Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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Bauernmoral

Der Friedensrichter hatte im Stadthause zu ebener Erde ein Zimmer inne, das direkt auf den Platz hinausging. Der kahle, viereckige Raum mit den weißgetünchten Wänden war in der Mitte durch eine Art Ballustrade geteilt, welche, je nachdem, den Klägern, bei großen Prozessen den Advocaten oder auch den Neugierigen als Sitzbank diente. Im Grunde des Zimmers, auf einem niedrigen, schlecht gefügten Bretterpodium, standen drei Tische vor drei kleinen Sesseln; der mittlere davon war für den Herrn Richter, der zur Rechten für den Herrn Schreiber, der zur Linken für den Herrn Amtsdiener bestimmt.

An der Wand dahinter machte ein Christusbild in lange verblaßtem Goldrahmen, von Fliegen ganz besudelt, ein recht klägliches Gesicht. Das war die ganze Szenerie.

Als ich eintrat, hielt man schon mitten in den »Amtshandlungen«. Der Saal war voll von Bauern, die sich auf ihre eschenen Stecken mit schwarzen Lederriemen stützten, und von Bäuerinnen mit schweren Marktkörben, aus denen unter dem Deckel rothe Hahnenkämme, gelbe Schnäbel von Enten und die Ohren von Kaninchen hervorguckten. Das strömte einen starken Stallgeruch aus. Der Friedensrichter, ein kleiner, kahlköpfiger Mensch mit glattem, röthlichem Gesicht, in einem Rock von schmierigem Zeug, lauschte mit großer Andacht dem Vortrag einer alten Frau, die innerhalb des Schrankens stand. Sie begleitete jedes ihrer Worte mit ausdrucksvollen und wüthenden Gesten. Der Schreiber, ein haariger, aufgedunsener Mensch, ließ den Kopf über den gekreuzten Armen auf den Tisch sinken; er schien zu schlafen. Ihm gegenüber kritzelte der sehr magere, sehr bärtige und sehr beschmierte Diener irgend etwas auf einem Stoß fettiger Aktenpapiere.

Das alte Weib schwieg nun.

»Ist das Alles?« fragte der Friedensrichter.

»Wie meinen, Herr Richter?« gab die Gefragte zurück und streckte ihren Hals vor, der so runzelig war wie eine Hühnerkralle.

»Ich frage, ob Sie fertig sind mit dem Geschwätz von Ihrer Mauer?« antwortete der Mann des Gesetzes mit erhobener Stimme.

»Mein Gott ja, Herr Richter – das heißt, entschuldigen, die Geschichte ist so: Die fragliche Mauer, an welcher Jean-Baptiste Macé immer seine ....«

Sie wollte ihre Litanei von vorne hersagen, doch der Richter unterbrach sie.

»Genug, genug, es ist gut, Martine. Schreiber! Man soll den Mann vorladen!«

Der Schreiber hob langsam den Kopf und zog eine fürchterliche Grimasse.

»Schreiber,« wiederholte der Richter, »vorladen! Notieren Sie .....«

Und er zählte an den Fingern: »Dienstag. Wir werden ihn für Dienstag vorladen .... Ha, am Dienstag. Der Nächste!«

Der Schreiber blinzelte mit den Augen, besah ein Blatt Papier, dann ließ er seinen Finger auf dem Papier von unten nach oben laufen, machte plötzlich halt und schrie:

»Gatelier contra Rousseau! Ist Gatelier hier und Rousseau auch?«

»Hier!« rief eine Stimme.

»Da bin ich!« rief eine andere Stimme.

Zwei Bauern erhoben sich, traten vor die Schranken und stellten sich linkisch dem Friedensrichter gegenüber, der die Arme über den Tisch streckte und die schwieligen Hände ineinanderlegte.

