Wilhelm Meyer-Förster
Heidenstamm
Wilhelm Meyer-Förster

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Vor dem großen, weißgrauen Hause, das der Justiz geweiht ist und den merkwürdigen Namen »Justizpalast« führt – obwohl es weder außen noch innen, weder nach seinen Bewohnern noch nach seinen Besuchern irgend etwas mit einem Palaste gemein hat –, gab es am 3. Mai eine glänzende Anfahrt. Die meisten Leute, die hier zu tun haben, erscheinen bescheiden zu Fuß, eine kleinere Zahl benutzt Pferdebahn und Omnibus, die Anwälte kommen, wenn sie es eilig haben und ihre Praxis das gestattet, per Droschke, und wieder andre werden unentgeltlich in einem verschlossenen Wagen herbeigeführt.

Am 3. Mai aber gab es eine Auffahrt ersten Ranges. Man konnte glauben, vor einem Theater zu sein. Equipagen rollten vor mit Dienern, und wieder Equipagen mit Dienern, und wieder, und wieder; Rochus Rohrbeck erschien mit seinem Juckergespann, Franz Zestow im Buggy, vor dem eine nette Traberstute trottete, – fast war es verwunderlich, daß in dem Korso die Mailcoaches und Viererzüge fehlten.

Kein Portier stand bereit, den Damen beim Aussteigen behilflich zu sein, und als die jungen Ladies mit zusammengerafften Kleidern die kahle Steintreppe emporstiegen, schlug ihnen das Herz.

Welch ein seltsames Haus, welch ein graues Haus! Ein Haus ohne Höflichkeit und Wärme. Riesige Treppen, weite, endlose Korridore und allenthalben weiße Zettel, auf denen dem Ankömmling gedruckte Befehle entgegenstarrten:

»Nicht rauchen!«

»Nicht anklopfen!«

»Nicht laut sprechen!«

»Nicht ausspucken!«

Mein Gott, wenn man nun doch laut sprach oder – obwohl man das nie getan hatte und nie tun würde – ausspuckte?! Was geschah dann? An allen Treppen und Ecken und Türen sieht man Herren mit verbissenen, drohenden Gesichtern, die sich durch einen blauen Rock mit blanken Knöpfen als Leute vom Gericht ausweisen und alle neu Ankommenden mißfällig betrachten. Sie geben offenbar genau Obacht, ob jemand ausspuckt, und dann wehe dem Missetäter!

In den langen Gängen, in denen sich auf der einen Seite Holzbänke und auf der andern zahllose numerierte Türen befinden, stehen oder sitzen viele Leute mit bedrückten oder verdrossenen Mienen, die vorübergehenden Damen böse anglotzend. Man sieht da verwegene Gesichter, ruinierte Gesichter, traurige Gesichter, armselige, hochmütige, weinende, ein solches Gemisch von Leiden und Stumpfsinn, wie man es nirgendwo wiederfindet, außer in andern Justizpalästen.

In diesem Wirrwarr von Türen und Gängen, die alle einander gleich sehen, verirrt man sich und fragt endlich ängstlich einen der Uniformierten:

»Bitte, würden Sie die Freundlichkeit haben, uns zu sagen, wo Nr. 67 ist?« – worauf er die Augenbrauen finster zusammenzieht und mit einer schreckenerregenden Stimme sagt:

»Dritter Gang links.«

Die Sonne scheint nicht, obwohl es Maientag ist. Und unwillkürlich denkt man, in dieses Haus könne sie nie hereinblicken.

Kleine, lustige Damen, die auf der Eisbahn oder im Ballsaal die muntersten Geschöpfe sind, werden hier ganz still und gehen verschüchtert neben der Mama, die sich den Anschein gibt, als sei sie ruhig und fest wie immer, während sie in Wahrheit genau so erschreckt und ängstlich ist wie die Töchter.

Wie jammervoll muß den wirklich Schuldigen oder den fälschlich Beschuldigten zu Mute sein, wenn sie in dieses Haus kommen!

Sie sitzen da stundenlang und warten, warten. Die Luft wird dumpfer, stickiger, eine solche schwere Stimmung legt sich auf die Menschen, daß sie schließlich verstört vor dem Richter erscheinen.

Es weht wie Grabesluft durch die Korridore. Tausend Jahre Gefängnis und tausend Jahre Zuchthaus wurden in jedem der Zimmer diktiert, und dort hinter den hohen Flügeltüren spricht man die Todesurteile.

Erst als die Damen nach Kreuz- und Querfahrten Nr. 67 erreicht hatten, wurde ihnen freier ums Herz. Da schwirrte es von bunten Uniformen und reizenden Kleidern, da stand Graf Rochus inmitten einer Gruppe und erzählte die Anekdoten seiner juristischen Freunde, da gab es artige Gerichtsdiener, die in liebenswürdigster Weise Rede und Antwort standen; ach, man atmete auf!

Wieder unter »Menschen«!

Und immer voller wurde es auf dem langgestreckten Korridor. In einer Fensternische stand Fräulein von Schulenberg mit Joseph Heidenstamm, neben den beiden Excellenz von Dewitz. Marie war wieder die schönste, ganz ohne Frage, obwohl sie blaß aussah und unruhig vor sich hin blickte.

Als man vom langen Stehen müde wurde, wagte es eine kleine Comtesse, auf einer der unheimlichen Bänke Platz zu nehmen, und das tapfere Beispiel fand Nachahmung. Bis die Damen in Rosa und Hellblau und dem ganzen bunten Glanz ihrer Frühjahrstoiletten die Wand entlang eine Reihe bildeten wie im Ballsaal, wenn man sitzt und auf die Tänzer wartet.

Ganz plötzlich ein Geraune und Geflüster die Reihe lang:

»Da kommt er!«

»Wer?«

»Da!«

»Wer denn? Wer denn? Sag doch! Abu?«

»Bewahre! Großmann!«

Lächelnd ging der berühmte Berliner Verteidiger durch die Reihen, bald von diesem angehalten, bald von jenem. In seinem Talar sah er mit dem klugen, heiteren Gesichte aus wie jemand, der auf ein Maskenfest geht. Er war oder würde werden – das wußte er ganz genau – der Held des Tages. Er war das stets, bei allen Prozessen; nicht der Angeklagte, sondern der Advokat bildete den Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit.

Daun erschienen Herr Weißenburger und seine Leute. Man kannte sie nicht und beachtete sie nicht, obwohl Rochus Rohrbeck und Sporleder allen Anlaß gehabt hätten, das zu tun.

