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Viertes Kapitel

Auf einer der vielen Festlandzungen, die das Etschtal in den tiefen Moorgrund, das ›weite Moos‹ genannt, hinein streckt, dem Dorfe Andrian schräg gegenüber, stand ein großer, schöner Bauernhof, fast zu luxuriös und dem herrschenden Geschmacke zuwider ganz aus Stein gebaut, seine Ecken und Gesimse mit poliertem Porphyr orniert, inmitten eines großen, umhegten Gartens, der offenbar auf Kosten der Erträglichkeit, bloß mit den üppigen Kindern der südlichen Flora bepflanzt und überhaupt auf eine Art angelegt war, die ihrer Absonderlichkeit wegen wohl geeignet war, dem Hofe den Namen zu vindizieren, den ihm der Volkswitz angehängt.

›Paradies‹ hieß dieser Name.

War schon die wundervolle Lage dieses Ansitzes, mitten im immergrünen, schönen Etschtale, umsäumt von dessen wunderlichen Porphyrhügeln und überragt von himmelhohen Dolomitkegeln eine diesen Namen rechtfertigende, so war es noch ungleich mehr dessen berüchtigt gewordene Benützung durch die Massaline dieses Landes – die Gräfin Margarethe.

Nicht allnächtlich nur, wenn Schloss Maultasch droben finster und unbeleuchtet ins Tal hinab starrte, sondern auch bei Tage und alltäglich fast, sah und hörte man im ›Paradies‹ sich ungewöhnlich geheimnisvolles Leben entfalten, sah und hörte man flüsternde Gestalten durch die Rebenlauben huschen. – Was nützten alle Riegel und Mauern, was die treue Wache an den Torschranken? Die ausgeschlossene Neugier rächte sich durch das Gerücht – und über kurz wusste Alt und Jung im Lande, im Hofe der Gräfin im ›weiten Moos‹ stehe aber ein Apfelbaum, an dessen süßer Frucht sich schon manch' ein Adam um Leib und Seele gekostet! –

An der gen Bozen zu gekehrten Front der Gartenmauer, die das ›Paradies‹ umschloss, lag das einzige Zugangstor des Ansitzes, die Flügel offen, aber nach Landessitte halb durch eine Plankenwand geschlossen, auf deren Brüstung eine seltsame Gestalt zusammengekauert saß. Sie schien offenbar den Zugang zu bewachen, und, insofern hierzu offene Augen und eine helle Stimme ausreichen, dies nach besten Kräften zu tun; denn jene streiften die Straße ebenso wohl als die Nebenwege des Tales unablässig auf und ab, und diese übte sich zu etwa nötigem Rumore durch ein unharmonisches, unausgesetztes, leises Grunzen, das alle Hoffnung gab, durch eine kleine Kraftanstrengung zu ganz anständigem Zeter moduliert werden zu können.

Hiermit waren aber auch alle Mittel dieser Wache erschöpft, und von der Abwehr nahender Gefahr oder unberufener Neugier konnte bei ihr keine Rede sein, sintemalen sie aus einem greisenhaften, verschrumpften Männlein bestand, dessen einziges Waffenstück jenes hölzerne Ding rätselhaften Ursprungs war, das man Narrenpeitsche nennt.

Und in Übereinstimmung mit diesem, seinem Stand kennzeichnenden Gewaffen war auch sein hagerer Leichnam angetan, von der beschellten Gugelhaube bis zu den rotgezackten, über die Knöchel reichenden, gelbledernen Schnabelschuhen.

Trotz all' dieser scheckigen Ausstattung aber schien dieser Narr doch kein rechter zu sein, höchstens ein recht trübseliger; so sah er wenigsten in diesem Augenblicke aus, und es mochte wohl schon eine geraume Zeit her sein, seit die Schelle auf seiner Gugel hell und lustig zu klingen aufgehört über dem silberhaarigen, halbkahlen Scheitel des Greises.

