Wilhelm Meyer-Förster
Heidenstamm
Wilhelm Meyer-Förster

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Neuntes Kapitel.

»Und wann geht's wieder fort, Joseph?«

»Am Dienstag. Uebermorgen.«

»Nach Paris?«

»Ja.«

»Und dann nach London?«

»Ja.«

»Und dann retour nach drüben?«

»Ja.«

»Glücklicher Joseph!«

Er saß in einem Kreise bunter Uniformen an dem alten Stammtisch, in den er vor Jahren mit ein paar ungefügen Schnitten seines Federmessers J. v. H. geschnitzt hatte. Die Buchstaben waren noch zu lesen und würden wahrscheinlich bestehen bleiben, solange der Tisch im Gebrauch blieb.

Aber er, Joseph, würde sie nie wieder lesen, denn er saß heute hier zum letztenmal.

Es war Sonntagabend, genau acht Tage nach seiner Ankunft. Albrecht und die Damen befanden sich drüben in der Oper; bis zwanzig Minuten nach zehn hatte er Zeit, hier zu sitzen.

Es hatte ein Hallo gegeben, als er vor einer Stunde hereinkam. Der eine und andre hatte ihn im Laufe der Woche schon auf der Straße begrüßt, und in der ganzen Zeit war in Hannover nur von ihm und seiner schönen Frau die Rede gewesen.

Man sprang auf, drängte sich um ihn, schüttelte seine Hände:

»Joseph! Alter Junge! Zeigst du dich endlich! Was machst du?«

Selbst der Kellner Karl war in Aufregung. Er nahm den leichten, hellen Paletot und den blanken Cylinder und hing sie an Josephs früheren Stammplatz, den dritten Haken links vom Ofen, wo Hut und Mantel zwischen den Säbeln und Mützen eingezwängt wurden.

Aber er brachte nicht wie einst den traditionellen Schoppen »Laubenheimer« zu fünfundsiebzig Pfennig, sondern reichte Herrn von Heidenstamm die in Leder gebundene Weinkarte.

Da erst sah ihn Joseph.

»Karl,« sagte er und lächelte und gab dem alten Karl über den Tisch vor allen Offizieren – eine Ehre, die Karl noch nie widerfahren war – die Hand, »er lebt auch noch! Ihr lebt alle noch! Was soll ich mit der Weinkarte?«

»Befehlen – Herr Baron – den Schoppen? Laubenheimer?«

»Was sonst?!«

Nach den ersten dringendsten Fragen und Antworten lenkte das allgemeine Gespräch auf Josephs Frau. Er versuchte von Zeit zu Zeit ein andres Thema in Gang zu bringen, er fragte nach diesem und jenem, nach Rochus, nach Sporleder, aber er bekam nur kurze Antworten.

»Rochus? Welcher Rochus? Ach so: Rohrbeck. Von dem hört man nichts mehr, nein.«

»War er nie wieder hier, zu Besuch?«

»Nein. Joseph, du hast die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Auf Ehre und Gewissen. Herrgott, wie ich euch gestern sah! Herrgott, ist die Frau schön!«

»Sitzt Rochus denn immer noch in Pillkehmen?«

»Kann sein, ich weiß nicht.«

Niemand wußte es, aber jeder einzelne wünschte zu erfahren, ob alle Amerikanerinnen, respektive viele, so schön seien.

Der alte pensionierte Rittmeister von Trenk, der kniesteif und rheumatisch jeden Abend hier saß, gab mit seiner knarrenden Stimme eine Definition:

»Angelsächsische Rasse, verpflanzt nach drüben, dann vermischt und aufgefrischt, verstehen Sie recht, meine Herren: aufgefrischt! Durch alle möglichen Kreuzungen: irisches Blut, französisches, spanisches, vielleicht sogar indianisches, hochinteressant. Vor allem vom züchterischen Standpunkte.«

Hätte Joseph ihm zugehört, so hätte er vielleicht Anlaß genommen, sich diesen »züchterischen Standpunkt, angewandt auf den Stammbaum seiner Frau« zu verbitten, aber er saß apathisch und gab auf die hin und her schwirrenden Fragen nur vage Antworten.

Er hatte sich auf diesen Abend gefreut, es gab da vielleicht ein letztes Mal alte Erinnerungen auszutauschen, jetzt schienen ihm die kurzen zwei Stunden unerträglich lang.

Man fragte ihn aus wie einen Geschäftsreisenden: lohnt es sich faktisch, in Amerika Umschau zu halten? Gibt es wirklich Dutzende dieser schönen Millionärinnen, die Lust hätten, nach Deutschland überzusiedeln?

Sie horchten mit gespannter Aufmerksamkeit, denn da saß nun einer, der in dem Märchenlande reüssiert hatte, der einem vielleicht wirklich und ernstlich raten konnte!

Er leerte sein Glas auf einen Zug und stand auf:

»Karl! Zahlen!«

»Du willst fort, Joseph? Jetzt schon?!«

»Ich muß. Meine Frau erwartet mich in der Oper.« Er sagte die Unwahrheit, aber alles Blut drängte nach seinem Kopfe, er mußte hinaus um jeden Preis. Und als sie ihn nicht fortlassen wollten, fügte er eine zweite Unwahrheit hinzu: »Ich komme wieder, vielleicht heute abend, oder wenn nicht, dann morgen.«

Ganz flüchtig schüttelte er Trenks und Krachts und der andern Hände, und ohne sich noch einmal nach dem Stammtische umzusehen, verließ er das Zimmer.

