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X. Lessings letzte Kämpfe

Nirgends ist der Klassenstandpunkt so maßgebend für das Verständnis Lessings wie in den theologischen Fragen, wo er es am wenigsten zu sein scheint. Nichts unrichtiger, als den Schwerpunkt von Lessings letzten Kämpfen in seinen Handel mit dem Hauptpastor Goeze zu legen. Nichts unrichtiger, wenn auch nichts bequemer. Ein Haufe donnernder Schlagworte gegen die lutherische Orthodoxie läßt sich spielend zusammenraspeln; man braucht ja nur die glänzende Polemik zu verwässern, die Lessings Anti-Goezes vor all seinen philosophisch-theologischen Schriften auszeichnet. Indessen so unrichtig, wie diese Auffassung ist, so ungerecht ist sie auch gegen Lessing selbst. Er war alles andere eher als ein Aufklärer des achtzehnten oder ein Kulturpauker des neunzehnten Jahrhunderts im landläufigen Sinne der beiden Worte.

Die heutigen Orthodoxen haben denn auch den schweren Mißgriff so mancher Lessing-Forscher gehörig ausgenützt und auf diesen Mißgriff hin gar nicht uneben bewiesen, daß Lessings Stellung in den letzten Kämpfen seines Lebens »unklar, ja im tiefsten Grunde unwahr« gewesen sei. Vom ideologischen Standpunkt aus ist es ein ganz vergebliches Bemühen, Lessings Philosophie und Theologie über einen Leisten zu schlagen; so viel erkannte schon Herder, daß Lessing »nicht geschaffen sei, ein ... ist zu sein, welche Buchstaben man auch dieser Endung voransetzen möge«. Aber deshalb darf man freilich Lessings zahlreiche »Widersprüche« nicht einfach seiner Lust am dialektischen Streit auf die Rechnung setzen, wie die Nicolai und Genossen taten, weil sie es nicht besser verstanden. Die richtige Mitte trifft Gervinus, wenn er sagt, Lessings Arbeiten seien vielleicht immer ohne Plan, aber nie ohne den schärfsten Instinkt begonnen worden. Der Instinkt des bürgerlichen Klasseninteresses bestimmte sein Denken und Handeln; im Lichte dieser Tatsache entfalten sich auch seine philosophisch-theologischen Kämpfe als ein einheitliches Gewebe. Die eigentliche Schuld an der einseitig-schiefen Auffassung von Lessings theologischen Kämpfen trägt die geistige Verflachung der deutschen Bourgeoisie. Einzelne Schriftsteller sind kaum dafür verantwortlich zu machen, doch findet jene Auffassung einen besonders grellen Ausdruck begreiflicherweise in der protestantenvereinlichen Theologie, so bei Karl Schwarz, Lessing als Theologe. Röpe hat dann in seiner Schrift über Goeze den Spieß umgekehrt; ihm nach Redlich in dem Lessing-Artikel der Allgemeinen deutschen Biographie, 19, 756 ff. und Christian Groß in Lessings Werken, 15, 9 ff. Groß macht die glorreiche Entdeckung von Lessings »unklarer, ja im tiefsten Grunde unwahrer Stellung«; er beschimpft auch Johann Jacobys trefflichen Aufsatz über Lessing als Philosophen in unwürdiger Weise. Die eingehendsten und gründlichsten Arbeiten in dieser Richtung hat Hebler in seinen Lessing-Studien geliefert und daneben Zeller in seinem Aufsatze über Lessing als Theologen in der »Historischen Zeitschrift«, 23, 343 ff.

An und für sich besaß ein so heiteres Weltkind, wie Lessing war, überhaupt keine theologische Ader. Schon mit zwanzig Jahren hatte er »klüglich gezweifelt« und darnach gestrebt, auf dem Wege der Untersuchung zur Überzeugung in religiösen Fragen zu gelangen. Aber zu einer positiven Überzeugung ist er niemals gelangt. Zwar erfahren wir aus seinem letzten Lebensjahre durch zweite Hand, daß er ein ...ist geworden sei, nämlich ein Spinozist. Aber selbst damals sagte er nur nach Jacobis Bericht: » Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen andern ... Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.« Nicht lange vorher hatte Lessing in dem Entwurf einer Vorrede zum Nathan geschrieben: »Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion ist von jeher die meinige gewesen«, und dies stimmte aufs Haar. Denn schon ein Menschenalter früher hatte der junge Lessing in Bruchstücken, die wie jene Vorrede zum Nathan und das Gespräch mit Jacobi erst nach seinem Tode veröffentlicht worden sind, »alle positiven und geoffenbarten Religionen gleich wahr und gleich falsch« genannt und für sein Teil erklärt, daß »der Mensch zum Handeln und nicht zum Vernünfteln erschaffen« sei. Das lehrte ihn sein bürgerlicher Klasseninstinkt, und dieser Instinkt führte ihn auf denselben Gesichtspunkt, den das proletarische Klassenbewußtsein in die Worte gekleidet hat, daß Religion Privatsache sei. Er behelligte niemanden mit seiner Religion und behelligte andere nicht um ihrer Religion willen. Zwar bekämpfte er die Orthodoxie fast von seinem ersten Federzug an, aber er bekämpfte sie nur als Organ der sozialen Unterdrückung, als Kappzaum der wissenschaftlichen Forschung, als ideologische Begleiterscheinung des fürstlichen Despotismus. Für Lessing war die Aufklärung nichts als die Selbstverständigung der bürgerlichen Klassen über ihre Lebensinteressen. Unter endlosem religiösem Hader hatte sich der bürgerliche Verfall vollzogen; unmöglich konnte sich das Bürgertum unter demselben glückverheißenden Zeichen wieder erheben. Mag jeder glauben, was er will, aber kein Glaube berechtigt einen Menschen, andere Menschen wegen eines anderen Glaubens zu verfolgen und zu unterdrücken. Richtete sich dieser Satz praktisch gegen die Orthodoxie als despotisches Machtmittel, so kam er prinzipiell doch auch der Orthodoxie als religiöser Lehrmeinung zugute. In dogmatische Streitigkeiten hat sich Lessing mit ihr niemals eingelassen; als religiöses System war sie ihm so gut oder je nach dem auch besser als jedes andere; die Spöttereien über die Religion hat er immer verabscheut. Der verfolgten Orthodoxie wäre er ebenso beigesprungen, wie er sich der verfolgenden widersetzte und wie er das päpstliche Verbot des Jesuitenordens für ungerecht erklärte. Die Religion war ihm einfach eine Privatsache, die schlechterdings nicht in die bürgerlichen Rechtsverhältnisse hineinzureden hatte, und hierin bestand der gewaltige Abstand seiner Toleranz von der sogenannten »Toleranz« Friedrichs, das heißt der bürgerlichen von der despotischen Toleranz. Denn diese sah zwar nicht bei der Erfüllung der Untertanenpflichten, aber sehr bei Erteilung von Untertanenrechten auf das religiöse Bekenntnis.

