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Erstes Kapitel

Es war eine helle, schöne Lenznacht des Jahres 1341; aber trotz Mondenschein und Sternengefunkel musste der Altenbach doch im tiefsten Dunkel seinen Weg suchen über das zerklüftete Gestein in seinem engen Bette, und auf gut Glück den Sprung herabwagen von Fall zu Fall; denn sein Gebiet war damals, ehe es weder die Not der Zeit noch die Kultur mit ihren scharfen Waffen angefallen und ehe seine Waldkrönung so zusammengeschrumpft vor Alter, wie wir sie heute sehen, noch ein gar stattlicher Waldtitane und die beiden grünen Arme, die es schirmend gelegt um das schöne Tal, wohl von den schattigsten der hundert Briareusarme, die die Alpennatur liebend geschlungen ringsum und durch das schöne »alte Land Tirol«.

Der muntere Bach hüpfte, wenig angefochten von Nacht und Dunkel, mit leise flüsterndem Geplätscher talab und der Etsch zu, als er plötzlich, rasch um eine hohe Porphyrklippe gekommen, seine Wellen von hellem Flammenscheine gerötet sah.

Der Schein kam von dem Feuer eines Herdes, das aus dem offenen Fenster einer einsamen Holzhütte hell durch die flüsternden Erlenzweige in die Nacht hinaus leuchtete.

Die Hütte schien auf den zerrissenen Steinblöcken nur durch die mächtigen Föhren gehalten, zwischen deren abgeästeten Stämmen ihr Dach- und Sparrenwerk hing, offenbar nur für kurze Rast und zu Schutz vor Wetternot von einem kühnen Waldgänger erbaut, den die Lust zum Weidwerk aus den grünen Ebenen hinauf gelockt in diese düsteren Waldgründe.

Doch heute – und schon viele Tage her – beherbergte, wie die helle Kienglut zeigte, die Hütte andere, ganz absonderliche Gäste: drinnen, an dem ärmlichen Lager eines bleichen, kranken Kindes, saß eine schlanke Frauengestalt, den Kopf tief niedergesenkt auf die bang atmende Brust.

Sie hatte eine ihrer weißen Hände auf der Stirne des unruhig schlummernden Kindes liegen und die andere matt an der Seite herabhängen; so saß sie starr in stummer Traurigkeit da und schien das Erwachen des Kindes zu erwarten.

Nur von Zeit zu Zeit erhob sie rasch den Kopf, um einen flüchtigen Blick in die stille, dunkle Waldnacht draußen zu werfen; sooft sie dies tat, schien die Glut auf dem Herde höher und lustiger empor zu lohen und freudig aufzuknistern: denn es fiel da ihr Schein auf ein wunderbar schönes Frauenantlitz.

Alle die Blüten und Schätze, die Jugend und Schönheit auf ihre Lieblinge nieder zu streuen pflegen, lagen prangend ausgebreitet darauf.

Das reiche, goldbraune Haar hing in schweren, glänzenden Schläfen, unter den vollen, edelgeformten Brauen funkelte das milde Leuchten großer, klarer Augensterne, und zwei Schnüre blütenweißer Perlen schimmerten aus dem halb geöffneten Mund hervor wie aus einem Kranze duftiger Rosenknospen.

Aber schöner als alles, was die freundlichen Götter des Lebens gehäuft auf dies wunderbar liebliche Antlitz, war der Zug der Mutterliebe darin und der Blick der Mutterangst, mit dem dies junge Wesen über dem Krankenlager und an dem Atemzuge des goldgelockten Kleinen hing.

Das Kind wachte nicht auf; nur von Zeit zu Zeit hob und drehte es das kleine, fieberheiße Köpfchen, als wolle es den Schmerz abschütteln, der darin brannte; aber ein leiser, kurzer Wehschrei sagte dann immer, dass es dies nicht vermocht. –

Immer tiefer sank die Nacht nieder über den weiten, rauschenden Wald, immer mehr und großartiger entfaltete sich die Schönheit des Waldlebens zur Nacht.