Der Narr mochte das Behüten seines Postens nachgerade so ziemlich satt bekommen haben, wie sein ungeduldiges Hin- und Herrutschen auf der Planke und sein immer verdrießlicher klingendes Knurren zeigte, als er plötzlich in diesen beiden Äußerungen seines Gemütszustandes innehielt und starren Blickes nach dem Straßenzuge hinschaute, auf dessen ferner Höhe erst ein dunkler Punkt erschien, dann als ein eilig nahender Gegenstand erkennbar wurde und sich endlich als ein Reiter vorstellte, der mit verhängten Zügeln dem ›Paradies‹ zusprengte.

Der Narr schien einen Augenblick mit sich zu Rate zu gehen, auf welche Art er den Ankömmling so anzumelden als zu empfangen habe, dann – indes war dieser schon von der Straße ab und dem Hofe zugeritten – entschloss er sich, das Anmelden gänzlich fallen zu lassen, auch mit dem ›Empfangen‹ nicht sehr zu eilen, zu welchem Behufe er sich rasch auf der Planke umdrehte, und, mit dem Reiter zugekehrten Rücken, sich in die Betrachtung der Lauben und Hecken des Gartens vertiefte.

Der Reiter parierte das keuchende Ross vor dem Tore und sprang aus dem Sattel. –

Der Narr regte kein Glied, um von ihm Notiz zu nehmen und begann abermals seinen gröhlenden Gesang anzustimmen und mit den herab baumelnden mageren Füßen den Takt gegen die Planke dazu zu schlagen.

Der Reiter trat an ihn und bot ihm, die Hand auf seine Schulter legend, guten Tag.

Der Narr rührte sich nicht und schien ebenso wenig zu hören als zu sehen.

»Michele, hörst du? Michele!« rief der Reiter, ein großer, hagerer Tiroler, in dunkle bürgerliche Tracht gekleidet, deren staubiger Zustand eben nicht dazu beitrug, seinem kümmerlichen, gedrückten Wesen zu Ansehen zu verhelfen: »Michele, kennst Du mich denn nicht?«

Michele spitzte die Ohren und hob den Kopf mit nachdenklich aufgezogenen Brauen in die Höhe, jedoch ohne sich umzusehen, und antwortete mit schlauem Lächeln: »Michele, kennst Du mich denn nicht? – Ei, ei, des Kargerbauern Tyras, das arme Tier, erzählte mir, ehe er verreckte, dass die Spitzbuben die ihn vergeben (vergiftet) und dann den Hof geplündert, gar freundlich zu ihm gekommen wären, mit fast denselben Worten, nur dass sie ihn bei seinem heidnischen Namen riefen: ›Pst Tyras, alter Tyras, kennst Du uns denn nicht?‹ Pah! Er vergaß zu bellen und heut liegt er auf dem Schindanger!« Und nach dieser zarten Allegorie nahm er seinen Gesang von Neuem auf, indem er die Hecke gegenüber so eifrig anstarrte, als wäre sie sein Notenpult hierzu.

Der Reiter, der seinen Mann kennen mochte, begann unverdrossen von Neuem: »Aber, Michele, sei kein Narr und…«

»Hi, kein Narr? Was für ein Handwerk rätst Du mir dann wohl zu versuchen, Mann, in der Blüte meiner Jahre?« fragte Michele kichernd, aber noch immer mit abgewandtem Gesichte.

»Zuerst…«, sprach der Reiter mit ernstem Tone, »zuerst rate ich Dir, den Kopf umzudrehen und mir ins Weiße zu schauen, wenn Du nicht willst, dass ich Dich von Deinem Zaune hinunter schlage, wie Du es längst verdient; dann aber…«

Er konnte seinen Rat dem Narren nicht zur Gänze zum Besten geben, denn dieser hatte sich bei dem ernsten und drohenden Klange seiner Rede wirklich langsam auf der Planke umgedreht und fiel ihm jetzt plötzlich mit dem verwunderten Ausrufe ins Wort: »Ho, der Claus von Missian?«

»Derselbe, Michele! Nun mach' ein End' mit Deinen Possen!« sagte der Reiter, indem er Hand an die Planke legte, um sie zu öffnen.