Dies ist der eine Gesichtspunkt, den man scharf im Auge behalten muß, um Lessings theologischen Kämpfen weder zuviel noch zuwenig zu tun. Der andere aber erwuchs ihm aus jener »Faulheit und Feigheit« der bürgerlichen Masse, von denen Kant später sagte, daß sie die Ursachen seien, »warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird, sich zu ihrem Vormünder aufzuwerfen«. Statt das soziale Joch der Orthodoxie abzuschütteln und übrigens dem aufdämmernden Lichte des bürgerlichen Selbstbewußtseins die Kritik der orthodoxen Lehrmeinungen zu überlassen, gefiel sich die landläufige »Aufklärung« der Nicolai und Genossen darin, das orthodoxe Lehrgebäude, soweit es vor dem Lichte der erwachenden Vernunft zerfiel, mit der Holzaxt einer angeblichen »Vernunft« zurechtzuzimmern und die bürgerliche Masse nun erst recht in den kümmerlich geflickten Schafstall zu pferchen. Historisch läßt sich diese Halbschlächtigkeit der deutschen »Aufklärung« gar wohl in ihren Ursachen erkennen, und wir haben schon früher einen Blick darauf geworfen, aber politisch blieb sie deshalb nicht weniger ein selbstmörderisches Beginnen, das bei längerer Dauer für die bürgerlichen Klassen noch viel verhängnisvoller werden mußte als die Abirrung der schönen Literatur von dem bürgerlichen Klassenstandpunkte und das ebendeshalb einen Mann wie Lessing in tiefster Seele erbitterte und zum äußersten Widerstande reizte. Hier lag der Ursprung seiner theologischen Schilderhebung, die ihrer inneren Natur nach durchaus ein sozialer Kampf war und allein unter diesem Gesichtspunkte richtig gewürdigt werden kann.

Wir haben gesehen, daß Lessing in seiner hamburgischen Zeit die entscheidenden Proben von der »Faulheit und Feigheit« der bürgerlichen Klassen gewann. In ebendieser Zeit wurde ihm ein handschriftlich hinterlassenes Werk von H. S. Reimarus bekannt, eine »Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, eine durchgreifende Bibelkritik und Untersuchung der geoffenbarten Religion. Die Schrift erregte Lessings lebhaftes Interesse; sie war ihm ein »freimütiges, ernsthaftes, gründliches, bündiges, gelehrtes Werk«, das einen »Hauptsturm auf die christliche Religion« unternahm. Er sah in Reimarus den ganzen Aufklärer gegenüber den halben Aufklärern vom Schlage der Semler, Teller, Nicolai und wie sie sonst hießen. Aber in wie vielen Einzelheiten Lessing mit Reimarus übereinstimmen mochte und selbst wenn er in allen Einzelheiten mit ihm übereingestimmt hätte, so war damit keineswegs gesagt, daß er den grundsätzlichen Standpunkt von Reimarus teilte. Er teilte ihn weder persönlich noch sachlich. Persönlich nicht, weil die Ängstlichkeit von Reimarus seinem ganzen Wesen widerstand, weil die Absicht von Reimarus, seine »Schrift im Verborgenen zum Gebrauch verständiger Freunde liegen« und lieber den »gemeinen Haufen noch eine Weile irren zu lassen«, so gar nicht lessingisch war, weil Lessing in dieser »löblichen Bescheidenheit und Vorsicht« des Verfassers »so viel Zuversicht auf seinen Erweis, so viel Verachtung des gemeinen Mannes, so viel Mißtrauen auf sein Zeitalter« erblickte. Sachlich nicht, weil Lessing in der Kritik der biblischen Geschichten gar keine Vernichtung der christlichen Religion sah, weil ihm der Buchstabe nicht der Geist, die Bibel nicht die Religion war. Gerade die eingehende Beschäftigung mit dem Werke von Reimarus, das er ein halb Dutzend Jahre und länger in seinem Pulte bewahrte, ehe er Bruchstücke daraus veröffentlichte, förderte und vertiefte Lessings Anschauungen über die religiösen Bewegungen in der Geschichte.

In einem Briefe vom 9. Januar 1771, worin Lessing das Werk von Reimarus gegen gewisse Einwürfe seines Freundes Moses verteidigt, sagt er gleichwohl: »Ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zuviel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen. Daß ich es zum Teil nicht schon getan, daran hat mich nur die Furcht gehindert, nach und nach den ganzen Unrat wieder in das Haus zu schleppen. Es ist unendlich schwer zu wissen, wann und wo man bleiben soll, und Tausenden für Einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden. Ob dieses nicht auch manchmal der Fall unseres Ungenannten (nämlich des Reimarus) gewesen, will ich nicht so geradezu leugnen.« Aber in demselben Briefe fordert Lessing seinen Freund auch auf, aufdringliche Bekehrungsvorschläge Lavaters zurückzuweisen: »Ich bitte Sie, wenn Sie darauf antworten, es mit aller möglichen Freiheit, mit allem nur ersinnlichen Nachdrucke zu tun. Sie allein dürfen und können in dieser Sache so sprechen und schreiben und sind daher unendlich glücklicher als andre ehrliche Leute, die den Umsturz des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn nicht anders als unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern können.« Andere ehrliche Leute, das sind in diesem Zusammenhange die Aufklärer des gewöhnlichen Schlages. Zwischen den beiden Briefstellen scheint ein gewisser Widerspruch zu bestehen: Lessing findet, daß Reimarus seine Sache nicht zu Ende gedacht habe, aber trotzdem fordert er Moses auf, ebenso zu handeln, wie Reimarus gehandelt hat. Indessen der Widerspruch ist nur scheinbar. Lessing meinte einfach, daß die ehrlichen Leute, wenn sie einmal aufklären wollten, so gründlich aufklären sollten wie Reimarus, was Moses als Jude eher könne als die christlichen Aufklärer, aber er findet, daß die Sache damit noch nicht zu Ende sei, daß die kritische Auflösung der biblischen Geschichte nicht den religiösen Glauben vernichte, daß mit diesem Ziele das Nachdenken über das Entstehen und Vergehen der Religion noch nicht erschöpft sei.

