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Drittes Kapitel

Der Frühling war schon seit Langem im Lande eingezogen – aber auch wirklich nur im Tallande unten: denn während dessen Matten und Halden längst ihr maigrünes, mit Blüten und Blumen gesticktes Feierkleid angezogen und die Hügel, Bühel und Leiten alle längst auf ihren Sträuchern, Büschen und Bäumen die weiß und roten, duftenden Maibuschen aufgesteckt hatten, während unten alles Leben war und dies krabbelnd und hüpfend, summend und singend kundgab in seliger Lenzlust – standen die alten Berge noch starr und eisbedeckt, die weiten Almweiden noch fest eingemummt in ihren Schneemantel da, trotzige Rebellen gegen König Frühling, der seinen Boten, den Schirokko, bislang immer vergeblich durchs Etschtal hinauf an sie gesandt mit der Weisung, die kalten Eiskappen säuberlich abzunehmen nach Gebühr bei seinem Erscheinen.

Des kümmerte sich aber im Tale unten weder Halm noch Blume, weder Busch noch Baum, geschweige denn eine lebendige Seele: sie wussten's ja alle, dass es die alten, trutzigen Recken auf den Höhen oben jahraus, jahrein so machten, eh' sie sich ›ergaben‹, und was es brauche, ehe die zu Kreuze krochen: sie wussten, dass immer lange schon die Apfelblüte verweht und die der Feigen hervorgekrochen sein musste, ehe es die oben einsahen, dass sie sich nicht länger mehr zu halten vermöchten, und das war vollends ausgemacht, sobald die Granat- und Mandelblüte einmal aus grünem Laube hervorgelugt, kam es regelmäßig und immer bei stiller, warmer Nacht, rauschend, tosend und stäubend von den Höhen hinab ins Tal – das hießen die Leute Bergwasser und Schneebäche und dergleichen, aber die nannten das so, weil sie nicht wussten, dass es die vielen heißen, bitterlichen Tränen waren, die die alten Berge geweint, als sie allen Widerstand vergeblich sahen, und König Frühlings Herrschaft anzuerkennen beschließen mussten. – Und richtig, wenn dann der Morgen kam, sah man rings auf trotzigen Häuptern der Berge König Frühlings grüne Kokarde aufgesteckt und seine Fahne von allen Wipfeln wehen. –

So weit ist es aber heute noch nicht; die Kuppen und Spitzen der Berge tragen alle noch die Farben des vertriebenen Königs Winter, dafür aber trillert und jubiliert, singt und springt, sprosst, knospet, blüht und duftet im Tale unten alles in frischer Lebenskraft, die Sonne scheint warm und freundlich nieder, und selbst die Menschenkinder, die auf duftigen, weichen Angersteigen unter flüsternden grünen Zweigen dahin wandeln, vergessen all' ihr Leid und Weh und fallen jubilierend mit ein in die tausendstimmige Hymne, gesungen von den harmonisch an- und ineinander klingenden tausend Gliedern der das All umfangenden, sie bildenden Kette – Natur. –

»Fürwahr, mein Freund, wenn es möglich ist, sein Heimatland zu vergessen – obwohl mir, der ich leider nie so glücklich war, eine rechte Heimat zu haben, das Verständnis ihrer heißen Liebe fehlt – so halte ich einen Ritt im Frühlings-Morgenschein durch ein so paradiesisch schönes Tal, als das uns hier umfängt, für die geeignetste Versuchung hierzu. – Hier ist es schön, und mein Herz erzittert in diesem Augenblicke wie nie sonst, wenn ich diesen Weg ritt, im Gedanken jener seligen Zeit, als es noch kindlich und unbefangen schlug, durch keinen jener dunklen Schatten verdüstert und bedrückt, die seitdem darein und auf meinem Weg fielen durch – jenes unglückselige Weib!«

Der dies sprach, war ein junger, auffallend blasser Mann von höchstens zwanzig Jahren, der an der Seite eines grauköpfigen Alten von Jenesien St. Georgen zuritt.

Beide Reiter waren in jene sonderbare Tracht bekleidet, die zu damaliger Zeit bereits, vielleicht ihrer Zweckmäßigkeit auf Reisen und kurzen Ritten wegen, das ständige Eisenkleid zu verdrängen begann und aus dickem Büffelleder bestand.

