Wilhelm Meyer-Förster
Heidenstamm
Wilhelm Meyer-Förster

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Achtes Kapitel

Der Schnellzug von Hamburg nach Hannover fuhr durch die Lüneburger Heide. Während der ganzen langen Fahrt zwischen den beiden großen Städten sieht man rechts und links fast nichts als die weißen Birken, die den Bahndamm säumen, gelbe Ginsterbüsche mit den leuchtenden Blüten, die Richard Plantagenet im Schilde führte, rote Disteln, die das Wappenbild der Stuartkönige waren, und niedrige Kiefern und rotblühende Heide. Wenn man einsam auf einem der kleinen Hügel steht und sieht weit hinaus rechts und links und nach allen Seiten in die endlose Fläche mit ihrer unbeschreiblichen Einsamkeit, über die sich der Himmel wölbt, so ist es, als ob über das Herz ein Friede geht. In diesem großen, lärmenden Deutschland mit wohlbestellten Feldern, fleißigen Städten, vielbesuchten Gebirgen und Menschen und Menschen und Menschen die einzige Stätte tiefster Ruhe! Die Bienen summen, ein Vogel zieht über die Heide, sonst ist alles voll Schweigen und Unbeweglichkeit.

Man hört sein eignes Herz pochen, vielleicht weil es lauter pocht als draußen im Getriebe.

Aber man darf diese heilige Heide nicht von dem Coupéfenster des Schnellzuges sehen. Da erscheint sie rechts und links eingerahmt durch kahle Telegraphenstangen, deren Drähte immer auf und ab schwippen, bald hoch steigend, daß man Himmel und Kiefern sehen kann, bald herniedertanzend, daß man nichts als lange Parallelstreifen erblickt, die sich beständig heben und senken. Alle tausend Meter erscheint die nüchterne Bude eines Bahnwärters mit ihren roten, schmutzigen Ziegeln und dem kleinen, elenden Garten, in dem auf der Wäscheleine buntes Zeug flattert. Bisweilen ein Dorf, bisweilen eine Stadt. Alles um diese Eisenbahn her ist peinlich korrekt, die Birken stehen wie Soldaten, und wenn man eben glaubt, einen Blick in die weite Heide tun zu können, so erscheint ein schwarzbrauner Bahnzaun, der genau so lange neben dem Courierzuge herläuft, bis das Auge sich müde und geärgert abwendet. Man liest die »Hamburger Nachrichten« oder lehnt sich zurück und schläft ein.

»Also das ist Deutschland,« sagte Baronin Jane und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, Joe, ich hatte es mir anders gedacht.«

Sie hatte sich aufrichtig Mühe gegeben, die Heide, von der Joseph ihr gestern abend bei »Pforte« in Hamburg viel vorgeschwärmt hatte, schön zu finden, aber ihr Empfinden versagte. Es hätte vielleicht auch versagt, wenn die Heide ihr in stillster Einsamkeit fern von dem dröhnenden Rollen der Eisenbahnräder gezeigt worden wäre.

Wie kann man schön finden, was der Ausdruck grenzenloser Oede und Hoffnungslosigkeit ist?! Nie wird auf diesen dürren Flächen ein Kornfeld seine goldenen Aehren wiegen, nie Obst reifen. Mit allen Mitteln einer vollendeten Technik und chemischer Durcharbeitung des Bodens macht man an den Grenzen schmale Landstriche urbar, aber die Heide liegt wie eine schlafende Riesin, die es kaum empfindet, daß die Zwerge in ohnmächtigem Eifer an ihrem Gewande zerren. So wird sie noch Jahrtausende schlafen, ein gewaltiges Wahrzeichen, das den die Erde erobernden Menschen ein Halt gebietet.

»Das ist nicht Deutschland,« sagte Joseph, »sondern nur ein kleiner Teil,« und nach einer Pause fügte er hinzu: »wenn man so will: der traurigste Teil, wenn man so will: der schönste.«

Sie lächelte in ihrer aufrichtigen, freundlichen Weise, die nichts Verletzendes hatte: »Dir gefällt es, weil es deine Heimat ist, Joe, aber mir gefällt's nicht, sei nicht böse.«

»O, böse.«

Sie waren nun länger als ein Jahr verheiratet und stimmten immer gut zusammen. Daß sie den leisen Zug von Sentimentalität, der über ihm lag, nicht verstand, empfand er bisweilen herber, als notwendig war, aber in ruhigen Stunden sagte er sich, daß es unsinnig sei, von seinem schönen Weibe etwas zu verlangen, das ihrem klaren Wesen und dem Wesen ihres ganzen Volkes widersprach.

Heute zum erstenmal erschien ihm ihr »Nichtverstehen« wie etwas Kaltes, das ihn beinahe körperlich schmerzte. Seit gestern früh, da die Ufer der Elbe an ihn vorbeiglitten, war er sonderbar erregt.

Diese Elbufer waren das Letzte gewesen, das an dem traurigsten Tage seines Lebens ihm Lebewohl zugerufen hatte, und sie waren das Erste, das ihn wieder grüßte. Alle Erinnerungen waren mit diesem Willkomm wieder aufgewacht.

Während der Ueberfahrt schien er an Bord einer der Lustigsten, man lachte, man tanzte, man spielte, ein ganzes Regiment schöner Amerikanerinnen war auf dem Dampfer gewesen, und Baronin Jane die schönste.

Was Deutschland! Amerika, das war seine neue Heimat! Vier Wochen in Deutschland und dann weiter nach Florenz, Paris, und nie wieder zurück. Nie! Unter keinen Umständen!

Zuerst hatte es an Jane gelegen, daß man die Europareise immer wieder hinausschob, dann an Joseph selbst. Er sehnte sich nicht mehr heim, im Gegenteil. Die Vergangenheit lag so weit hinter ihm, es hatte keinen Sinn und Zweck, sie noch einmal heraufzubeschwören. Was suchte er in Deutschland? Nichts! Es gab da nichts mehr, was ihn heimrief. Etwa Albrecht? Wahrhaftig nicht! Oder Marie? Marie und er hatten ihre Wege getrennt, sie hatten einander nichts zu sagen, nichts Böses, nichts Gutes.

Aber Jane hatte auf der Ausführung der Reise bestanden. »Ich will Europa kennen lernen,« sagte sie, »und deine Freunde,« – und: ›Ich will diese Marie kennen lernen,‹ dachte sie, ›und deren Mann.‹ Diese Reise würde für sie, die schöne junge Frau, ein Triumph sondergleichen sein, ein Triumph vor allem gegenüber der einstigen Rivalin! Weshalb auf einen solchen Triumph verzichten?! Noch dazu wenn man ihn vereinigen kann mit einer interessanten Reise, Zerstreuungen, Amüsements! Als sie nach Deutschland kamen, war sie heiterer als je, vielleicht auch schöner als je.

Seltsam war Joseph zu Mute gewesen, als er gestern mit Jane durch Hamburg ging. Die Stadt hat noch etwas Amerikanisches, Fremdes, aber auch da schon tönten ihm auf Schritt und Tritt die Erinnerungen entgegen. Auf dem Horner Moor bei Hamburg hatte er einst seinen ersten großen Sieg erfochten – auf »King Harold« im »Hansajagdrennen« – und bei »Pforte«, wo er abends mit Jane soupierte, hatten seine Freunde damals den Sieg mit Champagner gefeiert.

Vor dem Alsterpavillon traf er zwei Wandsbecker Husarenoffiziere, er erkannte sie auf den ersten Blick; der eine war Clemens Berenburg, der früher bei den Verdener Ulanen stand und mit Joseph die tollen Suiten in Baden-Baden ausgeführt hatte. Beide sahen ihn und seine schöne Begleiterin an und blickten dann gleichgültig wieder geradeaus. Dieser Herr im hellen Ueberzieher, mit hellen Handschuhen und dem Pariser Cylinder konnte sie unmöglich an Joseph Heidenstamm erinnern. –

– – Ueber der Heide lag eine feine, weiche Abendstimmung; das Kinn auf die Hand gestützt, blickte Joseph stumm hinaus. Hier in der Heide hatte er seine schönsten Stunden als kleiner Junge verlebt, wenn seine Freunde, die Offiziere, ihn mit hinaus nahmen und man lange über die weiten Flächen ritt, bis irgend ein Dorf auftauchte, in dem man Rast machte.