Der Narr glotzte ihn eine Weile schweigend an, dann aber sprang er von der Planke und nach dem Barett des Reiters, indem er zugleich seine Gugel vom Kopfe riss und sie ihm, die Schelle schüttelnd, mit den Worten reichte: »Da hinein willst Du? – Du? – Nun dann gib mir zuvor Dein vernünftig Käppchen ab und orniere Dein Haupt mit dieser bunten Gugel; denn sie dürfte keines Mannes Scheitel mit mehr Recht bedecken als den des Falken von Missian – so hieß man Dich ja einst – der heut auf Heimsuch kommt zu seinem alten Schätzel – hihi! Ins ›Paradies‹!« Und der Alte umhüpfte den Reiter mit lautem Gelächter und unablässigen Versuchen, ihm seine Narrenkappe aufzusetzen.

Der Mann von Missian lächelte bitter zu diesen Worten und sprach: »Wohl hast Du recht, mein guter Michele, wenn Du mich einen Narren schiltst, und du hättest es vollkommen, wenn Du mich wirklich suchend beträfest auf der breitgetretenen Spur Deiner – Herrin! Aber was mich herführt, ist leider kein Narrending, es ist eine ernste Sach'…«

»Eine ernste Sach'?« unterbrach ihn der Narr mit nachdrücklicher Betonung, »und die willst Du über diese Schwelle tragen, Narr und aber Narr! Über diese Schwelle, über die – hinein – noch kein Fuß geschritten, den nicht Liebe und Lust beflügelt hätten – wie sie – hinaus – noch keiner betrat, den nicht die zentnerschweren Gewichte der Reue belasteten?!«

Claus schüttelte traurig das Haupt und sprach mit dumpfer Stimme: »Michele, sie haben mir mein Kind gestohlen!«

Der Narr stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als diese Worte an sein Ohr schlugen; sein Leib knickt zusammen, die Kappe entfiel seinen Händen, die er krampfhaft an seine Schläfe drückte, sein altes, gefurchtes Gesicht ward erdfahl, und seinen bläulichen Lippen entrangen sich die leisen, wie im Irrsinne gestammelten Worte: »Kind gestohlen? – Auch Dir? – Auch Dir!«

Claus nickte stumm mit dem Kopfe.

»Aber Du sagst: sie haben es Dir gestohlen! Also nicht sie hat es getan?« fragte Michele, plötzlich wieder in seinen gewöhnlichen Ton fallend.

»Nicht sie, diesmal ist sie ohne Schuld!« antwortete Claus, »die Böhmen waren's, der Busco von Welhartitz, des Grafen Johann Kämmerling.«

»Die Böhmen? Ja, wieso Claus, und warum?« fragte der Narr seinen früheren Sitz wieder einnehmend, an den gelehnt Claus zu berichten anhob:

»Du bist der Vertraute Deiner Herrin und…«

»Davor wolle mich der Herr in Gnaden behüten! Ich möchte gern mit meiner Seligen im Himmel zusammenkommen!« warf Michele ein, nach der Aufregung des Augenblicks wieder ganz Narr.

»Nun, wenn auch nicht!« fuhr Claus fort, »so weißt Du doch so viel, dass mein Kind nicht starb nach der Geburt, wie es das Weibsvolk der Gräfin – wohl nach ihrem Gebot – ausgesprengt…«; er hielt inne, als ob er von dem Narren eine Bestätigung seiner Ansicht erwarte. Michele aber schwieg und horchte auf.

