Wilhelm Meyer-Förster
Heidenstamm
Wilhelm Meyer-Förster

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Zweites Kapitel

Am 3., 4. und 5. Mai 1888 gab es in Hannover eine Affäre von der besonderen Art, die man in der Donaukaiserstadt»a Hetz« nennt. Für die Reitschule und ihren alten Geschäftsfreund Abu war es eine sehr schwüle »Hetz«, für die Unbeteiligten eine sehr amüsante »Hetz«, alles in allem eine Sensationsgeschichte ersten Ranges.

Abus Prozeß war vielleicht nach Umfang und Bedeutung nicht zu vergleichen mit jenem berühmten Spielerprozeß, der einige Jahre später die Reitschule, Hannover, ganz Deutschland und die Nachbarstaaten in Atem erhielt, aber er war zum mindesten ein nettes, kleines Vorspiel, das, wie die Zeitungen urteilen, »für gewisse Verhältnisse, Lebenskreise, Gewohnheiten, Anschauungen und so weiter als symptomatisch zu gelten hatten«.

Auf jene Freude in den Januartagen nach Abus Verhaftung war für die Reitschule sehr bald eine außerordentliche Ernüchterung erfolgt.

Eine grausame Ernüchterung!

Am 23. Januar schrieb die »Kölnische Zeitung«:

»Ein Wucherprozeß besonderer Art wird demnächst in Hannover zu erwarten sein. Ein gewisser John Becker und so weiter – bereits verhaftet – Offiziere beteiligt – große Summen, unmäßige Prozente –« und der Artikel schloß mit den milden, gütigen Worten: »Hoffentlich gelingt es, hier einen der vielen Krebsschäden aufzudecken, unter denen junge, allzu vertrauensselige und unerfahrene Offiziere so schwer zu leiden haben.«

Die Reitschule liest für gewöhnlich keine Zeitungen, mit Ausnahme des »Militär-Wochenblatts« und irgend eines Berliner Blättchens, aber diese Nummer der »Kölnischen« ging von Hand zu Hand, wurde bei Kasten wiederholt laut recitiert und fand allgemeine Billigung. Man lächelte mit einem Augurenlächeln über das »vertrauensselig« und nannte das »unerfahren« einen etwas starken Ausdruck, ließ diesem Worte aber in Anbetracht der sonst »wohlwollenden und hochanständigen Gesinnung« des Artikels Verzeihung angedeihen.

Aber am 26. Januar, also nur drei Tage später, wurde die Reitschule in eisigen Schrecken versetzt durch den Leitartikel einer Zeitung, deren »notorische Absicht ist es, alles Große, Bestehende, Wohlhabende, Adelige und so weiter in den Staub zu ziehen«. Name dieser Zeitung und Inhalt jenes Leitartikels seien hier nicht erwähnt, nur so viel muß gesagt werden, daß in den Ausführungen dieses Blattes Abu Becker, verglichen mit seinen Schuldnern, wie eine Lichtgestalt erschien. Nicht daß sein schändliches Treiben nicht als solches gebrandmarkt wurde, aber es war gleichsam ein unschuldiges Kinderspiel im Vergleich mit der Frivolität der jugendlichen Geldnehmer. Unheimliche Epitheta wurden der Reitschule an den Kopf geworfen, Ausdrücke so stark, boshaft und ausgesucht brutal, daß ihre bloße Andeutung sich verbietet.

Auch dieser Artikel wurde bei Kasten verlesen, nachdem man alle Türen geschlossen und die Kellner hinausgeschickt hatte.

Man las mit gedämpfter Stimme.

Die Zigarren erloschen, und der Pommery wurde warm.

Und der Artikel nannte Namen! Namen!

»Sporleder – Krosseck – Zerbst – Graf Rohrbeck –«

Blaß drängte man sich um den kleinen Zestow, der das verdammte Blatt in der Hand hielt.

»Bin ich auch genannt?«

»Und ich?«

»Ich?«

»Nein! Nein! Du nicht! Du nicht! Heidenstamm auch nicht! Nein! Um Gottes willen, beruhigt euch doch!«

Sporleder saß wie eine Wachsfigur, und der immer fidele Rochus Rohrbeck hatte allen Humor verloren: »Ich sitze bei der Geschichte am tiefsten drin, wie immer, natürlich. Es wird faktisch unangenehm, es geht mir an die Nieren.«

Ein Trost war der, daß »diese hundsföttische Zeitung von Ministern, Kommandeuren, Generalen und so weiter nicht gelesen wird, daß sie für Kavalier- und Militärkreise quasi unter Ausschluß der Oeffentlichkeit erscheint. Niemand wird diesen Artikel zu Gesicht bekommen, niemand auch nur davon hören, man braucht sich wirklich nicht aufzuregen«.

Arme, harmlose Reitschule!

Tags darauf stand der infame Aufsatz in allen Zeitungen! Abgedruckt, nachgedruckt, ein wenig gemildert und zurechtgestutzt, aber im übrigen unversehrt und von entsetzlicher Deutlichkeit.

Und dann wurde die Reitschule nervös.

Jeden Tag brachte irgend eine Zeitung neue Details.

Jeden Tag.