Aber wer kennt Herrn Weißenburger? Den kennen nur die Leute vom Fach. Die Tätigkeit dieses Mannes führt ihn kreuz und quer durch ganz Deutschland; wie ein Stoßvogel erscheint er bei allen Prozessen, die »auf das Interesse weitester Kreise Anspruch erheben dürfen«.

Er ist der Mann, der die Zeitungsberichte verfaßt, sie hektographisch vervielfältigt und mit Eilpost an die Redaktionen der großen Blätter versendet. Alle fürchterlichen Prozesse und alle sensationellen Prozesse sehen Herrn Weißenburger am Stenographentische; er lebt von diesen Ereignissen, oder richtiger gesagt, er sammelt hier sein hübsches Vermögen.

Niemand, der irgendwie mit solchen Prozeßaffairen zu tun hat, sollte diesen Mann vernachlässigen, denn er vermag viel. Er gibt dem Zeitungsbericht die Farbe, schreibt kleine Einleitungen, mildert, verstärkt, tönt ab und verschweigt schonungsvoll, was seine Bekannten nicht in den Zeitungen publiziert sehen möchten.

Aber wie gesagt: weder Rochus Rohrbeck noch Clemens Sporleder hatten in ihrer Weltunerfahrenheit je von der Existenz eines solchen Mannes gehört, so daß Herr Weißenburger wirklich keinen Anlaß hatte, die Zeugenaussagen beider sowie das originelle Kreuzverhör, dem Herr Doktor Großmann beide Herren der Reihe nach unterzog, zu mildern. Und so kam jener schauderhafte, lächerliche Zeitungsbericht zu stande, der Rochus und Clemens vier Wochen später das Genick brach.

Unmöglich, diesen ganzen Prozeß zu beschreiben, so interessant er auch ohne jede Frage sich gestaltete.

Abu Becker, der wie ein Gentleman gekleidet erschien, saß am ersten Tage still und blaß, so daß der gutmütige Rochus für seinen alten Geschäftsfreund trotz der zehn Monatsprozente und aller Mahnbriefe ein kleines Mitgefühl hatte.

»Sie müssen ihn da verdammt schlecht beköstigt haben,« sagte er in der Pause, »und Abu war immer sehr verwöhnt und hatte einen schwachen Magen, so daß er mir im Juli seine Briefe immer von Karlsbad zukommen ließ.«

Aber am zweiten Tage blickte Abu heiterer, denn er bemerkte zu seinem eignen höchsten Staunen, wie bei des Doktor Großmann Kreuzverhör, Zwischenfragen und Randbemerkungen sein – Abu Beckers – Charakter in immer hellerem Lichte erschien.

Und am dritten Tage bei des Doktors großem Plaidoyer überkam den fünf Monate hart kasteiten Abu eine seltsame Bewegung. Er hatte bisher in ehrlicher Selbsterkenntnis nie daran gezweifelt, daß seine Tätigkeit eine zwar hervorragend praktische, aber doch nicht tadellose sei; nun erfuhr er vor Hunderten von Menschen und in öffentlichster Oeffentlichkeit, daß er in großer Verblendung sich selbst vollständig ungerecht beurteilt hatte.

Er hatte Geld auf Zinsen geliehen, ja, zu außerordentlichen Prozenten, ja, er hatte gejeut, ja, dabei gewonnen, ja – aber mit wem hatte er es zu tun gehabt?! Mit jungen Leuten, die sehr oft sich vollständig zahlungsfähig erwiesen. Er hatte Verluste gehabt, enorme! Keine Zeuge, der Abu, diesem verkannten, verlästerten, öffentlich in Zeitungen gebrandmarkten, unglücklichen Manne eine direkte Schlechtigkeit nachsagen konnte! Keiner!

»Jeu! Spiel! Ein Laster, zugegeben, aber, meine Herren Richter, die Hand aufs Herz, ein Laster, das unendlich verbreitet ist. Denken wir an unsre Voreltern, die auf niedersächsisch-germanischem Boden Haus, Hof und Weib verspielten! Denken wir an Lessing, der das Spiel so sehr liebte!«

Rührung zog durch Abu Beckers Seele. Wenige Menschen können es vertragen, öffentlich über alle Maßen gelobt zu werden, und zu diesen wenigen gehörte Abu nicht, nein. Er war ein Mann, und als solcher zwang er seine Tränen zurück. Sonst hätte man Abu Becker weinen gesehen, wahrhaftig.

Zwei waren im Saale, die weder auf den berühmten Verteidiger, noch auf Abu, noch auf des Staatsanwalts etwas schwächliche Rede viel achtgaben, sondern auf der letzten Bank bei einander saßen in einem großen Glücksgefühl. Das waren Joseph und seine Braut. Drei Tage lang ward Zeuge auf Zeuge vorgerufen, Rochus, Sporleder, Krosseck und mancher andre; über Joseph Heidenstamm war das Gewitter gnädig fortgezogen. Vielleicht, weil seine Zeugenschaft zu unbedeutend erschien und für den Angeklagten nichts Gravierendes enthielt. Nun war das Verhör geschlossen, die Gefahr vorüber, Joseph in dem ganzen Prozesse nicht einmal erwähnt.

Marie saß an die Bank gelehnt, den Kopf etwas hintenüber geneigt. Sie war glücklich, aber eine tiefe Müdigkeit und Abspannung malten sich auf ihrem Gesichte. Dunkle Schatten lagen um die Augen. Sie hatte das Glücksgefühl jemandes, der vom Ertrinken gerettet wurde.

Es war zu viel gewesen. Drei Tage in Angst, drei Tage mit schwatzenden Damen und galant plaudernden Kavalieren, mit Zeugenverhören und endlosen, immer gleichen Erörterungen von Zinsen, Wechseln und Schuldverschreibungen. Das alles in der dumpfen Luft, die viele Damen ohnmächtig werden ließ.

Diese nüchternen, geschäftlichen Auseinandersetzungen nahmen allen Charm von den glänzenden Offizieren, die dort unten im Saal vor dem Präsidenten wie unbeholfene Kinder antworteten, gefragt wurden, hinausgehen mußten, wieder hereingerufen wurden, die vor Verlegenheit nicht wußten, wie sie gehen und stehen sollten, und die ihre ganze Unerfahrenheit und Lebensunklugheit hier vor einem Auditorium glänzender Damen und Herren bekennen mußten.