Vor dem Theater ging Joseph auf und ab und wartete. Es war kaum neun Uhr vorbei, vor einer Stunde konnte die Oper nicht zu Ende sein.

Er übersann diese letzten acht Tage noch einmal.

Die alten Bekannten hatten ihn außerordentlich freundlich aufgenommen, man überschüttete ihn mit liebenswürdigen Einladungen, die er abgelehnt hatte, und mit noch liebenswürdigeren Offerten. Irgendwie hatte sich das Gerücht verbreitet: »Heidenstamm ist hier, um Rennpferde für Amerika zu kaufen,« und nun erhielt er stoßweise Anerbieten. Leute, die sich keinen Deut um ihn gekümmert hatten, als er nach »Frangipanis« Versagen und Niederlage außer Landes gehen mußte, schrieben ihm Briefe in einem Stile, als ob sie nie aufgehört hätten, seine herzlichsten Freunde zu sein.

Und das alles nur, um ihre Pferde zu verkaufen! Das Pferdegeschäft ist doch das sonderbarste von der Welt, weiß der Teufel!

Um einen tat es ihm weh, daß der für Monate berechnete Aufenthalt in Deutschland nach knapp acht Tagen zu Ende ging: um Rochus.

Aber während Joseph an der langen steinernen Auffahrtsrampe des Königlichen Theaters auf und nieder ging, sann er darüber nach und dachte: ›Es ist vielleicht gut so. Der Rochus von heute ist vielleicht auch nicht mehr der Rochus von damals. Behalt ihn so im Gedächtnis, wie er war.‹

Zwischen Joseph und seiner Frau hatten diese acht Tage Schranken aufgerichtet, die von Tag zu Tag wuchsen und zu Mauern wurden.

Mit ihrem scharfen Verstande begriff Jane am ersten Tage nach jener Liebesnacht den strategischen Fehler, den sie begangen hatte. Sie suchte ihn wieder gut zu machen; sie war ruhig und freundlich gegen Joseph, weich und zärtlich gegen Marie – zu weich und zu zärtlich.

Am zweiten Tage lehnte sie sich an ihren Mann und sagte mit ihrem gutmütig-spöttischen Lächeln:

»Ich weiß alles, was du denkst, Joe. Und du hast ganz recht. Es war häßlich von uns beiden. Nun denk nicht mehr daran, Joe, sei wieder gut und vernünftig, Joe.«

Er nickte kühl und dachte doch daran.

Am dritten Tage wechselten sie kaum ein Wort miteinander, und am Mittwoch ritt Jane mit ihrem Schwager in die Heide, um erst spät abends heimzukehren.

Von da an war Albrecht von früh bis spät um seine schöne Schwägerin. Er zeigte ihr die Stadt, das Schloß, die Museen, man sah sie zusammen zu Pferd und zu Wagen, im Theater, auf der Georgstraße, – ihr Zusammensein wurde dermaßen auffällig, daß am Ende dieser Woche alle Welt davon redete.

Der einzige, der die beiden nicht beachtete, war Joseph. –

– Im Innern des Theaters wurde es lebendig, die Vorhallen erleuchteten sich, die Türen wurden weit geöffnet, die Vorstellung war beendet.

Im Strome der herausdrängenden Menschen erschien Albrecht mit seiner Frau und Jane. Es folgte eine flüchtige Begrüßung mit Joseph, dann ging man die Straße entlang, Albrecht mit seiner Schwägerin voran, Joseph und Marie einige Schritte hinterdrein. Er sah, wie sich die Vorbeigehenden nach Jane und ihrem Begleiter umwandten, die beiden bildeten in der Tat ein stattliches Paar: Albrecht mit klirrenden Sporen in seiner reichen Uniform, Jane mit dem Federhut und der großen Toilette, deren seidene Unterkleider bei jedem Schritte raschelten und rauschten.

Auf Joseph und Marie sah niemand.

Noch achtundvierzig Stunden.

Sie hatten wochenlang bleiben wollen, aber ganz plötzlich hatte Jane ihn heute morgen gefragt:

»Ist es dir recht, wenn wir reisen? Ich langweile mich.«

»Wann?«

»Wann du willst. Vielleicht in zwei Tagen. Am Dienstag.«

»Gut.«

Er ging neben Marie und wechselte mit ihr gleichgültige Worte. In dem Gedränge der Menschen, die vom Theater heim eilten, verloren sie das vorn gehende Paar eine Zeitlang aus den Augen, sie gingen in diesem schwatzenden Gewühl so unbeachtet und einsam wie in einer Fremde.

Noch achtundvierzig Stunden! Dann fort und nie wiederkommen! Marie nie wiedersehen!