Man war aus einem Selbsterhaltungstriebe heraus genötigt, stundenlang alle erreichbaren Zeitungen durchzufliegen: die Leitartikel, den politischen Teil, das Vermischte; man fand Notizen an den verborgensten Stellen dieser Blätter, man bekam solche Anklagen zu lesen, daß man allmählich anfing, an sich selbst zu zweifeln.

Ganz unmöglich, die Einzelheiten dieser beständigen Anzapfungen zu referieren; sie waren wie eine Ueberschwemmung, die bis in die kleinsten Provinzblätter sich ergoß. Väter, Mütter, Onkel, alle Verwandten lasen sie; auf den entferntesten, weltabgelegenen Rittergütern, auf die nur ganz selten ein Wochenblättchen sich verirrt, wurde die Affäre bekannt und mit Schrecken durchgesprochen.

Väter kamen von Litauen und weiter her angereist, um persönlich in Hannover Erkundigungen einzuziehen, aber sie erfuhren zu ihrem Troste, daß Abu Beckers Krallen denn doch nur einen verschwindend kleinen Teil der Reitschule erfaßt gehabt hatten. Beteiligt war jeder einzelne insofern, als die wenigen Opfer jedes einzelnen kameradschaftliches Beileid fanden, im übrigen aber stellte es sich bald heraus, daß, wie bei allen Sensationsaffären, das Gerücht ungeheuerlich übertrieben hatte. – »Am 3. Mai,« so schrieb der »Hannoversche Courier«, »wird der Prozeß John Becker vor der Strafkammer des hiesigen Landgerichts zur öffentlichen Verhandlung kommen.«

Oeffentlichen Verhandlung.

Dritten Mai.

In drei Wochen.

Oeffentlichen Verhandlung! Rochus Rohrbeck trank keinen Pommery mehr und rauchte nicht mehr.

Er kam auch nicht mehr zu Kasten, sondern verkehrte viel mit Juristen, deren einige er aus seiner Heidelberger Zeit kannte.

»Nette Leute,« sagte er einmal zu Joseph »verflucht schlau. O, lieber Heidenstamm, ich wollte, ich wäre damals in Heidelberg geblieben und wäre Jurist geworden. Wie ich es vorhatte. Bei Gott, ich hatte es vor. Man hätte viel gelernt, verflucht viel, und wäre nie diesem Gauner in die Krallen gefallen. Du kommst übrigens auch vor, lieber Joseph, als Zeuge, wir kommen alle vor. Jeder, der mit Abu zu tun gehabt hat. Wie denkst du dir das, wie erscheint man da? In Paradedreß? Oder wie?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich werde mich erkundigen und es dir sagen. Komm heute abend mal zu Michaelis, wir sitzen da alle. Ein paar Rechtsanwälte, ein paar Assessoren und so weiter. Lustige Leute, wahrhaftig, und haben was gelernt, mehr als wir. Unsereins hat ja nichts gelernt, da sitzt der Haken. Wer heutzutage nicht das ganze Gesetzbuch im Kopfe hat, ist futsch. Adieu, lieber Joseph. Was machen die Pferde? Wirst du im Sommer wieder Rennen reiten? Na natürlich. Erste Nummer. Was macht dein Bruder? Adieu, ich muß jetzt Karten besorgen.«

»Was für Karten?«

»Eintrittskarten. Zur Gerichtsverhandlung. Alle Damen quälen mich um Karten; ich soll dreißig Karten besorgen, stell dir das vor. Als ob ich der Präsident wäre. Sie kommen alle zu mir, weil sie gehört hätten, ich wäre der Hauptzeuge. Das stimmt ja, aber ich habe nie gehört, daß man als Hauptzeuge dreißig Karten bekommt. Uebrigens guter Witz: Karten! Karten haben mich bei Abu hereingelegt, und nun soll man – ja, wie denn? – wie war denn der Witz? Ich vergesse das immer. Karten so – und Karten so – na, ist ja egal. Adieu, Joseph, laß dich mal sehen. Uebrigens, ich nehme meinen Abschied. Ich werde Landwirt, Agrarier.«

»Abschied?«

»Wenn ich ihn nicht nehme, bekomme ich ihn, das ist klar. Den kriegt mehr als einer, ich will keine Namen nennen.«

Und als Joseph sichtlich erschrak, klopfte ihn der große Ostpreuße tröstend auf die Schulter:

»Du nicht, Joseph, du nicht. Du sitzt nicht tief genug in Abus Kreide. Und außerdem der große Joseph Heidenstamm! Unser künftiger Zieten! Solche Leute läßt man nicht laufen, lieber Joseph. Trink einen Cognac, mein Junge, adieu. Aengstige dich nicht. Au revoir.«

*

Am Ostermontag wurde zu Charlottenburg die Rennsaison eröffnet. Joseph fuhr hinüber und gewann sämtliche vier Rennen, an denen er sich beteiligte. Alle Zeitungen berichteten über diesen glänzenden Erfolg, und die Reitschule empfing ihn nach seiner Rückkehr mit einem Bravo. Er quittierte mit einem matten Lächeln.