Von seinem eigenen Nachdenken über diese Fragen zeugen namentlich die beiden Aufsätze, worin er sich mit der Tatsache auseinandersetzt, daß Leibniz die orthodoxen Lehren von der Dreieinigkeit und der Ewigkeit der Höllenstrafen gegen arianisch-sozinianische Ketzereien verteidigt hat. Mag sein, daß Lessing zuweit geht, wenn er in schönem Eifer seinen großen Vorläufer lieber gleich von jedem Verdachte, der Orthodoxie unbillige Zugeständnisse gemacht zu haben, befreien möchte; er konnte es nun einmal aus guten Gründen nicht vertragen, wenn der seichteste Aufkläricht von einem Leibniz oder einem Spinoza wie von »toten Hunden« sprach. Aber den Nachweis, auf den es ihm im Wesen der Sache ankam, hat er schlüssig geliefert: den Nachweis nämlich, daß Leibniz als Philosoph sich mit der orthodoxen Lehre eher vertragen konnte als mit der arianisch-sozinianischen Aufklärung. Diese Ketzerei richtete ihre Spitze gegen die Gottheit Jesu, und darin sah Leibniz eine wahre Abgötterei. Lessing führt nun aus: »Man denke nicht, daß er auch dieses nur behauptet habe, um den Orthodoxen zu heucheln. Nein, sondern seine ganze ihm eigene Philosophie war es, die sich gegen den abergläubischen Unsinn empörte, daß ein bloßes Geschöpf so vollkommen sein könne, daß es neben dem Schöpfer auch nur genannt zu werden verdiene ... Und man kann noch zweifeln, ob er den verworfenen Religionsbegriff aus ganzem Herzen verworfen? ob er ihm aus ganzem Herzen die gemeine Lehre vorgezogen, die jeder Vernunftswahrheit ohne Nachteil zur Seite stehen kann, weil sie keiner widersprechen will und mit Gründe von sich rühmen darf, daß sie solange noch nicht richtig verstanden ist, als sie einer einzigen zu widersprechen scheint?« Lessing hält denn auch die Schlußfolgerungen für logisch begründet, die der orthodoxe Geistliche Abbadie aus der arianisch-sozinianischen Ketzerei gezogen hat: »Nämlich daß, wenn Christus nicht wahrer Gott ist, die mahometanische Religion eine unstreitige Verbesserung der christlichen war und Mahomet selbst ein unstreitig größerer und würdigerer Mann gewesen ist als Christus, indem er weit wahrhafter, weit vorsichtiger und eifriger für die Ehre des einzigen Gottes gewesen als Christus, der, wenn er sich selbst auch nie für Gott ausgegeben hätte, doch wenigstens hundert zweideutige Dinge gesagt hat, sich von der Einfalt dafür halten zu lassen, dahingegen dem Mahomet keine einzige derartige Zweideutigkeit zuschulden kommt.« Lessing hat nicht wie Leibniz die Orthodoxie verteidigt gegen die halbschlächtige Aufklärung, aber darin stimmte er mit Leibniz überein, daß die halbschlächtige Aufklärung noch unerträglicher sei als die Orthodoxie. Ein halbes Jahrzehnt nach diesen Aufsätzen schreibt er an Nicolai, »daß das arianische System noch unendlich abgeschmackter und lästerlicher sei als das orthodoxe«. Die Berliner Aufklärer verstanden ihn natürlich nicht; Ehren-Nicolai machte, als die Leibniz-Aufsätze 1774 erschienen, seine Späßchen über den Doktorhut der Theologie, nach dem Lessing giere, und Moses rügte »ein kleines Versehen« in dem Texte von Leibniz mit der hochnäsigen Begründung, »um zu zeigen, daß ich selbst in meiner Krankheit und sogar Ihre Beiträge, zu einem sonst mir so geringschätzig gewesenen Zweige der Literatur nicht ungelesen lassen kann«. Worauf Lessing mit seiner wahrhaft unverwüstlichen Geduld gegen diese Gesellschaft: »Ist es nicht sonderbar, daß Sie die wahre Lesart in einer Schrift herstellen, die Ihnen von einem Ende zum andern so kompletter Nonsens sein muß – und ist? Auch mir ist; auch ohne Zweifel Leibnizen selbst gewesen ist. Und dennoch bin ich überzeugt, daß Leibniz auch hier noch als Leibniz gedacht und gehandelt hat. Denn es ist unstreitig besser, eine unphilosophische Sache sehr philosophisch verteidigen als unphilosophisch verwerfen und reformieren wollen.« Das unphilosophische Verwerfen und Reformieren war Sache der gemeinen Aufklärer; das sehr philosophische Verteidigen einer unphilosophischen Sache war die Art von Leibniz gewesen; Lessing dagegen hielt es mit dem philosophischen Erklären einer philosophischen Sache. Er drang auf eine reinliche Scheidung von Religion und Philosophie, sicher, nur auf diesem Wege die philosophische Seite der Religion entdecken zu können.

Ein kleines und unbedeutendes Bruchstück aus dem Werke von Reimarus hatte Lessing als »Fragment eines Ungenannten« schon 1774 veröffentlicht; 1777 rückte er mit fünf weiteren Fragmenten und das Jahr darauf mit noch einem siebenten Fragmente hervor. Er begleitete sie mit Gegensätzen, mit »Maulkörben« nach dem drastischen, obgleich etwas schiefen Ausdrucke von Claudius. Denn nicht eine Abschwächung oder Abstumpfung der an der biblischen Überlieferung geübten Kritik zum Zweck einer persönlichen Rückendeckung hatte Lessing bei seinen Gegensätzen im Auge; diese erhebende Absicht konnte ihm nur die moderne Lessing-Forschung unterschieben, die ihn hinter dem Ofen sucht, hinter dem sie selbst sitzt. Vielmehr wollte Lessing mit der Veröffentlichung der Fragmente der Wahrheit einen Dienst erweisen; er wollte in Reimarus einen Liebhaber der Wahrheit ihren Kupplern, einen selbstdenkenden Kopf den elenden Wortkrämern der landläufigen Aufklärung entgegenstellen. Aber wenn dieser Zweck erreicht werden sollte, so mußte er auch vor jeder Mißdeutung gesichert werden. Lessing erkannte, daß mit einer noch so gründlichen und scharfsinnigen Bibelkritik ein »Hauptsturm auf die christliche Religion« noch längst nicht gelungen sei. Sosehr er das Recht des Reimarus verfocht, auch an den biblischen Geschichten wissenschaftliche Kritik zu üben, sosehr er diese Kritik um ihrer Freimütigkeit und Gründlichkeit willen schätzte, sowenig war er geneigt oder gar verpflichtet, alle Schlußfolgerungen dieser Kritik anzunehmen. Es ging ihm ein wenig wie jenem Juden des Boccaccio, der, als er in Rom das mittelalterliche Papsttum in seinem ganzen Verfalle sah, sich taufen ließ, weil eine Religion, die in so scheußlicher Verkörperung dennoch siegreich fortdauere, eine ewige Wahrheit enthalten müsse. Je schärfer Reimarus den biblischen Büchern zusetzte, um so schärfer mußte sich auch Lessings klarem Geiste die Einsicht aufdrängen, daß eine welthistorische Erscheinung wie die christliche Religion aus einem andern Boden entsprossen sein müsse als aus diesem morschen Untergrunde.

Und ebendiese Unterscheidung zwischen Bibel und Religion führte Lessing in seinen Gegensätzen zu den Fragmenten von Reimarus aus. Man übersehe doch nicht, daß sich unter diesen Gegensätzen schon die ersten dreiundfünfzig Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts befanden und daß Lessing die »ganze Schüssel« seiner religionsphilosophischen Hauptschrift, von der er zunächst nur einen »Vorschmack« geben wollte, in seiner Gedankenkammer längst angerichtet hatte. Wer will denn im Ernste die absurde Behauptung aufstellen, daß Lessings in manchem Betrachte gedankenreichste Schrift eine elende Sophisterei sei, die er sich aus den Fingern gesogen habe, um für seine Person und seine Stellung bei Veröffentlichung der Fragmente möglichst gedeckt zu sein? Aber da es wirklich Leute gibt, die wenigstens mittelbar eine so absurde Unterstellung gewagt haben, so mag noch zum Überfluß ein urkundlicher Beweis dafür beigebrächt werden, wie ernst es Lessing mit seiner Religionsphilosophie nahm. Die Kinder von Reimarus waren mit der Herausgabe der Fragmente oder mindestens mit der Art ihrer Herausgabe mehr und minder unzufrieden: der Sohn aus Angst um den frommen Ruf seines Vaters, die Tochter aus Ärger über Lessings Gegensätze. Elise Reimarus, Lessings treueste Freundin nach dem Tode seiner Frau, war zu gut und zu klug, um Lessings Absichten ganz mißzuverstehen; sie hat allen Angriffen gegen ihn immer ein rechtfertigendes oder entschuldigendes Wort entgegenzusetzen, und von der Erziehung des Menschengeschlechts sagte sie: »Ich wollte um viel nicht, daß er dies nicht geschrieben hätte.« Aber eine »Grille« war ihr die Schrift doch nur; sie konnte über den Standpunkt ihres Vaters nicht hinaus, und so schalt sie gar manches Mal in vertrauten Briefen an ihre Freunde über Lessings »Larventragen« und »Sophistereien«. Nun richtete Lessing am 6. April 1778 ein beschwichtigendes Schreiben an den jüngeren Reimarus; er verspricht das unverbrüchlichste Schweigen über die Person des Fragmentisten, aber über die Erziehung des Menschengeschlechts schreibt er frank und frei: »Diese Hypothese nun würde freilich das Ziel gewaltig verrücken, auf welches mein Ungenannter im Anschlage gewesen. Aber was tut's? Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!« Man sieht also, daß Lessing in diesem vertraulichen Briefe, der die Reimarer beschwichtigen soll, seine angebliche Heuchelei, die gerade die Reimarer von neuem erbittern muß, mit geflissentlicher Schärfe weitertreibt: Sollte da nicht die schüchterne Vermutung gerechtfertigt sein, daß diese angebliche Heuchelei eine grundsätzliche, wissenschaftliche Erkenntnis gewesen ist? In der Tat – der Vorwurf einer »unklaren, ja im tiefsten Grunde unwahren Stellung« fällt einzig auf die Leute zurück, die heute noch nicht einsehen, daß zwischen Reimarus und Lessing ein »gewaltiger« Unterschied bestand.