Bis heute hatte er mit sich gekämpft. Er hatte es vermieden, mit Marie allein zu sein, ihr nahe zu kommen, er wollte standhaft bleiben, und er blieb auch heute standhaft. Er zog ihren Arm nicht an sich und sagte nicht »Marie« und blickte sie nicht an.

Eine tote Konversation: »Was wurde im Theater gegeben?«

»Der Freischütz.«

»Geht ihr oft ins Theater?«

»Bisweilen.«

Ihre Hand lag ganz lose auf seinem Arm, aber sie fühlte, wie dieser Arm zitterte.

Mit einem sonderbaren Blick musterte Jane die weißen Gesichter, als sie – an der Schillerstraße wartend – die beiden in der Menge herankommen sah.

Vergebens drängte Albrecht: »Ihr wollt doch noch nicht heim? Wir werden doch den Abend zusammen sein?! Diesen vorletzten Abend?!« Sie lehnte es kalt ab:

»Ich bin müde. Gute Nacht.«

Albrecht bat noch einmal, mit einem feindseligen Blicke schaute er auf seinen Bruder und Marie, die stumm dabeistanden, aber Jane bot ihm kühl die Hand:

»Gute Nacht. Bis morgen. Also wie heißt das, wohin wir morgen fahren?«

»Herrenhausen.«

»Schön, Herrenhausen.« Sie sprach das Wort mühsam mit ihrem fremdartigen Accent. »Joe, deinen Arm. Auf Wiedersehen.«

Im Hotel ging sie schweigend in ihr Zimmer, während Joseph im Salon blieb und noch aus dem Fenster schaute. Es war früh, kaum elf Uhr, er hatte keine Neigung, schon schlafen zu gehen.

Er hörte sie drinnen mit Dash reden, eine Stunde lang, dann wurde es still. Auch draußen auf der Straße war es einsam geworden. Joseph hielt eine halbverbrannte, längst erloschene Zigarette zwischen den Zähnen und starrte fast ohne Gedanken vor sich hin. Es war finster im Zimmer, er ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Da fuhr er auf und öffnete die Augen; Lichtschein war im Zimmer, die Tür hatte sich geöffnet, und in der Tür stand Jane im Nachtkleid mit der Kerze in der Hand.

»Joe?« sagte sie und streckte den Arm mit der Kerze vor und suchte in der Dunkelheit nach ihrem Mann.

»Was?«

»Es ist zwei Uhr nachts. Du solltest schlafen gehen.«

»Ja, bald.« Er rührte sich nicht von seinem Platze.

Eine Minute stand Jane unbeweglich und wartete auf sein Mitkommen, dann, als er keine Miene machte, ihr zu folgen, brach der ganze dumpfe, niedergepreßte Grimm dieser Tage hervor.

»Ob dein Bruder mir den Hof macht und mich verfolgt mit seinen lächerlichen Anerbietungen, dir ist es gleich!«

Joseph blickte sie groß an und schwieg.

Mit einem mißtönenden Lachen fuhr sie fort: »Und es wird dir gleich sein, wenn nach ihm andre kommen werden, nicht wahr?«

Er rührte sich nicht von seinem Platze.

Ohne Zusammenhang und logische Gedankenverbindung sprang ihr Grimm über auf Marie:

»Um einer solchen Person willen! Weißt du, du machst dich lächerlich. Ich könnte alles verstehen und alles verzeihen. Ich könnte es verstehen, wenn mein eigner Mann mir fortgerissen würde durch eine Frau von Geist und Schönheit und blendendem Licht. Durch eine, die größer wäre als ich – aber so?! Das?! – Du machst dich lächerlich, lächerlich!«

Er schwieg und saß mit einer eisigen Ruhe in dem Sessel ihr gegenüber.

Und durch seine steinerne Kälte empört, sinnlos gemacht, suchte sie nach den verletzendsten Worten.

»Eine Larve, weiter nichts! Ein Gesicht, das vielleicht einmal schön war, gut, meinetwegen, aber eine Schönheit ohne Geist, einfältig, nichtssagend, so nüchtern, so grenzenlos nüchtern.«

Sie erschrak über ihre eignen Worte, die in dem dunkeln Zimmer schrill nachzuhallen schienen.

Die Kerze brannte herunter, in dem dünnen Nachtkleide begann sie zu frösteln.

Er saß, den Kopf auf die Hände gelegt und die Arme auf die Kniee gestützt, als ob er schliefe, er blickte ihr nicht nach, als sie ging.

*

Die große Sehenswürdigkeit des einstigen Königssitzes »Herrenhausen« ist die riesenhafte Palme, deren Glashaus so hoch emporragt, daß man es in weitem Umkreise von Hannover und den Dörfern aus sehen kann.

Tausendmal war Joseph als Junge und später als Offizier vorbeigeritten, aber er erinnerte sich, nur einmal in seinem Leben die Palme gesehen zu haben. Irgendwelcher Verwandtenbesuch war anwesend gewesen, und da die Fremden alles das zu sehen erhalten, was die Einheimischen zwar hochschätzen, aber selten oder nie betrachten, so hatte man damals auch ihn und die kleine Marie mit zu der Palme genommen.