Oft in diesen Tagen hatte sie das Gefühl: »Wenn Joseph hereingerufen wird, das ertrage ich nicht. Ich vergehe vor Scham« – und das viel entsetzlichere Gefühl: »Ich könnte ihn nicht mehr lieben, wenn ich ihn dort, in dieser hilflosen Lage, sehen müßte!«

Nun war es vorüber! Alle Angst umsonst gewesen.

Ja, sie war glücklich, dankbar, aber ihr war, als sei sie um viele Jahre älter geworden. Joseph und seine Kameraden, diese Ideale ihrer Mädchenzeit, erschienen in einem andern Lichte, nüchterner und farbloser. Zum erstenmal hatte sie einen Einblick getan in die Welt von Schein und Hohlheit, sie war nun kein Kind mehr.

Es wurde spät, die Lichter im Saale entzündeten sich.

»Wollen wir gehen, Joseph?«

Er fuhr auf aus einem wachen Träumen: »Ja, ja, komm.«

In den weiten Korridoren brannte nur hie und da ein Licht, über dem ganzen grauen Hause lag jetzt etwas Totes, Gespenstisches. Nirgendwo ein Mensch, alles schauerlich einsam.

Sie preßte sich dicht an ihn, der so unbekümmert das grausige Haus durchschritt, als ob er auf der Georgstraße im hellen Tageslichte spazieren ginge.

Da hatte sie wieder das Gefühl des Geborgenseins an seiner Seite. Er war doch der Stärkere, an den sie sich anlehnen konnte, immer, der sie in aller Not beschützen würde. Kein Heros, wie sie einst geträumt hatte, ein Mensch mit Fehlern und Schwächen, für einen kritischen Blick vielleicht unbedeutend und klein; aber er und sie gehörten zusammen. Sie würden sich gegenseitig stützen und fest zu einander halten.

Die frische Luft des kühlen Maienabends schlug ihnen entgegen, sie traten auf die Straße hinaus, und das finstere Hans lag hinter ihnen, für immer.

»Nie wieder dort hinein!«

Sie gingen an der Hochbahn entlang bis zur Königstraße. Vor dem Tivoli brannten die bunten, kleinen Lampen, die den Eingang des fashionablen Gartens markieren, und die lustige Melodie eines Wiener Walzers tönte zu ihnen hinüber. Um den Heimweg abzukürzen, schritten sie durch den Konzertgarten, der Königstraße und Schiffgraben verbindet, vielleicht würden sie im Vorbeigehen ein paar heitere Gesichter sehen und in dem Gewoge lustiger Menschen die trübe Stimmung der letzten Stunden vergessen. Aber der Garten war leer. Alle die vielen tausend bunten Lampen flimmerten in Kränzen und Gewinden an den Balkonen und Galerien, die Kristallgläser klingelten im Abendwinde aneinander, die Kapelle spielte die lustigsten Tanzmelodien, nur das Publikum fehlte. Keine Offiziere und keine Damen. Der große Prozeß lag heute an seinem letzten Abend wie ein Alpdruck über der ganzen Stadt.

Schweigend verließ das Brautpaar den Garten und legte schweigend den letzten Teil ihres Weges zurück.

»Soll ich dich hinaufbegleiten, Marie?«

»Nein, Joseph. Geh lieber heim und schlafe, ich bin sterbensmüde. Morgen früh müssen wir beide zeitig heraus, du weißt doch: unsre Verabredung.«

»Ja, richtig«

»Hattest du das vergessen?«

»Bewahre. Nur momentan.« Und mit einem schwachen Versuche zu lächeln, sagte er: »Du wirst dich verschlafen, Mieze.«

»Ach, ich! Ich wache jeden Morgen um fünf auf! Punkt sechs bin ich draußen auf der Bult; es ist ja nur zehn Minuten von hier aus zu gehen. Wo treffen wir uns?«

»Vor der großen Tribüne.«

»Schön. Du kommst zu Pferde?«

»Natürlich. Du wirst dich wundern, wie ›Frangipani‹ galoppiert, du wirst deinen Spaß daran haben. Du müßtest überhaupt jeden Morgen draußen sein, es gibt nichts Schöneres als solch einen Frühlingsmorgen. Uebrigens findest du da Gesellschaft: Gräfin Ella Munster ist tagtäglich bei den Frühgalopps, oft auch ihre Schwester.« Er war wieder heiter und ganz wie umgewandelt: »Verschlaf dich nicht. Nachher gehen wir alle zusammen Kaffee trinken, im ›Neuen Hause‹ oder im Zoologischen Garten.«

»Schön.«

»Also gute Nacht, Liebchen.«

»Gute Nacht, Joseph.« Sie hielt seine Hand fest –: »Joseph?«

»Was?«

»Joseph, wir müssen sehr dankbar sein. Daß, daß es so gekommen ist, so gut. Nicht wahr?«

Er nickte und küßte sie schweigend, dann trennten sie sich.

Joseph schlug den Heimweg ein; als er aber schon beinahe sein Haus erreicht hatte, ging er langsamer und zögerte. Eigentlich war es eine Rücksichtslosigkeit, diesen Abend nicht mit Rochus und den andern zusammen zu sein, wie es verabredet war. Schließlich mußte er doch auch wissen, wie das Urteil ausgefallen war und wie der Prozeß geendet hatte.

Außerdem war er hungrig, seit heute mittag hatte er nichts gegessen.

In der Weinstube traf er indessen niemand.

»Der Prozeß immer noch nicht zu Ende?«

»Nein, Herr Baron.«

»Geben Sie mir einen Schoppen Rotwein und etwas zu essen.«

Es war elf Uhr, als die ersten eintrafen:

»Ein Jahr Gefängnis, gar nichts, eine Bagatelle. Der Berliner hat Abu schön herausgelogen!«

»Nicht möglich!«

»Faktum.«

Allmählich füllte sich die kleine Weinstube, und endlich erschien auch Graf Rochus.

»Kinder, ich verhungere! Kellner, ein Stück Brot! Speisekarte.«

Er stürzte ein großes Glas Wein hinunter und aß Brotstücke, die er von einem Brotlaib schnitt und in den Mund stopfte.