Er hörte noch die laute, lachende Stimme des Grafen Brügge: »Ein Glas Milch für den Jungen!« und er lächelte, wenn er an seine tiefgekränkte und zornige Jungenart dachte, mit der er das Glas Milch beiseite geschoben, zehn Pfennige aus der Tasche geholt und ein Glas Bier gefordert hatte.

»Bravo, Joseph, trink!« Sie gaben ihm Zigaretten und Wein, und ging es abends heim, so schwankte er auf dem breiten Rücken des Gauls und mußte seinen ganzen Mut und alle Entschlossenheit zusammennehmen, um sich oben zu halten.

Wenn die Heide blühte, stieg man vom Pferde und schnitt mit dem Taschenmesser große Erikasträuße, die vorn an den Sattel gebunden wurden und im Kasino als Tafelschmuck Verwendung fanden.

Joseph brachte seinen Strauß – der kleinen Marie.

Mit einem heftigen Ruck riß er sich empor und schaute nach Jane; sie schlief. Ihr weißer Staubmantel breitete sich auf den roten Sammetkissen um sie her, den rechten Fuß hatte sie auf die Polster der andern Seite gestemmt, und ihr feiner gelber Stiefel schaute unter dem herabhängenden Seidenkleide hervor. Langsam, regelmäßig hob und senkte sich die Brust, auf dem Gesichte lag ein Lächeln und ein Schein der sinkenden Sonne.

Was Heide! Was Deutschland! Fort mit allen diesen Erinnerungen! Das schönste Weib gehörte ihm, und vor ihm lag das große amerikanische Leben, in dem man nicht träumt, sondern schafft. Er dachte an die beiden Hamburger Offiziere von gestern. Welch ein eintöniges, zweckloses Leben! Morgens in den Stall, mittags in die Reitbahn und abends eine Promenade durch Hamburg; ewig dasselbe Einerlei. Sie leisten nichts, sie schaffen nichts, sie sehen nichts, sie klettern langsam ihre Leiter empor, und von tausend kommt kaum einer auf die Höhe dieser Leiter.

Wie hinreißend Jane aussah! Lauge schaute er nach ihr hin, als ob er aus diesem schönen Gesichte sich Mut holen wollte für den drohenden Kampf mit den sentimentalen Erinnerungen.

Langsam kam die Dämmerung, Uelzen war längst passiert, Celle vorüber, eine Stunde noch, und der Zug fuhr in die große Halle zu Hannover.

Die Heide wurde dunkler, erst grau, dann finster. An solchen Abenden war er oft als junger Offizier auf dem Heimritt gewesen, vor allem an den nebligen Novembertagen, wenn die Reitschule mit der Meute gejagt hatte. In Isernhagen trank man noch einen Grog, und dann ging's durch die kalte Nacht heim, bis die Lichter von Hannover kamen und er sich eilen mußte, um Marie mit dem Abendessen nicht allzulange warten zu lassen.

Marie – immer Marie, zu der seine Gedanken wanderten!

Heute abend würde er sie wiedersehen.

In Streits Hotel zu Hamburg hatten Jane und er zwei Briefe gefunden, von Albrecht und Marie. Beide baten Bruder und Schwägerin, während ihres Aufenthaltes in Hannover das wenn auch nur bescheidene Quartier in ihrem Hause nehmen zu wollen. Maries Brief war ruhig und höflich; zögernd, mit einem Blick auf Jane, die immer noch fest schlief, nahm er den Brief hervor und blickte auf die Schrift. Ein einfacher, weißer Briefbogen. Es waren dieselben Schriftzüge, die ihm einst so viel Liebes und Gutes gesagt, und die er nun seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Oder war die Schrift anders geworden? Ja. Die Lampe flackerte, draußen war die Nacht hereingebrochen, er hatte Mühe, in seiner Ecke die Buchstaben zu lesen. Maries Schrift war groß, steil, fest gewesen, jetzt schien sie unsicher und hastig und müde.

Eine kleine Station mit grellen Lichtern flog vorbei, dann wurde es wieder finster; dann kamen Häuser mit erleuchteten Fenstern, mehr, immer mehr, Hannover nahte.

Einen Augenblick hatte er die Empfindung, als ob ihm der Atem stockte, dann nahm er sich zusammen und stand auf.

»Jane!«

Sie zog im Schlaf ein mißmutiges Gesicht wie ein Kind, das man in der Nachtruhe stört, und drehte sich seitwärts.

»Jane! Wach auf! Wir sind da!«

Sie schlug die Augen auf und zwinkerte gegen das Licht: »Wo?«

»In Hannover.«

»Ach so! Ich hatte wohl geschlafen?« Und im nächsten Augenblick war sie völlig wach. Sie schüttelte sich ein wenig und lehnte sich dann an ihn: »Ich hatte so schön geträumt, Joe, rate, von wem?«

Er war nicht in der Stimmung, zu raten, da legte sie den Arm um seinen Hals und küßte ihn zärtlich: »Von dir.«

»Nimm deine Sachen zusammen, Jane.«

»Das eilt ja nicht so.«

»Doch. Es ist immerhin möglich, daß man uns auf dem Bahnhof erwartet.«

»Das ist wahr, ja.« Sie beugte sich hastig über ihre Taschen und hatte im Augenblick alles geordnet. Sie sah nach dem Schlaf frisch und rosig aus, und als sie das in dem kleinen Kristallspiegel bemerkte, freute sie sich:

»Heute müssen wir Staat machen, Joe, wir beide. Mir wird ordentlich feierlich zu Mute.«

Die großen elektrischen Bogenlampen warfen ihr Licht in das Coupé, langsam rollte der Zug in die Halle.

Joseph öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.

Da stand Albrecht! Allein, Gott sei Dank! Ohne Marie.

Der Zug fuhr noch ein paar Dutzend Meter weiter, die Brüder waren dicht aneinander vorüber geglitten, aber Albrecht, der den Zug entlang spähte, hatte Joseph nicht bemerkt. Und Joseph ihn nicht angerufen. Weshalb nicht? Er wußte selbst nicht weshalb. Er hatte rufen wollen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Er winkte einem Gepäckträger, und erst als alles besorgt war und die Menge bereits anfing, sich zu verlaufen, tauchte Albrecht suchend aus dem Gedränge hervor.

»Joseph!«

»Albrecht!«

Sie reichten sich die Hände und schauten einander ins Gesicht mit einem fremden, unsicheren Ausdruck.

»Wie geht es dir?«

»Was machst du?«

»Mein Bruder Albrecht – meine Frau.«

»Meine Gnädige, ich« – er reichte ihr die Hand und sah sie an und wurde verwirrt – »wir freuen uns aufrichtig.« Und er starrte sie von neuem an, von der glänzenden Frau wie geblendet.

Sie bemerkte sein Staunen und freute sich darüber. Nun fand sie sofort ihren leichten, heiteren Ton:

»Wir haben lange auf uns warten lassen, Joe und ich, ein ganzes Jahr und noch länger. Sie wollten uns zu Hause nicht fortlassen. Aber nun sind wir da. Und wo ist Marie?«

»Meine Frau konnte leider nicht mitkommen, sie bittet um Entschuldigung. Sie ist nicht recht wohl, aber sie freut sich, Sie, meine gnädige Frau, und – und Joseph zu empfangen.«

»Sie ist krank?!«

»Nicht krank, o nein. Nicht das, was man krank nennt.« Er reichte Jane die Hand. »Hoffentlich wird es Ihnen in Deutschland und speziell bei uns in Hannover gefallen, meine Gnädige. Ich freue mich, daß Ihnen die weite Reise, wie es scheint, gut bekommen ist.«

»O, was das betrifft!« Sie lachte und ging an seinem Arm die Treppen hinab. »Welch ein großartiger Bahnhof! Tausendmal schöner als in Hamburg! Ich dachte, Hannover wäre so klein. Joe, kommst du?« Sie blickte sich flüchtig nach ihm um. »Welch ein Gedränge! Diese Menschenmenge! Wie in einer Weltstadt!«

Einige Soldaten kamen vorbei und grüßten militärisch, das erschien ihr seltsam und doch auch hübsch. Diese fremden Soldaten grüßten sie, die eben angekommene Amerikanerin, oder doch wenigstens ihren Begleiter.