»Also los, Gatelier! Was giebts denn schon wieder, mein Sohn?«

Gatelier wiegte sich hin und her, wischte sich den Mund mit dem Handrücken, sah nach rechts, nach links, kratzte sich am Kopf, spie aus, dann verschränkte er die Arme und sagte endlich:

»Also die Sache ist die, Herr Richter: Ich gehe vom Markt in Saint-Michel nachhause mit der Gatelier, was meine Frau ist, und mit Rousseau; wir drei zusammen. Ich hatte zwei Kälber verkauft und ein Schwein, mit Respekt zu melden, und da hatten wir, weiß Gott, hübsch was getrunken. Wir gehen also bei sinkender Nacht heimwärts. Ich sang, Rousseau machte Dummheiten mit meiner Frau, und meine Frau sagte allemal zu ihm: Hör' doch auf, Rousseau! Herrgott, bist du dumm, bist du kindisch!«

Er wandte sich zu Rousseau um und fragte: »Ist das wahr, oder nicht?«

»Ja, das ist wahr« antwortete Rousseau.

»Auf dem halben Weg«, fuhr Gatelier nach kurzem Schweigen fort, »da geht meine Frau auf einmal den Rasenabhang hinauf und steigt über die kleine Hecke, wo der breite Graben dahinter ist. Wo gehst du hin? sag ich. Ich geh' auf die Seite, sagt sie mir. Gut, sag' ich, und wir machen unsern Weg weiter, Rousseau und ich. Nach ein paar Schritten, da geht Rousseau auf einmal den Rasen hinauf und steigt über die kleine Hecke, wo der breite Graben dahinter ist. Wo gehst du hin? sag' ich. Ich geh' auf die Seite, sagt er mir. Gut, sag' ich, und mach' meinen Weg weiter.«

Er drehte sich wieder zu Rousseau um und fragte: »Ist das wahr oder nicht?«

»Ja, das ist wahr,« antwortete Rousseau.

»Also ich mach' meinen Weg weiter,« fuhr Gatelier fort. »Ich geh' und geh' und geh'. Dann später dreh' ich mich um. Niemand ist auf der Straße zu sehen. Denk ich mir: das ist komisch! wo bleiben denn die? und gehe ein Stück zurück. Das dauert lang, sag' ich zu mir. Wir haben hübsch was getrunken, das ist schon wahr, aber es dauert doch zu lang. So komme ich dorthin, wo Rousseau den Rasen hinaufgegangen war und steige auch über die Hecke. Himmelherrgott! sag' ich, da ist ja Rousseau mit meiner Frau! Pardon, entschuldigen, Herr Richter, aber so wie ich spreche, so ist es.«

Im Publicum wurde da und dort Gelächter laut, aber Gatelier gab darauf gar nicht acht, sondern setzte fort: »Rousseau war also dort mit meiner Frau, mit Respekt zu sagen, und er zappelte im Graben herum, nein, das war schon zu komisch anzuseh'n, wie er zappelte, der verfluchte Rousseau! Ah, der Lump! der Schmutzian! der Thunichtgut! He, Bursch, schrei' ich von oben herunter, he, Rousseau! ja hör' doch auf, du Vieh, hör' auf! Aber das war ganz umsonst. So oft ich ihm auch sagte, er soll aufhören, er zappelte immer noch stärker, der Kerl. Da steig' ich also in den Graben hinunter, packe Rousseau bei seiner Blouse und ziehe, was ich kann. Lass mich! sagt er mir. So lass' ihn doch .... sagt mir meine Frau. Ja, wenn du mich in Ruh' läßt, fängt er wieder an, so geb' ich dir einen halben Louis, hörst du, einen halben Louis!

Ich lass' jetzt seine Blouse los und sage: Einen halben Louis? Ist das wirklich wahr? – Wirklich wahr! – Du schwörst es? – Ich schwör' es! – Gib ihn gleich her! – Nein, erst nachher. – Also gut, nachher. Und ich gehe wieder auf die Landstraße zurück.«

Zum drittenmal nahm Gatelier den Rousseau zum Zeugen.

»Ist das wahr oder nicht?«

»Ja, das ist wahr,« antwortete Rousseau.