Obwohl diese Tracht bei der damaligen strengen Scheidung der Stände wenig geeignet schien, Ritter und Edle zugleich mit Reisigen und Jägern zu bekleiden, so verschmähten jene es doch nicht, sich ihrer zu bedienen, sich auf den allerdings richtigen Satz stützend, dass sich der echte Edle und Ritter in jedweder Hülle von dem gemeinen Tross unterscheid- und kennbar zu machen wissen werde.

Und dem Stande der Edlen angehörig waren auch die beiden Reiter trotz ihrer unscheinlichen Kleidung offenbar. Der großen Verschiedenheit ihres Alters ungeachtet, gab sich diese Annahme in dem Adel ihrer Bewegung zu Pferde ebenso wohl, als in der vornehmen Art kund, mit der sie, die launischen Windungen des Weges verachtend, immer in gerader Richtung fortritten, unbekümmert, ob ihrer Pferde Hufe die Triften eines Edelherrn oder die Weide eines armen Mannes zertraten.

Der Reiter, an den die Rede des jungen, bleichen Mannes gerichtet war, hob seinen grauen Kopf rasch auf und warf einen hastigen Blick um sich, ehe er antwortete: »Da habt ihr recht, mein edler Graf! Schön ist es hier und schön überall weitum im lieben Land Tirol – aber die Leute drinn, die Herren, die Bürger und die Bauern, alle zusammen ein verzweifelt kniffig Pack, wie in Welschland drüben zerrissen in Parteien und selbst untereinander nicht einig: hie ›für Österreich‹, hie ›für die alten Grafenstämme‹, hie ›für Luxemburg‹, hie ›für den Pfaffen von Trient‹. – Wenn sie alle insgesamt der Teufel holte und der Himmel einmal Gerechte niedertauen ließe, dann ja, so aber tut der eine jenes nicht und lässt der andere dies bleiben – gebt mir Ruh' mit Euren Paradiese da!« dabei versetzte der Alte seinem Pferde einen heftigen Schlag zwischen die Ohren, als wolle er die Art angeben, wie Tirol einig zu machen wäre.

Der junge Mann versuchte ein schwaches Lächeln über den Eifer seines Gefährten und sagte: »Dein Gleichnis hinkt, mein alter Freund, denn Du hast eben nur die Parteien genannt, die hier allerdings wie drüben in Welschland natürlich in kleinerem Maßstabe, dynastischer Interessen wegen einander anfeinden und je nach Glück aufreiben, aber die gefährlichsten vergessen, die in den privilegierten Städten und Stiften wühlenden; die sind's, die, wenn ich prophezeien darf, den Anteil des Löwen davontragen werden, wenn einmal die feste Hand eines Herrn den vielfachen dynastischen Kämpfen des Adels ein Ende gemacht haben wird!«

Der alte Mann sah erstaunt auf und rief: »Mein Graf, Ihr sagt das? Ihr! Und wie ich Euch kenne, meint Ihr nicht einmal Euch unter jenem ›Einen Herrn‹!«

»Nein!« sagte der junge Mann, den jener ›Graf‹ genannt, mit bestimmter Kürze.

»Nun, so kehrt lieber gleich um und geht, woher Ihr kamt, oder sucht Euch für den Rest Eurer Tage ein stilles, freundliches Kloster aus, deren ja in Fülle da herumliegen in diesem ›Paradiese‹!« rief der alte Mann erbost, hielt mit raschem Rucke sein Pferd an und erhob sich im Sattel, indem er scharf fragte: »Seid Ihr nicht Herr hier? Seid ihr Graf von Tirol oder nicht? Ich bitt' Euch, sagt mir nur das!«

»Ihr sagt es!« erwiderte der junge Mann mit ganz sonderbarer Betonung.