»Ich habe zehn Pfund abgenommen in drei Tagen! Was sagt der Mensch dazu! Aber wer jetzt noch ein Wort von diesem Prozesse spricht, bei Gott, den mord' ich – Was ich essen will? Irgend was! Ganz egal! Liebe Kinder, seid gut zu mir in dieser letzten Zeit, ihr habt mich nicht mehr lange. Ich steige in die Versenkung, und niemand sieht mich wieder. Es war doch schön hier, weiß der Teufel!«

Als Joseph um Mitternacht gehen wollte, geriet der lange Kürassier außer sich:

»Was denn?! Gehen?! Heute?! Joseph, du bist wohl des Kuckucks! Macht mal Platz da! Kleiner, setz dich da hinüber, Joseph kommt neben mich. Hierher, Joseph! Ein Glas her. Da, Joseph, trink. Junge, Junge, du hast in diesen drei Tagen ein unmenschliches Glück gehabt, wie immer. Aber, Junge, ich gönn's dir, bei Gott. Wenn ich einem Menschen in der Christenheit was Gutes gönne, dann dir, Joseph. So ist's recht, hier neben mich. Kinder, wir wollen mal anstoßen, an diesem verdammten Tage muß irgend einer hochleben, damit wenigstens ein Mensch heut 'ne Freude hat. Auf Joseph, Kinder, und auf seine Braut! Er ist der einzige, der aus diesem vermaledeiten Hannover sich was Schönes holt, und zwar das Allerschönste! Joseph Heidenstamm, Fräulein Marie – hoch!!«

»Hoch!!«

Die Stimmung wurde etwas lustiger.

»Hübsch war es,« sagte Graf Rochus, »wie dieser Berliner Rechtsverdreher den ganzen hohen Gerichtshof mit seinem Sermon über das Jeu zum besten hielt. Weiß der Teufel, es war das einzig Vernünftige, was in den ganzen drei Tagen geredet worden ist. Alte Germanen, Lessing, Haus, Hof und Weib – famos gesagt. Haus, Hof und Weib, stellt euch das vor, Kinder, so was gibt's heute nicht mehr. Das war noch Jeu im großen Stil! Heutzutage spielen die Leute um Hosenknöpfe. Es ist kein Mut mehr in der Welt, keine Schneid. Nehmt mal da die Flaschen weg! Kellner, einen Wischlappen und Karten!«

»Wir wollen doch heute nacht nicht mehr mit Spielen anfangen?« sagte Joseph.

»Just! Erst recht!« Er holte aus den Hosentaschen einen Haufen Geld und legte ihn neben sich.

»Ich nicht.«

»Auch du, mein lieber Joseph.«

»Sicher nicht.«

»Doch, doch. Wird's nun bald mit dem Wischlappen?! Der ganze Tisch schwimmt. In vier Wochen sitzt man in Ostpreußen und pflückt Kirschen. Falls sie schon reif sind. Ihr könnt da euern Rochus jeden Tag auf den Bäumen sitzen sehen. Das ist da mein einziges Amüsement, positiv. Ich esse die Dinger für mein Leben gern, namentlich die schwarzen, ich werde euch einen Korb schicken.«

Er warf acht Karten auf den Tisch, die er ohne Sorgfalt in zwei Reihen ordnete; dann mischte er und zählte flüchtig sein Geld.

»Zweitausend Mark, eine sehr anständige Bank. Faites le jeu, messieurs, allons! Joseph!«

»Ich spiele nicht.«

»Also nicht. Schön. Los!« Er warf zwei Karten rechts und links, strich seine Gewinne ein, zahlte die Verluste aus und begann von neuem. Das ging mit solcher Geschwindigkeit, daß er in jeder Minute zwei-, dreimal warf, einkassierte, auszahlte, um, wenn die Karten zu Ende waren, mit einer erstaunlichen Schnelligkeit wieder zu mischen und von neuem zu beginnen.

In den fabelhaft kurzen Pausen zündete er seine Zigarre an, die nach drei Zügen wieder verlosch, trank ein halbes Glas Rotwein und stieß, ohne nach ihm hinzusehen, seinen Nachbar in die Seite:

»Joseph!«

Joseph lächelte. Er saß mit verschränkten Armen in dem bequemen Sessel zurückgelehnt und beobachtete den Freund. Der baumlange Kürassier war als ein Kind voriges Jahr nach Hannover gekommen und würde als genau dasselbe Kind wieder fortgehen. Harmlos, gutmütig, ein schlechter Reiter, der alle Pferde zu Schanden ritt, gegen die Männer grob und gegen die Frauen, auch die einfachsten, stets ein vollkommener Gentleman, immer guter Dinge, immer hungrig, immer durstig und zu jeder Nacht- und Tageszeit auf das Jeu versessen.

»Joseph!«

»Laß mich in Ruhe.«

Wie wird dem armen Rochus zu Mute sein, wenn er nun den bunten Rock für immer ausziehen und in der Einsamkeit von Pillkehmen sich begraben muß! Er wird die Sache zunächst nicht tragisch nehmen, natürlich nicht, aber wie wird er sich zurücksehnen.

»Joseph!«

»Prost, Rochus.«

Der Kürassier drehte sich zur Seite und sah ihn an: »Ich dachte, du schliefst, Joseph.«

Sie blickten sich einige Sekunden ins Auge, zuerst lächelnd, dann ernster. Sie verstanden beide den Blick, er bedeutete: »Was wird nun aus unsrer guten Freundschaft? Wer weiß, wo und wann wir uns mal wiedersehen!«

Dann klopfte Rochus ihm aufs Knie:

»Geh schlafen, Joseph, ich dispensiere dich. Hast recht, spiel nicht, wir beide hätten das nie anfangen sollen, dann wäre uns verdammt wohler zu Mute.«

Und schwermütig trank er sein Glas aus, zündete seinen Zigarrenstummel an und mischte.

»Le jeu, messieurs.«

»Wir wollen zusammen nach Hause gehen, Rochus. Wie lange spielst du noch?«

»Schön, Joseph, famos. Also sagen wir noch genau fünfunddreißig Minuten, dann ist es eins. Dann gehen wir, bestimmt.«

Aber um eins saß die Bank im Verlust und konnte unmöglich abbrechen.

»Noch zehn Minuten, Joseph, keine Sekunde länger.«

*

Vier Uhr morgens. Hinter den schweren Vorhängen graute der Morgen.

Rochus lehnte sich zurück und trank ein großes Glas Wasser mit einem Zuge leer.