»Im Reiten bist du noch der alte,« sagte sein Freund Zestow, »aber sonst, lieber Joseph, bist du, weiß Gott, nicht mehr der alte. Fehlt dir was? Oder sorgst du dich um den Prozeß? Das ist ja Blech. Wenn einer mit einem blauen Auge davonkommt, dann bist du es.«

»Mag sein.«

»Na, also.«

Hundertmal ermahnte ihn Marie bei ihren Spaziergängen:

»Joseph, halt dich doch gerade.«

Aber wenn er auch jedesmal gehorchte und sich einen Ruck gab, so ging er wenige Minuten später wieder vornübergebeugt mit dem Blick zur Erde.

»Joseph, dir fehlt etwas, du hast einen Kummer, den du mir verheimlichst, du hast kein Vertrauen zu mir.«

Dann lächelte er und suchte nach einem Scherzwort, um sie zu beruhigen.

Es war Frühjahr geworden, aber von der Hochzeit sprachen sie nicht mehr. Marie hatte bisweilen noch davon angefangen, sie fühlte indessen, daß Joseph jedesmal stockte und unruhig wurde.

Der Prozeß mußte zunächst einmal vorüber sein, dann wurde wohl alles anders, und Joseph würde wieder heiter werden.

Außerdem: sie waren ja beide noch so jung, sie konnten wirklich noch warten.

Auf den zähen und eisigen Winter, der noch Ende März alle Bäche und Wasserrinnen draußen vor der Stadt gefangen hielt, folgte ein warmes Frühjahr, und an einem der ersten schönen Tage gingen sie zusammen durch den Wald, der in weitem Halbkreise die Stadt im Osten und Süden umzieht.

Marie trug ein neues Frühlingskleid; die neue Frühlingsjacke, der Frühlingshut, alles an ihr war neu, sogar die Stiefelchen, die nach der letzten Mode nicht mehr schwarz, sondern hellgelb waren und dem Fuß eine hübsche Form gaben.

Ein warmer Wind ging durch die Buchen, das Unterholz begann schon zu grünen, und als sie nach einer langen Wanderung gegen Abend sich auf den Heimweg machten, gab es rings um sie her ein solches Konzert von Drosseln und Finken, daß Marie alle paar Schritte stehen blieb und ein »Horch!« flüsterte.

»Immer, wenn es Abend wird, fangen sie an zu singen. Horch, wie das lieb klingt.« Sie sprach ganz leise, um den Finken, der dicht über ihnen auf einem Zweige saß, nicht zu stören.

»Ein Liebesduett,« sagte Joseph, und Marie blickte ihn an.

»Ja, ein Liebesduett.«

»Liebe Marie.«

»Joseph.«

Sie standen lange aneinander gelehnt und lauschten.

Es war Abend geworden, als sie zu Hause anlangten. Die Wohnung der Frau von Schulenberg lag in einer der Nebenstraßen der Königstraße. Als sie mit ihrem Manne vor zwanzig Jahren hier eingezogen war, hatte das Haus mit seinen gelben, unverputzten Backsteinen einen neuen, freundlichen Eindruck gemacht, es war indessen rasch verwittert und nahm sich neben den stattlichen Neubauten der Nachbarschaft ziemlich dürftig aus.

Aber Joseph, ein so elegantes Junggesellenquartier er auch selbst im Westen der Stadt inne hatte, war nie auf den Gedanken gekommen, daß seine Braut eigentlich nicht recht standesgemäß wohne. Das gelbe Haus mit der schäbigen Haustür, die im Laufe der Jahre alle Farbe verloren hatte, mit der dunkeln Holztreppe und dem lächerlich engen Treppenhause war und blieb seine eigne Heimat. Auf diesem Holzgeländer hatte er als Junge geturnt, bei dem Mietskutscher im Hinterhause seine ersten Pferde gestriegelt; er kannte hier jede Stufe, jeden Türgriff; sein Heimweh in dem bittersten Jahre der Kadettenzeit hatte diesem Hause gegolten.

Seine Excellenz der General von Dewitz, wenn er von Berlin kam, oder Albrecht Heidenstamm, wenn er von Berlin kam, oder die wenigen Freundinnen der Frau von Schulenberg rieten immer wieder zu einem Wohnungswechsel, aber die Baronin, die mit ihren vierzig Jahren wie eine alte Frau aussah und eine alte Frau geworden war, schüttelte dann ängstlich den Kopf:

»Nein, nein – nein – oder nur, wenn Marie es will.«

Marie wollte nicht, man mußte mit jedem Pfennig rechnen, ein Umzug würde nur Geld gekostet haben, und eine moderne, elegante Wohnung paßte durchaus nicht zu ihrer Mutter beschränkten Mitteln.

»Wenn Joseph und ich heiraten, ist das hier ja ohnehin zu Ende.«

Auf dem stockfinstern Vorplatz, den der sparsame Hausverwalter immer erst sehr spät erleuchtete, verabschiedeten sich die beiden. Joseph war zum Souper eingeladen bei einem Kameraden, der von der Reitschule in sein Regiment zurückversetzt war und Abschied feiern wollte.

»Also bis morgen, Mieze. Ich hole dich ab. Wir könnten auch einmal wieder nach Herrenhausen, wie?«

»Gern. Willst du nicht einen Augenblick hinauf kommen und Mama guten Abend sagen?«

»Ja, schön. Aber wirklich nur eine Minute. Es ist fürchterlich spät geworden.«

Sie klingelten, und während drinnen die schlurfenden Schritte der alten Anna näher kamen, hielten sie sich noch in einem letzten, langen Kusse umarmt.