»So tue ich, jawohl!« brauste der alte Mann zornig auf, »und weil ich will, dass es auch die anderen sagen, und wie sie danach tun sollen, habe ich meine Siedelei verlassen und mich nochmals aufs Pferd gesetzt, um mit Euch das weite Land von Hof zu Hof, von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt zu durchreiten, und es den Bauern wie den Herren zu sagen – ich, der alte Enzo, der erprobte Freund beider wie des Tirolerlandes, dass Ihr der Herr und Graf seid hier im Lande, von Gottes Gnaden und Rechts wegen! Darum bleibt mir mit Eurem trübseligen Geschwätz vom Leibe und tut Euch um wie ein Mann – wie ein Herr!«

Der Graf sah ernst und sinnend vor sich hin, während der alte Enzo seine Philippika gegen ihn losdonnerte, und antwortete lange nichts, was dem ungeduldigen Alten Anlass gab, abermals gegen ihn loszubrechen: »Ihr schweigt? Pah, was verwundere ich mich darob? Schwiegt Ihr denn nicht immer, wenn es galt, einzustehen für Euer gutes Recht mit Wort und Faust? – Verzeiht der Ungebühr, mein Herr und Graf, aber fragen muss ich Euch, ob Ihr gesonnen seid, Euch, den Königsenkel und Königssohn, abermals Eurem hochmütigen Weibe, die Gott verdammen möge, zu Füßen zu werfen und zu erwarten, ob ihr's beliebe, Euch Euer Recht als Almosen zu gewähren oder – Euch mit einem Fußstoß abzufertigen! Sprecht, ich bitt' Euch, doch sprecht als Sohn und Bruder zweier Helden, deren eines Stern noch im Sinken so glorreich strahlt als des andern im Aufsteigen glanzvoll erglüht!«

Der Graf seufzte tief auf und sprach voll traurigen Ernstes: »Du irrst, mein alter Freund, wenn Du glaubst, dass es mir an Mut fehle, mein Recht zu erringen und zu behaupten – aber wie kam ich zu diesem Rechte und worin besteht es? Man machte mich als Kind zu Margarethens Gemahl, mit ihrer Hand reichte sie mir die Grafenkrone Tirols. Vergessen nicht, dass ich in der Stunde, als ich von jener laster- und blutbefleckten Hand schaudernd zurückbebte, mich jener Krone begab…«

»Hm, gebraucht Hausrecht, sie ist Euer Weib!« warf der Alte leichthin ein.

Graf Johann sah ihn vorwurfsvoll an und sagte leise: »Und mein Herz –«

»Pah, seid Ihr der erste, der sein Herz um eine Krone tauscht?« fragte Enzo in demselben Tone.

Der Graf gab keine Antwort mehr auf die Frage des zähen Tirolers und beschied ihn mit den kurzen Worten: »Lass das und reite fürder! Unser Weg ist lang und sein Ziel ein schwieriges: auf Schloss Tirol magst Du mich zum anderen Male also fragen!« Damit gab er seinem Pferde die Sporen und flog, gefolgt von seinem unzufrieden darein schauenden Gefährten im Galopp über die Talebene hin. –

»Hollah! Was ist das? – Haltet mal an, gnädiger Herr! Da geht Trübseliges vor!« rief plötzlich der alte Enzo, als sie um eine Hügellehne biegend in die weitere Talöffnung einritten, und wies nach einem Bühel am Wege hin, auf dessen Gipfel sich eine steinerne Martersäule erhob, überragend eine sonderbare, auffällige Gruppe.

Sie bestand aus zwei Männern in der Tracht des Sarntales, die, wohl trübselig beschäftigt, wie der Alte sagte, ein frisches Grab zuscharrten und einem fremdartig gekleideten Weibe, das mit verhülltem Haupte und in tiefer Trauer an der kleinen Grube kniete. –

Der Graf hielt sein Pferd an und sprach nach kurzem Hinblick auf die schweigsame, traurige Gruppe: »Die erste Lebensnot, die mir aufstößt, seit mein Fuß zum anderen Male den glücklichen Boden Tirols betritt. Lass uns hinsehen, Enzo.«

»Hihi!« lachte der Alte ironisch, indem er bereitwillig hügelan ritt, »'s gibt in jedem ›Paradiese‹ was vom Übel, seit Adam und Eva her! – Was habt ihr denn da Leute? Ist's Euer Kind, arme Frau, das die da zudecken mit den maiwarmen Schollen?« fragte er mit aller Milde, die er in seine harte, tiefe Stimme zu legen im Stande war.