»Joseph, es ist vier Uhr.«

»Geh nur.«

»Joseph, ich bin hundemüde.«

»So geh doch, laß mich.«

Der Kürassier beugte sich zu ihm hinüber und fragte leise:

»Wieviel hast du verloren, Joseph?« Und als er keine Antwort bekam, beobachtete er eine Zeitlang stumm des andern Spiel. Im stillen dachte er: ›Ja, ja, so geht's immer. Man kommt mit den besten Vorsätzen, und es nützt nischt. Zwei Stunden lang sieht man zu und freut sich, wie standhaft man ist, und in der dritten Stunde schmeißt man mit dem Gelde, als ob's Zuckerbohnen wären.‹ Plötzlich fuhr er von seinem Stuhl auf:

»Joseph! Du bist verrückt!«

»Laß mich!«

Eintönig ging das Spiel hin und her. Der Zigarren- und Zigarettenqualm im Zimmer war kalt geworden und lag wie eine graue Wolke unter der Decke. Man trank nicht mehr und rauchte nicht mehr, aber die Karten fielen nach wie vor rechts und links.

Der Kellner schlief, die meisten Herren waren fort, nur einige wenige saßen noch um den Tisch, an dem Sporleder seit drei Uhr morgens die Bank hielt.

Der Kürassier schaute noch eine Zeitlang dem Spiel zu und ärgerte sich über Josephs Verluste, aber das Jeu mit seinem beständigen Wechsel von Glück und Mißgeschick war für ihn eine allzu gewohnte und alltägliche Beschäftigung, als daß er über eine gewisse Zeit hinaus wegen Gewinn und Verlust eines andern seine Müdigkeit überwinden konnte. Er machte noch einen schwachen Versuch, ein Streichholz in Brand zu setzen, die Hand kam indessen nicht so weit, denn ihr Herr war mittlerweile eingeschlafen.

Nach einiger Zeit begann er zu schnarchen, laut, immer lauter, fürchterlich, es klang in dem kleinen Zimmer bizarr und wirkte durch das Steigen und Fallen der Töne grotesk – aber niemand achtete darauf.

Sporleder mischte die Karten von neuem: »Sie schulden mir jetzt dreitausend Mark, Heidenstamm, stimmt das?«

»Hm.«

»Es ist fünf Uhr vorbei, ich denke, wir hören bald auf.«

Niemand antwortete, und der Bankhalter nahm das als eine stillschweigende Ablehnung seines Vorschlages.

Joseph legte seine Taschenuhr vor sich auf den Tisch. Um sechs Uhr mußte er draußen sein auf der Bult, bei Marie.

Jeder Satz schlug fehl, und der Zeiger der Uhr rückte langsam weiter. – Halb sechs. Es war die höchste Zeit, aufzuhören, wenn er noch rechtzeitig hinauskommen wollte. – Aber er spielte weiter: noch einen Satz, eine außerordentlich große Summe. – Er verlor. – Noch einmal. – Er verlor wieder. – Ein merkwürdig trockener, bitterer Geschmack kam ihm auf die Zunge. – Er setzte ein drittes Mal und gewann. Er ließ den ganzen Betrag stehen, und das Geld wanderte in Sporleders Bank.

Noch drei- oder viermal versuchte er, mit einem letzten Schlage das Glück zu zwingen, es mißlang.

Dreiviertel sechs.

Mühsam lehnte er sich einen Moment zurück, wie jemand, der nicht recht weiß, wo er ist und sich erst besinnen muß, dann stand er auf:

»Ich komme heute mittag zu Ihnen, Sporleder, wir ordnen das dann.«

»All right.«

»Adieu, ich habe Eile, guten Morgen.«

»Sie gehen nach Haus?«

»Ich muß auf die Rennbahn, ich habe ein paar Pferde in der Morgenarbeit zu reiten.«

»Jetzt? Nach der Nacht? Alle Achtung.«

Und Sporleder und die zwei jungen Ulanen, die allein noch außer dem schnarchenden Rochus anwesend waren, sahen ihm bewundernd nach:

»Das nennt man eiserne Nerven, Donnerwetter ja!«

Von dem Kellner im Vorzimmer nahm Joseph Mütze und Säbel: »Ich habe Eile, ich zahle heute abend.«

»Schön, Herr Baron.«

Dann ging er.

Es war ein warmer Frühlingsmorgen, die Sonne lag noch hinter einem dünnen Wolkenschleier, es wurde fraglos ein schöner, sommerlicher Tag. Alle Bäume und Sträucher in den Parkanlagen der Georgstraße standen in grünem Kleide.

Die Straßen waren leer, aber einzelne Spaziergänger sah man doch schon, ältere Herren, die ihre Brunnenpromenade machten und sich über das Wetter ebensosehr freuten wie über die große Pünktlichkeit und Energie, mit der sie dem Versucher »Bett« zum Trotz auch heute morgen sich herausgemacht hatten. Sie fanden es abgeschmackt, daß alle andern Leute ihres Standes, den verhängten Fenstern nach zu urteilen, noch fest schliefen »an einem solchen Morgen!«, und sie vergaßen dabei, daß sie selbst noch vor vierzehn Tagen sich früh beim schönsten Sonnenschein nur um so behaglicher im Bett gedehnt hatten. Und daß sie, wenn die letzte Flasche »Karlsbader« getrunken ist, um Morgensonne und Vogelgezwitscher sich den Teufel kümmern würden.

Die ersten Arbeitsleute erschienen nun auch in den Straßen – Menschen, die »Karlsbader« nie benötigen und dieses Getränk nicht einmal vom Hörensagen kennen – die Bäckerjungen kamen, die Zeitungsfrauen, die Milchwagen vom Lande, die große Provinzialstadt war aufgewacht.

Joseph ging so rasch er konnte den Weg zur Rennbahn. Bisweilen schaute er sich um, ob keine Droschke zu sehen sei, aber er suchte danach vergeblich. Er dachte nur dumpf an die enormen Geldverluste dieser Nacht, er hatte das Gefühl, daß jetzt alles darauf ankomme, Marie nicht warten zu lassen.

Einmal blieb er ein paar Augenblicke stehen, um Atem zu schöpfen und seine Gedanken zu sammeln.

Was wird Marie sagen, wenn sie ihn so sieht: das übernächtige Gesicht, Zigarettenasche auf der Uniform, die Haare nicht geordnet, Hände und Gesicht nicht gewaschen!