Die Tür öffnete sich zunächst nur um einen schmalen Spalt, weil die alte Magd stets die Sicherheitskette in Anwendung brachte:

»Wer ist da?«

Und Marie, von einer ihrer plötzlichen tollen Launen gepackt, schob das Gesicht in den Spalt und gab ein schreckliches Brummen zur Antwort.

»Jeses Maria!«

»Ein Bär!«

Aber die Alte drinnen faßte sich schnell, weil sie diesen Bär seit undenklichen Zeiten kannte, und während sie die Kette löste, die einem alten, schwer zu handhabenden System angehörte, vernahm man sie jenseits der Tür lamentieren:

»Mariechen! Ach Gott, ach Gott!«

»Was ist denn passiert?«

»Was haben wir gewartet! Was haben wir uns geängstigt!«

»Weshalb denn?«

»Der Herr Rittmeister ist ja da!« Sie bekam die ganz verdrehte Kette immer noch nicht los, so daß man unwillkürlich erwägen mußte, welch nettes Hindernis dieser Sicherheitsapparat zum Beispiel bei einer Feuersgefahr sein würde.

»Wer ist da, welcher Rittmeister?«

»Der Herr Albrecht. Seit vier Stunden wartet er. Heute mittag ist er gekommen, um zwei, von Berlin. Ach Gott, ach Gott!«

Marie wandte sich zu Joseph: »Albrecht ist da, von Berlin.«

»Ja, ich höre es.«

Es war so finster, daß sie nicht sehen konnte, wie aus seinem Gesicht plötzlich alle gute Laune gewichen war, aber sie begriff aus dem Tone seiner Stimme, wie wenig ihm die unerwartete Ankunft des Bruders zusagte.

Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie und behielt sie in der ihrigen, als die Tür sich nun endlich öffnete und die Alte ihnen ins Gesicht leuchtete.

»Komm, Joseph.« Und leise fügte sie hinzu: »Aergere dich nicht. Zu deinem Souper gehst du doch, das setze ich durch.«

Sein Mantel und Säbel und Mütze und ihre neue Jacke wurden dicht nebeneinander an den Kleiderständer gehängt, dann trat sie vor den kleinen Korridorspiegel, um ihre Haare zu ordnen.

Mit den vom raschen Gehen geröteten Wangen, in dem knappen Tuchkleide, das ihre Büste straff umspannte, sah sie so frisch und reizend aus, daß Joseph sie in einer seltsamen Erregung betrachtete.

»Marie!«

Sie wandte sich nicht um, immer noch vor dem Spiegel beschäftigt: »Ja?«

»Wenn er heute nicht hier wäre, ich bliebe bei dir, ich ginge nicht fort. Was liegt mir an dem langweiligen Souper.«

»So bleib doch, tu's doch.«

»Nein.« –

Er trat hinter sie und zog sie vom Spiegel rückwärts an sich. Dann schauten sie beide unwillkürlich in das schmale Spiegelglas, in dem ihre Augen sich begegneten. So blickten sie sich unverwandt an, erst ernst, dann ein wenig lächelnd, bis das Lächeln schwand und die Blicke in einer unendlichen Sehnsucht sich zusammenketteten.

Aus Maries Kleidern duftete es wie Frühlingsatem, den sie aus dem Walde mitgebracht hatte, er vermischte sich mit dem süßen Hauch der weißen Maiglöckchen an ihrer Brust und schien den engen Raum ringsum zu füllen. Die alte Magd war wieder in die Küche gegangen, aus den Zimmern kam kein Laut, die kleine Korridorlampe brannte mit ihrer bescheidenen Flamme, immer noch standen die beiden, Marie rückwärts in Josephs Arm gelehnt, im stummen Vorwärtsschauen.

Der Spiegel hatte etwas Magisches. So, mit diesem starrenden Blick, hatte Joseph Marie nie angesehen, nie zuvor, nie – und der Blick im Spiegel zwang das schwer atmende Mädchen, auszuhalten, die Augen nicht fortzuwenden. Ihre feinen Nasenflügel bebten, der Mund war leise geöffnet – dann endlich riß sie sich los von dem Spiegel.

»Joseph!«

Sie warf sich herum in seine Arme und schlang die Hände um seinen Nacken: »Joseph! Liebster!«

Sie suchte seine Augen, seine wirklichen Augen, mit einer förmlichen Angst: »Sieh mich an, Joseph!«

Dann langsam löste sich die Spannung: »Ja, so sieh mich an, ja, so – so.«

Das waren wieder seine lieben, zärtlichen Augen wie sonst, nichts mehr von diesem starrenden Blick, den sie im Spiegel erwidert hatte.

Er fühlte, wie sie in seinem Arme zitterte, und liebkosend fuhr er ihr mit der Hand über die Stirn:

»Liebe Marie – liebe Marie.«

Und es war ihm, als ob sie wieder ein kleines Mädchen sei, das sich ihm in die Arme warf und Schutz suchte.

»Meine bliebe, kleine Marie.«

»Ja.« Ein glückliches Lächeln ging über ihr Gesicht: »Deine kleine Marie. Nenn mich immer so! Nenn mich immer so, Joseph.«

Eine Tür öffnete sich, Sporen klirrten, Albrecht stand in dem Eingange zum Wohnzimmer.