Jetzt, da er wieder neben Marie am Fuß des gewaltigen Baumes stand, erinnerte er sich an jenen Tag aus der Kinderzeit mit einer Deutlichkeit von unheimlicher Schärfe. Er hatte damals an der Faserrinde des Baumes gezupft, was man ihm verbot, aber er zupfte nachher doch wieder daran, und zwar so energisch, daß er ein großes Stück abriß. Niemand sah es, nur die kleine Marie, die ihn mit großen, erschreckten Augen beobachtete. Natürlich war sie es, der er das erbeutete Stück Rinde schenkte, und als sie ein paar Stunden später im Kaffeegarten zum »Herzog von Braunschweig« mit den Fasern spielten, kam die Untat zur Kenntnis der Verwandten, wurde aber nicht bestraft, sondern belacht, und er erinnerte sich, wie eine der Tanten sagte:

»Ein toller Junge.«

Ein toller Junge – heute war er kein toller Junge mehr. Er hielt die Hand im hellen Handschuh auf die silberne Krücke seines Stockes gestützt, und als der Gärtner eine Handvoll Fasern von der Palme schnitt und sie im Kreise umherreichte, rührte Joseph keinen Finger danach.

Albrecht gab, immer zu Jane gewendet, in seiner pedantisch genauen Weise einen Kommentar des Baumes:

»Es ist die höchste Palme in ganz Europa. Sie ist ganz und gar einzig in ihrer Art. Und sie wächst noch immer. Früher war das Glashaus wesentlich niedriger, und man half sich damit, daß man den großen Behälter mit den Baumwurzeln immer tiefer in einen Erdschacht hinabließ. Dann hat man mit ganz enormen Kosten dieses neue Haus erbaut.«

Der Baum hatte in der Tat etwas Gewaltiges. Er erschien mit seinen kristallenen, üppigen Häusern, seinem wechselnden Wohnort, seinem Auf- und Niederschweben in künstlichen Schachten, seinen kostspieligen Bedürfnissen und der zauberhaften Pracht der ihn umgebenden feineren Vasallen wie ein königliches Lebewesen, das den Wechsel der Zeiten überdauert hat und in dieser Einsamkeit von Herrenhausen das Dasein eines Verbannten führt.

Es gab vergangene Tage, da Könige auf diesen Baum stolz waren und ihn hegten und ihn andern Königen zeigten. Aber seit Jahrzehnten kommen keine Könige mehr ins Palmenhaus, keine englischen Prinzen, keine Liebespaare vom Königshof, die in dem Dickicht der afrikanischen Schlingpflanzen und in dem betäubenden, feuchten, heißen Dufte der Palmen sich küssen. Nur Fremde kommen, nüchterne Leute, die für fünfundzwanzig Pfennige Eintrittsgeld von dem Gärtner botanische Informationen verlangen und genau zu wissen wünschen, wie hoch die alte Königspalme sei, wie breit an der Krone und wie alt.

Marie tastete nach Josephs Arm:

»Ich möchte – hinaus.«

Der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn, dieses Stehen in der beklemmenden, atemraubenden Hitze hatte ihr Gesicht mit einer fahlen Blässe überzogen.

Draußen in der Sonne wurde ihr besser. Sie sahen noch, wie der Gärtner die eiserne Tür in dem Glashause verschloß, damit kein Unberufener in das Haus der Palme eindringen könne, dann gingen sie durch die lieblichen englischen Gärten, die selbst Janes verwöhntes Auge fesselten.

Ueber die breite Dorfstraße, deren weiße Häuser und Villen – einst Wohnungen der Hofbeamten und der Kastellane und der Dienerschaft – leer und verschlossen in der Sonne blinkten, kamen sie am Schloß vorbei in die weiten, großartigen Anlagen des französischen Parks.

Jane war erstaunt.

Sie hatte nie dergleichen gesehen: dieser riesige, viereckige Platz, die endlosen, geradlinigen Hecken und in der Ferne blaue Berge, die den Horizont schließen.

»Das ist sehr schön,« sagte sie aufrichtig, und mit einem impulsiven Versuch, über einen Abgrund weg eine Brücke zu spannen, wandte sie sich – das erste Mal heute – zu Joseph:

»Sieh doch, Joe. Wie schön – nicht wahr?«

Noch einmal, zögernd, langsam sagte sie:

»– nicht wahr?«

Und dann flammte etwas auf in ihrem jungen Gesicht, das gleich darauf einer Totenblässe wich.

Er hatte nicht geantwortet, nicht einmal den Kopf nach ihr gewendet.

Albrecht, der zur Seite getreten war und die steinerne Sonnenuhr mit seiner eignen Uhr verglichen hatte – er versäumte das nie, wenn er in den Gärten von Herrenhausen war –, rief sie an:

»Sehen Sie hier, Jane: die Sonnenuhr.« Er erläuterte mit seiner langweiligen Genauigkeit Zeiger und Platte, dann bot er ihr wieder den Arm und führte sie weiter:

»Morgen sind Sie in Paris. Uebermorgen vielleicht in Versailles. Dann werden Sie uns und Herrenhausen vergessen.«

Sie hörte nicht, was er sagte. Sie hörte nur hinter sich den Kies knirschen unter den Schritten der beiden, die hinter ihr gingen.