»Ich wenigstens glaubte es nicht«, sprach Claus weiter, »ich konnte mir wohl denken, wie viel ihr, die eines anderen Mannes Weib und nach ihrer Aussage Jungfrau war, daran liegen müsse, solch' unliebsame Neuigkeit nicht bekannt werden zu lassen, was unfehlbar geschehen musste, wenn das Kind um sie blieb; und mein Verdacht wurde zur Gewissheit, als die alte Walpurg, die mit den andern, so um die Sache wussten, bald darauf aus dem Dienste der Gräfin kam, mir mitteilte, was sich mit dem Kinde nach der Geburt zugetragen.«

»Also die Walpurg hat geplaudert?« rief Michele, den Kopf schüttelnd, »das ist das erste Mal, dass ich meiner Gevatterin auf einen dummen Streich komme; wie fein und klug wusste sie sonst immer Mäuler zu stopfen und Augen zu schließen, wo es ihr nötig dünkte!«

»O, tue Deiner edlen Herrin nicht unrecht, mein guter Narr!« sagte der Mann von Missian traurig, »der alten Walpurg Plaudern fürchtete sie nicht, ebenso wenig das der anderen des Dienstes entlassenen Weiber – eben weil sie des Dienstes entlassen waren, ihres Ungeschickes, ihrer Untreue oder anderer ähnlichen Ursachen wegen; seit die Welt steht, kommt bei jedem Abschied der Dienstboten die Herrschaft übel weg. Die edle Frau war sich bewusst, dass sie doch erhaben stehe über solch' wahnwitzigen Altweibergeträtsch, und wusste es nicht die ganze Welt, wie sehnlich sie wünsche, mit einem Leibeserben gesegnet zu werden nach so langjährigem dürren Ehestande, und dass nur dies unerfüllte Sehnen Schuld an all' den Zerwürfnissen zwischen ihr und ihrem jungen Gemahl sei, die anitzt bis zu offenem Bruche gediehen? Was hätte sie verhindert, dem Grafen und dem Lande aufzubinden, ihr Kind sei das seine und des Grafenthrones Erbe? – Mein guter Michele, sie wollte, dass es die Leute erführen, und was Du einen dummen Streich nennst, das war der klügste und treffendste Schlag, den das ränkevolle Weib je geführt – denn sie traf zwei Fliegen zugleich damit; sie erreichte erstens hierdurch bei den Leuten, die es glaubten, dass diese fortan nicht mehr sie als die Ursache ihrer kinderlosen Ehe ansahen – es lag ihr daran, dass dies wenigsten einer glaubte, der junge Brandenburger – und zum anderen hoffte sie sich damit ihren unbequemen, jungen Ehegespons, den stolze Königssohn vom Halse zu schaffen, der sich doch schwer willig dreinfinden werde, sein fürstlich Lager mit dem Falken von Missian – einem Bauern – zu teilen!«

»Bei meiner Seele, Du hast recht!« rief Michele, die Hände im Staunen über diese unerwartete Auslegung ineinander schlagend.

»Jawohl, Freund! Das war ihre Absicht!« fuhr Claus fort, »aber was sie nicht geahnt und dessen sie sich nicht versehen, das war der Anteil, den ich an der Sache nehmen musste – an meines Kindes Sache, ich – der Vater. Was weiß ich, wie es geschah – wie das Gerücht mir nachgekrochen auf der Spur der Reue in die tiefen Berggründe, in die ich mich – ach zu spät – geflüchtet aus den Armen des unglückseligen Weibes! – Kurz, ich hörte es, ich raffte mich auf, ich flog hinab und schlug donnernd an ihres Schlosses Tor, mein Teil begehrend – mein Kind! – Mit Spott und Hohn wies man mich ab – dem Falken von Missian waren die scharfen Fänge ausgefallen, seit ihn die Hand der Herrin nicht mehr trug…«

»Es saß derweil schon der da drin im Neste; ja, sie liebte es nicht, es kalt werden zu lassen!« warf der Narr mit höhnischem Lachen ein und zeigte dabei mit der Hand nach dem Garten hin, aus dessen dunklen Arkaden eben heller Lautenklang ertönte, einer tiefen, sonoren Stimme schlagend, die also sang:

 

»Frau Minne kam zur Erden
Aus lichtem Himmelsraum:
Sie wollte irdisch werden
Und mehr als flücht'ger Traum!