Freilich, um es noch einmal zu wiederholen: Vom ideologischen Standpunkt aus ist es ein wahres Kreuz, in Lessings letzte Kämpfe Sinn und Zusammenhang zu bringen, besonders wenn zugleich ein harmonischer Einklang mit der heutigen Kulturkämpferei erzielt werden soll. Den modischen Lessing-Forschern geht es dabei gewöhnlich wie den von Lessing so weidlich verspotteten evangelischen Harmonisten. Sie sinnen auf Mittel und Wege, »jene widerspenstige Verschiedenheit von Umständen wenigstens gleich stößigen Böcken in einen engen Stall zu sperren, in welchem sie das Widereinanderlaufen wohl unterlassen müssen«. Aber »leider bleiben die Böcke darum doch immer stößig, wenden darum doch immer die Köpfe und Hörner noch gegeneinander und reiben sich und drängen sich«. Selbst ein Mann wie Hebler, der unter den Lessing-Ideologen wohl am ehrlichsten und rücksichtslosesten in den Kern von Lessings religionsphilosophischen Ansichten zu dringen versucht hat, kommt doch nur zu dem Ergebnisse, daß Lessing die Orthodoxie des Goeze und die Aufklärung des Nicolai und die Freidenkerei des Reimarus zu »vermitteln« oder zu »verbinden« gesucht habe. Wonach Lessing denn also gewissermaßen ein noch potenzierter Nicolai wäre! Aber man kann dem einzelnen, sofern er es nur wie Hebler für seine Person ehrlich meint, daraus gar keinen Vorwurf machen; die Schuld liegt an der ideologischen Methode der Geschichtsforschung: Wenn die Herren sich auch nur einmal auf den Standpunkt des historischen Materialismus stellen, wenn sie sich nur einmal vergegenwärtigen wollten, daß Lessing in all seinem Denken, Sprechen und Handeln immer nur als der für seine Zeit klarste und schärfste Vorkämpfer des deutschen Bürgertums zu verstehen ist, so werden sie finden, daß sich die »widerspenstige Verschiedenheit« seiner Ansichten in einen durchsichtigen und überall geschlossenen Zusammenhang auflöst.

Bei der Wichtigkeit dieser Frage sei es gestartet, sie noch durch ein Beispiel zu erläutern, durch ein Beispiel, das gleich für hundert andere gelten kann. Im Jahre 1778, mitten im heftigsten Fragmentenstreite, hatte Nicolai die Memoiren von John Bunkel, eine aufklärerische Scharteke, »so einen ruppichten Roman«, wie Lessing sich ausdrückt, aus dem Englischen übersetzt oder übersetzen lassen. Die Übersetzung war von der Wiener Zensur verboten und darauf von Wieland im »Deutschen Merkur« verspottet worden. Nun schreibt Lessing an Herder in einem Briefe vom 10. Januar 1779: »Wielands Plaisanterie über den Bunkel ist so gerecht als lustig, und Nicolai mag sie auch wohl gegen ihn verschuldet haben. Wenn er nur nicht damit eine ganze Sprosse aus der Leiter ausbräche, die ein gewisses Publikum mit besteigen muß, wenn es weiterkommen soll. Sie verstehen mich.« Aus diesen Sätzen folgert Hebler, daß Lessing die seichte Aufklärung der Nicolai auch für notwendig zur Erziehung des Menschengeschlechts gehalten habe. Und wenn man sich auf den ideologischen Standpunkt stellt, so läßt sich gegen diese Schlußfolgerung auch nicht viel einwenden; Lessing sagt ja klipp und klar, daß ohne jene Aufklärung mindestens »ein gewisses Publikum« nicht weiterkommen könne. Nun bekämpfte aber Lessing im Fragmentenstreite gerade diese Aufklärung am heftigsten; er rückte ihr, wie wir gleich sehen werden, mit ganz anderen Schlägen auf den Leib, wie Wieland mit seiner »Plaisanterie« führte; er war besonders und mit vollem Recht über Nicolais falsche und zweideutige Haltung empört. Hier läge denn also ein so handgreiflicher und grober »Widerspruch« vor, wie er nur immer gedacht werden kann. Lessing tadelte an Wieland, was er selbst, nur in viel höherem Maße, tat. Die bürgerlichen Lessing-Forscher kommen denn auch nicht über diesen »Widerspruch« hinweg; sie suchen ihn zu umgehen oder zu vertuschen. Die einen sagen, im Grunde sei Lessing auch ein Nicolaite gewesen; die andern meinen, er habe nun einmal immer »widersprechen« müssen; die Dritten flicken in die Erziehung des Menschengeschlechts hinter der jüdischen und christlichen Religion und vor der Religion der Zukunft die Nicolaitische Aufklärung als eine kleine Zwischenstation ein. Was bei alledem aus Lessing und Lessings Lebenswerke werden soll, steht denn freilich dahin.