Längst waren Häher und Birkhahn schlafen gegangen in ihre Horste über den Höhlen und Klüften, worin Fuchs, Iltis und Wiesel ihre Nester gebaut, und als ob die Bäume es wüssten, dass sie nun allein seien und unbelauscht, begannen die schwankenden Kronen und Zweige mit den Millionen säuselnder Blätterzungen das urewige Schlummerlied der Natur zu singen.

Und dann neigten sie sich näher einander zu und erzählten sich mit leisem Geflüster, was die armen Menschenkinder tief unter ihnen tagsüber getrieben, die wohl nur des Lebens höchste Not hinauf gejagt unter die Schatten der alten, grünen Bäume.

Endlich fingen die Sterne, die durch die dichten Zweige herab guckten auf die stille, träumende Erde, jenes eigentümliche, tanzähnliche Geflimmer an, das den Übergang der Nacht zum Morgen einzuleiten pflegt.

Da erhob sich das junge Weib in der Hütte und trat durch die niedere, rohgezimmerte Tür hinaus ins Freie. Nach einem kurzen Aufblicke zu dem sternenhellen Himmel rief sie leise: »Vivian!«

Bei diesem Rufe erhob sich eine dunkle Gestalt aus dem hohen Moose und schnellte wie eine Feder in die Höhe.

»Es ist schon wieder Mitternacht und der Vater noch nicht heimgekommen!« sagte die Frau mit besorgter Miene, den sie mit dem hierlandes nie gehörten Namen »Vivian« gerufen, in die Lichtung des Waldsteiges trat, der hart neben dem Flusse hinlief.

Der Mann – doch mit diesem Namen konnte man das Wesen nie bezeichnen, das an der Seite der Frau auf dem mondbeglänzten Rasen erschien – es war ein kleines, missgestaltetes und schmächtiges Bürschchen mit einem sonderbaren Gesichtsausdrucke, der ebenso wohl auf Blödsinn als auf körperliches, qualvolles Leiden deuten konnte; und dieser eigentümliche Ausdruck war es, der die Beurteilung der Lebensstufe nicht zuließ, auf der dies Wesen stand. Es konnte ebenso gut als Knabe wie als Greis angesehen werden; dennoch aber war etwas in diesem viel gefurchten, fahlen, von schlichten, weißlichen Haaren umhangenen Gesichte, das an jugendliches und tieffühlendes Leben gemahnte: das Auge, das treu und offen schaute und die diesem Augenblick mit dem vollsten Ausdrucke selbstvergessener Trauer und warmen Mitleides mit der Angst seiner Herrin an dieser hing.

Die Frau trat, ohne eine Antwort zu erwarten, von ihrer Unruhe getrieben, rasch einige Schritte gegen den Bach hinab und horchte gegen die Talsohle hin: kein Laut ward hörbar, nur der Wald und der Bach sangen ihr monotones Lied.

»Vivian!« begann sie abermals, sich zu dem Burschen wendend, der lauschend über ihr stand: »Du weißt nicht, in welche Gegend heute der Vater gegangen ist?«

Der Bursche nickte stumm und erhob seine beiden Hände, um damit jenes bewegte, seltsame Gebärdenspiel zu beginnen, das Kunst und Mitteilungstrieb jenen Unglücklichen, denen Natur oder zufälliges Unglück den Gebrauch der Sprache verwehrt, als Ersatz hierfür angelernt: Vivian war stumm.

Er bedeutete die Frau, dass er wisse, wohin sich ihr Vater gewendet, und bezeichnete als Ziel von dessen Wanderung durch seine horizontal ausgestreckten und flach gehaltenen Hände eine weite Ebene.

»Du meinst, er sei ins ›weite Moos‹ niedergestiegen? Etwa nach Terlan?« fragte die Frau, die jede seiner Bewegungen mit ängstlicher Aufmerksamkeit verfolgt hatte.

Der Stumme nickte, und eine fragende Bewegung nach der westlichen Gegend – der von ihr bezeichneten – schien sie aufzufordern, ihm zu sagen, ob er dem bang Erwarteten folgen solle.