Sie klopft' an tausend Türen
Mit ros'gem Finger an:
Was tat sie sich verlieren,
Als kaum ihr aufgetan?

Wo konnte sie den warten
Auf weitem Erdenrund,
Dieweil Dein Zaubergarten
Der Göttin offen stund?

Hier ist sie eingezogen
Zu süßer sel'ger Ruh _
Umfangt mich, Liebeswogen!
Frau Minne – das bist Du!«

 

Die Klänge des Liedes verhallten mit dem dumpfen Falle der Laute…

»Hörst Du sie girren, die Nachtigall, die nach dem Falken ins Netz geflogen?« flüsterte der Narr, als der Sang verklungen war.

Claus sah vor sich nieder und antwortete nicht; vor den Augen seines Geistes zog eine versunkene, ach nicht vergessene Zeit mit traumhafter Schnelle vorüber. – Er atmete tief auf, wandte sich abermals zu dem Narren und erzählte mit tiefer, klangloser Stimme weiter: »Ich suchte Walpurg auf und erfuhr, so viel sie wusste, zu wenig, um zu hoffen, doch genug, um nicht zu verzagen. Ich verließ das Tal und den Süden, stieg über den Jaufen und den Brenner und zog suchend von Tal zu Tal, bis ich mein Kind fand.«

»Doch, und wo?« fragte Michele erstaunt.

»Auf Schloss Sonnenberg im Inntale!« gab Claus zur Antwort.

»Und wie ward Dir das möglich?«

»Walpurg hatte mir den Mann genannt, dem das Kind zur Beseitigung übergeben worden…«

»Ho, den möchte' ich kennen!« rief Michele hastig.

»Du hast ihn gekannt – er ist tot!« sprach Claus ernst und feierlich. »Möge Margarethe unschuldig sein an seinem gewaltsamen Tode; ich zeihe sie dessen, denn der unbequeme Zeuge fiel nach vollzogenem Auftrage auf dem Rückwege von Meuchlerhand. Der Volkmar war's, der Schöff von Gargazon, der alte Hehler ihrer dunklen Taten!«

»Hm, darum – darum!« sprach der Narr vor sich hin, »war 'n groß' Lamento um den Ehrenschöff… Nun und was tatest Du sodann, mein Falk?«

»Ich trat auf Sonnenberg in Sold und Dienst – ich wollt' nicht mehr, als um mein Kind sein, es sehen, hüten…«

»Ei, und die Böhmen nahmen Dir's?« fragte der Narr spöttisch.

»Das ist es ja eben, was mich bis zum Wahnsinne treibt. Steh' ich denn nicht hier vor ihrer Tür…?« rief Claus mit schmerzlichem Tone und schlug die Arme über der hochfliegenden Brust zusammen: »Ich habe Ihnen ja den Buben selbst überliefert!«

»Du selbst? – Ich bitt' Dich, nimm meine Schellen-Gugel und Pritsche!« spottete Michele, »denn ich schäme mich vor Dir! Du selbst hast den Böhmen das Kind gegeben? Weh Dir, Du armer Narr!« Und plötzlich sank seine Gestalt wieder zusammen, und seine Stimme flüsterte mit demselben irren Anklange wie vorhin, als er von dem Raube des Kindes hörte: »Ja, ja, ein Kind hüten! – Ich habe eins bewacht, lang und treu, ohne Ermüden! Was half's – sie hat es mir doch gestohlen!« –

Sein Geflüster verschwamm in einem klagenden, schluchzenden Tone – der Narr weinte.

