Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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Meine Hütte

In einem fernen Departement liegt meine kleine Besitzung. Es schmückt sie keine glänzende Hügel aus Spiegelglas, kein noch so kleiner, japanischer Kiosk und nicht einmal das sonst so unvermeidliche Becken aus Muschelwerk, mit dem nackten Amor aus schmutzigem Gips und dem geräuschvollen Wasserstrahl, der auf Blumen aus Zink niederfällt. Einfach und ländlich liegt meine Hütte wie ein Wächterhaus am Eingang eines schönen Buchenwaldes, dessen Laubwerk in der Sonne tänzelt, und vor ihr dehnen sich, bis weit hin zum Horizont, grüne Felder, von hohen Hecken durchzogen.

Ein Weinberg umgibt sie mit heiteren Guirlanden und zierlichem Farbenspiel; Jasminsträucher, durch welche sich einige Rosen zwängen, breiten einen Teppich über die dunkle Ziegelfaçade. Der Garten, den geschnitzte Planken, mit Moos überzogen, einhegen, ist so klein, daß auf seinen Gängen zwischen Buchs- und Thymiansträuchern kaum zwei Schnecken, Schale an Schale, kriechen könnten. Doch was liegt mir an der Ärmlichkeit und Enge dieser Besitzung? Gehören diese Äcker nicht mir, und diese rauschenden Wälder und der Himmel, den beständig der phantastische Flug der Schwalben durchzieht? Welchen anderen Genuß soll ich von den Dingen verlangen, als den, daß sie da sind mit ihrer Schönheit und ihrem Duft?

Ganz nahe führt, in einem tiefen und steinigen Bett, ein Bach sein grünliches Wasser unter der Wölbung dichtverschlungener Erlen hin. Zwischen den seltsam geformten, stämmigen Weißbuchen hindurch kann ich die rötlichen Dächer des nächsten Pächterhofes sehen. Dort weiden die Kühe, die Mäuler tief ins Gras gesteckt, Schafherden tummeln sich längs der nahen Landstraße und steigen unter der Hut des Schäferhundes den abgegrasten Abhang empor.

Ah, wie wohl werde ich mich hier fühlen in diesem kleinen verlorenen Winkel, der ganz erfüllt ist von den balsamischen Düften der neu grünenden Erde. Keine Kämpfe mehr mit den Menschen, kein Haß mehr, der die Herzen zermalmt, nichts als Liebe, jene große Liebe, die in den friedevollen Nächten herniedersteigt und uns wiegt wie ein mütterliches Lied, wie das Lied des Windes in den Bäumen. Warum hassen? sagt das Lied. Weißt Du denn nicht, was die Menschen sind, welche Schmerzen sie zernagen und verwunden, die Reichen wie die Armen, den Landstreicher, der mit hungrigem Magen am Rand der Straße schläft, wie den Lüstling, der sich übersättigt unter parfümierten Decken wälzt? Hasse niemanden, nicht einmal den Bösewicht. Beklage ihn, denn er wird niemals die einzige Freude kennen, die über das Leben hinwegtröstet: Gutes zu tun.

Ich habe mich also in meiner Hütte eingerichtet, ein melancholischer Sommerfrischler. Als Gefährten habe ich nur einen bissigen, schmutzigen Hund, die Vögel des Waldes und einen alten Bauer. Eines Tages sah ich ihn um das Haus schleichen und verstohlene Blicke auf mich werfen. Dann ging er fort. Am nächsten Tag kam er wieder und fing sein Manöver von vorne an. Am dritten Tag fand er den Mut, in die Umzäunung einzutreten.

»Geht es Ihnen gut?« sagte er mir und zog seine Tuchkappe, die von der Sonne von mehr als zwanzig Sommern einen rötlichen Stich bekommen hatte.

»Gewiß, mein Freund,« antwortete ich.

»Nun, das ist gut, das ist gut,« und er richtete am Gitterwerk ein Jasminzweiglein, das herunterhing, empor.

»Also, man erzählt, daß Sie aus Paris kommen?«

»Allerdings.«

»Nun gut, gut.«

Er wandte sich und ging mit dem steifen Schritt und dem schweren Gang eines alten Bauern, der es nicht mehr lange machen wird.

Jeden Abend, wenn die Sonne hinter dem Hügel versinkt, kommt er und setzt sich auf die Bank vor meiner Tür; und während ich träumerisch meine Gedanken durch die melancholischen Weiten des Abendhimmels schweifen lasse, wiegt er beständig den Kopf hin und her, ohne jemals ein Wort hervorzubringen.