Nach kurzem Bedenken sprach die junge Frau, zu dem Stummen tretend und seine Hand ergreifend: »Ja, geh' hinab, mein treuer Freund! Suche ihn auf, ich fürchte, es sei dem armen Manne Übles begegnet, der sich aus Liebe zu mir zu den Wohnungen der Menschen hinab gewagt, die ihn unbarmherzig und mitleidlos aus ihren Kreisen gestoßen…«

Der Stumme nickt hastig mit dem Kopfe und machte seine Hand aus der der Frau, die zitternd in der Seinen lag, sanft los, schnallte den Gurt, der lose um seine Hüften hing, fester und verlor sich im Augenblicke zwischen dem dichten Mehlbeerengesträuche, das den Gehsteig über dem Bache umsäumte.

Die Frau trat nach einem tiefen Seufzer wieder in die Hütte und an das Lager des Kindes, das unruhig, aber ununterbrochen schlief.

Sie blieb mit gefalteten Händen, den traurigen Blick voll inniger Liebe auf das kranke Kind gerichtet, an dessen ärmlichem Lager stehen und sprach leise: »Du armes und dennoch beneidenswertes Kind! Du schläfst – du kannst schlafen! Du weißt noch nicht, dass es ein Weh im Herzen gibt, das heißer brennt als das Fieber im Gehirn! Du schläfst, dieweil Dein Vater vielleicht – horch! Das sind Schritte – hastige Schritte – nicht die Vivians!« Sie sprang der Türe zu und öffnete sie: es war doch Vivian – aber totenblass und verstört stand er an der Schwelle, und indem er einen seltsamen gurgelnden Ton aus der keuchenden Brust hervorstieß, wies seine Hand zitternd nach dem Steige hin.

»Was ist's, Vivian! Um Gott! Wo ist der Vater?« rief die Frau mit dem Ausdrucke des Schreckens, und ihr Blick drang mit der Schärfe der Angst durch das schwankende Gesträuch nach der von dem Stummen angedeuteten Richtung hin.

Doch ihr spähendes Auge gewahrte nichts: aber an ihr Ohr schlug aus der Tiefe des Tales ein unheimlich dumpfer, summender Ton, und von dem Steige her der kurze, helle Klang flüchtiger Schritte in dem knirschenden Kiese des Weges; über einen Augenblick erschien zwischen den Gebüschen eine dunkle Gestalt und stand im nächsten keuchend und schwer atmend an der Hütte.

Sie gehörte einem hoch gewachsenen, und wie es schien, rüstigen Manne an, obwohl er in diesem Momente, von langem und hastigem Laufe ermattet, sich mühsam an dem Türpfosten hielt. Sein Anzug war der eines Bergmannes, selbst in jener fernen Zeit von der heutigen Bergmannstracht wenig unterschieden; Barett, Grubenkittel und Beinkleid von einer dunklen Farbe; aber über dem Gesichte trug er eine dichte, schwarze Florhaube, die bloß ein glühendes Augenpaar darunter erkennen ließ; ebenso waren seine Hände in schwarze Stulphandschuhe gehüllt: so sah er einem der Berggeister der Landessage ähnlich oder einem Boten der Feme, jenes dunklen Gerichtes, das damals noch ungestört seine Freidinge hielt ›auf roter Erde‹.

»Flieh, Geneviéve! Flieh und rette das Kind! Ich bin ein verlorener Mann!« waren die ersten Worte, die er mit dem Aufgebote all' seiner Kraft hervorstieß, dann glitt er langsam an dem Türpfosten nieder und sank zu Boden.

»Mein Gott! Vater, was ist Euch widerfahren?« rief die Frau, neben dem Bergmanne in die Knie sinkend, und hob sein Haupt sanft in die Höhe und legte es in ihren Schoß.

Der Mann antwortete nicht; er erhob langsam seine Hand und wies nach dem Tale hin, aus dem sich das summende Getöse eines nahenden Menschenhaufens bereits lauter in das Rauschen des Waldes mischte.