Im stolzen Bewußtsein seines Rechtes sprach Gatelier mit erhobener Stimme weiter:

»Sie verstehen mich, Herr Richter, Sie verstehen mich wohl! Es war versprochen und beschworen! Er kommt also nachher mit meinem Weib wieder auf die Landstraße, wo ich mich hingesetzt habe, um die Zwei zu erwarten. Na, und mein Geld? frage ich. – Morgen, morgen, sagt er, jetzt hab' ich nicht einmal einen Heller bei mir. – Das war natürlich erlogen, es hätte aber auch wahr sein können. Ich red' also nichts, und wir gehen unseren Weg zusammen weiter, ich und meine Frau und Rousseau. Ich sang, Rousseau machte Dummheiten mit meiner Frau, und meine Frau sagte allemal: So hör' doch auf, Rousseau! Herrgott, bist du dumm, bist du kindisch! – Wie wir auseinandergehen, sag' ich noch zu Rousseau: Also, mein Lieber, du weist wohl, du hast geschworen! – Es ist beschworen! – Er drückt mir noch die Hand, tätschelt meine Frau und geht fort ... Also, Herr Richter, seitdem hat er mir meinen halben Louis niemals bezahlen wollen! Das Stärkste aber ist das: Vorgestern, wie ich mein gutes Geld von ihm verlange, da nennt er mich einen Hahnrei! Verdammter Hahnrei, sagt er mir, du red'st mir lang gut! Ja, das hat er zu mir gesagt.«

Noch einmal drehte er sich zu Rousseau hin und fragte: »Ist das wahr oder nicht?«

Aber Rousseau machte ein komisches Gesicht, trat von einem Bein auf das andere und antwortete nicht.

Der Friedensrichter war ganz perplex geworden. Er rieb sich die Wange mit der Hand, sah den Schreiber an, dann den Amtsdiener, als wollte er sie um Rat fragen. Er hatte es da augenscheinlich mit einem recht schwierigen Fall zu tun.

»Hm, hm,« machte er, und dann dachte er einige Minuten nach.

»Nun und du, Gatelier-Bäuerin, was sagst denn du dazu?« fragte er dann ein dickes Weib, das, mit dem Marktkorb zwischen den Füßen, auf der Bank saß und dem Vortrag des Gatten mit peinlichstem Ernst zugehört hatte.

»Ich, ich sag' gar nichts,« antwortete Frau Gatelier und stand auf. »Aber was das Versprechen und den Eid anbelangt, Herr Richter, das ist gewiß und wahrhaftig wahr: Er hat den halben Louis versprochen, der Lügner, das hat er ...«

Der Richter wendete sich an Rousseau:

»Was willst du da tun, mein Lieber? Du hast es versprochen, nicht wahr? Du hast es geschworen?«

Rousseau drehte mit verlegener Miene seine Mütze zwischen den Händen.

»Wohl, wohl, ich hab's versprochen,« sagte er. »Aber, lassen Sie sich sagen, Herr Richter, ein halber Louis – das ist zu viel, das kann ich nicht zahlen – das – das – war die Sache nicht werth. Alles was recht ist!«

»Na also, man muß die Geschichte gütlich in Ordnung dringen. Ein halber Louis – das ist vielleicht wirklich ein bißchen hoch, was? Schau, Gatelier, wenn du zum Beispiel mit einem Taler zufrieden wärst, was?«

»Nein, nein, nein! Ein Taler – absolut nicht! Den halben Louis! Er hat es doch beschworen!«

»Sei gescheit, mein Lieber. Ein Taler, das ist ein schönes Stück Geld! Und als Draufgabe zahlt Rousseau eine kleine Anfeuchtung, was? Einverstanden?«

Die zwei Bauern sahen einander an und kratzten sich hinter den Ohren.

»Paßt dir das, Rousseau?« fragte Gatelier.

»Wohl, wohl,« antwortete Rousseau, »wir sind doch Freunde!«

»Na gut also! Einverstanden!«

Sie tauschten einen Händedruck.

»Der Nächste!« schrie der Richter, indes Gatelier, die Bäuerin und Rousseau im Bauerntrott, leicht vorgeneigt und mit baumelnden Armen, den Saal verließen.


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