Wenn wir nunmehr versuchen, vom Standpunkte des historischen Materialismus den »Widerspruch« zu lösen, wenn wir also annehmen, daß Lessing bei seinen religiösen wie überhaupt bei allen seinen Kämpfen von seinem bürgerlichen Klassenbewußtsein geleitet worden ist, so erkennen wir sofort, daß ihn dies Bewußtsein unmöglich so getäuscht haben kann, um in einen so unversöhnlichen »Widerspruch« zu verfallen. Wir können dann von ihm ungefähr dasselbe sagen, was er in der Hamburgischen Dramaturgie von Aristoteles sagte: Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Lessing nicht leicht schuldig. Er kann irren und hat oft geirrt, aber immer nur aus seinem Klassenbewußtsein heraus; diesem heute folgen und morgen ins Gesicht schlagen, das kann Lessing nicht. Wo wir einen solchen Widerspruch bei so einem Mann finden, da setzen wir das größere Mißtrauen lieber in unseren als in seinen Verstand. Wir verdoppeln unsere Aufmerksamkeit, wir überlesen die Stelle zehnmal und glauben nicht eher, daß Lessing sich widersprochen hat, als bis wir aus dem ganzen Zusammenhange seines Klassenbewußtseins heraus erkennen, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden ist. Und da liegt die Lösung des »Widerspruchs« sofort auf der Hand. Die Übersetzung des Bunkel war von der Wiener Zensur verboten worden, und somit verstand es sich einfach für Lessings Klassenbewußtsein von selbst, daß er sogar die seichteste Aufklärung beschützte vor dem brutal unterdrückenden Despotismus, daß er von einem mit dem polizeilichen Knüttel totgeschlagenen Buche sofort annahm, daß es doch wohl mindestens ein gewisses Publikum zu fördern geeignet sei, daß er selbst eine zutreffende, eine gerechte und lustige Kritik eines verbotenen Buches tadelte, weil dadurch der despotische Geistesmord wenigstens mittelbar verklärt wurde. Was wir vorhin von Lessings Stellung zu den Orthodoxen sagten, das gilt auch von seiner Stellung zu den Aufklärern: Den verfolgten Aufklärern trat er ebenso unbedenklich zur Seite, wie er den verfolgenden Aufklärern entgegentrat. Die Freiheit des Geistes, die Freiheit der Rede und der Schrift mußte die Grundforderung der bürgerlichen Klassen sein; sie war der gemeinsame Boden, worauf sich das deutsche Bürgertum erst über seine Klasseninteressen verständigen konnte. Wo dieser Boden durchlöchert wurde, da mußten alle anderen Rücksichten zurücktreten; der Aufkläricht entsprach doch noch mehr den Lebensbedürfnissen der bürgerlichen Klassen als die Zensur. Und so löst sich in der einfachsten Weise von der Welt jener angebliche »Widerspruch« Lessings, den die ideologische Geschichtsauffassung unmöglich lösen kann.

Ihre Vertreter werden nun freilich sagen, das sei alles bei den Haaren herangezogen und stimme doch gar nicht mit dem Wortlaut dessen, was Lessing an Herder schreibt. Gleichwohl liegt die Sache so und nicht anders; Lessing selbst ist der beste Zeuge dafür. Er hatte nämlich in jüngeren Jahren vorübergehend einmal daran gedacht, selbst den »ruppichten Roman« zu übersetzen. Nicolai verfiel nun auf den schlauen Gedanken, diese Tatsache gegen Wielands »Plaisanterie« ins Feld zu führen, und fragte brieflich bei Lessing an, ob er dürfe. Lessing antwortete in einem Schreiben vom 30. März 1779. Zunächst gab er dem alten Kumpan einen derben Backenstreich wegen dessen feiger Haltung im Fragmentenstreite; dann beantwortete er seine Anfrage »kurz und gut« dahin: »Nein, lieber tun Sie das nicht! Denn ich sehe voraus, daß es mich einer Erklärung aussetzen würde, die auf Ihren Bunkel noch ein nachteiliger Licht werfen könnte.« Lessing führt dann aus, daß er den Bunkel nur übersetzen würde, um in beigefügten Anmerkungen zu zeigen, daß diese Sorte von Aufklärung noch unendlich abgeschmackter sei als das orthodoxe System, und er schließt: »Wielands Verfahren billige ich aber gar nicht, welches ich kürzlich Herdern geradezu geschrieben habe. Ich schrieb ihm, soviel ich mich erinnere, daß ein Buch, welches die kaiserliche Bücherkommission verbiete, durchaus kein denkender Kopf so behandeln müsse. Es sei zuverlässig gut und zuverlässig zur Aufklärung gewisser Menschen zuträglich, eben weil es in gewissen Ländern verboten wäre: Daher Wieland in meinen Augen sich einer unedlen Schmeichelei gegen den Kaiser schuldig gemacht.« Nun, wir haben gesehen, daß Lessing davon dem Wortlaute nach nichts an Herder geschrieben hatte, aber deshalb klaubt er doch vollkommen sinngetreu dem begriffsstutzigen Nicolai auseinander, was der gescheite Herder schon aus einer halben Andeutung »verstand«. Und Lessing löst den »Widerspruch« genauso auf, wie er nach den Grundsätzen der materialistischen Geschichtsauffassung aufgelöst werden müßte; der Bunkel ist ihm verächtlich genug, unendlich verächtlicher als das orthodoxe System, aber wenn die Zensur »so einen ruppichten Roman« totschlägt, so kann man »zuverlässig« annehmen, daß er doch noch für »gewisse Menschen« zuträglich gewesen sei, und der bürgerliche Klassenstandpunkt verbietet den Spott über ein polizeilich erschlagenes Buch.

Nach diesen Ausführungen ist nun leicht verständlich, daß und weshalb Lessing einen Hauptvorstoß gegen die seichte Aufklärung unternahm. Sie war ihm nicht Fisch und nicht Fleisch; sie verdarb ihm die Religion wie die Philosophie; sie hemmte gleichermaßen die Denk- wie die Glaubensfreiheit. Lessing wollte in ganz anderem und viel tieferem Sinne als Friedrich jeden nach seiner Fasson selig werden lassen, aber er bekämpfte jede Religion, sobald sie sich zum Werkzeuge des friderizianischen oder irgendeines andern Despotismus hergab, sobald sie der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung einen Kappzaum anlegen wollte. Jede Religion war ihm wahr, insofern als jede eine Durchgangsstufe der menschheitlichen Geistesentwicklung gewesen ist; jede Religion war ihm falsch, insoweit als sie der ferneren geistigen Entwicklung der Menschheit einen unzerbrechlichen Hemmschuh anlegen möchte. Lessing sah in den Religionen, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, nicht logische, sondern historische Kategorien; sie waren ihm nicht un vergängliche, aber un umgängliche Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes. Er sah nun in seinen Tagen, wie sich die Orthodoxie des Despotismus allmählich in die Philosophie des Bürgertums auflöste, und er wußte wohl, daß sich ein historischer Geistesprozeß nicht durch äußerliche Mittel, am wenigsten durch gewaltsame, beschleunigen läßt. Aber wenn nun die faulen und feigen Aufklärer mit täppischer Hand in diesen Geistesprozeß eingriffen, wenn sie absichtlich die immer klarer hervortretende Grenzscheide zwischen Philosophie und Religion verwischten, wenn sie ein angeblich gereinigtes, aber tatsächlich gefälschtes Christentum mit um so größerer Unduldsamkeit vertraten, wenn sie das orthodoxe System scheinbar ein wenig vernünftiger, tatsächlich aber noch viel sinnloser machten, um diesen »verfeinerten Irrtum« als einen um so stärkeren Damm in den Fluß des freien Denkens zu werfen, so stand für die geistige Entwicklung des deutschen Bürgertums alles auf dem Spiel. Sie drohte dann in einen Sumpf zu verlaufen, mit dem verglichen selbst die alte ungeschminkte Orthodoxie noch festes Land war, und gegen diesen verhängnisvollen Irrweg erhob Lessing seine warnende Stimme.