»Ihr war't in Terlan? Ihr habe Euch gezeigt – man hat Euch erkannt?« frug die Frau mit beklommener Stimme und steigender Besorgnis.

Der Bergmann nickte matt mit dem Kopfe und ergänzte ihre Fragen mit einem leisen: »Erkannt und verfolgt! – horch!«

Das dumpfe Geräusch der Verfolger kam näher, einzelne wilde Rufe erklangen laut durch die Nacht.

»Flieh, Genoviève! Rette das Kind!« mahnte der Bergmann wieder und richtete sich, von ihren Armen gehalten, mühsam auf: »Hörst Du das Hallalih der wilden Jäger? Flieh! Sie kommen, zu tot zu hetzen den armen Mesel Mesel nannte das Volk die mit dem unheilbaren Aussatze (Meselerie) Behafteten, die nach damaligen barbarischen Begriffen und sogar Gesetzen vogelfrei waren., den Gottes Zorn ins Antlitz geschlagen!«

Der Stumme hatte unter diesen Worten, von seinem richtigen Instinkte geleitet, einen Wasserzuber ergriffen und dessen Inhalt über die Herdflamme gegossen, die noch einmal kurz und hell aufloderte und dann zischend und knisternd verlosch.

»Das ist nutzlos, Du treue Seele!« begann der Mesel wieder, der mit wehmütigen Blicken das Gebaren Vivians verfolgt hatte, »meinst Du, die Meute, die da heranstürmt, bedürfe der Herdflamme, um sie herzuleiten? Sie geht ja denselben Weg wie sonst, wenn es gilt, das edle Getier der Berge heimzusuchen mit den sicheren, totbringenden Bolzen, und dann hat ja der Himmel seine helle Laterne ausgehängt heut' um sie sicher zu führen zu dem armseligen Versteck des Ausgestoßenen! – Flieh, mein Kind! Sie kommen!« rief er abermals und dringender, erhob sich halb vom Boden und ließ den glühenden Blick trotzig umherschweifen in dem engen Raume der Hütte, wie um sie Möglichkeit etwaiger Wehr- und Widerstandskraft zu erwägen; aber nach kurzer Umschau ließ er ihn trostlos sinken mit dem schweren Haupte und murmelte: »Keine Rettung! Keine – keine!«

»O, so lasst uns fliehen, zusammen, Vater!« flehte Geneviéve weinend und die weißen Hände um die dunkle Gestalt des Mesels schlagend, um ihn in die Höhe zu ziehen.

Doch er wehrte ihrem Beginnen mit sanfter, trauriger Stimme: »Lass los von mir, mein Kind, und berühre mich nicht!« sprach er bestimmt, »gäbe es da wohl ein Besinnen für mich, wenn es mir möglich wäre, mich in die Hand Gottes zu geben, statt in die der Menschen? Ich kann nicht fliehen, ich kann nicht mehr weiter! Und nur die Liebe zu Kind und Enkel hat mich wunderbar geführt aus dem tiefen Moore über Bühel und Klippen, durch die reißende Furt und den weglosen Wald hierher, um Dir zu sagen – horch, sie nahen! Flieh!« rief er, und mit gesteigerter Hast und bebender Stimme wandte er sich an den Stummen: »Vivian! Dir binde ich ihr Leben und das Kind, ihres Lebens Leben, auf die Seele! Du geleitest sie – merke wohl auf – über den Berg und dem Grunde zu, aus dem der Haggenbach gegen Jenesien läuft. Dort fragt Ihr nach dem ›Einsiedel auf dem Salten‹ – hörst Du! Salten heißt der weite Alpengrund ob Jenesien – dem Manne führst Du Geneviéve zu; es wird genügen, wenn sie ihm sagt, sie sein des alten Gaultier Tochter, um ihn zu Rat und Tat und treuer Hilfe zu bewegen! – Bin ich nach dreien Nächten nicht bei Euch, so hat der Tod sein Teil an mir genommen, und Euch obliegt es dann allein, mit Gottes Hilfe Charlots Aufenthalt zu entdecken und – zu tun für ihn, was möglich. Du aber, mein teures…«, er wollte weiter sprechen, aber schon erklangen die Stimmen der Vordersten der Verfolger dicht unter der Hütte, und hochgehaltene Kniefackeln warfen ihren roten Schein in deren dunklen Raum.