Seine Sporen klirrten bei jedem Schritt, und die glänzende Uniform gefiel ihr ausgezeichnet. Sie plauderte mit ihm in munterster Laune, während Joseph in dem Gedränge der Menschen abwechselnd neben ihr oder hinter ihr schritt.

Er hatte vor diesem ersten Wiedersehen mit Albrecht ein Unbehagen empfunden: es würde tragische Gesichter und schulmeisterhaft ernste Worte geben, eine unbequeme Scene mit feierlichen Allüren.

Statt dessen löste sich alles in bequemster, banalster Weise, in einer fast allzu bequemen Weise.

Zwischen ihm und Albrecht hatte es zeitlebens sehr wenige Berührungspunkte gegeben, aber immerhin waren sie Brüder. Sie hatten sich fünf lange und sehr ereignisreiche Jahre nicht gesehen, es wäre das beste und richtigste gewesen, sie hätten sich überhaupt nicht wieder getroffen. Wenn das nun aber einmal der Fall war, so hatte das in einer gewissen feierlichen Weise zu geschehen. Mochten dabei tragische und unbequeme Worte gewechselt werden, immerhin besser als dieses flache »Guten Tag« und »Wie geht's?«

Und das seltsame Gefühl kam einen Moment lang über ihn, als ob diese Frau da, seine eigne Frau, eine Fremde sei, die sich unberechtigt zwischen ihn und den Bruder drängte.

»Nein, nein, wir wohnen im Hotel, aber das ist ja selbstverständlich. Joe, so sprich doch.«

»Natürlich, wir wohnen im Hotel.«

Es folgte vor der Droschke ein kurzes Hin und Her von Worten, dann gab Albrecht, dem diese Lösung der Wohnungsfrage durchaus willkommen war, in seinem höflichen Drängen nach:

»Aber ihr kommt zum Abendessen. Marie wartet auf euch. In einer Stunde seid ihr bei uns. Auf Wiedersehen, meine gnädige Frau.«

»Auf Wiedersehen« – »Auf Wiedersehen.«

Der Wagenschlag schloß sich, und die Droschke [fuhr] zum Hotel.

»Ein sehr netter Mensch.«

»Albrecht?«

»Natürlich. Wer sonst? Und wie glänzend er aussieht in dieser bunten Offiziersuniform. Ach, Joe, du bist ein Narr, daß du dich mit deinem Bruder zeitlebens gezankt hast. Uebrigens, er sieht dir ähnlich.«

Als er schwieg und aus dem Wagenfenster in die alten, bekannten Straßen starrte, lehnte sie sich zärtlich an ihn:

»Nur daß er viel älter ist, Joe, als du, und lange nicht so schön.«

»Hm.«

Er hörte kaum auf sie, ihre Berührung tat ihm fast weh.

Der Springbrunnen neben dem Denkmal Ernst Augusts plätscherte, ein Soldat ging mit seinem Liebchen, einem drallen Hausmädchen, im Schatten der Bäume, eine warme, weiche Sommernacht lag über den Straßen. Er hatte nur ein Gefühl:

»Allein sein! Eine einzige Stunde!«

– – Er stand an dem geöffneten Fenster in dem Hotelzimmer und blickte zur Georgstraße hinüber, wo das Leben an dem schönen Abend noch auf und ab flutete.

Jane kleidete sich hinter ihm vor dem hohen Spiegel um.

»Joe, reich mir das Necessaire. Du hast es eingeschlossen. Bitte.«

Er ging zum Koffer und brachte ihr das Etui. Ihr weißer Nacken leuchtete ihm entgegen, und die fein gerundeten Arme, die hoch erhoben die schweren Flechten ordneten, schimmerten in dem Kerzenlicht. Aber er schenkte seinem schönen Weibe keinen Blick und trat wieder an das Fenster.

Beständig schwatzte die Kammerfrau mit ihrer Herrin; sie probierten erst das grauseidene Kostüm von Worth, dann zwei oder drei andre Toiletten, und entschieden sich nach langem Hin und Her für ein pompöses Gesellschaftskleid aus Laferrieres Meisteratelier: bordeauxrote Seide mit einem Perlbesatz von etwas hellerer Färbung.

Joseph gab sich Mühe, nicht zuzuhören, aber obwohl Jane und die Kammerfrau auf seine Anwesenheit Rücksicht nahmen und halb flüsternd sprachen, vernahm er jedes Wort. Ein Strom von Erinnerungen flutete zu ihm hinauf von draußen her, von dem Hoftheater, das schwer und massiv und dunkel sich dicht vor seinem Fenster erhob, von der hellen Georgstraße, von den vorbeigehenden Menschen, von der Heimatsstadt, aber keiner der Eindrücke blieb in ihm haften, weil das Schwatzen hinter ihm jeden Gedanken tötete.

»Frau Baronin ist stärker geworden.«

»Wirklich?«

»Man hatte ja auf dem Schiff keine Bewegung; wenn Frau Baronin erst wieder reiten und Tennis spielen, ändert sich das wieder.«

»Joe?«

»Was?«

»Findest du, daß ich stärker geworden bin?«

Er wandte sich gequält um und betrachtete sie. Ja, sie war stärker geworden, aber er hatte keinerlei Neigung, dieses Thema zu erörtern.

»Ich finde nicht.«

»Na, also. Wie gefällt dir das Kleid?«

Es war eine der neuen Pariser Toiletten, die eigens für die Europatournee angeschafft und ihm noch nicht vorgestellt waren. Er betrachtete sie stumm und sagte dann:

»Sehr schön, aber – etwas auffällig.«

Jane lächelte, und die Kammerfrau, Miß Dash, war konsterniert über dieses Urteil. Sie belehrten ihn beide, daß es durchaus nicht auffällig sei, worauf er müde zustimmte und äußerte, es sei in der Tat wohl nicht auffällig.

Er trat wieder an das offene Fenster.

Nun sprachen sie über das Parfüm, über die Handschuhe, über Miß Bliß, die während der Seereise sich sehr auffällig an die Baronin attachiert hatte; ob Miß Bliß und Mr. Kelly sich verloben würden? »Vielleicht.« – »Vielleicht nicht.« – »Es wäre für Miß Bliß ein Glück, denn sie ist nicht mehr jung.« – »Sie ist mindestens fünfundzwanzig« – »Mindestens achtundzwanzig.«

Bis endlich die Toilette beendet war und Jane ihren Gatten zärtlich vom Fenster holte.

»Du hast lange warten müssen, Joe, bist du böse? Du bist nicht böse. Gefall' ich dir so?«

Und sie breitete ihren dünnen, feinen Seidenmantel mit beiden Armen weit auseinander, daß ihre üppige Figur in dem leuchtenden Rot sich königlich präsentierte. Um den weißen Hals trug sie ein dunkelrotes Sammetband, an dem ein einziger großer Diamant blitzte, weiteren Schmuck hatte sie nicht angelegt.

Miß Dash ging zur letzten Prüfung um ihre Herrin, sie von allen Seiten aufmerksam betrachtend, wobei sie sich auf den Zehenspitzen hob, sich tief beugte, zurücktrat, um einen Blick aus gewisser Distanz zu gewinnen, zupfte, glättete, strich und fortwährend kleine Bewunderungsäußerungen murmelte.

Jane stand stumm und ließ Miß Dash gewähren. Ihre rechte Hand machte sich ein wenig mit dem linken Handschuh zu schaffen, der über dem vollen Arm sich allzusehr straffte, den Kopf hatte sie ein klein wenig zurückgebogen, und so blickte sie stumm, unverwandt auf Joseph und lächelte ihm zu.