Seit einigen Tagen habe ich mir einen anderen Gefährten beigesellt. Es ist Vater Ravenel, der zu mir kommt, den Garten umgraben, die Bäume pflegen und Gemüse pflanzen. Vater Ravenel ist zweiundsechzig Jahre alt. Er ist von mittlerer Figur, ein wenig geduckt und geht mit den langsamen, abgemessenen Schritten eines alten Säemannes. Er hat einen prachtvollen Kopf voll scharf ausgeprägter, harter, tief eingerissener Züge, machtvoll und vierschrötig, von starken Haaren gekrönt, deren ungleiche, ergrauende Büschel ihm die Stirn bis zu den Augenbrauen bedecken. Sein Körper ist gebogen wie ein alter Eichenstamm, gegen den beständig der Sturm gewütet hat. Unter den geflickten Kleidern sieht man die Ansätze der Knochen hervorstechen und die Schwellungen der Muskeln sich wölben, als wollte dieser Körper Äste und Zweige treiben. In seinen Augen spiegelt sich nur die vorüberziehende Wolke, kein Schmerz, keine Enttäuschung, kein Gedanke wird in diesen rätselhaften Augen sichtbar, welche in ihrer stummen Resignation denen der Haustiere gleichen. Seine Bewegungen sind langsam, ernst und weit wie der Horizont, hoch wie der Himmel, fromm und geheiligt wie ein Schöpfungsmysterium.

Dieser Mensch ist ein Trunkenbold.

In seinem fast beständigen Rausch geht er doch den ganzen Tag geschäftig hin und her und arbeitet. Es ist natürlich nicht bequem, Arbeit und Trunksucht zu vereinigen. Wäre er kein Trunkenbold, er hätte heute ein kleines Gütchen und könnte sich's wohl sein lassen. Wie so viele andere, die weitaus nicht so geschickt in vielen Dingen sind wie er, hätte er sein Häuschen mit einem Garten davor und einem Stück Acker dahinter, Hennen, Enten, Kaninchen, vielleicht eine Kuh, und jedes Jahr würde er ein Schwein mästen. Nun könnte er sich ausruhen und in der Zeit, wo der Apfelwein getrunken wird, seine Nachbarn fröhlich auf den Rücken klopfen. Anstatt dessen hat er weder Haus noch Feld, noch Hühner, noch sonst etwas. Er muß im Taglohn arbeiten, bald bei dem, bald bei jenem, muß als Gärtner, Tischler, Erdarbeiter oder Maurer aushelfen, und so mühselig seine zwanzig Sous, seine Specksuppe und sein Glas Apfelwein täglich verdienen. Das alles weiß er, aber es drückt ihn nicht. Es ist übrigens nicht seine Schuld, sondern die seiner zweiten Frau. Denn der alte Ravenel fand es, als er mit achtundvierzig Jahren Witwer wurde, unerträglich, seine kleine Wirtschaft selber zu führen, und eines schönen Tages verheiratete er sich zum zweitenmale. »Ja, das ist dumm, dumm, dumm,« sagt er, wenn ihm die Erinnerung an die Vergangenheit kommt, an die Zeit seiner ersten Frau.


Alle Morgen um sechs Uhr kommt er, schon angeheitert und nach Branntwein riechend.

»Nun, Vater Ravenel, Sie sind ja schon wieder betrunken.«

»Jawohl, jawohl,« antwortete der Mann und kratzt sich den Kopf.

»Einen kleinen Stich! Jawohl, ich habe einen kleinen Stich!«

Er taumelte, seine Lippe hängt feucht und schlapp herunter. Selbst in diesen Momenten bleiben seine Augen undurchdringlich, ohne einen Schimmer innerer Erregung, ohne merkbaren Reflex der Trunkenheit.

»In Ihrem Alter, Vater Ravenel: schämen Sie sich nicht?«

»Jawohl, jawohl – ich will Ihnen sagen – es ist meine Frau, meine zweite Frau – oh, die Elende, das Luder! – Nämlich, meine erste Frau, die war eine Heilige, eine Heilige – die hätten Sie kennen sollen! – Eine Heilige sag' ich, eine Heilige Gottes!«

Und er weint und rauft sich das Haar.

»Eine Heilige, eine wahre Heilige! Sie ist gestorben wegen eines Schweines, das die hinfallende Krankheit hatte....«

»Ja, ich weiß, ich kenne die Geschichte. Legen Sie sich nieder, Sie sollten lieber schlafen gehen!«

