen! Sie haben ein Glück!«

Er hielt die Flasche an ihrem Hals hoch über seinen Kopf und zeigte sie in der ganzen Herrlichkeit ihres schwellenden Bauches und der Spinngewebe, die wie ein ehrwürdiger Bart von ihr herabhingen.

»Schon gut, schon gut,« knurrte der alte Bauer und sah die Flasche mit schiefen und leuchtenden Blicken an.

»Wie machen wir also jetzt die Geschichte?«

Der Priester musterte mit einem raschen Blick den Raum und sagte: »Das ist sehr einfach. Hier ist ein kleiner Tisch, Sie setzen sich an das eine Ende, ich an das andere ...«

»Und die Flasche in der Mitte,« ergänzte Gibory.

»Ganz richtig. Denken Sie nur, ich habe sie für das Jubiläum des heiligen Latuin aufgehoben. Nun, jetzt ist sie einmal versprochen. Also vorwärts! Sind Sie bei der Sache? Fangen wir an!«

Der Pfarrer stellte mit einer respektvollen Bewegung die Flasche auf den Tisch, nahm Platz, bekreuzte sich und murmelte mit ernster dumpfer Stimme: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen! ... Wiederholen Sie das, Gibory.«

Dieser verlor die Flasche nicht aus den Augen. Jetzt stieg ihm ein Verdacht auf. Er fürchtete, der Pfarrer werde ihn hineinfallen lassen, und fragte: »Was ist denn das eigentlich für ein Wein da?«

»Burgunder, alter Burgunder,« antwortete der Priester.

»Burgunder! Ich hätte eigentlich Bordeaux sozusagen lieber gehabt. Ist es wenigstens ganz sicher Burgunder? Halten Sie mich nicht zum Narren?«

»Wenn ich es Ihnen sage! Also, fangen wir von vorne an. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen! Wiederholen Sie das mein lieber Gibory.«

Und der alte Gibory murmelte zerstreut: »Namen Vaters – Sohnes – heiligen Geistes. Amen!« Nun wandte er sich an den Priester: »Was soll ich Ihnen eigentlich sagen? Ich habe Ihnen nichts zu sagen, ganz und gar nichts. Ich habe nicht gemordet, ich habe nicht geschändet, ich habe nicht gestohlen.«

Da wurde die Türe heftig aufgerissen und Mélie stürzte herein, mit wütenden Blicken, und drohenden Bewegungen.

»Ist das menschenmöglich,« schrie sie, während sie auf den Tisch losging. »Ist es menschenmöglich, daß jemand solche Lügen sagt? Noch dazu bei der Beichte, vor Gott und vor dem Herrn Pfarrer! Ja, du hast gestohlen! Ja, Herr Pfarrer, er hat gestohlen, er hat gestohlen und nicht einmal, mehr als zehnmal! Ah nein, ich will nicht, daß er so spricht! Er könnte bei Nacht plötzlich sterben und käme dann in die Hölle. Ich will nicht, ich will nicht! Er hat der alten Renaud ein Kaninchen gestohlen, dem Herrn von Trépaillère ein Gartenmesser, dem Herrn Bacoup eine Klafter Holz, und zwar schönes Weißbuchenholz, ich hatte zwei Winter daran. Außerdem hat er zwei Maß Gerste dem Marchand gestohlen und dann ... ich weiß gar nicht mehr, was er alles gestohlen hat!«

Der Bauer schäumte vor Wut, er drohte seiner Tochter mit der Faust und schrie: »Schau, daß du weiterkommst, du! Wirst du gleich dein Maul halten! Wart' nur, wart'!«

Er wollte aufspringen, aber in seiner Hast stieß er so heftig an den Tisch, daß die Flasche umfiel, wegrollte und bevor noch der Pfarrer sie aufhalten konnte, klirrend auf den Fußboden fiel, wo sich alsbald das rote Naß weithin verbreitete.

Alle drei Personen blieben einen Moment lang ganz starr und regungslos mit offenem Mund und weitaufgerissenen Augen. Sie verfolgten mit ihren Blicken die kleinen, gewundenen, purpurroten Bächlein, welche dahinliefen, sich teilten, wieder zusammenflossen und in den Ritzen des Fußbodens verschwanden.

»Verdammtes Zeug!« fluchte der Pfarrer und schlug auf den Tisch.

»Heilige Mutter Gottes!« klagte Mélie, die Hände ringend.

»Ich gehe meine Falle holen,« sagte einfach der alte Gibory, stand auf und ging langsam hinaus, mit den Holzschuhen schleifend und mit den Armen schlenkernd.


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