Es war eine seltsame Minute, in der beide nicht sprachen und sich nur anschauten, eine Minute, die scheinbar Miß Dash und ihrer Inspektion gehörte, in Wahrheit aber ganz ausgefüllt war von diesem einen strahlenden, siegessicheren, weichen, kosenden und dann wieder übermütigen, lächelnden Blick der schönen Jane.

Bis Joseph, wie von einem Magnet gezwungen, mit drei raschen Schritten zu ihr kam und den Arm um sie legte: »Du bist schöner als je.«

Sie beugte den Kopf noch tiefer in den Nacken zurück und sah ihn mit halbverschleierten Augen an: »Bin ich schöner als je?«

»Ja.«

Miß Dash ging immer noch um ihre Herrin, das heißt jetzt um Herrin und Herrn, immer von dem Gedanken geleitet, daß irgend etwas noch nicht in letzter und höchster Vollendung sein könnte. Sie hatte das Wort aufgeschnappt und murmelte es vor sich hin: »Schöner als je, schöner als je,« während die beiden ihre Anwesenheit kaum zu bemerken schienen. Um diese Miß Dash brauchte man sich nicht zu genieren, ebensowenig wie man sich etwa um einen treuen, alten Pudel geniert hätte.

»Wollen wir nun gehen, Joe?«

Er wachte auf und nickte: »Ja.«

*

– – »Sie lassen auf sich warten,« sagte der Oberstleutnant ungeduldig. Er ging mit knarrenden Stiefeln im Eßzimmer auf und ab, während Marie an dem Fensterplatz saß, die Hände in den Schoß gelegt und die Augen seit langer Zeit auf eine Stelle des Teppichmusters geheftet.

»Findest du nicht auch?« Er blieb hart vor ihr stehen.

»Ja.«

»Also. Antworte doch, wenn man etwas spricht oder fragt. Das ist fürchterlich, dieses Nie-Antwort-geben.«

»Verzeih.«

»Was verzeihen! Da ist nichts zu verzeihen! Es ist nur unangenehm, wenn man nie eine Antwort bekommt. Das erfordert doch schließlich die einfachste Höflichkeit. Befindest du dich wieder schlechter?«

Sie sah ihn mit einem vagen Blick an, als hätte sie nicht recht gehört, was er fragte, und sei nun in Angst, weil sie keine Antwort wußte. Er fühlte etwas wie Mitleid. Er nahm einen Stuhl vom Eßtisch und setzte sich neben sie.

»Wenn ich Urlaub erhalte, gehen wir vier Wochen an die See; du mußt dich erholen, Marie, du siehst nicht gut aus.« Er nahm mit einer etwas gezwungenen Bewegung ihre schmale Hand und streichelte sie.

Er hatte das Gefühl: an diesem Abend mußt du dich zusammennehmen. In deine Ehe und ihre Oede hat niemand das Recht hineinzuschauen, am allerwenigsten Joseph oder dessen Frau.

Aber während er stumm die kalte, magere Hand streichelte, zog langsam in diese halb weichen, halb nüchternen Gedanken eine Empfindung voll maßloser Bitterkeit.

Immer und immer, solange er zurückdenken konnte, war er der Benachteiligte und Joseph der Glückliche! Während er gearbeitet und jeden Pfennig gespart hatte, vergeudete Joseph sein Geld, um dann in Amerika ein hundertmal größeres Vermögen in der leichtesten und angenehmsten Weise zurückzugewinnen. Während er die schöne Marie geliebt hatte, wurde sie Josephs Braut, und als Joseph sie verlassen hatte und aller Jugendschimmer des Mädchens verblaßt war, nahm er, Albrecht, die kümmerlichen Reste, die der jüngere Bruder zurückließ! Das schönste Weib von drüben fiel Joseph als Beute zu, und heute kam er und präsentierte seine neue Erwerbung, während er, Albrecht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen hatte.

»Er wird sich wundern, wenn er Marie wiedersieht und sie mit seiner Frau vergleicht! Wundern wird er sich! Aber über wen? Ueber mich! Und wird mir sehr dankbar sein und denken: ist doch ein guter Kerl, der Albrecht, er begnügt sich immer mit dem, was man überläßt.«

»Wie?« Marie beugte sich ängstlich vor und sah ihn fragend an.

»Ich sagte nichts.«

»Du sagtest doch was . . .«

»Durchaus nicht.«

Mit einer brüsken Bewegung ließ er ihre Hand los und ging auf und ab. Er betrachtete den Tisch, das kostbare Gedeck, die großen Kristallschalen voll seltener Früchte, und plötzlich lachte er laut auf:

»Sie kommen nicht. Sie lassen auf sich warten wie Könige oder wie amerikanische Millionäre, die sie sind! Die uns armem Gesindel eine Gnade erweisen, wenn sie überhaupt einmal hereinschauen. Laß hinschicken zum Hotel: Ich bedauerte, ich – ich – ich wartete nicht länger!«

»Albrecht!«

Er nahm eine der Kristallschalen in die Hand und hob sie empor. Er mußte sich zusammennehmen, um seinem Grimm nicht die Zügel schießen zu lassen und die Schale nicht zu zerschmettern.

Da tönte im Flur die schrille Glocke.

Er atmete tief auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Eine Pause entstand.

Er lehnte mit der Hand auf dem Eßtisch, während Marie in der dämmerigen Ecke am Büfett stand. Sie hörten draußen sprechen: die Stimme des Hausmädchens, eine helle Damenstimme mit fremdartigem Accent und dann – Marie begann zu zittern – Josephs Stimme.

Eine Minute verging, eine zweite Minute, eine Ewigkeit.

Ein blutroter Schimmer legte sich vor Maries Augen, er wurde dunkler, sie bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, da zerriß der Schleier vor den Augen, und das Zittern hörte aus. Sie stand gerade aufrecht, nur die Arme hingen leblos herab.

Die Tür hatte sich geöffnet, sie sah den hell erleuchteten Korridor und in der Tür eine Frau in rotseidenem Kleide, die einen Moment zögerte und nun ins Zimmer trat.

Dann Joseph. Er trug einen dunkeln Anzug, einen englisch gebogenen Stehkragen und eine breite schwarze Seidenkrawatte. Sie sah das alles mit einem Blick. In einem traumhaften Empfinden hatte sie geglaubt, er werde hereinkommen wie sonst in der blauen Uniform, so wie er in ihrer Erinnerung lebte; nun erschien er in einer fremden Kleidung.

Da war ihr, als ob sie aus einem unendlich langen Schlafe aufwachte. Ganz ruhig ging sie einige Schritte vor und verneigte sich, als ihr Gatte sie der fremden Frau vorstellte. Sie und die Dame wechselten Worte, eine ganze Reihe von Worten, dann wandte sie langsam den Kopf, ganz ohne Eile, und sah Joseph an. Er bot ihr die Hand, und sie nahm sie an. Mit einer merkwürdigen Ruhe sagte sie:

»Wie geht es dir, Joseph?«

Und dann ereignete sich eine sehr peinliche Scene.

Joseph, der eben draußen im Korridor noch fest und ruhig gewesen war und zu den neckenden Worten der schönen Jane: »Nun mach mich nicht eifersüchtig, Joe,« gelächelt hatte – wenn es auch nur ein sehr mühsames Lächeln gewesen war – Joseph verlor die Haltung! Er versuchte auf Maries Worte etwas zu erwidern, irgend ein banales: »Danke, und wie geht es dir?« Aber seine Lippen begannen krampfhaft zu zittern. Mit einer ungeheuern Anstrengung hielt er sich noch einige Sekunden, dann verlor er die Fassung. Er schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.

Eine Totenstille im Zimmer.

Jane war blaß geworden wie eine Marmorstatue, während Albrecht einen Schritt zurückgetreten war und mit eisiger Miene von einem zum andern blickte.

Die einzige, die ruhig blieb, war Marie.

Ueber ihr blasses, müdes Gesicht ging es einen Moment wie ein Sonnenblick. Sie sah nicht auf ihren Gatten, sie sah nicht auf die Fremde, sie trat zu Joseph und legte die Hände tröstend auf seinen Arm: »Joseph!«

Sie geleitete ihn wie ein Kind nach dem Stuhl und zog ihn sanft nieder, während sie neben ihm stehen blieb.