Das trauernde Weib regte sich nicht, die Landleute bejahten Herrn Enzos Frage mit dem Beisatze, dass sie, in früher Morgenstunde aus Ried kommend, das fremde Weib ohnmächtig neben er Leiche des Kindes am Fuße der Marter angetroffen und sich aus christlicher Barmherzigkeit angeboten hätten, es an dem geweihten Orte hier zu verscharren, da das Fremde wohl hartlich in einem Friedhofe wo herum aufgenommen worden wäre.

»So? ›paradiesisch schön‹ – nicht wahr, Herr?« fragte der Alte parodierend.

Der Graf war indes vom Pferde gesprungen und zu dem Weibe getreten, das noch immer einem Steinbilde des Schmerzes gleich regungslos an der Votivsäule kniete: »Ermannt Euch, liebe Frau!« sprach er ihr sanft zu, »und blickt empor zu dem, des' Bildnis im Sonnenglanze auf Euch niederstrahlt, der alle zu sich ruft, die mühselig und beladen, um sie tröstend zu erquicken!« Und er legte seine lange, feine Hand lind auf das Haupt der Trauernden, die sich plötzlich, wie aus einem schweren Traume erwachend, bald erhob und, die Hände ringend, mit unnennbar traurigem Tone ausrief: »Allein – allein!«

Des Grafen Herz durchzuckte tiefsinniges Mitleid bei dem ergreifenden, trostlosen Ausrufe der Frau, der ihn zugleich überzeugte, dass es sich hier weniger um den Trost des Augenblickes handelte, als um jenen nachhaltigen, der nur der Gehobenheit des leidenden Gemütes bedarf, um in tätige Hilfe zu übergehen.

Demgemäß richtete er die Frau mit sanfter Gewalt auf und sprach: »Ihr seid fremd hier zu Lande, und Eure Seele drückt das Unglück des Einsamstehens im Leide. Wenn es Euch möglich ist, mir Euer Zutrauen zu schenken, so biete ich Euch hiermit Rat und Hilfe an, soweit meine Kräfte in beidem reichen!« Und dabei bot er der Frau seine Hand mit treuherziger Gebärde hin.

Ein Augenblick verging, ehe jene sie annahm und ihm antwortete. Zuvor aber erhob sie ihre schlanke Gestalt zur vollen Höhe und ließ die dunkle Umhüllung ihres Hauptes sinken.

Ein unwillkürlicher Ausruf des Erstaunens entfuhr den Lippen des Grafen, als ihm plötzlich das wunderbar liebliche, durch Gram und Tränen noch verschönte bleiche Antlitz Geneviéves entgegen leuchtete, und sie mit bebender, leiser Stimme sprach: »Gottes Segen über Euch, Herr, der Ihr tröstend zu mit tretet! – Ihr habt recht, ich muss mich ermannen, denn ich habe noch weit zu gehen…« Sie legte die Hand langsam über die Augen, die halb irre und starr an dem kleinen Grabeshügel ihres Kindes hingen, und erhob plötzlich den Fuß, wie um sich gewaltsam von dem Trauerorte hinweg zu führen.

»Wo wollt Ihr hin, fremd – allein? Verschmäht Ihr meine Hilfe?« fragte der Graf, ihren Arm fassend.

»Hilfe!« sprach Geneviéve kopfschüttelnd, »vermögt Ihr mir Gerechtigkeit zu verschaffen?«

»Gerechtigkeit?« fragte der Graf erstaunt, »wer hat Unrecht geübt an Euch?«

»Die Gräfin von Tirol und ihre Schergen!« war die feierliche Antwort.

»Mein Weib?« schrie der junge Mann entsetzt.

Und ebenso entsetzt klang der kreischende Aufschrei Genevièves: »Euer Weib! Ihr sein der Graf!« und zugleich stürzte sie zu seinen Füßen nieder, umklammerte seine Knie und rief mit herzzerreißendem Tone: »O, so erbarmt Euch meiner, Herr, – sie ließ meinen Vater ermorden!«

Der Graf stand sprachlos.

»Und mein süßes Kind starb auf der Flucht vor ihren Schergen, und mein Gatte vergeht in ihrem Kerker!«

»Paradiesisch schön in Tirol! Nicht, Herr Graf? Wollt Ihr noch nicht Mann sein?« raunte der alte Reiter dem Erstarrten zu, der nach Atem ringend und erdrückt von der Wucht dieser Anklage dastand.