Beleuchten wir nun noch den eben entwickelten Standpunkt Lessings durch einzelne Sätze von ihm selbst, deren Auswahl aus der überströmenden Fülle der Zeugnisse freilich nicht ganz leicht ist. Schon in seinen Anfängen spottet Lessing über die »verkehrte Art, das Christentum zu lehren« dadurch, »daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesgelahrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worinne man mit Mühe und Not eine von der anderen unterscheiden kann, worinne eine die andere schwächt, indem diese den Glauben durch Beweise erzwingen und jene die Beweise durch den Glauben unterstützen soll«. In den Literaturbriefen nagelt er die »liebliche Quintessenz« aus dem Christentum an, die in gleichem Maße inkonsequenter und intoleranter sei als die alte Orthodoxie. In der ersten theologischen Schrift, die er als Bibliothekar von Wolfenbüttel über eine von ihm aufgefundene Handschrift des Berengar von Tours veröffentlichte, sagt er: »Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern ... Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren, sie klar und rund, ohne Rätsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft zu lehren, und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt. Wer die nicht erwerben oder, wenn er sie erworben, nicht brauchen will, der macht sich um den menschlichen Verstand nur schlecht verdient, wenn er grobe Irrtümer uns benimmt, die volle Wahrheit aber vorenthält und mit einem Mitteldinge von Wahrheit und Lüge uns befriedigen will. Denn je gröber der Irrtum, desto kürzer und gerader der Weg zur Wahrheit; dahingegen der verfeinerte Irrtum uns auf ewig von der Wahrheit entfernt halten kann, je schwerer uns einleuchtet, daß er Irrtum ist ... Wer nur darauf denkt, die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminke an den Mann zu bringen, der möchte wohl gern ihr Kuppler sein, nur ihr Liebhaber ist er nie gewesen.« Und in einem der Aufsätze über Leibniz heißt es mit bitterer Ironie: »Er glaubte! Wenn ich doch nur wüßte, was man mit diesem Worte sagen wollte. In dem Munde so mancher neueren Theologen, muß ich bekennen, ist es mir ein wahres Rätsel. Diese Männer haben seit zwanzig, dreißig Jahren in der Erkenntnis der Religion so große Schritte getan, daß, wenn ich einen älteren Dogmatiker gegen sie aufschlage, ich mich in einem ganz fremden Lande zu sein vermeine. Sie haben so viel dringende Gründe des Glaubens, so viel unumstößliche Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion an der Hand, daß ich mich nicht genug wundern kann, wie man jemals so kurzsichtig sein könne, den Glauben an diese Wahrheit für eine übernatürliche Gnadenwirkung zu halten ... Alles, wovon aufrichtig allda (in den älteren Dogmatikern) bekannt wird, daß es weder einzeln noch zusammengenommen eine beruhigende Überzeugung wirken könne: Alles dieses haben so viele unserer neueren Gottesgelehrten so ineinandergekettet und einzeln so ausgefeilt und zugespitzt, daß nur die mutwilligste Blindheit, nur die vorsätzlichste Hartnäckigkeit sich nicht überführt bekennen kann. Was der heilige Geist nun noch dabei tun will oder kann, das steht freilich bei ihm; aber wahrlich, wenn er auch nichts dabei tun will, so ist es eben das ... Sie also freilich, die in diesen letzten Tagen ganz anders gelernt haben, die Vernunft zum Glauben zu zwingen, werden schon Leibnizen mit der Zeit, in welcher er lebte, entschuldigen müssen, wenn ich von ihm versichere, daß er freilich nicht weder die Dreieinigkeit noch sonst eine geoffenbarte Lehre der Religion geglaubt hat; wenn glauben soviel heißt, als aus natürlichen Gründen für wahr halten.« Mangel an Raum zwingt uns, abzubrechen; ein paar andere Reihen von Zeugnissen sind vielleicht auch noch überzeugender.

Die von Lessing gegeißelten Aufklärer, besonders ihre Berliner Garde, hatten natürlich sofort den Vorwurf des Kokettierens mit der Orthodoxie bei der Hand; dies alberne Gerede war damals schon so im Gange, wie es heute noch im Gange ist. Karl Gotthelf war sogar so dreist, seine und Nicolais Schmerzen nach Wolfenbüttel zu berichten, und erhielt im April 1773 von Gotthold Ephraim die Antwort: »Was gehen mich die Orthodoxen an? Ich verachte sie ebensosehr als du; nur verachte ich unsere neumodischen Geistlichen noch mehr, die Theologen viel zuwenig und Philosophen lange nicht genug sind. Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als es die Orthodoxen jemals getan haben.« Und ganz ähnlich in dem berühmten Briefe vom 2. Februar 1774: »Ich sollte es der Welt mißgönnen, daß man sie mehr aufzuklären suche? Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, daß ein jeder über die Religion vernünftig denken möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene großen Absichten befördern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieses tun zu können glaube. Und was ist simpler als diese Art? Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen: Ich will, es nur nicht eher weggegossen wissen, bis ich weiß, woher reineres zu nehmen; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man auch das Kind hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsere neumodische Theologie, gegen die Orthodoxie als Mistjauche gegen unfeines Wasser? Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen ... Darin sind wir einig, daß unser altes Religionssystem falsch ist; aber das möchte ich nicht mit dir sagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst du es mir, daß ich dieses alte verteidige? Meines Nachbars Haus drohet den Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, sondern er will es mit gänzlichem Ruin meines Hauses stützen und unterbauen. Das soll er bleibenlassen, oder ich werde mich seines einstürzenden Hauses so annehmen als meines eigenen.« Da die Berliner Aufklärer ihn noch immer nicht verstanden, ward er nicht müde, ihnen auseinanderzusetzen, daß er »die alte orthodoxe (im Grunde tolerante) Theologie der neuen (im Grunde intoleranten) vorziehe, weil jene mit dem gesunden Menschenverstände offenbar streitet und diese ihn lieber bestechen möchte. Ich vertrage mich mit meinen offenbaren Feinden, um gegen meine heimlichen desto besser auf meiner Hut sein zu können.« Oder er schreibt dem Bruder: »Wenn die Welt mit Unwahrheiten soll hingehalten werden, so sind die alten, bereits gangbaren ebensogut dazu wie neue.« Natürlich war alles vergebens; mit dem Berliner Aufkläricht kämpfte selbst ein Lessing vergebens. Hat doch noch in unseren Tagen ein Enkel Karl Gotthelfs, als er einen Juden um seines Judentums willen brotlos machte, die schlechte Tat damit zu entschuldigen versucht, sein Blatt, eben die »Vossische Zeitung«, an der Gotthold Ephraim sich seine ersten Sporen verdiente, müsse in protestantenvereinlichem Geiste redigiert werden, das heißt: im Sinne jener religiösen Halbheit, die Lessing mit seinem ätzendsten Spotte für immer gekennzeichnet hat.