Immer noch tödliches Schweigen, das nur Josephs krampfhaftes Schluchzen von Zeit zu Zeit unterbrach. Er hatte die Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht darin verborgen.

Nach einer langen Pause blickte Marie auf und wandte langsam ihre Augen zu der Frau, dann zu ihrem Manne und wieder zu Jane. Dann begann sie zu sprechen:

»Sie müssen ihm nicht böse sein. Er hat mich nicht wieder erkannt, das ist der Grund. Ich bin sehr alt geworden und sehr verfallen, er war darauf – wohl nicht vorbereitet.«

Jane trat heran. Schweigend blickte sie sekundenlang, dicht vor Marie stehend, der andern ins Auge, dann nahm sie, immer ohne ein Wort zu sprechen, Maries Hände und preßte sie.

»Joseph?« Sie legte die Hand auf seine Schulter: »Nun komm. Sei wieder ruhig.«

Sie hatte wirklich keinen Grund, eifersüchtig zu sein; auf eine Zerbrochene ist niemand mehr eifersüchtig. Und während sie ihres Mannes Hand in die ihrige nahm und mit ihrem Batisttuch ihm über Stirn und Augen fuhr, verzieh sie ihm. Er hätte ja ein Herz von Stein haben müssen, wenn dieses blasse, zerstörte Gesicht einer einst geliebten Frau ihn nicht erschüttert hätte.

Auch ihr Herz schwoll von einem tiefen, frauenhaften Mitleid, diesem Mitleid, das man dem zum Tode getroffenen Gegner stets gewährt. Sie hatte nur das eine Bild Maries gekannt, das Joseph ihr in Boston gezeigt und das sie aus seinem Besitz in den ihren übernommen hatte: ein junges, liebreizendes Mädchengesicht, ein halbes Kind in einem grenzenlos einfachen Kattunkleidchen mit einer Blume an der jungen Brust.

Sie hatte nicht erwartet, dieses Kind zu finden, aber sie hatte sich Josephs Jugendgeliebte als eine junge, schöne Frau vorgestellt, deren Gesicht vielleicht herber geworden sein mochte, mit der in Wettstreit zu treten aber immer noch einen gewissen Kampf erfordern würde. Auf diesen Wettstreit hatte sie, die um sechs Jahre jüngere, sich gefreut. Sie war ihres Sieges so sicher, und die andre würde nach einigen Tagen gedemütigt das Feld räumen. Seinen eignen Mann sich nach den Flitterwochen und Honigmonaten noch einmal erkämpfen müssen oder wenigstens ihn verteidigen müssen, das war ihr wie etwas Außerordentliches erschienen, wie etwas Extravagantes, das andre nie kennen lernen oder kennen zu lernen nicht den Mut haben. Sie, Jane, hatte den Mut! Sie, Jane, würde siegen! Sie, Jane, unternahm diese Europareise, um den Kampf gegen Josephs Jugenderinnerungen und Jugendliebe zu bestehen.

Nun gab es keinen Kampf.

Einen Moment hatte sie das Glücksgefühl: ›auch diese Letzte, die zwischen dir und Joseph stand, ist vernichtet,‹ aber dann vergaß sie die egoistische Empfindung in einem tiefen Mitleid.

»Wir haben oft von Ihnen gesprochen,« sagte sie und nahm Maries Hand. »Joseph hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich bin so glücklich, Sie zu sehen.«

Hätte sie jetzt das grauseidene Kleid zur Stelle und nicht dieses prahlende rote, das bei jeder Wendung rauschte und beim Sitzen knisterte! Miß Dash hatte die Schuld, nur Miß Dash! Die mit ihren plumpen Ratschlägen Jane schon hundertmal in Verlegenheiten und Aerger gebracht hatte!

Und der große, fürchterliche Diamant an dem rotsammetnen Bande am Hals! Er brannte förmlich und tat weh! Sie dachte daran, ihn heimlich herunterzureißen und in die Tasche zu stecken, aber es war zu spät, es ging nicht mehr.

Mit großen, seltsam feierlichen, traurigen Augen sah Marie sie an, während Jane zu ihr sprach – vieles sprach und erzählte. Sie saßen nebeneinander in dem steifen, geradlehnigen Sofa, das Albrecht zur Aussteuer gekauft hatte; Joseph und Albrecht waren nebenan in den Salon gegangen.

»Darf ich ›Marie‹ sagen?«

Marie nickte stumm.

»Und ›du‹?«

Marie nickte stumm.

»Und willst du ›Jane‹ sagen?«

Mit einem sonderbaren, stumpfen Blicke antwortete Marie.

Was wollte diese fremde Person von ihr? Was drängte sie sich an sie? Diese Frau, die ihr ohnehin alles fortgenommen hatte?! In ihren müden, glanzlosen Augen begann etwas zu zittern wie der letzte Grimm einer Vernichteten, aber die schöne Jane sah nichts davon. Sie plauderte weiter, unbefangen und fast zärtlich, und während sie sprach und sprach, erlosch das schwache Flackern in den Augen Maries.

Man setzte sich zu Tische und nahm ein wenig von den Speisen und nippte von dem Wein. Joseph war der einzige, der trank. Er saß stumm und leerte sein Glas. Er schenkte ein und leerte es von neuem.

Jane führte die Unterhaltung, während Albrecht erst langsam in Stimmung kam. Sie redete so ungezwungen und blickte ihn mit ihren großen, lächelnden Augen so liebenswürdig an, daß er erst unsicher wurde, dann gefesselt und interessiert.

Das Gespräch drehte sich um die gleichgültigsten Themata: Boston, die großen Ozeandampfer, Hamburg, die Einwohnerzahl von Hannover.

Aber sie hatte eine fascinierende Art zu sprechen, rasch, mit schnellen Fragen, lebhaft, hin, her, ein kurzes Lachen, ein erstauntes Aufleuchten der schönen Augen, und immer dieses reizende, gebrochene Deutsch mit dem fremdartigen Accent. Bisweilen sprach sie eine Minute oder länger nur englisch, und obwohl der Oberstleutnant Mühe hatte, ihr zu folgen und durchaus nicht jedes Wort verstand, schmeichelte ihm ihr Zutrauen auf seine Sprachkenntnisse, und er nickte und wurde immer aufmerksamer.

Es war eine liebenswürdige Aufwallung Janes, die sie veranlaßte, in dieser beinahe forcierten Weise die drei andern über die fürchterliche lähmende Stimmung hinwegzutäuschen, mit der der Abend begonnen hatte.

Sie tat es Marie zuliebe. Aus einer tiefen und aufrichtigen Teilnahme. Ein modus vivendi war für alle Zukunft nur zu erreichen, wenn dieser erste Abend des Zusammenseins nicht mit einer grellen Disharmonie endete.

Marie fühlte das, wenn auch nur undeutlich. Sie gab sich Mühe, dem Gespräche zu folgen und bisweilen ein Wort zu sagen, das ungefähr in den Gang der Unterhaltung paßte.

Nur Joseph saß stumm. Er schenkte ein und hielt die Weinflasche in der Hand und starrte minutenlang auf die Etikette: »Chateau Portets, Bordeaux« und las die paar Worte immer von neuem.

Bis Jane sich lächelnd zu ihm neigte:

»Joseph, was fällt dir ein! Du trinkst –«

Zum erstenmal blickte er empor. Er sah auf Jane, dann auf Albrecht, dann nahm er sein Glas, und sich schwerfällig erhebend und immer nur seinen Bruder anstarrend, sagte er:

»Ich freue mich – und meine – Frau freut sich, meinen Bruder und – Marie zu sehen – ja – ich war lange fort und – und – es ist ja nun alles gut, und das hier – das – trinke ich auf euer aller Wohl.«

Jane lachte: »Bravo, Joe!«

Man stieß an, die Gläser klirrten, aber Joseph blickte beim Anstoßen nicht rechts, nicht links, nur geradeaus auf seinen Bruder.