»Flieh, eh' es zu spät ist!« rief der Bergmann mit dumpfem Tone, »Vivian, nimm das Kind und fort! Gott mit Euch!«

»Nein, Vater, ich lasse Euch nicht allein hier!« rief Geneviéve ihn umschlingend, »wir stützen Euch, wir tragen…«

»Fort! unterbrach sie Gaultier, schnell da hinauf, sonst seh'n sie Euch, und Ihr seid mit mir verloren…«

Auf einen Wink des Mesels ergriff Vivian das kranke Kind und eilte zur Türe. –

»Hier ist die Hütte! Mir nach, hinan – Tod dem Mesel!« ertönte es aus dem Bachgelände mit wildem Rufe zu der Hütte hinan, und die dunklen, durch die roten Streiflichter der Kienbrände noch unheimlicher aussehenden Gestalten der wilden Terlaner erschienen auf dem Steige. –

Da endlich erhob sich Geneviéve laut weinend von der Seite ihres armen Vaters und schwankte zur Türe, von deren Schwelle sie ihm ein leises: »Ich verlasse Euch doch nicht!« zuflüsterte und dem voranschreitenden Vivian folgte.

Sie waren kaum zwanzig Schritte auf dem steilen Steige gegen den Kamm des Berges hinan gestiegen, als ein furchtbares, wildes Halloh ihre Schritte hemmte; sie sahen sich entsetzt um: vor der Hütte hielt ein zahlreicher Haufe stämmiger Talbewohner, knisternde Brände schwingend und an die Baumstämme schlagend, dass die Funken sprühend durch die Zweige wimmelten; an der Spitze des Haufens und vor der Hütte stand ein großer ältlicher Mann, sonst in der Tracht der Terlander, aber durch das Rutschleder und die hohe Filzmütze als Bergmann kenntlich; er hielt eine Armbrust auf der Schulter und schien der Anführer der Schar zu sein.

Geneviéve hielt den Atem an und drückte das Kind, das sie Vivian abgenommen hatte, krampfhaft an ihr stockendes Herz, denn sie hörte durch die wild verworrenen Rufe: »Nieder mit dem walisischen Strolch! Tod dem Mesel! Steckt die Hütte in Brand…« Die mächtige Stimme des Terlaner Bergmannes ertönte, die gebieterisch ausrief, indem er die Andrängenden zurückhielt: »Keiner rührt ihn an, so ihm sein Leben lieb; ich stehe da im Namen unserer gnädigen Frau, und erst, wenn der Mesel, angeklagt des Raubbaues in landesfürstlicher Knappei, mir Rede gestanden, dann mögt Ihr ihn für den Frevel bestrafen, den er begangen durch sein freches Erscheinen bei der Mailuft zu Terlan.«

»Gut, wir warten – wir warten bis unser Zahltag kommt!« erscholl es um den Bergmann, und das Volk gruppierte sich in Erwartung der Dinge längs des Bachsteiges um die Hütte.

Der Bergmann lächelte höhnisch, aber Geneviéve atmete auf; ihr dünkte nun der erste Anlauf der erbitterten Masse so gelinde vorübergegangen und der Strom der Volkswut wenigstens gedämmt, dürfe sie zu hoffen wagen, und sie teilte diesen freudigen Gedanken Vivian mit, der darauf mit einem langen, tiefen Seufzer antwortete und regungslos durch das dichte Gestrüpp, in dem sie versteckt standen, zur Hütte hinabblickte, in deren Türe die dunkle Gestalt des Mesels kauerte.