»Und das ist das Theater.«

Albrecht führte sie die steinernen Sitzreihen hinauf und zeigte ihr den Blick auf die Bühne; er führte sie hinüber zur Bühne selbst, deren Kulissen aus Hecken bestehen, während vor jeder Kulisse eine Erzfigur steht: Tänzer, Fechter, Tänzerinnen – dieses Mal war sie wirklich überrascht!

»Das ist seltsam, wie seltsam das ist. Ein wirkliches Theater!«

Sie gingen hin und her und betrachteten jede einzelne Figur. Dann führte er sie über die steinerne Rundtreppe am Ende der Bühne hinab und . . .

Sie stand von neuem erstaunt: ganz von der Sonne überglänzt erhob sich jenseits der Hecken eine kolossale Wassersäule, deren riesige Wasserfülle in hundert Fuß Höhe zu Gischt zerstäubte.

»Das sind die berühmten Wasserwerke von Herrenhausen,« sagte er dozierend, »auch eine unsrer Sehenswürdigkeiten.«

Rechts, links, allenthalben rauschten Fontänen, stiebten Kaskaden, während die Sonne Regenbogen in die stäubenden Wasser malte. Er führte sie von einem Wasserbecken zum andern, sie gingen durch lange Heckengänge und fanden immer neue Fontänen. Ein breiter Wasserlauf, auf dem Schwäne schliefen, zog sich schnurgerade an beiden Seiten der französischen Anlagen. In den weiten, verlassenen Gärten war es still, nur die Wasser plätscherten. Wenn man nach langem Gehen an die Grenze des Königsgartens gelangt war, sah man auf grüne Wiesen und Felder, und jenseits dieser Wiesen in weiter Ferne hohe Schornsteine, die ihre dunkeln Rauchwolken unablässig kerzengerade in die Luft sandten.

»Was ist dort?«

»Linden, die Fabrikstadt.«

»Ah!«

Sie blickte lange hinüber. Die langen Reihen gigantischer, arbeitender Schlote hatten für sie etwas Heimatliches, das nach allen den sonderbaren Hecken, Palmen, steinernen Götterbildern und Goldfischen und schlafenden Schwänen an Jersey erinnerte, und an Boston, wo Jane in den schwarzen Höfen der väterlichen Fabrik noch vor wenigen Jahren umhergetollt hatte.

»Was sind es für Fabriken?« fragte sie nach einer Pause, »sind es Eisenfabriken?«

Albrecht zuckte die Achseln:

»Ich kann es nicht sagen.«

»Ich glaube, es sind Eisenfabriken,« sagte sie.

*

An dem Sandsteinsockel des ehernen Fechters, ganz vorn an der ersten Kulisse, war Marie stehen geblieben. Es war ein warmer Tag, aber sie zitterte vor Frost. Sie suchte nach einem Halt, sie konnte nicht weiter.

Und während ihr Mann Jane von Kulisse zu Kulisse führte, die einzelnen Figuren zu erklären suchte und von den prunkvollen Festen erzählte, die der Hof hier einst veranstaltet hatte, stand sie mit geschlossenen Augen.

Sie hörte die Schritte der beiden verhallen, die Stimmen immer ferner, eine traumgleiche Müdigkeit zog über sie hin.

Ein Vogel begann ganz in der Nähe zu zwitschern.

Dann legte sich ein Arm um ihre Schultern, eine Hand nahm ihre Hand. Sie öffnete nicht die Augen. Sie tat drei, vier Schritte und fühlte sich niedergezogen auf einen Steinsitz. War es die Sonne, die so warm auf ihre kalten Hände schien? Die Kälte schwand, und aus der Hand, die ihre Hände umspannt hielt, und aus der andern Hand, die auf ihrer Schulter lag, kam eine weiche Wärme, die auf der Schulter durch das dünne Sommerkleid unablässig wie ein warmer Strom drang.

Wieder begann der Vogel zu zwitschern.

Er hörte auf und fing von neuem an. Und schwieg wieder.

›Wird er noch einmal singen?‹ dachte sie, und sie wußte ganz genau und fühlte ganz genau, er werde es tun.

Richtig, er tat es!

Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, dann atmete sie tief auf und öffnete die Augen.

»Joseph!« sagte sie leise und schloß die Augen von neuem.

Mit starrem Gesichte saß er neben ihr. Hier an dieser selben Stelle hatten sie vor sechs Jahren als junge, glückliche Menschen in Winterkälte und Schnee Frühling gefeiert. Die er jetzt im Arme hielt, glich in keinem Zuge mehr der schönen, süßen Marie von einst.

Aber je länger er niederschaute, um so mehr schien das Gesicht der Frau sich zu ändern. Ein weicher, glücklicher Zug legte sich um den Mund, die blassen Lippen röteten sich, und nun öffnete sie nach einem langen, tiefen Atemzuge die Augen zum zweiten Male:

»Joseph –«

Die Augen waren dieselben geblieben, oder schien es nur so? Oder hatten sie nur heute, in dieser einzigen Stunde, den alten zauberhaften Glanz zurückgewonnen? Es war nichts Schmerzliches in Maries Blick, nichts von einem Bewußtsein, daß in wenigen Stunden der letzte Abschied kommen würde – nichts als der Ausdruck unsäglichen Glücks.