Endlich sei noch einiges aus Lessings Gegensätzen zu den Fragmenten des Ungenannten beigebracht. Gleich in dem Schlußworte zu dem ersten, 1774 herausgegebenen Fragmente spricht Lessing von den neumodischen Theologen, »die sich gegen die Verteidiger einer bloß natürlichen Religion mit so vielem Stolze, mit so vieler Bitterkeit ausdrücken, daß sie mit jedem Worte verraten, was man sich von ihnen zu versehen hätte, wenn die Macht in ihren Händen wäre, gegen welche sie itzt noch selbst protestieren müssen«, und einschließt: »Dieses ihr vernünftiges Christentum ist allerdings noch weit mehr als natürliche Religion; schade nur, daß man so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm die Vernunft noch wo ihm das Christentum sitzt.« Als Lessing dann 1777 fünf weitere Fragmente herausgab, stellte er in seinen Gegensätzen zunächst fest – und wir brauchen nach unseren bisherigen Ausführungen nicht noch einmal zu sagen, wie wenig »unklar« oder »unwahr« Lessing dabei wurde, sondern wie er so ganz aus seiner innersten Überzeugung schöpfte –, daß »dieses Mannes (nämlich des Ungenannten) Hypothesen und Erklärungen und Beweise« am Ende den Theologen, aber gar nicht den Christen angingen, der sich in der christlichen Religion selig fühle, und er sagt dann von den Theologen: »Hat man den Mantel nicht längst auf die andere Schulter genommen? Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft und Vernunft räsonierender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts als eine erneuerte Sanktion der Religion der Vernunft. Geheimnisse gibt es entweder darin gar nicht, oder wenn es welche gibt, so ist es doch gleichviel, ob der Christ diesen oder jenen oder gar keinen Begriff damit verbindet. Wie leicht waren jene Theologaster zu widerlegen, die außer einigen mißverstandenen Schriftstellen nichts auf ihrer Seite hatten und durch Verdammung der Vernunft die beleidigte Vernunft im Harnisch erhielten! Sie brachten alles gegen sich auf, was Vernunft haben wollte und hatte. Wie kitzlig hingegen ist es, mit diesen anzubinden, welche die Vernunft erheben und einschläfern, indem sie die Widersacher der Offenbarung als Widersacher des gesunden Menschenverstandes verschreien! Sie bestechen all es, was Vernunft haben will und nicht hat.« Und so weiter.

Sehr interessant ist in dieser Beziehung auch noch eine Anmerkung, die Nicolai zu Lessings früher schon erwähnter Predigt über zwei Texte macht. Der Berliner Aufklärer schreibt: »Lessing war nicht allein sehr dafür, jedem in theologischen Sachen seine, subjektive Überzeugung zu lassen, sondern – man mag es mir nun. glauben oder nicht – er wollte auch nicht, daß in der Dogmatik Änderungen gemacht würden, ob er gleich dabei den Weg zur freiesten Untersuchung offengehalten wissen wollte. Daß dies Lessings Meinung war, kann ich mit völliger Sicherheit behaupten, da ich und Moses so oft mit ihm über diesen Gegenstand disputiert haben, besonders im Jahre 1776 oder 1777, da wir ihm ernsthaft die Herausgabe der bekannten Fragmente widerrieten. Vielleicht werde ich bei einer anderen Gelegenheit Veranlassung haben auseinanderzusetzen, von welchem Gesichtspunkt er bei seiner Idee über Dogmatik und Orthodoxie eigentlich ausging und wie er von derselben erst in den letzten Jahren seines Lebens zu der Idee, daß Offenbarung für das menschliche Geschlecht nur Erziehung sei, ganz natürlich überging. Hier will ich nur so viel sagen, daß Lessings Meinung war, bei Untersuchungen die Dogmatik ganz beiseite zu legen – gleichviel, meinte er, ob sie unwidersprechlich richtig oder gar nicht da wäre – und von ganz anderen Gesichtspunkten auszugehen.« Lessings Werke, 17, 266. Unseres Wissens ist Nicolai nicht dazu gekommen, diese Gesichtspunkte an anderer Stelle zu entwickeln; aus seinen vorstehenden Äußerungen geht aber schon mit hinreichender Deutlichkeit hervor, daß Lessing im Gegensatze zu den Berliner Aufklärern, die am Dogma mit allerlei »vernünftigen« Abstrichen herumflickten und für ihr Stümperwerk mit noch fanatischerer Unduldsamkeit dieselbe Unfehlbarkeit beanspruchten, die nur je für das geschlossene System der alten Orthodoxie beansprucht worden war, das Dogma unangefochten lassen, die Religion als Privatsache betrachten, dagegen der wissenschaftlichen Forschung den freiesten Lauf lassen wollte. Wie er dann durch diese Forschung, namentlich an der Hand des Werkes von Reimarus, »ganz natürlich« dazu kam, in der Offenbarung die Erziehung, das heißt in den historischen Religionen die aufsteigenden Entwicklungsreihen des menschheitlichen Geistes zu erkennen, das haben wir in unseren bisherigen Darlegungen klarzustellen gesucht.

Fragen wir nun aber, wodurch denn den heutigen Nicolaiten ermöglicht worden sei, den geistigen Standpunkt Lessings in seinen letzten Kämpfen gar so sehr zu verrücken und den Anschein hervorzurufen, als ob diese Kämpfe ihren Schwerpunkt in einem dogmatischen Streite mit der Orthodoxie gehabt hätten, so lautet die Antwort einfach: durch die »Faulheit und Feigheit« ihrer geistigen Väter. Denn die drückten sich um den Schlag herum, den Lessing gegen sie zielte; höchstens Herr Semler, der »Schubiak«, die »impertinente Professorgans«, wie Lessing ihn mit berechtigter Erbitterung nannte, erklärte den Herausgeber der Fragmente aus anonymem Hinterhalte für Bedlam reif, oder die Berliner »Allgemeine Bibliothek« kam nach langem Zögern wie eine »armselige Blindschleiche dahergerutscht«. Dagegen zerstieß sich ein ehrlicher Orthodoxer an Lessings ehernem Schilde den Kopf, und auf das Konto dieses armen Schelms hin wird der Lessing des Fragmentenstreites als freisinniger Kulturpauker des heutigen Schlages gefeiert. Die bürgerlichen Klassen verstehen heute noch nicht einmal, was ihr getreuester Eckardt vor mehr als hundert Jahren wollte, und deshalb haben sie es auch so herrlich weit gebracht.

Lessings Erwartung nämlich, die Orthodoxie werde sich in seinen Handel mit den neumodischen Theologen nicht mischen, erfüllte sich nicht. Noch im Mai 1777 hatte er an seinen Bruder geschrieben: »Mit der gehörigen Vorsicht kann man ihrentwegen (der Orthodoxen wegen) schreiben, was man will. Nicht das, was man ihnen nimmt, sondern das, was man an dessen Stelle setzen will, bringt sie auf, und das mit Recht.« Allein während sich die angegriffenen Aufklärer um die Fragmente herumdrückten, machte die Orthodoxie sofort gegen sie mobil. Und gar so sehr konnte man ihr das nicht verargen. Was der Herausgeber der Fragmente ihr ließ, konnte sie nicht über das trösten, was die Fragmente ihr nahmen. Mit der Auferstehung Jesu, die Reimarus zu einem plumpen Taschenspielerstreiche der Jünger herabkritisierte, stand und fiel das orthodoxe Dogma, und seine Bekenner rotteten sich gegen den Tempelschänder zusammen. Es stellte sich heraus, daß Lessing, angeekelt von dem »faulen und feigen« Aufkläricht, in psychologisch leicht erklärlicher Rückwirkung der Orthodoxie eine größere Duldsamkeit und namentlich auch eine größere Klugheit zugetraut hatte, als sie besaß und nach ihren damaligen historischen Existenzbedingungen am Ende auch zu besitzen brauchte. Sie war in einem unaufhaltsamen Niedergange begriffen; die großen Kirchenlichter waren längst erloschen, und die kleinen Geister, die sich als Luthers Nachfahren gebärdeten, klammerten sich um so verzweifelter an die Buchstaben der Bibel, je heftiger der Boden unter ihren Füßen schwankte. Lessings geschichtsphilosophische Gesichtspunkte zu fassen, lag ganz außerhalb ihrer Fähigkeit; sie konnten sich nicht einmal zu dem diplomatischen Gedanken aufschwingen, daß es am Ende ratsam sei, einen Fittich preiszugeben, um den Rumpf noch eine Weile zu retten. So stürzten sie sich in mehr oder minder wilder Wut über den Fragmentisten und seinen Herausgeber her, und von ihrem besonderen Standpunkt aus auch gewiß mit vollem Recht. Aber Lessing war nicht minder in seinem Rechte, wenn er den auf ihn eindringenden Angriff abwehrte und dabei immer so in den Wald hineinrief, wie er aus dem Walde angerufen worden war. Ganz nach der Tonleiter, die er in den Antiquarischen Briefen für den Kunstrichter aufgestellt hatte: gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den Stümper; höhnisch gegen den Prahler und so bitter als möglich gegen den Kabalenmacher.