»Pardon.«

»Albrecht, guten Abend!«

»Albrecht! Wie geht es?«

»Danke.« Er reichte Bruder und Cousine die Hand. Man tauschte alle konventionellen Fragen, die man stellt, wenn man sich längere Zeit nicht gesehen hat. Wann war er gekommen? Wie lange wollte er bleiben? Nur einen Tag? Wie ging es ihm? Und was macht Berlin?

Marie musterte seine Uniform:

»Laß dich betrachten. Ah! Generalstab! Mit Generalsstreifen! Du änderst deine Uniformen alle paar Jahre. Erst Artillerist, dann Ulan, dann Kürassier, und nun das allerfeinste: Generalstab.«

Er lächelte mit einem kaum merklichen Anfluge von Selbstzufriedenheit, dann sagte er kühl:

»Ich warte auf euch schon ziemlich lange. Meine Zeit ist kurz bemessen.«

»Wir waren im Walde.«

»Wenn du uns zu treffen wünschtest,« sagte Joseph, »so hätte es von Berlin aus nur einer Postkarte bedurft. Ich liebe sie nicht sehr, diese unerwarteten, freudigen Ueberraschungen.«

Albrecht sah ihn mit einem merkwürdigen Blicke an:

»Ich auch nicht. Sie lassen sich leider nicht immer umgehen.«

»Leider.«

»Wir wollen doch nicht hier im Korridor stehen bleiben,« sagte Marie, und im Gehen flüsterte sie Joseph zu: »Sei gut, ich bitte dich, laß es nicht zum Streit kommen.«

Sie umarmte die Mama, die in der Fensterecke im Schatten saß und bei der herzlichen Begrüßung und Josephs Handkuß nur still nickte. Nach einer Pause deutete diese mit ihrer zitternden Hand ans den Rittmeister:

»Albrecht ist da.«

»Ja, Mama.«

»Von Berlin.«

»Ja, Mama.«

»Er sieht gut aus, gut. – Gib mir deine – Hand, Albrecht, so – ja. Ich sehe krank aus, nicht wahr? Alt, alt. Ja, ja.«

»O nein.«

»Doch, doch, doch.«

Das war alles, was sie an diesem Abend sprach.

»Verzeih,« sagte Joseph nach einer stummen Pause zu seinem Bruder, »wenn ich dich heute abend allein lassen muß. Ich bin eingeladen zu Gerhard Mathieus Abschiedssouper, ich habe ihm versprochen zu kommen. Wann sehen wir uns morgen?«

»Gar nicht. Ich reise mit dem Zwölfuhrzuge heute nacht wieder nach Berlin. Ich bin deinetwegen hier, vielleicht kannst du es also arrangieren, daß du an dem Souper nicht teilzunehmen brauchst.«

»Meinetwegen? Du bist hier meinetwegen?«

»Ja.«

Er stand an den weißen Kachelofen gelehnt, der immer noch trotz der Frühlingsluft draußen geheizt wurde. Sein gelbes, hageres Gesicht mit dem dunkeln Schnurrbart blickte Marie an, während er mit Joseph sprach. In der ganzen folgenden Scene wandte er nur ganz selten mit einem kurzen Blicke seine scharfen Augen auf den Bruder, in aller übrigen Zeit gingen diese Augen beständig über Maries Gesicht und Gestalt.

Marie ihrerseits, die in der Mitte des Zimmers saß, dicht unter der Hängelampe, und von dieser hell beschienen, sah nur auf Joseph, der, durch die ganze Breite des Zimmers von Albrecht getrennt, an dem Bücherschranke lehnte.

»Du wirst mir vielleicht wie früher sagen,« begann der Rittmeister, und er schlug lässig ein Bein über das andre, so daß seine Sporen leise klirrten, »ich hätte mit deinen Angelegenheiten mich nicht zu befassen. Das ist eine Auffassung, die durchaus korrekt erscheint, solange deine Verhältnisse sich in guter Ordnung befinden. Sie wird hinfällig in dem Augenblicke, wo sie sich als derangiert darstellen.«

»Auch dann nicht.« Josephs heisere Antwort klang wie eine Drohung, aber der Bruder fuhr fort mit derselben kalten, beinahe lässigen Ruhe:

»Dein Name ist mein Name, ich lege Wert darauf, daß dieser Name sich nicht mit dem kleinsten Makel bedeckt.«

»Makel?!«

»Joseph?!« Marie war aufgesprungen und stürzte ihm entgegen. »Bleib ruhig, ich bitte dich!«

Die kranke Frau saß in ihrer Ecke wie teilnahmlos, aber ihre verwelkten Hände zitterten, und sie flüsterte leise, unhörbar:

»Kinder, Kinder.«

Der Rittmeister hatte sich nicht von seinem Platze am Ofen gerührt.

»Vielleicht liegt dir daran, daß wir diese Unterredung unter vier Augen fortsetzen, nicht in Gegenwart deiner Braut und« – er verneigte sich gegen Maries Mutter, die er beinahe vergessen hatte – »der Mama.«

Joseph war weiß im Gesicht. Es war klar: Albrecht wußte alles. Seine Spielschulden, seine Wettschulden, diese Berglast, die er seit Monaten, seit einem Jahre allein geschleppt, von der er Marie nie etwas erzählt hatte. Vielleicht weil er sie schonen wollte, vielleicht weil er nicht den Mut gefunden hatte, das schwankende Gerüst seiner letzten Glückshoffnung zu berühren.