»Joseph –«

»Marie!!«

Er riß sie, außer sich, empor und preßte seinen Mund auf ihren Mund. »Marie – Marie – Marie –«

Tot und starr standen die alten steinernen Götterbilder und stumm und kalt die grünen Hecken, die in jedem Frühjahr, wenn sie aufleben und die Arme ausbreiten möchten, von der unbarmherzigen Hand des Gärtners in die leblose Form zurückgezwängt werden. In ihrem Schatten haben in hundert Jahren zahllose Menschen sich gefunden und sich getrennt, gelacht und geweint, getollt und gesündigt, waren Menschen überglücklich und Menschen verzweifelt.

Alles wiederholt sich, alles.

Einmal fuhr Joseph auf und spähte um sich: war da jemand?

Keine zehn Schritte entfernt gingen Albrecht und Jane vorüber. Sie suchten und blieben einen Augenblick stehen und schauten rechts nach dem Amphitheater und links nach der Bühne.

Er fürchtete sie nicht: mochten sie kommen, wenn sie Lust hatten, und ihn sehen, wie Marie in seinem Arme ruhte, – aber doch hielt er den Atem an. Um Maries willen.

Sie gingen weiter, und ihre Schritte verhallten von neuem.

Marie, die mit geschlossenen Augen an seiner Brust lehnte, hatte nichts gehört. Aber sie fühlte seinen Atem stocken und dann rasch gehen; ängstlich blickte sie auf:

»Joseph –?«

Sie sprachen nur wenig miteinander.

Sie fragte nicht: »Joseph, weshalb hast du mir das getan?«

Und er sagte nicht: »Ich habe immer nur dich lieb gehabt, Marie –«

Sie sprachen nicht vom Abschied und daß sie sich nie wieder finden würden.

Sie sprachen von damals:

»Weißt du noch –?«

»Weißt du noch –?«

Und sie wußten noch. Es war ja erst so kurze Zeit her: sechs Jahre seit der Liebeszeit, zwölf Jahre seit Maries Konfirmation, an die sie sich erinnerten: »Weißt du noch, ich kam herüber von Potsdam, in Fähnrichsuniform?« – und achtzehn Jahre, seit sie ein kleines Ding war, das bei Joseph lesen lernte und die erste Schiefertafel vollkritzelte.

Was sind achtzehn Jahre? Ein Nichts!

Aber den beiden erschienen sie wie eine Ewigkeit.

Sie sprachen von jenem Wintertage, da sie hier zusammen gewesen waren, und dem gleichen Gedanken folgend, blickten sie beide zu gleicher Zeit nach dem ehernen Fechter, dessen Gesicht und Nacken damals von Josephs Schneebällen überstiebt wurden.

»Wenn du zwölfmal triffst, soll das ein Zeichen sein, daß wir zusammen glücklich werden –«

Er hatte alle zwölf Male getroffen, aber glücklich –

Sie schauten sich an, jeder von einem unendlichen Mitleid für den andern erfüllt.

»Joseph –«

»Liebe Marie –«

Ich werde sie nie wiedersehen – das wußte er. Ich werde nie wiederkommen; aber wenn ich auch käme, Marie fände ich nicht mehr.

Er blickte über sie fort nach der lächerlichen Figur eines Dionysos und versuchte mit Anspannung aller Muskeln, Nerven, Gehirntätigkeit irgend einen banalen Gedanken zu fassen, irgend etwas Ernstes oder Lustiges oder – aber er war nicht im stande, seine Bewegung niederzuzwingen. Wie in jener Minute, da er Marie zum ersten Male wiedergesehen hatte, überwältigte ihn der Schmerz, und plötzlich zuckte ein fassungsloses Schluchzen durch seinen Körper.

Marie richtete sich auf und zog seinen Kopf an ihre Schulter:

»Weine nicht, Joseph – lieber Joseph!«

Sie trocknete seine Tränen, und sein Weinen wurde allmählich ruhiger. Mit einem merkwürdigen, unzusammenhängenden Einfall dachte sie daran, daß die andre ihn nie »Joseph« nannte. Immer nur mit englischen Abkürzungen.

Dieser Name wenigstens gehörte ihr, Marie, allein, und als ob sie den Namen liebkosen wollte, wiederholte sie zärtlich:

»Joseph – Joseph –«

Während sein Kopf an ihrer Schulter ruhte und sein Weinen leiser wurde, betrachtete sie ihn: wie jung Joseph noch aussah! Zwischen Schläfe und Auge zog sich eine feine Linie, die wohl noch niemand außer ihr bemerkt hatte, und über die sie nun leise mit den Fingerspitzen glitt, als ob sie sie fortwischen wollte. Aber sonst war es ein so junges Gesicht.