Der Mann von Missian schaute erstaunt und tief ergriffen auf den klagenden Alten nieder, dessen anscheinend schweres Leid ihm völlig unbekannt war, obwohl er in diesem Augenblicke die Gräfin als dessen Urquell erkannte.

So groß aber war die Macht des Narren über seine bitteren Gefühle oder der Umfang seiner angewohnten Verstellungsfähigkeit, dass er plötzlich, die hellen Zähren noch an den Wimpern hangend, mit leichtem Tone, als ob nichts seine Neugier unterbrochen hätte, weiter fragte: »Und warum, mein Falk, hast Du so Närrisches getan?«

Claus beschied sich, seiner Verwunderung über solch' rätselhaft umschlagendes Gebaren durch ein verwundertes Kopfschütteln auszudrücken und berichtete: »Warum, guter Michele? Das ist kurz gesagt: um mich an ihr zu rächen und mein Kind ganz mein nennen zu können.«

»Hm, fein ausgesonnen, schätz' ich, obwohl mein lahm gewordener Witz nicht ausreicht, um den Zusammenhang des einen und anderen Deiner Zwecke mit der Auslieferung des Kleinen an die Böhmen herauszufinden!« meinte Michele, den Finger nachdenklich an die Nase legend.

»So war's!« erzählte Claus: »Ich hatte eines Tages – es war, ich weiß es wie heute, vor St. Heribertustage – die Wacht im Luginsland zu tun, als ein fahrender Kriegsmann vor dem Gatter hielt und um Nachtlager einsprach; ein ältlicher, feiner Mann, der mich unwillkürlich anzog und mit Gestalt und Manier an einen einst mächtigen, nun aber längst Verschollenen gemahnte, an den alten Weinegger Herrn. Er war es auch, er kam von langer Fahrt aus dem Baierlande herein. War recht schlecht beisammen der arme, alte Herr! Nun, wie das schon gehe – er wunderte sich, mich, den freien Mann fern von der eigenen Hufe in Sold zu finden, ich mich, den edlen Landmann in so tiefer Not zu sehen – ein Wort gab das andere: ehe es Abend ward, hatte der Weinegger mein Geheimnis. Dafür gab er mir auch das Seine preis; es ist ein offenes seit gestern, mein' ich; denn unt' in Bozen weiß man es bereits, dass der Markgraf Karl die Klausen von Lienz und Brixen genommen und her auf dem Wege sei, den Bruder in sein Recht wieder einzusetzen mit Waffenmacht!«

»Ja, so sagt man!« bestätigte Michele.

»Nun, das ich's kurz mache«, fuhr Claus fort, »der alte Herr meinte, in meiner Hand liege der bündigste Entscheid der Sache zwischen dem gräflichen Ehepaare: ich möge auf des gnädigen Herrn Seite und gegen Margarethe auftreten, meine Vaterschaft zu dem Kinde beweisen, und dafür versprach er mir ungekränkten Abzug mit dem Kleinen.«

»Der Weinegger?« fragte Michele mitleidig lächelnd.

Claus errötete vor Zorn über den Ton dieser Frage: »Jawohl!« sagte er kurz, »und er soll es mir büßen, dass er sein Wort gebrochen, blutig, so wahr der Gant da drüben seine blauen Hörner gegen Himmel streckt! – Ich tat, wie ich versprach: zur gesetzten Stunde hielt ich die Brücke offen – der Sonnenberg fiel in die Hände der Böhmen und – mein Kind!« – Er ließ das Haupt traurig sinken und schwieg eine Weile, die der Narr mit leisem Gekicher ausfüllte.