»Sprich, Mesel!« begann der Bergmann von Terlan sein Verhör, indem er Gaultier, so nahe trat, als dies den Begriffen jener Zeit nach rätlich und tunlich war, und ihn, auf die mächtige Armbrust gestützt, finster fixierte: »Sprich, und zwar die Wahrheit, wenn etwas Reines aus Deinem unreinen Munde kommen kann: Du hast mit Deinen Spießgesellen in den Schachten von Vilpian, Mölten und St. Jakob eingeschlagen?«

»Ja, aber es waren verfallene, aufgelassene Baue!« hauchte Gaultier.

Der Bergmann stieß einen leisen Fluch aus und sprach weiter, seinen Ton zum Geflüster senkend: »Aufgelassen? Ja! Verfallen? Ja! – weil wir einfachen Tiroler nicht wussten, dass es solcher Teufelsmittel und Zauberdinge bedarf, als ihr da mitgebracht aus der Fremde, um dort einzuschlagen, wo die Kraft der Wünschelrute nicht ausreicht! – Wohl aufgelassene, verfallene Baue, aber nicht offen gelassen für Leute Euren Gelichters, und – verfällt nach Deiner Meinung mit dem Bau auch das Recht des Landesfürsten? Sprich!«

Der Mesel antwortete nicht.

»Wo habt Ihr den Bergsegen hingetan, den Ihr erbeutet aus den Gängen der Knappei St. Jakob!« inquirierte der Terlaner weiter, »Du siehst, ich bin gut unterreichtet, und es hat Dein Gefährte viel zu groß getan damit, dass es nicht zu unseren Ohren gekommen wäre; wohin tatet Ihr dies Erz und jenes aus den Gruben von Vilpian?«

Gaultier richtete sich halb auf und schoss einen scharfen, glühenden Blick nach dem Dränger: »Du frügest mich nicht, Mann!« sagte er ernst und feierlich, »wenn nicht die rasche Flucht mich zu Tod ermattet und deren Ziel – ein wahnsinniges, wenn es nicht die Meinen zu retten gegolten hätte – mich in Deine Hand gegeben hätte! Wie bis heute hätte mir der weite Wald allüberall seine grünen Arme gastlich aufgetan und ein freundliches Asyl gewährt. Aber ich musste hierher, das wusstet Ihr – ich musste schnell hierher, das wusste ich! – Ich bin in Eurer Gewalt: macht fertig, was die Untiefen des Moores und des steilen Klippenweges Not nur halb getan – tötet mich! Aber so wahr ich sterben soll, ich kann Euch nicht sagen, wo die Stufen verborgen sind. An dem Tage, wo sie mein Tochtermann vergrub – auf bessere Zeit – verschwand er – spurlos! Und das ist der Grund, warum ich es unternommen, meinen verfluchten Leib zu tragen in die Wohnungen der Menschen: der Mesel nicht, der Vater wollte um Gottes Barmherzigkeit willen von Tür zu Tür betteln mit der Frage: Wo ist mein Sohn, mein Stecken und mein Stab?«

Dies sprach Gaultier mit dem überzeugenden Tone der Wahrheit und tiefer, verzweifelnder Trauer; dann ließ er den Kopf wieder auf die Brust niedersinken und erwartete geruhig den Fortgang des Volksgerichtes.

Nach einigen Augenblicken der Überlegung, ob den Worten des Mesel Glaube zu schenken sei oder nicht, sprach der gräfliche Knappe mit höhnischer Treuherzigkeit: »Ei, Mesel, wenn Du deshalb zu Tale gekommen bist, so warst Du über beraten in der Wahl der Türe, an die Du zu klopfen hattest: an die meine hättest Du kommen sollen – nicht zum Leutgeb von Terlan, wo die Leute tollten und jubilierten in herkömmlicher Freude, dass der Mai ins Land gekommen – bei mir hättest Du gar leichtlich erfahren, was es mit Deinem Tochtermann sei…« Er hielt mit diesen Worten ein, gewiss, den Geächteten damit tief ins Herz getroffen zu haben.

Und er irrte sich nicht; denn Gaultier raffte sich plötzlich auf und senkte abermals den glühendsten Strahl seiner dunklen Augen aus ihrer Hülle auf das vom Fackelscheine beleuchtete Antlitz des Mannes aus Terlan: »Ihr wüsstet – Ihr hättet mir Auskunft gegeben über Charlots Schicksal?« frage er mit scheuem Zweifel.