Nun würde Marie alles hören.

Der Atem stockte ihm.

Aber Albrecht hatte die Frage geschickt genug gestellt, es gab darauf nur eine Antwort:

»Ich will die Unterredung hier. In meiner Braut Gegenwart.«

»Gut.« Der Rittmeister nahm ein Notizbuch aus der Tasche, ein einfaches schwarzes Heft, wie man es in den Papierhandlungen für wenige Pfennige kauft. Er war auch in solchen Kleinigkeiten sparsam. Und er begann, indem er einen Schritt näher an die Lampe trat, vorzulesen. Kaum einer der Schuldposten Josephs fehlte. Dieser hannoversche Prozeß, der vor der Tür stand, hatte alle sonst so geduldigen Gläubiger in Aufregung und Besorgnis versetzt, und in der richtigen Erwägung, daß Herrn von Heidenstamms älterer und vortrefflich rangierter Bruder ihr bester Vertreter sein werde, hatten sie die »kleinen« Angelegenheiten zunächst einmal ihm unterbreitet.

Er las geschäftsmäßig klar, langsam, der Reihe nach.

Maries Hände, die immer noch Josephs rechten Arm umklammert hielten, wie um ihn zurückzuhalten, zitterten stärker und stärker, dazwischen klang das eintönig eilige Ticktack der Standuhr und ein leises Murmeln aus der Ecke, wo die Baronin saß, ein Murmeln, auf das niemand achtete.

Ueber Joseph kam eine merkwürdige Ruhe.

Mit jeder neuen Schuldforderung, die sein Bruder verlas, schien es ihm, als falle Stein um Stein von seinem Herzen. ›Nun weiß Marie das,‹ dachte er, ›nun das – nun auch das – das – nur weiter. Endlich weiß sie es, endlich wird es zwischen uns klar.‹

Er zog sie leise an sich und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, dann streichelte er mit ganz ruhiger Hand ihre Haare.

Albrecht schloß das Buch und blickte auf. »So.«

»Ist das alles?«

»Wieso alles?«

»Du könntest ja etwas vergessen haben.«

»Ich habe nichts vergessen.«

»Schön.«

Der Rittmeister kam aus der Fassung: »Wenn du diese Schulden bezahlt hast, bist du mit deinem Vermögen zu Ende. Und dann« – er schien sich auf noch ein Letztes zu besinnen, das er zu erwähnen vergessen hatte. Er trat ganz bis an den Tisch heran, stützte beide Hände auf die Platte und sah dem Bruder scharf ins Gesicht – »du hast, wie man gestern in Berlin erzählte, ›Frangipani‹ gekauft? Am Ostermontag?«

»Jawohl.«

»Von Baron Oppenheim?«

»Ganz recht.«

»Für zehntausend Mark?«

»Für zwölftausend Mark.«

»Wie willst du, wenn es zu fragen gestattet ist, das Pferd bezahlen?«

»Es ist bezahlt.«

»Bezahlt?«

»Wie ich eben sagte.«

»Und womit? Wovon?«

»Mit Geld, mit was sonst. Mit Geld, das ich, wenn es dich zu hören interessiert, gewonnen habe. In Berlin. Am Ostermontag.«

»Im Spiel?«

»Ja, im Spiel.«

Mit einem funkelnden Blick maß der Rittmeister ihn von oben bis unten, dann wandte er sich mit einer verächtlichen Bewegung zur Seite:

»Ein Spieler! Und weiter nichts.«

Joseph erwiderte den Blick nur einen Moment lang, dann legte er beide Arme um Marie und führte sie nach dem Stuhl am Tisch.

»Komm, Marie, setz dich. So. – Du weißt nun alles, Marie. Ich hätte es dir eher sagen sollen, aber ich habe nicht den Mut gehabt. Ich will mich nicht entschuldigen, oder wenigstens nicht jetzt.«

Er beugte sich neben ihrem Stuhl auf ein Knie und hielt ihre beiden Hände in den seinigen.

Nun schaute Marie ihn an. Ihr Gesicht schien in der dämmernden Beleuchtung um Jahre gealtert. Sie hielt den Mund geöffnet, als ob ihr die Kraft fehlte, ihn zu schließen. Der Kopf war zwischen die Schultern hinabgeneigt und der Blick von Tränen verschleiert.

»Hab Mut, Marie.«

Eine große Träne löste sich von ihrer Wimper und fiel auf seine Hand.

»Ticktack« ging die Uhr mit einer beängstigenden Schnelle, sonst war es totenstill im Zimmer. Das Murmeln in der Ecke hatte aufgehört. Irgendwo im Hause – war es oben oder unten? – begann jemand Klavier zu spielen, aber ganz langsam und nur mit einem Finger: »Wenn's Mailüfterl weht und vorbei ist der Schnee.«

»Du wirst die Güte haben,« begann der Rittmeister, der wieder im Hintergrunde am Kachelofen lehnte, »mir mitzuteilen, wie du dich zu arrangieren gedenkst.«

Maries Hände, die unter Josephs leisem Druck ruhig geworden waren, begannen von neuem zu zittern; bei Albrechts erstem Worte, das die Stille zerbrach, ging über sie ein Frost.