»Als ich meinen Lohn forderte, mein Kind«, fuhr Claus fort, »gab mir Herr Busco zum Bescheid, er habe Auftrag, dasselbe derweil zu den Klarissinnen nach Sterzing zu bringen – mich aber auf Schloss Tirol zum Endgeding, das der Tutor des Landes allda halten wolle zwischen dem Grafen und Margarethe. Den alten Weinegger aber bekam ich nicht zu sehen.«

»Nun?« frage Michele, auf den Schluss des Berichtes gespannt.

»Was willst Du noch wissen?« fragte Claus mit unheimlich funkelnden Augen: »Ich brach zur Stunde auf und flog hierher. Ich widerrufe alles, was ich dem alten Enzo anvertraut, Margarethe darf nie gestehen…«

»Wird nie gestehen«, warf Michele ein.

»Denn der ahnende Gedanke, der mich durchfuhr, als mich der Böhme abwies, ist mir unter dem langen einsamen Ritte zur lichten Gewissheit geworden, dass das Kind für mich verloren ist, weil es sich einer Fürstin Schoß entrungen!« rief Claus jammernd.

»Nun?« fragte der Narr abermal, und als Claus, der gesenkten Hauptes in stummem Brüten verloren dastand, nicht antwortete, sprang er von der Plankenwand und tat sie angelweit auf.

Der Mann von Missian sah auf und schritt mit einem schweren Seufzer in das ›Paradies‹.

Michele sah ihm bedenklich nach, bis er zwischen den Hecken verschwunden war, dann legte er die Arme über seine Brust und sprach leise vor sich hin: »Da läuft er hin, der Narr! – Und dennoch hat er's verwunden, was ihn dazu gemacht: Die Liebe zu dem verfluchten Weibe! Der eine aber kann das nicht – der dort drunten an dem Steige zu Schloss Maultasch sitzt mit verbranntem Hirn und vergifteter Seele! – Des Narren Sohn und selber Narr, durch sie, – um sie!...«

Er kauerte sich an der Planke nieder und versenkte sich in die Tiefe seines Leides. –

»Abgetan, Freund Michele! Jetzt frisch auf nach Bozen zu dem Aufensteiner!« rief Claus, mit bleichem, aber freudig glänzendem Gesichte aus dem Garten tretend, und pfiff seinem Rosse, das abseits im hohen Grabengrase weidete.

Der Narr hob den Kopf ein wenig in die Höhe, sah aber nicht auf und fragte: »Was meint die Frau?«

»Sie sagt, sie lache nur zu des alten Faselhannses, des Enzo, Finten, wenn ich nicht rede!« berichtete Claus im Aufsitzen.

»Ei, das glaub' ich!« sagte der Narr mit Nachdruck.

»Mit Gott, Alter!« rief Claus, das Pferd der Straße zu lenkend, heiter: »Auf Nimmerwiedersehen! Der erste Morgen, der mich als Vater grüßt, sieht mich auf dem Wege ins Bündnerland!« Und er sprengte taleinwärts.

»Ei, das glaub' ich!« sagte der Narr noch einmal, ihm mitleidig nachschauend; »wenn Du nicht redest, hat sie nichts zu fürchten, und dass Du nicht redest, dafür wird wie sorgen. Lass sehen!« Er erhob sich rasch und setzte sich wieder auf die Planke.

Es war keine Vaterunser-Zeit vergangen, so erklang abermals heller, rascher Rosseshufschlag.

Er kam von dem Ansitze hinter dem Garten her.

Michele sah nicht auf; er sang schon wieder sein altes Lied und klopfte mit den Fersen den Takt dazu, als wäre er gar nicht unterbrochen worden. Erst, als der Hufschlag weit vor ihm auf der Straße hallte, warf er einen raschen Blick dahin; hinter dem Falken von Missian, der bereits die Höhe des Straßenzuges erreicht hatte, trottete ein Reiter mit hochflatternden Barettfedern von grün und weißer Farbe.

»Ei, Herr Vilander selbst, ein vornehmer Büttel?« murmelte Michele starr nachschauend; »schieß zu, Falke, ein Geier stoßt nach Dir!«


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