»Nein, nein, lassen Sie sich sagen – ich habe einen kleinen Stich, das ist wahr – aber ich muß Ihnen doch sagen – ich hatte ein Schwein, ein schönes Schwein – es gedieh' gut, es fraß gut – da auf einmal – ich soll nicht athmen können, wenn ich lüge – da krepiert es an der hinfallenden Krankheit. – Wie ein Mensch, wie ein Bürger, man möchte sagen – wie ein Christ. Es wälzte sich, wand sich und schäumte; schließlich war es gar kein Schwein mehr, es war – es war – überhaupt gar nichts mehr. Dann ist es krepiert. – Meine erste Frau sagte: Ich will es essen, man braucht doch dieses Fleisch nicht zu verlieren. Ich sage: Ein Schwein, das an der hinfallenden Krankheit krepiert, das ist giftig, ganz gewiß; man muß es tief, tief eingraben.... Das war ihr aber sehr zuwider, meiner ersten Frau, ein so schönes Fleisch einzugraben. Warum soll das giftig sein? sagt sie mir. Ich sage: Wer weiß, was das Vieh gefressen hat, und das ist ihm dann vom Bauch in den Kopf gestiegen. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, wenn ein Schwein an der hinfallenden Krankheit krepiert. Meine erste Frau sagt: Ich will doch wenigstens die Lunge zubereiten. Ich sage: Bereite die Lunge zu, wenn du willst, aber ich esse nicht davon .... Hu, hu, hu!«

Und bei diesen schmerzlichen Erinnerungen schluchzt Vater Ravenel und geberdet sich verzweifelt. Dann fährt er fort:

»Ich soll mit einer Heugabel und Bohrer erstochen werden, wenn ich lüge. – Also meine Erste ißt die Lunge mit Erdäpfeln, und dann begraben wir das Schwein auf der Wiese des Herrn Bottereau am Fuß einer Espe.... Momentan hat ihr das gar nichts geschadet, sie befand sich so wohl, wie Sie und ich und jeder Andere.... Aber auf einmal, nach zehn Jahren auf den Tag genau, da stirbt sie an der hinfallenden Krankheit, wie das Schwein. – Sie windet sich, schäumt, brüllt und dann ist sie hin. – Kaum daß ich Zeit hatte, mich umzudrehen und ihr ein Schaff Wasser über den Kopf zu schütten. – So wahr Gott lebt und der heilige Josef und die himmlische Jungfrau! Nach zehn Jahren war ihr das Schwein vom Bauch in den Kopf gestiegen, und das hat sie umgebracht. – Hu, hu, hu!«

»Aber dann haben Sie sich wieder verheiratet, alter Spitzbub?«

»Jawohl, jawohl, ich habe eine zweite Frau genommen. – Aber das ist nicht mehr dieselbe Sache. – Ah, die Elende, das Luder! Sie ist mannstoll! – Aerger als eine Katze, eine Hündin und ein Spatzenweibchen. – Ich bin schon alt, verstehen Sie, und dann war ich auch niemals für solche Schlechtigkeiten – Aber sie muß das haben, gehe es wie es geht. – Sie sollten das einmal sehen. – Manchesmal sitz' ich ganz ruhig da und denke wahrhaftig an nichts – oder ich komme nachhause, müde von der Arbeit, da sagt sie mir: Ravenel, ich vergehe vor Sehnsucht .... Und dabei sieht sie mich mit Augen an, die glänzen wie Lichter .... Lass' mich geh'n, sag' ich, ich bin alt und denke jetzt gar nicht an so etwas .... Aber sie reizt mich, stößt mich, umarmt mich .... Lass' mich geh'n, sag' ich noch einmal .... Also trink nur einen Schluck, sagt sie mir. Ich trinke einen Schluck, noch einen, einen dritten ..... Nun? fragt sie mich. Nichts, nichts, antworte ich. Du bist ein Waschlappen! sagt sie mir. Und du ein Schwein! antworte ich .....Dann setzt es eine Ohrfeige da und eine Ohrfeige dort, immer endet das mit Prügeleien .... Dann trink ich nochmals einen Schluck, und einen zweiten und einen dritten .... Hu, hu, hu! Das bringt mich um, verstehen Sie. Diese Sachen bringen mich ins Grab.«


Den Tag nach seinem Rausch geht Ravenel wie im Traum herum. Er versteht nicht, was man mit ihm spricht. Seine Augen sind weit und rund und scheinen sich über unergründlichen Tiefen zu öffnen.

»Sagen Sie, Vater Ravenel, man sollte doch eine Stange an den Baum nageln.«

»Ja, ja, eine Stange!«

»Haben Sie mich verstanden?«

»Nein ... eine Stange, eine Stange!«

»Aber Sie wissen doch, was eine Stange ist.«

»Eine Stange, ja!«

»Also wollen Sie eine an den Baum nageln?«

»Der Baum?«

»Haben Sie mich verstanden?«

»Nein.«

Langsamen Schrittes geht er durch den Garten, nimmt seinen Spaten, kreuzt die Arme über dem Stiel, sieht dem Flug der Vögel, und dem Schaukeln der Blätter im Winde zu. Er murmelt immer:

»Ein Stange .... die Hecke ....«

Kein Gedanke dringt in seinen alten, harten Schädel. Sein Gesicht, dessen eckige Züge noch schärfer hervortreten, nimmt einen Ausdruck von unversöhnlicher Strenge an und gewinnt die plastische Schönheit einer edlen Skulptur, die einem Poeten das Wort eingeben könnte: So sieht der Gott der Erde aus!


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