Die beiden Landleute hatten sich nach dieser Wendung der Dinge schleunig und leise entfernt, um die Neuigkeit von der unerwarteten Rückkunft des ›böhmischen Grafen‹ in die Weiler und Dörfer des Tales zu tragen.

»Weißt Du, was Du sprichst, Weib!« sprach endlich Graf Johann mit unsicherer Stimme, »ermordet sagst Du? – Vater und Kind?«

»So ist es. Ich will es Euch erzählen!« erwiderte Genoviéve leise, und neben dem Grabeshügel ihres Kindes niedergekauert begann sie die Geschichte ihrer Leiden: »Meine Heimat ist weit – weit von hier, im tiefen Süden, wo der Var seine blauen Wogen dem ligurischen Meere zu wälzt. Ich war ein glückliches, aber junges, unerfahrenes Weib und wusste nicht, was sie von mir verlangten, als eines Tages der Vater und mein Gatte zu mir traten und mir erzählten von einem fernen Lande, in dessen Bergen Gold und Edelsteine in Fülle, unbegehrt und ungesucht lägen, deren nur teilweiser Besitz mich und die Meinen reich und überglücklich zu machen im Stande und genügend wäre, sie ihres schweren Broterwerbes – sie betrieben die Edelsteinschleiferei – zu entheben und weit fort in ein anderes Land zu ziehen. – Doch ich muss Euch erst sagen«, brach sie plötzlich ab und strich sich mit der Hand über die heiße Stirne, »warum wir eigentlich fort wollten aus dem schönen Tale an den Ufern des Var. – Mein Vater litt seit Langem an einem schweren, unheilbaren Gebreste. Gottes Hand hatte es über ihn verhängt und ihn schwer getroffen, schwerer aber die unbarmherzige der Menschen, die ihn deshalb ausstießen aus ihren Kreisen, den von Gott Gezeichneten. ›Reich, reich will ich werden, und diese Götzendiener des Goldes, die heute noch den Ausgestoßenen verfluchend anspeien, tragen mich morgen auf den Händen!‹« rief er oft und…

»Der Mesel Gaultier…« unterbrach plötzlich Enzo, von einer Ahnung durchzuckt, die Erzählerin.

»…war mein Vater. Ihr kanntet ihn?« bestätigte Geneviéve fragen.

»Gar wohl – doch fahrt fort!« sagte der Alte kurz.

»Deshalb wollten wir fort aus dem Tale«, erzählte Geneviéve weiter, »weit fort in ein Land, wo das Unglück in jeder Gestalt Anspruch auf Mitleid und ein Asyl erheben dürfte, und deshalb sagte ich freudig ›Ja‹. Wir verließen die Heimat und kamen nach langem, beschwerlichem Wandern in dieser Gegend an. Dass dies das ersehnte Land der Ruhe für meinen armen Vater nicht sei, wussten wir bereits! Doch hier galt es ja bloß die Mittel zur Erreichung eines solchen zu erwerben, weshalb wir uns willig aus aller Menschennähe verbannten und tief in Waldeinsamkeit ein dürftig Obdach suchten. Es ging eine Zeitlang wohl, und Vater wie Gatte wurden ebenso wenig müde, ihre Arbeit zu fördern, als ich mein Kind und mich selbst mit den süßen Träumen einer nahen, kummerlosen Zukunft in Ruhe einzulullen. Da – eines Tages – o nein, es war Nacht, eine dunkle, unheimliche Nacht – als mein Vater allein nach Hause kam und – mein Gott, mein Gott!« sie schlug die bebenden Hände vor das bleiche, schöne Gesicht und weinte laut und bitterlich.