Jane nahm eine Zigarette und fragte ihren Schwager, ob er es schicklich finde, daß Damen rauchten.

Er hatte es nie schicklich gefunden, aber er versicherte ihr galant das Gegenteil.

»Sie müssen uns im nächsten Sommer drüben besuchen,« sagte sie, »Sie müssen beide das fest versprechen. Die Hand darauf, Albrecht.«

Er fühlte ihre weiche, schlanke Hand in der seinigen und hielt sie einen Augenblick fest.

Dieses »Albrecht« klang so sonderbar in ihrem Munde, die ganze Frau hatte etwas Faszinierendes, das ihn berauschte. Er füllte die Gläser und befahl dem Burschen, der in Dienerlivree bediente, Champagner heraufzuholen.

Er hatte dem Besuche seines Bruders und seiner neuen Schwägerin mit der Erbitterung jemandes entgegengesehen, der in aller eignen Misere der gezwungene Zeuge eines fremden, unerhörten Glückes sein soll, diese Erbitterung hatte sich zu einem maßlosen Zorn gesteigert, als Joseph heute abend Marie in der unerhörten Weise entgegengetreten war, aber aller Zorn verflog neben dem schönen Weibe, das ihm in einer seltsam liebenswürdigen Weise entgegenkam.

Er lachte, er erzählte, er wurde fast ausgelassen. Er füllte die Gläser: »Trink, Marie,« – »Joseph, trink,« – und als der Champagner kam und eingeschenkt war, erhob er sich mit gerötetem Gesichte und in seiner etwas linkischen Weise:

»Meine Frau und ich sind euch dankbar für euern Besuch. Er gibt uns Gelegenheit, eine neue Verwandte kennen zu lernen, von der wir bisher nur gehört hatten. Wir sind entzückt durch ihre Liebenswürdigkeit und überrascht durch ihre Schönheit. Ich bitte, diesen Trinkspruch nicht als einen Akt der Höflichkeit aufzufassen, sondern als den Ausdruck meiner innersten Ueberzeugung, wenn ich« – er stotterte und fand nicht gleich eine logische Fortsetzung – »wenn ich dieses Glas leere auf das Wohl meiner Schwägerin Jane von Heidenstamm.«

Eine kurze Pause folgte seinen Worten.

Marie schaute einen Moment ihren Gatten an, und Joseph blickte gleichfalls flüchtig auf seinen Bruder, sie waren beide überrascht. Die Worte, die in jedem andern Munde als kühle Höflichkeit gelten konnten, klangen bei ihm neu und fremd. Die schöne Jane mußte auf Albrecht einen außerordentlichen Eindruck gemacht haben, wenn er für sie solche Worte fand!

Vielleicht daß Jane selbst mit ihrem scharfen Verstande und ihrer ausgezeichneten Menschenkenntnis das einsah. Sie neigte sich vor und stieß mit dem Schwager an, ihre Augen begegneten sich einen Moment, dann schaute sie in ihr Glas, nippte daran und lächelte vor sich hin.

Der Abend wurde fast heiter.

Jane sang Lieder, indem sie sich selbst dazu begleitete; zuerst elegische schottische Romanzen, dann deutsche Volkslieder, die sie in einem so seltsam verstümmelten Text brachte, daß selbst Marie lächeln mußte. Und als die Stimmung freier wurde, sang sie ein keckes New Yorker Lied, das Albrecht entzückt noch einmal zu wiederholen bat.

Er ging mit der Weinflasche von einem zum andern und schenkte ein. Seiner Frau strich er über die schweren, aschblonden Flechten:

»Trink aus, Marie. Freust du dich? Bei Gott, ich freue mich, daß wir ihn einmal wieder hier haben.« Er schlug Joseph auf die Schulter: »Trink aus, Joseph.« Und er beugte sich über Jane und füllte ihr Glas: »Sie müssen noch mehr singen, Jane, und dann müssen Sie uns versprechen, lange hier zu bleiben. Wir haben das hier nötig: Fröhlichkeit – und – und – denn sehen Sie, es ist hier – nicht wahr, Marie« – er tat einen Schritt hinüber zu seiner Frau – »wir beide sind nicht die lustigsten.« Er lachte mit einem gezwungenen, bizarren Lachen und trat wieder zu Jane: »Wir leben hier ein Sklavendasein, nie ein frischer Luftzug. Sie müssen noch singen.«

Jane war gern bereit.

Wie sie diesen schwerfälligen Menschen, dem man das Verbittertsein auf zehn Schritte Entfernung ansah, in der ersten Stunde gefangen hatte! Es war reizend, ein wahrer Triumph! Während er mit dem Glas in der Hand neben ihr stand und sprach und immer weiter sprach, musterte sie ihn. Gut vierzig Jahre alt, nichts Anziehendes; je länger man ihn betrachtete, je mehr verlor er. Sie hatte sich von ihrer liebenswürdigsten Seite gezeigt, um sich und den andern über diesen trüben Abend fortzuhelfen, und sie hatte dabei ganz mühelos und en passant eine neue Eroberung gemacht. Alles Gute wird belohnt! Sie lächelte vor sich hin. Wenn der Mensch wüßte, wie gleichgültig er ihr war! Dann wurde sie ernster, und ihr frauenhaftes Mitleid regte sich von neuem. Ihre Augen gingen, während Albrecht immer weiter sprach, von ihm zu Marie und zurück; eine trübe Ehe, eine traurige Ehe; die Frau zerstört, und der Mann ein fühlloser Alltagsmensch, der das Verfehltsein der Ehe die Frau entgelten läßt. Sie sah das alles so klar, sie brauchte die Vorgeschichte nicht zu kennen, um Josephs Bruder zu verstehen.

»Nur um Gottes willen heute an das alles nicht rühren! Nur heiter sein!«

Jane sang das französische Chanson, mit dessen keckem Vortrage sie Boston und New York und die Gesellschaft auf dem Dampfer und alle Welt schon entzückt hatte.

Marie saß stumm, sie verstand nicht die Worte und nicht den Sinn.

Joseph, der so oft diesem Liede Beifall geklatscht hatte, erhob nicht einmal den Kopf.

Aber der Oberstleutnant war außer sich:

»Bravo! Bravo!«

Seine Nüstern dehnten sich. Er goß die Gläser voll Champagner, und während er Glas auf Glas hinunter stürzte, füllten vage Gedanken sein Hirn: vielleicht wurde das Unmögliche möglich! Kam diese Amerikanerin, um ihm – endlich ihm, der nie etwas erreicht hatte! – das Glück zu bringen?!

Es war spät in der Nacht, als Joseph und seine Frau das Haus verließen, um heimzugehen. Albrecht wollte sie begleiten, aber mit einer kühlen Ruhe, die seltsam gegen ihre bisherige Laune abstach, hatte Jane das abgelehnt.

Sie gingen schweigend durch die Nacht, alle Straßen waren totenstill.

Während Jane droben sang, hatte sie das Gefühl beherrscht: wenn du nachher mit Joseph allein bist, wirst du ihm sagen, daß du ihm nicht zürnst; daß du es begreifst, wenn das zerstörte Bild der Jugendgeliebten ihn zu Tränen überwältigt hat.

Aber nun, da sie mit ihm allein war, fand sie das Wort nicht.

Der kühle Nachtwind strich um ihre Schläfen, und je länger dieses Schweigen dauerte, um so mehr erstarrten die Worte, die sie sagen wollte.

Mochte sie es jetzt ansehen, wie sie wollte, es war etwas Fremdes zwischen sie und ihren Mann getreten.

Oben im heißen Zimmer, beim Wein, in dem hellen Licht und in der künstlichen Erregung der hin und her gehenden Reden war sie nicht zum Nachdenken gekommen, der eine Gedanke hatte sie die ganzen Stunden geleitet: ›Der Kampf, um dessentwillen du nach Deutschland gekommen bist, ist vorbei, existiert gar nicht, weil es keine Gegnerin gibt.‹

Jetzt in dem kühlen Winde und dem nächtlichen Schweigen kam sie zur Besinnung.