›Kehr um,‹ dachte er, ›geh nach Haus. Leg dich zwei Stunden schlafen und begib dich dann zum Dienst. Oder auch nicht zum Dienst, melde dich krank. Und dann setze dich hin und schreibe an Marie einen Brief: »Ich habe an Dir miserabel gehandelt, ich stehe direkt vor dem Ruin, gib mich frei, nimm Deine Freiheit zurück.« Sie wird einen andern finden, der sie glücklicher macht, sie braucht nur die Hand auszustrecken, um unter hundert zu wählen, die mehr taugen als ich. – Aber sie wartet! Sie steht jetzt draußen vor der Tribüne und schaut sich ängstlich um, ob ich nicht kommen Er sah im Geiste die großen ängstlichen Augen, deren ganze Angst ihm galt! Und er sah die andern Herren zu ihr herantreten:

»Nun, so allein? Läßt Herr von Heidenstamm Sie warten, gnädiges Fräulein?«

Vorwärts.

An einem Wasserbrunnen befeuchtete er sein Taschentuch und fuhr sich über Gesicht und Hände.

Da war die Rennbahn, endlich – zwanzig Minuten nach sechs.

Vielleicht war Marie noch gar nicht da, hatte es verschlafen, kam erst später oder gar nicht.

Er gab sich einen letzten Ruck, schob die Mütze aus der Stirn und versuchte ein heiteres Gesicht zu machen. Nun bog er um die Ecke.

Da stand Marie, fünfzig Schritte vor ihm, ganz allein. Sie sah ihn nicht, sondern lehnte an der Barriere und beobachtete zwei Damen, die querfeldein ritten.

Die Sonne war durch die leichten Morgenwolken gedrungen und legte einen goldenen Schimmer über die Heide. Drüben am Rande der Rennbahn stand der Wald im Maiengrün, rechts in der Ferne fuhr ein Schnellzug vorbei.

Marie hatte beide Arme auf die Holzbalken gelegt und wippte auf einer Fußspitze leicht auf und nieder, ihre schlanke junge Figur hob und neigte sich.

»Guten Morgen, Marie!«

Mit einer raschen Bewegung wandte sie sich um.

»Na, endlich! Langschläfer!«

»Verzeih, Marie, aber ich – ich –«

»Entschuldige dich nur nicht, du hast dich verschlafen. Während ich schon um vier aus dem Bett war. Jede Stunde während der ganzen Nacht bin ich aufgewacht, immer in der Angst, ich könnte zu spät kommen.«

Joseph versuchte, ein gutgelauntes Gesicht zu zeigen, aber es wurde nur eine Grimasse.

Er hätte ihr sagen können: »Ich war die Nacht mit Rochus und den andern zusammen, ich war überhaupt nicht im Bett,« und sie hätte ein wenig geschmollt und ihn gescholten wie schon oft, wenn er ihr lächelnd seine nächtlichen Fahrten freiwillig beichtete, aber er fand nicht den Mut. Er belog sie, zum erstenmal.

»Du siehst blaß aus, Joseph; um Gottes willen, werde nicht krank. Ein Glück, daß dieser Prozeß nun endlich vorbei ist!«

»Vorbei ist, – sehr richtig, ein Glück. Und alles, jawohl.«

»Wie?«

»Was? Was sagte ich denn?«

»Joseph, du bist krank!«

»Unsinn, Unsinn. Ja – und was ich sagen wollte – die Pferde – ist der Bursche nicht da? Franz?«

»Da drüben steht er.«

»Richtig. Ja, dann wollen wir hingehen, nicht wahr? Ich werde ›Frangipani‹ über den Steeplechasekurs reiten.«

»Joseph, du reitest heute nicht, tue mir die Liebe. Du zitterst ja, wahrhaftig! Mein Gott, Joseph, was fehlt dir?!«

»Zittern?« Er lachte gezwungen. »Ich bitte dich! Weshalb soll ich zittern? Weil ich reiten will? Ja? Oder weshalb? Kleiner Narr!« Er zog sie an sich – niemand war in der Nähe – und drückte ihr einen Kuß auf den Mund.

Er fühlte, daß dieser ganze Morgen eine einzige Lüge war: sogar die Zärtlichkeit, sogar der Kuß. Alles Lüge, alles Betrug!

Aber er hatte jetzt einen gewissen Halt gewonnen, wie jemand, der die erste Unwahrheit glücklich überwunden hat und nun kaltblütig die verlorene Sache zu Ende führt.

Er legte beide Hände an den Mund und rief wie in einen Schalltrichter:

»Franz! He! Hierher!«

Der verschlafene Bursche, der seitab einen großen Fuchs beständig in einem Kreise umherführte, horchte auf, stand einen Augenblick stramm und kam dann mit dem Pferde am Zügel über den Rasen getrabt.

»Da hätten wir ihn.« Joseph klopfte dem Hengst auf den Hals und zog die Schnallen am Sattelgurt enger. »Du kannst ihn ruhig anfassen, Marie, er ist nur im Rennen ein Verbrecher, der mich am liebsten vor jedem Graben über den Hals schleudern möchte. Im übrigen ist er ein lieber, guter Kerl, was, Frangi?«

Es war merkwürdig: in dem Augenblicke, wo er mit dem Pferde zu tun hatte, war er wieder ein andrer Mensch. Alle Sorgen schienen weit zurück zu liegen, die Augen verloren ihre müde Starrheit, und die Muskeln spannten sich.

Dann trat er einige Schritte zurück neben Marie und musterte den Hengst.

»Sieht er nicht wundervoll aus? Diese Brusttiefe und der kurze, stramme Buckel! Fühl mal die Beine an, klar wie Glas.«

Marie fürchtete sich, denn sie hatte nie mit Pferden zu tun gehabt, aber Joseph zog sie lachend heran und legte ihre schlanken Finger um die feinen warmen Fesseln des Pferdes dicht über dem Vorderhuf.

Der große Hengst stand ganz ruhig, und nun bekam sie Mut und streichelte seinen Hals und den hübschen Kopf.

»Du wolltest ihm doch Zucker mitbringen?«

»Ja, richtig!« Sie fuhr mit der Hand in die Tasche und holte einige Stücke hervor: »Wird er nicht beißen?«

»Gott bewahre.«

Das Pferd schnupperte nach ihrer Hand, die beim ersten Versuche ängstlich zurückzuckte, dann reichte sie ihm tapfer Stück auf Stück.