Der Graf und Enzo standen tief ergriffen von der einfachen Erzählung der Unglücklichen in düsterem Schweigen neben ihren ungeduldig stampfenden Rossen. –

»Jetzt erst erzählte mir der Vater«, hob Geneviéve wieder an, »dass sie bereits zu wiederholten Malen mit den gräflichen Bergknappen, die ihren Arbeiten auf die Spur gekommen waren, in Streit geraten und diesmal auf der Flucht vor jenen getrennt worden seien und – dass Charlot, mein Gatte, in ihre Hände gefallen! – Der Vater hoffte, ihn mit Hilfe eines ihm befreundeten Herrn aus Bozen zu befreien, doch das Unglück wollte, das jener gerade abwesend war; so war denn der Arme bloß auf sich allein beschränkt, er, dem sich nirgend ein Herz und eine Türe freundlich auftat. Dennoch ruhte und rastete er nicht, jede Nacht zog er auf Erkundung und um Hilfe aus, und immer kam er glücklich und, wie er meinte, dem Ziele näher in die Waldhütte heim. – Wohl dem Ziele nahe – seinem Endziele. – So war's bis gestern. Ich harrte sein, selbst krank, an dem Lager meines fieberkranken Kindes, da kam er endlich – gejagt, gehetzt von Bauern und den Knappen der Gräfin, zu deren Maifestlichkeiten er sich in der Hoffnung begeben, unter der Menge unbeachtet leichter zu einer Nachricht über Charlot zu gelangen. Er kam, die Verfolger ihm auf der Ferse und er, todmüde von der hastigen Jagd – konnte nicht fliehen. Nur so viel Zeit ließ ihm des Volkes grausames Gericht, mir den Namen einer Zufluchtsstätte für mich und mein Kind und ein Lebewohl zu sagen – und dann – weiß ich, ob es im Traume war oder ob ich es wirklich sah und noch lebe. Dann stürmten mit wütendem Gebrülle die Menschenjäger auf die Waldhütte zu – und einen hörte ich – gewiss, ich hörte einen rufen: ›Dein Gefährt‹ sitzt auf Schloss Maultasch' – und hörte Flammen zischen und des Vaters Stimme unter dumpfen Schlägen ersterben – sie haben ihn erschlagen und verbrannt!« Mit diesen Worten, in dumpfen Schmerzenstönen ausgestoßen, sank Genoviéve bewusstlos nieder auf das weiche Grab. –

Der Graf sprang eilig hinzu, sie zu halten und aufzurichten, doch Enzo war ihm zuvorgekommen und sprach mit der Feier tiefer Rührung: »Mich lasst sie halten, Herr! Sie ist mein Vermächtnis, und er legte seine breite Hand wie zu einem stillen Schwure auf das Haupt der Ohnmächtigen. »Ihr aber seid ihr Schuldner, mein Graf, diese arme Waise hat den gerechtesten Anspruch auf Eure Hilfe!« fuhr er zu dem jungen Fürsten gewendet fort: »Ihr habt wohl nicht vergessen, dass ich in Eurem Interesse eine Reise an den Hof König Ludwigs nach München unternahm, des Zweckes, seinen Praktiken mit Eurem Ehegespons auf die Spur zu kommen?«

Der Graf gab zu, dies zu wissen.

»Nun, die Summe Geldes, die jene Fahrt verschlang, wurde mir, dem Armen, Verbannten und Geächteten von aber einem Armen, Verbannten und Geächteten – dem Vater dieses Weibes, vorgeschossen – sein letztes Gut – auf Treu und Glauben jener Bruderschaft hin, die alle Ausgestoßenen dieser eklen Erde verbündet. Glaubt Ihr, ihr Schuldner zu sein?« fragte Enzo.

Der Graf nickte stumm mit dem Haupte.

»Nun denn!« fuhr jener feierlich fort. »Gott hat das Schwert des Gerichtes in Eure Hand gegeben, Herr! Werdet Ihr auch dies nicht ziehen, da Ihr das Eures Rechtes verrosten zu lassen gedenkt?«

Johanns blasses Gesicht wurde erdfahl vor innerem Kampfe, und er zögerte – dann aber erhob er plötzlich seine Recht gen Himmel und sprach: »Bei diesem Grabe…«

»Ihr schwört, mein Fürst!« jubelte der Alte auf, »O, so trage Du kleines Engelein da drunten den Schwur Deines Rächers zum Throne des Allgerechten hinan, und Du, Arme, erwache und schaue das Morgengrauen des Gerichtstages Deiner Feinde!« Und er hob Geneviéve wie ein Kind auf seine Arme und ließ den Morgenhauch des Maitages um ihre geschlossenen Lider fächeln, bis sie leise zu beben begannen und sich endlich auftaten.