Was denn? Keine Gegnerin?! War sie denn blind gewesen?! Diese zerbrochene, gealterte Frau war eine zehnfach stärkere Gegnerin als eine junge, gesunde Person, mit der sie, Jane, spielend den Kampf aufgenommen hätte!

Joseph war ruhig und kühl neben ihr ins Zimmer getreten, und in dem Augenblick, wo er Marie gesehen, hatte er die Fassung verloren!

Jane war ihrem ganzen Wesen nach nicht im stande, diese Gewalt sentimentalen Empfindens zu begreifen, aber instinktiv fühlte sie, daß der erste Waffengang, zu dem sie sich gegen ihre Gegnerin so siegesgewiß gerüstet hatte, verloren war.

Sie lachte auf, ein kurzes, heiseres Lachen, so daß Joseph, der schweigend neben ihr ging, einen Moment stutzte.

Sie gingen weiter, und Jane blickte mit einem verächtlichen Lächeln geradeaus in die menschenleere Straße, über die sich der erste graue Schimmer des dämmernden Morgens breitete.

Schön: war dieser erste Waffengang verloren, den zweiten würde sie um so sicherer gewinnen. Und jeden nächstfolgenden, und damit den Siegespreis. In ihr regte sich der sportliche Ehrgeiz, den die Amerikanerinnen auf den Tennisplätzen lernen: man kann einmal verlieren, und vielleicht noch ein zweites Mal; nur zäh bleiben, den Griff fest in der Hand halten!

Sie biß mit den scharfen, weißen Zähnen in das Batisttuch, das sie mit der linken Hand vor den Mund hielt.

»Jane!«

»Was?«

Joseph legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie im Gehen leicht an sich. »Jane, ich bin dir viel Dank schuldig.«

»Weshalb?«

»Daß du gut warst gegen Marie. Jane, das vergess' ich dir nicht.«

Sie zuckte unter seinem Arm die Achseln und gab keine Antwort.

Sie gingen über den Marktplatz nahe vorbei an dem hochgegiebelten Hause des Philosophen Leibniz. Eine graue, tote Stimmung lag über der schlafenden Stadt. Der kolossale Turm der Marktkirche mit seinen ungegliederten Backsteinmassen erhob sich vor ihnen wie ein Riese. Dann kamen sie durch eine lange, finstere Gasse, die auf Jane wie ein schauerlicher Engpaß wirkte. Sie hatte eine solche Gasse nie gesehen, ihr war, als ob ihr in dieser dumpfen Enge der Atem versagte.

Dann endete die Straße, und vor ihnen lagen die weiten Anlagen mit dem Hoftheater, dem Lyceum, den hohen Prachtbauten der Georgstraße.

»Ich habe Marie gekannt,« begann er von neuem, »seit sie geboren wurde. Wir sind miteinander aufgewachsen, du weißt. Ich habe sie auf dem Arm getragen und habe sie gehen gelehrt. Und nun das! Und nun so!«

»Da ist unser Hotel,« sagte sie.

Aber Joseph, immer den Arm um ihre Schulter gelegt, ging an dem Hause vorüber.

»Laß uns noch unten bleiben. – Sie war meine Schwester, nicht wahr? Sie war doch wie meine Schwester. Wenigstens damals. Sie war so lieb, du glaubst es nicht. Wenn sie zu mir kam mit ihren kleinen Händchen und wollte etwas haben, und ich mußte ihr Geschichten erzählen . . . Und als sie größer wurde – sie war so hübsch, so frisch, lustig und gesund – und – wie ist es möglich, daß Marie so geworden ist?!«

Sie gingen auf und ab, im Osten färbte der Himmel sich heller. Von den alten Erinnerungen gebannt, erzählte Joseph noch immer von Marie.

Jane sprach kein Wort, aber er achtete nicht darauf. Instinktiv fühlte sie, daß dieses Erzählen ein Beweis seines herzlichen und dankbaren Zutrauens war. So spricht man nicht zu seiner eignen Frau von der Jugendgeliebten, wenn man seine Frau nicht liebt und ihr voll vertraut. Und stumm neben ihm her schreitend, sagte sie sich:

›Wenn du jetzt ruhig und klug bleibst und gehst auf seine Rede ein, so hast du gewonnenes Spiel. Nimm die Sache, wie sie ist und wie du sie richtig heute begonnen hast: ein wenig Mitleid, etwas Herzlichkeit, diplomatische Gelassenheit, vierzehn Tage ohne stürmische Liebkosungen; dann folgt die Abreise, und dein Mann gehört dir. Mehr als je und für immer!

›Nein!‹ Sie knirschte mit den Zähnen: ›Nein! Was geht mich diese Fremde an?! Joseph gehört mir und nur mir! Resigniert daneben stehen, während er sich mit seinen Jugenderinnerungen abfindet? Narrheit! Mitleid – was heißt das? Wer hat Mitleid mit mir, wenn ich einmal alt werde?! Niemand. Sie hat ihn besessen, als sie jung war, und jetzt besitze ich ihn, denn jetzt bin ich jung! Was ist dieses Mitleid, dieses übertriebene Mitleid? Eine alberne Schwäche und weiter nichts!‹ . . .

Mitten in seinen Erzählungen von der Kinderzeit unterbrach sie ihn mit einer kurzen Bewegung.

»Komm, wir gehen jetzt hinauf.«

Der verschlafene Portier öffnete und geleitete sie in das dunkle Treppenhaus.

Und Jane, während sie eine Stufe hinter Joseph aufwärts stieg, ballte ihre Hände zur Faust.

Marie erschien ihr setzt bei scharfem, kühlem Nachdenken als ein unbedeutendes spießbürgerliches Geschöpf. Stumm hatte diese Frau den ganzen Abend dagesessen, nur bisweilen hatte sie ein gleichgültiges, nichtssagendes Wort zur Unterhaltung beigetragen. Joseph natürlich sah sie mit andern Augen an, aber sie, Jane, hatte wahrhaftig keinen Anlaß, diese deutsche verblühte Alltagsfrau mit einem romantischen Aufputz zu umkleiden.

›Ich will meinen Mann für mich selbst,‹ dachte sie, ›ich habe nicht Lust, auf ihn zu resignieren, und wäre es auch nur für einen einzigen Tag! Wer bin ich denn? Eine Frau, die in der großen Welt erzogen wurde! Mit weiten, freien Lebensanschauungen. Diese andre ist in sich selbst und in ihrer dumpfen Beschränktheit erstickt; das ist es!‹

Miß Dash saß in einem Schaukelstuhl, ein warmes Tuch um die Schultern und einen Paletot über die Kniee gebreitet. Im Warten war sie eingeschlafen. Sie wachte auch nicht auf, als die Tür sich öffnete und die beiden hereinkamen.

»Diese Luft!« sagte Jane, »sie hat wieder alle Fenster geschlossen!« Und sie stieß sie weit auf, daß der kühle Morgenwind die Vorhänge aufflattern machte.

»Dash!« –sie rüttelte sie, »gehen Sie schlafen. Nein, es ist gut, ich brauche Sie nicht mehr. Gehen Sie in Ihr Zimmer.«

Es war der verschlafenen, blinzelnden Dash schwer begreiflich zu machen, daß Frau Baronin die seltsame, unfaßliche Idee habe, sich selbst auszukleiden, daß man nach der Heimkehr von einer Gesellschaft, noch dazu in einem fremden Hotel, Dash nicht benötige, daß – ja was? Aber ehe sie recht zum Bewußtsein kam, befand sie sich draußen und hörte den Riegel hinter sich zuschnappen.

Sie stand noch eine ganze Weile vor der Tür und sann nach: wer sollte die Stiefel hinaussetzen? Das Kleid in den Schrank hängen? Die fünfzig andern Dienstleistungen besorgen, deren einzelne Aufzählung unmöglich ist?

Mit einem Frösteln – denn Dash fror immer – ging sie in ihr Zimmer.

Joseph war an das geöffnete Fenster getreten, und Jane stand dicht hinter ihm.