»Allerwege!« lautete die Antwort, »und ich gebe sie Dir auch jetzt noch, obwohl sie Dir wohl wenig helfen wird; es wäre denn, dass die guten Leute hinter mir Dir das Übertreten der Meselsatzung darum vergeben wollten, weil Du – Deinen Stecken und Stab gesucht! Haha! – Höre also: Dein Gefährt sitzt auf dem Schloss Maultasch…«

»Entsetzten! In ihrer Hand…« stöhnte der Mesel.

»Jawohl, wenn Du damit die Gräfin meinst«, sprach der Bergknappe mit kaltem Tone weiter, »und es ist dafür gesorgt, dass er fürder in keine Grube mehr fährt, denn in die letzte. Mehr sag' ich nicht!« Damit wandte er sich gegen die Bauern hinter ihm und rief: »Nun Ihr heran, zu Gericht! Ich weiß, was ich wissen wollt' und hab' getan, was ich gesollt! Tut mit dem walischen Strolch nach Belieben!« Er schwang die Armbrust wieder auf die Achsel und trat mit tückischem Lächeln über die Eilfertigkeit, mit der das Volk gegen die Hütte hinanstürzte, in den Hinterraum des Schauplatzes.

Doch von ihm, und nur von ihm nicht ungehört, erklang in dem Augenblick, als die durch Wein und Tanz aufgeregten, von den barbarischen Ideen jener Zeit fanatisierten Terlaner mit Halloh, Mordio und hochgeschwungenen Feuerbränden auf die Hütte zustürmten, von der Krönung des verstaudeten, vielfach gewundenen Gehsteiges herab ein schmerzvoller, kreischender Schrei, Geneviéns Brust entrissen, als sie gewahrte, wie nach dem Beispiel des vordersten Bauern, der seinen Kienbrand nach ihrem Vater schleudert, dies alle Übrigen mit wilder Hast und solchem Geschick taten, dass im Nu Dach und Sparrwerk der Holzhütte in Flammen standen, deren Vorläufer und treuer Begleiter, der Rauch, wie ein grauer, nächtlicher Schemen sich niederwälzte zu dem aufgegebenen Manne, der an der Türe lag und ihn allgemach mit den todbringenden Wolkenarmen umschloss.

Und nicht den Schrei allein hatte der Bergmann gehört: sein Falkenauge, an das Grubendunkel gewöhnt, hatte auch die Staudenzweige auf der Höhe schwanken und weichen gesehen und dahinter zwei Gestalten erschaut, denen, seinem Dafürhalten nach, bei dem Trauerspiele da unten mit Fug und Recht auch eine, wenn auch eine leidende Rolle zukam: »Des Mesels Brut! Da oben auf der Höh!« rief er mit hallender Stimme, die bei den ihm zunächst Stehenden, des engen Raumes wegen Unbeschäftigten, gar willig Ohr fand.

Ein Häuflein machte johlend kehrt und trabte dem Knappen nach, den Steig hinan.

Geneviéve stierte stockenden Herzens nach der von Glut und Qualm umhüllten Hütte hin: sie bemerkte die drohende Gefahr nicht, die rumorend zu ihr hinan brauste, sie sah nur nach dem glimmenden Türgebälke, das dicker Rauch verhangen hielt, und sah diesen sich plötzlich teilen, sah ihn weichen und einer schwankenden Gestalt Platz machen, die nach vorne taumelte und fiel – ihr Vater!