Joseph preßte ihre Hände fester, seinem Bruder antwortete er nicht, er wandte nicht einmal den Kopf.

»Da heben die Blauveilchen die Köpfe in die Höh'.«

Der Klavierspieler, wohl ein Kind, tippte mit seinem Finger vorsichtig und immer erst die neue Taste suchend, auf das Instrument. Er griff auch bisweilen daneben, aber mit viel Geduld brachte er die Melodie doch schließlich zu Ende. Dann spielte er mit derselben Mühe das Lied noch einmal, und schließlich, ein wenig rascher, ein drittes Mal.

Alle vier lauschten. Wie man in der tiefsten seelischen Depression seine Aufmerksamkeit irgend einem gleichgültigen Vorgange zuwendet.

»Marie« – er zog ihren Kopf nahe an sich, so daß ihre tränenfeuchte Wange an der seinen lag – »es wird alles wieder gut.« Er flüsterte so leise, daß nur das Mädchen seine Worte verstand. »Wir werden mit der Heirat noch warten müssen, bis ich alles geordnet habe, aber du wartest, nicht wahr?«

»Ja.« Sie stammelte es fast unhörbar.

Er stand auf, und ohne seinen Bruder anzusehen, sagte er, als ob er zu irgend einem fremden Zuhörer spräche:

»Ich habe zwei Jahre lang für gute Freunde und Bekannte und für Gott weiß wen Rennen geritten und Rennen gewonnen. Ich bin drei, vier Monate lang auf der Landstraße gewesen, in Baden, in Hamburg, in Berlin, in ganz Deutschland. Für andre habe ich auf deren Pferden die Preise davongetragen, und ich selbst habe dabei ein Vermögen zugesetzt. Man lebt bei diesen Reisen in den teuersten Hotels, in der opulentesten Gesellschaft, man kann sich nicht absondern, und schließlich sucht man unsinnigerweise die Kosten im Jeu hereinzubringen. Sagt man einmal: ›In Baden reite ich nicht, oder nach Berlin fahre ich nicht,‹ so gibt es ein allgemeines Kopfschütteln: ›Heidenstamm kommt nicht! Weshalb nicht? Weil er ein armer Schlucker ist.‹ Man wird angestarrt, als ob Gott weiß was mit einem los wäre. Es mag sein, daß andre sich für derartige Reisen von den Rennstallbesitzern entschädigen lassen, ich für mein Teil liebe das nicht. Wäre ich ein Jockey, der für Geld reitet, so hätte ich mir ein Vermögen erarbeitet, so habe ich es verloren.«

Der Rittmeister, der kein Auge von Marie ließ, wandte eine Sekunde den Kopf zu seinem Bruder:

»Nun? Und?«

»Ich habe mir in allzu vorsichtiger Weise, als der Pedant, den du in Geldangelegenheiten aus mir hast machen wollen, stets gesagt: ›Du kannst dir nicht selbst Rennpferde kaufen. Das ist eine kostspielige Sache, bei der von zehn immer neun ihr Geld verlieren.‹ Hätte ich es nur getan! Hätte ich im vorigen Frühjahr, wie ich wollte, ›Stuart‹ gekauft, so stünde ich heute anders da. Ich habe auf ›Stuart‹ neun Rennen gewonnen mit mehr als fünfzigtausend Mark, aber nicht für meine Rechnung, sondern für die des Herrn von Treskow. Dann sagen die Leute: ›Ja! Aber die Ehre! Wer hat die Ehre von diesen neun Rennen?! Der Herr von Treskow oder Heidenstamm? Treskow bekommt nur das Geld!‹ Ehre und Ehrenpreise, das ist für unsereins ein brillantes Geschäft! Wenn alles schief geht, kann ich mich als Goldschmied etablieren und einen Laden auftun: silberne Peitschen und silberne Kannen und silberne Becher und silberne Bowlen, ein ganzes Zimmer voll. Ein wahres Vergnügen, zwischen dem Zeugs in seiner Wohnung zu sitzen!«

»Und?«

»Das ›und‹ ist sehr einfach; von jetzt an reite ich meine eignen Pferde. Mit ›Frangipani‹ wird der Anfang gemacht. Du sollst ihn sehen, Marie, nächste Woche wird der Hengst hierher transportiert. Ein Riese! Ein Prachtkerl! Der beste Steepler im Lande!« Seine Augen leuchteten, alle Sorge schien wie fortgeweht. »Und er geht unter mir wie ein Kind. Ich setze dich selbst einmal darauf, Mieze. In diesem Sommer sollst du nun endlich reiten lernen. Gestern bekam ich eine Depesche – wo steckt sie? – da, lies: Tepper bietet mir fünfzehn Mille für den Hengst, drei mehr als ich gezahlt habe. Aber ich gebe ihn nicht her, nicht für zwanzig.« Und hastig, mit einem plötzlich aufblitzenden Stolz, trat er mit zwei, drei Schritten dicht vor den Rittmeister: »Wer kann denn Frangipani reiten? Du? Selbst du nicht! Du hast ihn viermal geritten, Bredow hat ihn geritten, die Jockeys haben ihn geritten, und er war geschlagen, jedesmal. Nur unter mir hat der Hengst gewonnen, in neun Rennen der Reihe nach!«

Er sah nicht den zornsprühenden Blick des Bruders, er ging auf und ab im Zimmer, immer fröhlicher, immer von dem Pferde erzählend und von den großen Hoffnungen, die er auf sich und das Pferd für die neu beginnende Rennsaison baute.