›Heute oder nie! Heute gewinne ich ihn ganz oder nie!‹

»Es wird Morgen,« sagte sie und trat dicht neben ihn, »du mußt müde sein, mein armer Joe.«

»Ich nicht, aber du.« Er wandte sich zu ihr, und mit einer weichen Bewegung lehnte sie sich an ihn, die Hände auf seine Schultern gelegt, den Kopf an seine Brust schmiegend.

»Warum hast du Miß Dash hinausgeschickt?«

»Ich wollte mit dir allein sein. – Sieh mich an, Joe. So. Aber freundlicher. Ja, so.«

»Du mußt schlafen gehen, Jane. Es ist vier Uhr vorbei.«

Mit einem reizenden Lächeln schüttelte sie den Kopf: »Ich will noch mit dir plaudern. Wir werden wach bleiben, bis die Sonne aufgeht, ja?«

»Wie du willst.«

»Erkläre mir alles, Joe, komm.« Sie zog ihn ans Fenster. »Was ist das für ein Haus da drüben? Nein, laß, ich will raten. Es ist das Theater, ja?«

»Ja.«

»Und das da die Georgstraße?«

»Ja.«

»Ich weiß alles, ich kenne die Stadt so gut wie du. Weil es deine Stadt ist, Joe, und ich immer aufgepaßt habe, wenn du erzähltest.«

Er setzte sich auf den Stuhl am Fenster, während Jane mit ihrem knisternden Seidenkleide sich wie ein müdes Kind auf seinen Schoß schmiegte und sich an ihn lehnte.

Sie plauderte unbefangen von allem möglichen, und dann wehte der Morgenwind noch kühler ins Fenster, und sie tat, als fröstelte sie ein wenig und schob sich dichter in seine Arme.

Die Sonne kam groß und strahlend herauf und blitzte auf dem roten, seidenen Kleide. Sie schien mit goldenem Lichte auf das schöne, rosige Gesicht.

»Joe.«

Er schaute sie an, lange, ihre großen Augen blickten zu ihm weich, sehnsüchtig empor, sekundenlang, eine Minute lang. Es waren traurige Augen, die sagten:

›Um Jane kümmerst du dich nicht mehr, seit du die andre wiedergesehen hast!‹

Es waren verlangende Augen: »Küß uns!«

Es waren Augen mit seltsamem Feuer, das loderte und zu ihm emporschlug.

Sie hatte sich mit zwei, drei Handgriffen die schweren Flechten gelöst, die nun wie eine Flut über Stirn und Wangen und das rote Seidenkleid strömten.

»Joe?«

»Jane!«

Mit einem Ruck riß er sie empor an sein Gesicht und bedeckte ihren roten Mund mit Küssen. Mit unzähligen Küssen, die ihr den Atem raubten.

»Ja,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »ja, ja.«

Von einem blitzgleichen Gedanken gepackt – einem Gedanken an Marie! – stieß er sie einen Moment zurück, mit beiden Händen ihre runden, weichen Arme pressend und sie niederdrückend, aber mit ihrer ganzen Kraft hielt sie die Hände um seinen Nacken verschlungen und küßte ihn.

Und er erwiderte ihre Küsse, sinnlos; und immer flüsterte sie zwischen den Küssen mit fliegendem Atem: »Ja – ja – ja!«

*

Nun war es auf den Straßen lebendig geworden. Es war Sonntagmorgen, und allenthalben regte es sich. Drüben auf der andern Seite der Straße ging ein ganzer Schwarm Mädchen in hellen Kattunkleidern und weißen Strohhüten. Sie hatten es eilig, vielleicht wollten sie zum Bahnhof, um einen weiten Ausflug zu unternehmen.

Grüne Birkenstämmchen vor allen Häusern – Pfingstsonntag.

»Ja, Pfingstsonntag. Mit Birken.« Joseph flüsterte es vor sich hin. Er hatte nicht daran gedacht, daß es der Abend vor Pfingsten war, der ihn in die Heimat zurückgebracht hatte.

Er nahm gedankenlos eine Zigarette und schob sie zwischen die Lippen, aber er vergaß, sie anzuzünden.

Da lag die Stadt im hellen Morgenglanze. Alles wie sonst. Nur da drüben ein Neubau, sehr stattlich, ja.

Hannover, – sonderbar! – er war wieder in Hannover.

Und just Pfingsten. Pfingsten war in der Kinderzeit vielleicht nicht das schönste Fest gewesen, Weihnachten war schöner und Ostern auch, aber es war ein heiteres Fest voll Frühling und Jugend.

Rief da jemand?

Er wandte sich hastig um. Nein, Jane schlief.

Am Abend vor Pfingsten gingen die Kinder aus, um kleine weiße Birkenstämme zu kaufen, die an alle Türen gebunden wurden und mit ihrem zarten, feinen Grün der ganzen Stadt ein heiteres Gepräge gaben. Später, wenn sie verwelkten, strömten sie einen starken Duft aus, an den er sich deutlich erinnerte.

Einige Tage vor dem Feste führten die Gesellen der großen Schlächtermeister in Hemdsärmeln und weißen Schürzen durch die Stadt mächtige ostfriesische Ochsen, die zwischen den Hörnern Kränze trugen und eine Guirlande um den Leib. Man hieß sie Pfingstochsen, weil sie eigens zum Feste geschlachtet wurden, und wer zu Pfingsten einen Ochsenbraten bestellte, bildete sich ein, daß der Braten just von jenen Prachtexemplaren herrühre.

Er lächelte. Es waren kleine, unbedeutende Erinnerungen, aber in ihrer Gesamtheit führten sie deutlich das Bild längstvergangener Pfingstfeste zu ihm zurück.

Damals standen er und Marie früh um fünf Uhr auf, um das Morgenkonzert zu hören, das in allen Waldwirtschaften nahe bei der Stadt abgehalten wurde, – heute war es früh fünf Uhr, und Joseph war im Begriff, schlafen zu gehen.

»Ja, schlafen.« Er war müde zum Sterben.

Er warf noch einen letzten Blick hinaus auf die Straße, auf der jetzt ganze Trupps von Männern und Frauen und Kindern in den Frühlingsmorgen hinauszogen, dann löste er die Scharniere der schweren Jalousien und ließ die dunkeln Holzwände an den Fenstern hinabrollen.

Es wurde finster im Zimmer; er zündete eine Kerze an, aber das dürftige gelbe Licht wirkte gespensterhaft düster im Vergleich zu dem Sonnenlichte, das er eine Minute zuvor noch gesehen hatte.

Und plötzlich war es Joseph, als ob er aus einem Traume erwache! Als ob er diese halbe Stunde, seit Jane eingeschlafen war und er am Fenster in den Pfingstmorgen gestarrt hatte, ein Nachtwandler gewesen sei! Ein Wahnsinniger, der – der –

»Großer Gott!«

Da lag sie und schlief. Mit glattem Gesicht, lächelnd im Schlaf.

Er hatte sie umarmt, heute! Geküßt, heute! An sich gerissen, heute! In dieser selben Nacht, in der er Marie wiedergefunden hatte! Die tote, sterbende Marie! Er hatte – er schlug mit einem wilden Schlage die Hände vor sein Gesicht und brach zusammen auf dem Teppich. »Marie!«

Lange Zeit nachher stand Joseph auf und nahm die Kerze, die halb hinabgebrannt war, und trat an das Fußende von Janes Bett.

In den Zimmern nebenan war es laut geworden. Ein Herr rief nach Wasser, und draußen im Korridor gellte eine elektrische Glocke.

Sie schlief. Sie hatte sich von rechts nach links hinübergeworfen, und ihr rundes, rosiges Gesicht lag auf dem weißen Arm.

Ein Grauen ging über ihn hin.

Diese Liebesnacht war ein Mord. Ein Mord an Marie. An allem Guten und Heiligen. Ein Verrat – ein Verrat.

Die Kerze verlosch. Jane schlief. Der Sonntagmorgen war um viele Stunden vorgerückt, nun begannen die Kirchenglocken von allen Seiten her zu läuten.

Aber das Zimmer blieb finster wie Nacht, denn Jane schlief, und Joseph saß in dem Sessel am Fußende des Bettes, das erloschene Licht noch immer in der Hand.


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