Der Bursche stand mit einem Grinsen daneben, während Joseph in einer aufsteigenden seltsamen Bewegung die Gruppe betrachtete.

Er schwang sich in den Sattel: »Du mußt dich nun eine Viertelstunde gedulden, Marie; ich reite den Hengst rings um die Bahn und komme dort drüben über den Graben wieder hierher. Addio.«

Sie lächelte ihm zu: »Addio!«

Lange blickte sie ihm nach, bis er links hinter den Pulverschuppen verschwand.

Solange Joseph vor den Tribünen ritt und Maries Blick noch hinter sich wußte, saß er gerade aufgerichtet im Sattel, dann fiel er langsam, ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, in sich zusammen. Die Augen hielt er mechanisch voraus, um den Kurs zu beobachten, aber der Kopf hing müde vornüber, die Schenkel lagen schlaff an.

Der Hengst, der die Teilnahmlosigkeit des Reiters fühlte, wurde langsamer, aber erst in dem Moment, als das Pferd aus dem Galopp in Trab überging, fuhr Joseph auf und nahm sich und den Gaul wieder zusammen.

Nach einiger Zeit wiederholte sich das Spiel. Vor den Hürden und Hindernissen raffte der Reiter sich jedesmal instinktiv in die Höhe und gab maschinenmäßig dem Pferde die notwendigen Hilfen, und nur einmal – als Frangipani die Steinmauer tadellos gesprungen hatte – wurde Joseph einige Sekunden lang wach zum Nachdenken.

›Seltsam, wie er heute springt, fast allein. Er kennt seinen Reiter. Wenn es auf mich eben angekommen wäre, so lägen wir beide hinter der Mauer im Heidekraut.‹ Er beugte sich vornüber und klopfte auf den schlanken, muskulösen Hals des Tieres. ›Gut so, gut. Wir hätten vielleicht beide das Wiederaufstehen vergessen – hm – und für einen von uns wäre das kein Unglück gewesen.‹

Marie sah ihn von weitem herangaloppieren, es sah hübsch aus, wie Pferd und Reiter in der Morgensonne über die Grasfläche näher kamen, während außer ihnen niemand auf der Rennbahn zu sehen war.

»Da reitet Heidenstamm.«

Sie blickte sich um: eine Anzahl junger und jüngster Offiziere, die sie nicht kannte und die wohl erst kürzlich herkommandiert waren, waren von der Stadt hergekommen und standen in ihrer Nähe; einer derselben glotzte ihr mit unverschämter Neugier ins Gesicht.

»Heidenstamm?« schnarrte ein blutjunger Leutnant, »woher wissen Sie das? Sie können doch den Reiter da nicht aus zweihundertundfünfzig Meter Distanz erkennen.«

»Mein lieber Freund, so sitzt nur ein Mensch in Hannover zu Pferde, und das ist Heidenstamm. Er sitzt im Sattel wie ein alter Herr und gewinnt seine Rennen wie ein junger Gott. Sehen Sie, da kommt er. Ist er es, oder ist er es nicht?«

»Wahrhaftig.«

»Ein Reiter, wie es keinen wieder gibt. Der zweite Seydlitz. Dreiundzwanzig Jahre alt, stellen Sie sich das vor! Stellen Sie sich vor: die Carriere!«

Marie horchte mit aller Anstrengung. Der Sprecher war derselbe, der sie kurz vorher so unverfroren angestarrt hatte, aber sie war ihm nicht mehr böse. Unter ihrem Schleier, den sie rasch hinabgezogen hatte, blickte sie zu dem jungen Menschen hinüber und lächelte leise: »Wenn der wüßte, daß ich Josephs Braut bin!«

Falls dieser flüchtige Einfall als ein Wunsch gedacht war, so ging er außerordentlich rasch in Erfüllung, denn zehn Sekunden später hielt Joseph seinen leise keuchenden und an den Flanken schweißbedeckten Hengst hart an der Barriere unmittelbar neben ihr an. Er grüßte zu den Offizieren hinüber, die außerordentlich artig den Gruß erwiderten, und reichte Marie die Hand.

»Einen Moment noch, Schatz. Er soll den Wassergraben springen, dann hat er genug für heute. Nicht wahr, du langweilst dich?«

»Nicht im geringsten, im Gegenteil.«

»In fünf Minuten bin ich bei dir.«

»Das ist seine Braut.«

»Zum Donnerwetter, wer konnte das wissen!«

»Eine berühmte Schönheit, Fräulein von Schulenberg.«

Marie tat, als ob sie mit gespannter Aufmerksamkeit Joseph beobachtete, der jetzt Frangipani an den Wassergraben heranbrachte, aber sie wußte genau, daß alle Blicke der Herren auf sie gerichtet seien, und das gab ihr ein eigentümlich warmes und heiteres Glücksgefühl. ›Jetzt reden sie über mich, jetzt sagen sie: das ist Herrn von Heidenstamms Braut, jetzt wird der kleine Leutnant mich nicht wieder so keck anschauen. – Ob ich gut aussehe?‹ Sie ließ den Blick, ohne sich zu bewegen, über Jacke und Kleid gleiten und war zufrieden. Nichts ist so angenehm, als wenn die Leute uns untertaxiert hatten und werden plötzlich darüber aufgeklärt, welche vornehme und ausgezeichnete Persönlichkeit sie vor sich haben.

Frangipani liebte die Wassergräben nicht, es hatte eine Zeit gegeben, wo er hartnäckig unter jedem Jockey und Herrenreiter Hindernisse dieser Art refüsierte, und auch Joseph hatte immer Mühe gehabt, den stets etwas stutzenden Hengst geradeaus zu halten und ihn mit genügendem Schwunge hinüber zu werfen. Heute zum erstenmal ging der Hengst ohne das geringste Zögern heran, sprang tadellos ab und flog wie ein Vogel hinüber, keinen Centimeter zu hoch, lang, glatt, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu verlieren.

»Bravo!«

Die Offiziere klatschten in die Hände, und Heidenstamm schaute, die Zügel verkürzend, nach links hinüber, den Zuruf mit Lächeln und Kopfnicken quittierend.

Auch Marie hob unwillkürlich die Hände. Einen Moment hatte ihr das Herz stillstehen wollen, als Frangipani im Renntempo gegen den Graben heranjagte, sich hob und seinen Reiter durch die Luft trug, alles Blut war ihr zum Herzen geströmt und übergoß nun, rückwärts eilend, ihre Wangen mit tiefrotem Schimmer.