Leise ließ er sie nun wieder niedergleiten und rief ihr mit väterlichem Tone zu: »Komm zu Dir, mein Kind, erhole Dich!«

Geneviéve sah langsam und stier um sich, wie um sich ihres Seins zu vergewissern, und flüsterte leise vor sich hin: »So hat denn der Schmerz wirklich nur einen verwundenden Stachel und keinen tötenden Pfeil?«

»Was sinnst Du, was willst Du, töricht Weib?« rief Enzo, den Sinn ihrer Worte erfassend, plötzlich wieder in seiner gewöhnlichen rauen, scharfen Weise: »Dir bietet das Leben in dieser Stunde, vereint wie wenig Glücklichen, die süßesten seiner Genüsse: Liebe und Rache – und Du willst sterben? Denk' an Charlot!«

»Charlot!« stammelte Geneviéve betrübt und sah mit fragendem Blicke den Alten an, der ihr geheimnisvoll zulächelte und sprach: »Höre, Kind! Lass uns Bekanntschaft machen miteinand'! Gelt, Dein Vater gebot Dir, Dich und Dein Kind in die Hut des ›Einsiedel auf dem Salten‹ zu begeben?«

»Mein Kind ist in Gottes Hut!« flüsterte Geneviéve, die Hände faltend, »zu diesem Manne aber war ich allerdings auf dem Wege!«

»Nun sieh! Der ist Dir entgegengekommen: ich bin es, den Du suchst!«

»Ihr seid…«

»Ja wohl und zugleich jener Freund, Enzo Weinegg, den Dein Vater in Bozen vergeblich suchte dazumal. Du wunderst Dich, mich also zu finden? O Kind, es schlägt heute unter gar mancher härenen Kutte ein Herz, das ehedem nur an Stahlpanzer zu pochen gewohnt war! Nun – es hat sich vieles geändert seit der Zeit, die ich in der stillen Klause verträumte, und so kann ich heute das, was mir damals arge Not gemacht hätte, voll und mit Freuden tun – Dich schützen und erhalten. Rächen wird Dich dieser da, der auch die Macht hat, Deinen Gatten zu befreien!« Enzo wies auf den Grafen, der versunken in dem Anschauen der schönen, leidenden Gestalt, auf sein Schwert gestützt, vor ihr stand, und fragte ihn: »Was meint Ihr mit der Armen zu beginnen, derweil ich meinen Rundritt abtue?«

Der Graf erwiderte nach kurzem Besinnen: »Mein Hof in Vilpian dürfte am geeignetsten zu einem sicheren und ruhigen Aufenthalte für die Frau sein; der Meier dort ist mir treu ergeben.« –

»Bei Gott, das ist wahr, und dahin ist ein Katzensprung!« rief Enzo sich erhebend. »Auf, mein Töchterchen, die Trauer abgeschüttelt und frisch hinein ins neue Leben! Solange Du noch ein Herz hast, an das…«

»Mein Gott!« rief Geneviéve plötzlich auffahrend, »wo ist Vivian?«

»Vivian? Wer ist das?« fragten die Männer.

»Mein Diener, mein treuer Freund!« klagte Geneviéve händeringend, denn nun erst erinnerte sie sich des armen Stummen und seines, vielleicht mit dem Tode bezahlten Unternehmens, ihre Flucht zu sichern.

»Ja, wo ist er denn geblieben?« fragte Enzo von Weinegg.

Geneviéve erzählte, was sie wusste.

Die beiden Männer zollten dem ebenso treuen als klugen Benehmen des Stummen das gebührende Lob und stimmten in der Annahme überein, dass ihm schwerlich etwas zu Leide geschehen, und er, eben um die Verfolger irre zu führen, weitab von dem Wege gekommen sein werde, den Geneviéve gegangen.

Enzo war dessen gewiss, dass Vivian seine Klause, die ihm als das Ziel seiner Herrin bekannt war, finden und dort herum leichtlich erfahren werde, wohin sich der entpuppte Einsiedel gewendet habe.

Nach einem kurzen, tief brünstigen Gebete an dem Grabeshügel ihres Kindes sah sich Genoviéve trotz ihres Sträubens auf den Rücken des Rosses Enzos gehoben und, diesen rüstig nebenher schreitend, auf dem Wege nach Vilpian.


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