Noch vor zwei Jahren war, wenn die Rede darauf kam, wer der beste Reiter der Armee sei, das einstimmige Urteil: »Albrecht Heidenstamm.« Mit seiner düsteren Ruhe und der unvergleichlichen Sicherheit im Sattel war er jahrelang der Heros der Rennplätze. Seine zahllosen Rennsiege hatten ihm eine beispiellos glänzende Carriere gesichert. Aus seinem Artillerieregiment wurde er zur Kavallerie versetzt, dann in die Garde, schließlich zum Generalstabe.

Aber wie ein Meteor war vor jetzt zwei Jahren ein andrer erschienen, dem Glück und Siege auf der Rennbahn in kürzester Frist die dominierende Stelle verschafften. Das war – ein seltsamer Zufall – der eigne Bruder des berühmten Reiters.

Sie trafen oft auf der Rennbahn zusammen, und fast regelmäßig behielt im Endkampfe der jüngere Bruder die Oberhand.

Sie sprachen bisweilen darüber, wenn Joseph in der ersten Zeit den natürlichen Wunsch hatte, das Mißgeschick seines älteren Bruders vor diesem selbst in ein milderes Licht zu stellen, aber Albrecht war darin nicht empfindlich:

»Laß doch das, das ist ja Unsinn. Man kann nicht immer ein guter Reiter bleiben. Man wird älter und läßt nach. Das geht jedem so, und wird dir auch einmal so gehen. Ich freue mich aufrichtig, daß du es bist, der mich ablöst.«

Er freute sich damals wirklich, nichts war ja auch natürlicher.

Das Verhältnis der Brüder zu einander hatte sich indessen langsam verändert. Als Junge und auch später noch war Joseph in seiner weichen Art dem berühmten und bewunderten Bruder gegenüber immer nachgiebig, gehorsam gewesen, in einer gewissen Verehrung; aber mit seinen eignen größeren Erfolgen und der Selbständigkeit, vor allem nach seiner Verlobung mit Marie hatte das aufgehört. Die Bevormundung, die Albrecht ihm immer noch zeigte, erschien ihm anmaßend und lächerlich, und die eigentümlich frostige Haltung, die der ältere Bruder bei der Verlobung eingenommen hatte, errichtete zwischen den beiden eine Scheidewand.

Mit klirrenden Sporen ging Joseph auf und ab:

»Man muß das Glück zwingen. Während andre Leute mit meiner Hilfe die Preise einstrichen, habe ich dumm dabeigestanden; das hört auf. Wenn ich Erfolge habe, bin ich in einem einzigen Jahre aus allen Sorgen.«

»Oder du hast sie verdoppelt.«

»Sicher nicht.«

Er ging hochaufgerichtet, sein Gesicht von innerer Erregung gerötet, jung und lebenslustig:

»Adieu, Marie, leb wohl, bis morgen. Adieu, Mama.« Vor Albrecht blieb er einen Moment stehen. In diesem Glücksgefühl von Hoffnung und Vertrauen auf seine Kraft war alle Bitterkeit in ihm geschwunden.

»Wann fährst du? Um zwölf? Ich werde an die Bahn kommen.« Und er reichte ihm die Hand: »Du meinst es ja gut mit mir, ich weiß, aber du sorgst dich unnötig.«

Albrecht gab ihm die Hand. Etwas Seltsames stieg ihm in die Kehle. Er hatte in seiner Art Joseph früher lieb gehabt, vielleicht mehr, als er es sich selbst je gestanden hatte. Das Gefühl kam ihm, daß jetzt mit einem freundlichen Worte alles wieder gut gemacht werden und das brüderliche Verhältnis wieder hergestellt werden könnte. Vielleicht auf einer andern Basis als früher: nicht mehr ein Bevormunden und Bevormundetwerden, sondern ein Zusammenstehen, eine wirkliche brüderliche Freundschaft.

Aber seine verschlossene Seele, die nie einen Freund gehabt hatte, fand auch in diesem entscheidenden Augenblicke das versöhnende Wort nicht.

»Adieu. Laß das nur: an die Bahn kommen. Es ist ja nicht nötig.«

»Also adieu.«

»Adieu.«

Marie ging mit Joseph hinaus, nur die Baronin blieb in ihrer Ecke sitzen, während Albrecht immer noch an dem weißen Ofen lehnte.

›Geh ihm nach,‹ dachte er, ›sprich freundlich mit ihm, ohne den kalten, geschäftsmäßigen Ton. Setz ihm auseinander, welch ein Wahnsinn das ist, auf Turf und Turfglück die Zukunft zu bauen. Wenn du gütig und herzlich mit ihm redest, ist Joseph so leicht zu lenken.‹

Aber nach einer Weile hörte er draußen die Korridortür sich öffnen und dann sich schließen.

Es wurde still, Joseph war fort.


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