Es gab eine Zeit, wo sie zu ihm aufgeblickt hatte wie zu einer Respektsperson, als sie ein kleines Mädchen war und er ein großer Junge, der hoch zu Pferde am Hause vorbeiritt. Nun, heute war sie alt geworden und Joseph jung geblieben. Und noch ein Jahr oder zwei oder ein paar Jahre, dann würde sie fort sein, ausgelöscht und bald vergessen. Aber Joseph, den sie da im Arme hielt, würde weiter leben, noch zwanzig Jahre, vierzig Jahre, sechzig Jahre. Seltsam. Er wird hier in Herrenhausen vielleicht einmal umhergehen als ein ganz alter Mann, aber vielleicht gibt es dann gar kein Herrenhausen mehr. Dann leben ganz andre Menschen – Menschen, an die wir heute noch gar nicht denken, an die man sogar in zwanzig Jahren noch gar nicht denkt – und Joseph lebt immer noch.

Wenn er dann ausgehen wollte und mein Grab suchen, er fände es nicht mehr. Weil es nicht mehr existiert. Vielleicht gibt es dann überhaupt keine Kirchhöfe mehr. Die Menschen lassen sich verbrennen wie in alten Zeiten auf großen Scheiterhaufen, die prasselnd und blutigrot leuchtend ihre Flammen in die Luft schlagen –

»In die Luft schlagen –«

»Marie!«

Joseph fuhr auf und blickte mit seinem verweinten Gesichte erschreckt empor: »Marie, was ist?!«

Sie öffnete die Augen und sah ihn angstvoll an. Dann schlang sie mit einem wilden und doch nur schwachen Ungestüm ihre Arme um seinen Hals:

»Joseph! Laß mich nicht allein! Joseph, ich bin so allein!!«

»Marie, was – was ist –?«

»Geh nicht fort, Joseph! Geh du nicht fort!!«

Dann, hastig ließ sie ihn los: »Hör nicht auf mich, Joseph, nein, nein« – aber im nächsten Moment warf sie sich wieder an seine Brust: »Joseph, bleib bei mir, bleib bei mir!« Sie preßte sich zitternd in seine Arme: »Mich friert, Joseph, deck mich zu. Ach, mich friert so, Joseph, mich friert so, mich friert so!«

Er hörte ihre Zähne zusammenschlagen, ihre Hände waren eiskalt.

Er schaute sich hilfesuchend um: war da niemand, der helfen konnte? Aber es blieb ganz still ringsum, und mit ihren steinernen Gesichtern standen die Götter und Göttinnen im Kreise, während die Frau irre zu reden begann. Ihre Hände flogen im Fieber, sie lachte, sie weinte, ihr ganzer Körper bebte, und die Worte, die fortwährend von ihren Lippen kamen, verloren den Zusammenhang, wurden leiser, undeutlich.

Joseph wollte rufen, aber er tat es nicht. Er redete ihr zu: »Marie, beruhige dich; liebe, beste Marie, ich bleibe bei dir, ich verspreche es dir, ich – ich –« und er blickte sich wieder verzweifelt um. Kam denn niemand, der ihm helfen konnte?! Wo blieb Albrecht? Wo blieb Jane?!

Ihre zitternden Hände hielten wie mit Klammern seinen Hals umspannt; Joseph versuchte sich frei zu machen, um einen Moment Atem zu schöpfen und sich zu sammeln, aber die schwache Kraft ihrer Hände verdreifachte sich.

Halb sinnlos hob er Marie empor und trug sie die steinernen Stufen der Bühne hinab. Nur aus dieser Einsamkeit fort ins Freie, wo man vielleicht Hilfe finden würde oder einen Wagen, der sie heimbringen konnte! Er ging mit langen, raschen Schritten einen Heckengang entlang, immer zu ihr sprechend wie zu einem Kinde: »Ruhig, Liebchen, nun mußt du ganz ruhig sein, ja, ja –« und dann einen zweiten Heckengang, einen dritten – er fand den Ausweg nicht! Diese französischen Baumhecken von dreifacher Mannshöhe verdeckten nach allen Seiten hin den Ausblick, und als Joseph nach tausend Schritten keuchend aus den Hecken hinaus gelangte, sah er vor sich die Wiesen von Limmer. Er war in der falschen Richtung gegangen; nun mußte er den ganzen weiten Park noch einmal durchschreiten.

Einen Augenblick blieb er stehen, um Atem zu schöpfen; die Sonne schien ihre Glut verdoppelt zu haben, und der Schweiß perlte unter seinem Hut hervor und rann über sein Gesicht.

Joseph wandte um und ging den Weg zurück. Fortwährend sprach sie, während ihre Arme, so oft er keuchend anhielt, sich fester um seinen Hals preßten, als ob sie in solchen Augenblicken fürchtete, von Joseph fortgerissen zu werden.

Hecke um Hecke, Gang um Gang! Die feinen Adern seiner Augen schwollen blutrot, seine Kniee zitterten.

Da lag das kleine Königstheater wieder vor ihm. Still und einsam wie zuvor. In den Steingesichtern der Götter ein boshaftes Lachen.

Er konnte nicht weiter. Stumm, verzweifelt ließ er sich auf eine Steinbank fallen, die arme Last immer noch an seinem Halse. Er lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen und offenem, nach Atem ringendem Munde zurück, und Maries abgerissene Worte schienen ihm aus weiter Ferne zu kommen.