»Bravo,« sagte sie leise, und »Bravo, Joseph!« nickte sie ihm zu, als er jetzt zurückgeritten kam.

»Das war ein Sprung, was?« Er lachte über das ganze Gesicht. »Der Hengst ist seit heute zehntausend mehr wert. Ich komme, Marie, wir gehen nun.«

Der Bursche lief heran, um dem Pferde Decken überzulegen, und Joseph sprang aus dem Sattel.

»Nun wollen wir frühstücken, Schatz.«

Er grüßte im Gehen die Kameraden, während Marie, den Arm in seinen Arm gelegt, nur leicht mit dem Kopfe nickte.

Wie höflich verneigten sich die Herren, mit welchen Verbeugungen – es war ein reizender Moment, der jede junge Dame in gleicher Lage entzückt hätte.

Joseph hatte seine ganze Elastizität wieder gewonnen. Vielleicht wurde nun doch noch alles gut, trotz dieser wahnsinnigen Nacht, die ihm beinahe den Todesstoß versetzt hatte.

»Jetzt hängt alles davon ab,« sagte er, während sie in den Wald einbogen, »ob ich die ›Armee‹ gewinne, morgen in vier Wochen, in Berlin.«

»Welche ›Armee‹?«

»Die ›Armee‹, das größte Hindernisrennen des Landes. Das Jagdrennen der preußischen Armee; hast du davon nie gehört?«

»Nein.«

»Du kommst mit nach Berlin, Marie, du sollst dabei sein. Du bist immer mein guter Engel, du darfst an dem Tage nicht fehlen.«

»Das wäre reizend!«

»Da wirst du dich wundern! Du warst nie in Berlin, und das ist der schönste Tag, den Berlin hat. Du wirst Augen machen! Der Kaiser kommt hinaus zum Rennen, die Prinzen, der Hof, alle Generale, jeder Offizier, überhaupt ganz Berlin. Es ist der großartigste Renntag, den es in Deutschland gibt.«

»Und du glaubst, Joseph, du wirst das Rennen gewinnen? Vor dem Kaiser?«

»Ich muß.«

»Mit Frangipani?«

»Ja.« Er blieb einen Augenblick stehen, wie um Atem zu schöpfen. »Marie, dann – dann heiraten wir. Dann – dann bin ich aus allen Sorgen.«

»Ist der Preis in dem Rennen so hoch?«

»Das nicht, nein, aber man muß« – er wollte sagen: ›Auf diese Karte das Letzte setzen‹, – aber er besann sich und sagte: »Man muß das ausnutzen. Man kann jetzt, vier Wochen vor dem Rennen, lange Wetten bekommen, 12:1, 10:1, 8: 1 und so weiter. Man muß Frangipani zu jedem Betrage wetten, denn – Marie, ich bitte dich, sprich zu keinem Menschen darüber – nur Frangipani gewinnt das Rennen.«

»Nicht darüber sprechen?«

»Nicht einmal zu deiner Mutter, zu keinem Menschen in der Welt. Niemand weiß, wie der Hengst galoppiert, nicht einmal ich selbst habe es gewußt, bis heute. Es gibt kein Pferd im Lande, das ihn schlagen kann, ich kenne sie alle, es gibt keins.«

»Aber, Joseph, wenn du dich irrst?!«

»Nein, nein,« – er lachte nervös – »ich habe sie alle geritten, die da irgendwie in Betracht kommen, von heute an bin ich meiner Sache sicher, absolut.«

Er setzte ihr hastig in seinen Fachausdrücken den Sachverhalt auseinander, erörterte die Chancen jedes seiner Gegner: »Für › Fritz George‹ ist der Weg zu weit – ›Lanterne‹ ist für ein solches Rennen nicht Klasse genug – ›Johannesburg‹ hat in Hoppegarten nie seine Charlottenburger Form gezeigt, und ›Bravienka‹, die allein ›Frangipani‹ schlagen könnte, wird von Questenberg geritten – Questenberg von den Deutzer Kürassieren, du kennst ihn, er war früher hier auf Reitschule – und diesen Questenberg« – er lachte – »steck' ich in die Tasche.«

Marie verstand wenig von dem, was er sagte, aber sie hörte aus diesen vielen Worten auch nur das heraus, was sie zu hören sich sehnte: daß nun endlich für Joseph und sie das Glück vor der Tür stand.

Noch vier Wochen! Am neunten Juni!

An diesem neunten Juni würde man die Tür weit öffnen und das Glück herein rufen!

Im »Neuen Hause«, dicht vor der Stadt, tranken sie unter den hohen alten Eichbäumen den Morgenkaffee. In dem großen Garten saßen nur vereinzelte Leute, die gleich ihnen ihr Frühstück im Freien einnahmen – vielleicht waren es die alten Herren, die ihre Brunnenpromenade beendet hatten –, so konnten die beiden ungestört ihren Zukunftstraum von Glück und Heirat weiter träumen.

Marie schenkte den Kaffee in die Tassen und machte die Butterbrote zurecht.

»Weißt du, Joseph, wie mir das heute morgen vorkommt?«

»Nun?«

»Als ob wir auf der Hochzeitsreise wären.«

Er lachte, und Marie errötete und lachte auch.

Dann machten sie Pläne, wohin die schönste aller Reisen sie führen solle: an den Rhein, nach Ostende, vielleicht, mit einem kurzen Abstecher, nach England.

Und Marie, die nichts von der Welt gesehen hatte, absolut nichts als die engste Umgebung Hannovers, hörte mit leuchtenden Augen zu, wie Joseph vom Rhein und von Ostende und England erzählte.

Das alles würde sie nun kennen lernen, mit einem solchen Führer!

Die Spatzen hüpften um sie her, denen Joseph Brotkrumen zuwarf, aber Marie beachtete die zudringlichen kleinen Kerle nicht, obwohl sie den ganzen strengen Winter hindurch die graue Bande vor ihrem Fenster gefüttert hatte. Sie sah mit leuchtenden Augen auf den Geliebten, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und das Kinn auf die Hände gelehnt.

Das Dampfschiff kam, und sie fuhr mit ihm über das Meer, die Themse hinaus, sie sah London, Windsor, Richmond – immer mit ihm, immer mit ihm.

Ja, es war ein lieber Maienmorgen, an dem man nichts Schöneres tun konnte als Reisepläne schmieden – Hochzeitsreisepläne.


 << zurück weiter >>