Da fühlte sie sich sanft, aber fest umfasst und in das Dickicht gezogen – sie sah nichts mehr, aber sie hörte: o entsetzlicher, unvergesslich grässlicher Ton! Sie hörte wuchtige, helle, und dann dumpfere Schläfe fallen – und das Auge ihres Geistes sah, während ihre Sinne schwanden, wohin jene Schläge fielen – auf das blutige Haupt ihres Vaters! –

Was mit ihr geschah, was sie tat, die Arme, wusste es nicht; sie fühlte ihre Glieder mechanisch einem linden Zuge folgen, der in stetigem Drängen über Kies und Wurzeln, durch Strauch und Busch bergan führte; sie sah nichts und hörte nichts als immer wieder den dumpfen, grauenvollen Ton jener Schläge – zu ihrem Ohre drang das wilde, heisere Gebrüll ihrer Verfolger nicht; erst als sie sich plötzlich angehalten fühlte, als der eigentümliche, klagende Ton des Stummen sie traf, löste sich ihre Erstarrung: sie atmete hoch auf und sah sich mit Vivian allein mitten auf der föhrenbewachsenen Kuppe des Altenberges, vor sich im Morgengrauen die üppige Berglandschaft des Sarntaleinganges, mit hangenden Weinbergen und dunkler Baumnacht in heimlichen Niederungen weit und herrlich ausgebreitet.

Jetzt erst vernahm sie schauernd die grellen Pfiffe und hallenden Rufe der nimmermüden, nächtigen Jäger auf ihrer Fährte, und jetzt verstand sie auch die Gebärden des Stummen, der zu wiederholten Malen auf das still liegende Kind in ihren Armen wies, dann sie talzu drängte und zu eilen bat und sich plötzlich mit einem wehmütigen Blicke von ihr ab und der entgegengesetzten Seite der Talfahrt zuwandte, zwischen deren Gehölz er sich mit heiserem Gekreische verlor.

Das unglückliche, verlassene Weib ahnte seine Absicht, die Verfolger irre zu führen und erkannte ihre Pflicht, ihr Kind zu retten. Ein leiser Segenswunsch floh von ihren kalten Lippen dem treuen Diener nach, ein schaudernder Blick stahl sich noch hinüber und hinunter ins Altenbachtal, aus dem eine dünne, gerade Rauchsäule über der Asche ihres Vaters in die Morgenluft emporstieg – dann wandte sie sich zu Tale. –

Der Morgen kam.

Drunten im Tale lag zwar noch alles in tiefem, süßem Schlummer: die Weiden und Erlen an dem Hagenbache waren längst eingenickt über dem ewig gleichen Gemurmel des ruhelosen Baches, die Gräser und Pflanzen hatten ihre Bänder und Blätter schlaff niedergelegt auf die grüne, warme Erde, damit der Tau des Morgens nicht so hoch zu steigen brauche, um ihnen mit kühlen Perlentropfen die schläfrigen Augen auszuwaschen, sogar die Föhren und Maulbeerbäume hatten zu rauschen und zu flüstern aufgehört und ließen ihre nadligen und blättrigen Zweige träumerisch still niederhängen; – alles ruhte und träumte!

Und träumt nicht auch das arme, gehetzte Menschenkind, das jetzt leise und gesenkten Blickes, das eine, was es aus dem Schiffbruche seines Lebens gerettet am Herzen, von der Höhe niederpilgert? – Träumt es wohl nicht von fernen, schönen Tagen, wo es auch ihm vergönnt war, zu ruhen – im Arm der Liebe? –

O, erschrecket nicht, ihr Tierlein hier und dort, aus dem Schlafe aufgeschreckt durch seinen leisen Tritt!

Was da kommt, habt ihn nicht zu scheuen! –

Weh, was ist's, Du arme Mutter?

Sie hat, durch den langen, stillen Schlaf des Kindes beunruhigt, das Tuch von seinem Gesichtchen zurückgeschlagen und – »Herr des Erbarmens, mein Kind – Licht!« ruft sie aus und stürzt, fliegt aus dem Schatten des Waldes hinaus, weit hinaus in die Talebene, einem Bühel zu, auf dessen Krone eine Martersäule vom Morgensonnenschein vergoldet ragt: sie stürzt in die Knie, reißt mit bebenden Händen die Umhüllungen des Kleinen auseinander – ihr Atem stockt – ihr Blick, ihr Herz erstarrt – sie sinkt besinnungslos nieder – in ihren Armen das Kind – war tot.


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