Aber Angst, Mitleid, Verzweiflung rissen ihn von neuem in die Höhe. Als ob sie kleiner und schmaler würde, duckte Marie sich frierend, bebend in seinen Armen zusammen; die Worte verloren den letzten Zusammenhang und lösten sich zu einem herzzerreißenden Weinen.

Er fühlte nicht mehr die Glut der Sonne, sondern schritt mit seiner Last stieren Blickes vorwärts. Merkwürdig, daß er in dieser letzten Anspannung die Ruhe gewonnen hatte, auf den Weg zu achten. Die Hecken hörten nach wenigen hundert Schritten auf, eine weite Allee uralter Bäume öffnete sich vor ihm – nun wußte er Bescheid: da drüben die Parkanlagen jenseits des Wassers waren der Georgengarten und links am Ende der Allee lag das Schloß.

Auf einer Bank saß eine Kindermagd und strickte, während ein paar Jungen und Mädchen, die ihrer Obhut anvertraut waren, Ball spielten.

Sie rückte bestürzt zur Seite, als er mit der Frau im Arme an die Bank herankam. Er ging ohne Hut, der Halskragen war auf der einen Seite aufgerissen und die seidene Krawatte herabgezerrt.

Schwer atmend sagte er:

»Sie müssen mir einen Gefallen erweisen und mir einen Wagen besorgen, Fräulein. Die Dame hier ist sehr krank.«

Das Mädchen verstand ihn nicht, er mußte die Bitte noch einmal wiederholen. Dann raffte sie ihr Strickzeug zusammen, rief die Kinder und ging eilends davon.

Zwei andre Kinder, deren Mutter oder Fräulein irgendwo in der Nähe sitzen mochte, kamen vorbeigelaufen, machten neugierig Halt und betrachteten Joseph und die Kranke mit großen Augen. Aber dann liefen sie weiter, spielten in der Allee Verstecken und kümmerten sich nicht mehr um die beiden.

Und Joseph, während die Kranke in seinen Armen fieberte, folgte mit den Augen dem Hin und Her der Kinder. Es war ein hübscher, fester Junge und ein etwas kleineres Mädchen, beide sehr fein und elegant gekleidet, in Matrosenanzügen mit ganz kurzen, schwarzen Strümpfen, gelben Knopfstiefeln und nackten Beinen.

Sie mochten sieben Jahre alt sein. Als Joseph von Deutschland damals Abschied nahm, waren diese beiden kaum geboren.

›Das ist die neue Generation,‹ dachte er, ›die kommenden Leute. Und wir hier sind die Verbrauchten.‹

»Marie!« rief der Junge, »such mich!«

Marie. – Joseph horchte auf. Wie wird der Junge heißen? Vielleicht heißt er Joseph.

Aber er erfuhr es nicht. Sie jagten davon, und er sah sie nur noch in der Ferne über die Einfriedigungen springen und dem strengen Verbot zuwider über den Rasen laufen.

War es nicht gestern, daß er selbst noch ein solcher Junge gewesen war? Oder nur ein paar Jahre, daß Marie so aussah wie das kleine Ding da im kurzen Kleidchen?

Nein. Nicht gestern. Zwanzig Jahre. Ein Menschenleben.

Einen Moment hatte er das Gefühl: es ist alles nicht wahr; alles nur ein wüster Traum! Als könnte er Marie emporreißen und sagen: »Komm, Mieze, wir wollen Verstecken spielen oder –« aber dann ging es über ihn hin mit einem eisigen Zittern.

Nichts von Traum! Er hielt kein kleines Mädel im Arm, sondern eine sterbende Frau!

Nach einiger Zeit kam der Wagen wirklich angefahren, eine sehr elegante Droschke mit zwei armseligen, schlecht geschirrten, langsamen Gäulen. Das kleine Dienstmädchen saß stolz auf den Sammetpolstern, die kleinen Mädchen neben ihr, die beiden Jungen auf dem Bock neben dem Kutscher. Die ganze Gesellschaft schien betrübt, daß die kurze Herrlichkeit schon zu Ende war.

Sie stiegen zögernd aus dem Wagen, die Jungen kletterten schweren Herzens vom Bock, dann trat Joseph heran und bettete Marie in die Kissen. Er deckte sie zu und hüllte sie in die Pferdedecken, die der Kutscher erstaunt und phlegmatisch ihm reichte.

Er setzte sich neben Marie, und während das Dienstmädchen und die Kinder im Kreise standen, befestigte der Kutscher auf das Geheiß des Herrn mit vieler Mühe und Umständlichkeit das Regendach über dem Wagen. Die Fenster wurden hinaufgezogen, die Türen ins Schloß gedrückt, und wie ein enger, dumpfer Kasten, wie ein schwarzer Sarg schloß sich der dunkle Raum um die beiden.

»Hü!« rief der Kutscher und knallte mit der Peitsche. Die armseligen Pferde zogen langsam an und gingen in müdem Schritt durch den tiefen Sand der Allee.

Ein Tor kam mit hohen, schmiedeeisernen Gittern, das Tor des Königsparkes. Nun war es passiert, nun begannen die Pferde auf der Chaussee zu traben, nun lag Herrenhausen hinter Joseph und Marie.

Sie würden nicht wieder dorthin kommen.

Nie.


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