Ein Anfänger in der Tat war der Direktor Schumann in Hannover, der die von dem Fragmentisten behauptete »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf gegründete Art glauben könnten«, durch die in Jesu erfüllten Weissagungen und durch die von Jesu vollbrachten Wunder gleichwohl als möglich nachgewiesen haben wollte. Gelinde genug wies ihm Lessing in seiner haarscharfen Dialektik nach, daß, auch wenn die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen ebenso zuverlässig seien, als nur immer historische Wahrheiten sein könnten, dennoch zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten werden können, und schmeichelnd genüg wollte er sich mit dem beschränkten, aber anständigen Manne in der christlichen Liebe über die christlichen Glaubenslehren einigen.

Ein Stümper war der Superintendent Reß in Wolfenbüttel, der die zehn von dem Fragmentisten in der Auferstehungsgeschichte der Evangelien aufgedeckten Widersprüche halb durch kindische Auslegung und halb durch verlogene Verdrehung der betreffenden Textstellen beseitigen wollte. Auch ihm trat Lessing im Anfange seiner Duplik gelinde genug entgegen; hier sprach er das schöne und tiefe, zugleich das Ergebnis wie das Wesen seiner einsamen Geisteskämpfe beleuchtende Wort: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!« Aber je tiefer dann Lessing in die traurige Salbaderei seines »Nachbarn« eindrang, je mehr er abtat von dessen »eklen Mißgeburten, deren man freilich den langen Tag über nicht so viele ersäufen kann, als er die folgende Nacht wieder auszubrüten imstande ist«, um so mehr verfiel er in einen Ton, der allerdings »abschreckend und positiv« genug war.

Prahler aber und Kabalenmacher waren die hamburgischen Orthodoxen, leider auch der Hauptpastor Goeze, der bei alledem ein besseres Los verdient hätte, als im Bernstein von Lessings Polemik ein unsterbliches Insektendasein zu führen. Lessing hatte in Hamburg gute Freundschaft mit ihm gehalten und ihn gelegentlich vor dem Fragmentenstreite seinen »ehrlichen Goeze« genannt. Und ohne Zweifel war Goeze ein ehrlicher Kerl, ein ungleich besserer Mann als die Lange und die Klotz und auch die Nicolai; um seine orthodoxe Überzeugung war es ihm heiliger Ernst, für sie stand er immer auf dem Plane mit gar nicht ungeschicktem Schwerte, ihr wußte er auch, wenn es not tat, Opfer zu bringen. Ein bißchen sehr arg hat ihm Lessing mitgespielt, das ist gar keine Frage; Lessing selbst sagt wohl, daß er ihm »Evolutiones« mache, daß er seine Waffen nach seinem Gegner richten müsse und daß er nicht alles, was er streitend schreibe, lehrend schreiben würde. Heute jedes Wort Lessings gegen Goeze als richtig zu wiederholen, würde größtes Unrecht gegen Goeze sein, wenn es nicht ein noch größeres Unrecht gegen Lessing wäre. Lessing will verstanden, nicht nachgebetet sein, aber wenn Lessing als Nachwelt dem guten Goeze zweifellos manche Unbill abbitten würde, so mußte Lessing als Mitwelt trotzdem genauso gegen Goeze handeln, wie er gehandelt hat. Das ist der Punkt, den manche neueren Lessing-Forscher als Retter Goezes ebenso übersehen, wie beispielsweise Stahr übersehen hat, daß Lessings Flugschriften gegen Goeze doch nicht das wahre Bild dieses Mannes widerspiegeln. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß Goeze, wie man um seiner selbst willen mit aufrichtigem Bedauern sagen mag, als Prahler und Kabalenmacher gegen Lessing aufgetreten ist; er hat ihn auf sein Todesstündlein verwiesen, er hat mit sanftem Anwinken den Arm der weltlichen Obrigkeit auf ihn herabgerufen, er hat ihn wie einen ungezogenen Schulbuben wegen seines persönlichen Glaubens katechisiert, und alles das hatte mit der wissenschaftlichen Kritik der Evangelien durch den Fragmentisten, geschweige denn mit Lessings Gegensätzen auch nicht das geringste zu tun. Es war pfäffische Kabale, Prahlerei, Verfolgungssucht, und wenn es Goezes von ihm keineswegs verleugneter Anhang in Hamburg noch ärger trieb als er selbst, so entlastet ihn das jedenfalls nicht, selbst wenn man seinen heutigen Fürsprechern zugeben möchte, daß es ihn nicht noch mehr belastet. Lessing durfte sich das einfach nicht bieten lassen, was Goeze ihm bot, und zu seinen Vorzügen, wenn es denn wirklich ein Vorzug sein soll, hat ein Übermaß von Geduld gegen heimtückische Angriffe auch nie gehört. Gegen den Prahler und Kabalenmacher wurde er »höhnisch«, wurde er »so bitter als möglich«, und zugegeben, daß er zu höhnisch, zu bitter wurde, so hat er auf diesen Vorwurf schon die erschöpfende Antwort erteilt mit den Worten: »Gegen einen solchen Mann wäre es möglich, die geringste Achtung beizubehalten? Einem Dritten vielleicht! Aber nicht dem, nach dessen Kopfe diese Steine zielen.«

Die Winke an die weltliche Obrigkeit hatten denn auch den gewünschten Erfolg; das braunschweigische Konsistorium fiel mit Beschlagnahmen und Verboten in den kräftigen Arm, der die Gegner in hellen Haufen vor sich her trieb. Lessing ließ sich dadurch zwar nicht beirren, in der »ausländischen« Presse zu sagen, was er noch zu sagen hatte, aber da er nun einmal von einer Arbeit feiern sollte, die »er mit derjenigen frommen Verschlagenheit ohne Zweifel nicht betrieben hatte, mit der sie allein glücklich zu betreiben ist«, so hatte er in einer schlaflosen Nacht einen »närrischen Einfall«; er möchte versuchen, ob man ihn »auf seiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen«. Einen Sohn seines eintretenden Alters, den die Polemik [hat] entbinden helfen, so nennt er Nathan den Weisen, und von den Versen dieses dramatischen Gedichts sagt er, daß sie viel schlechter sein würden, wenn sie viel besser wären. Bei dieser Kritik des großen Kritikers hätte es bleiben sollen. Lessingisch durch und durch, ein bleibendes Besitztum unserer Literatur, ein kostbares Gefäß, in das die letzte, prächtig verströmende Kraft eines Heldengeistes floß, trägt Nathan doch die Spuren des Alters wie der Polemik. Es ist leider nicht ganz unwahr, wenn Jakob Grimm ihn zur Emilia steckt, wie den »Don Carlos« zum »Fiesko«. Nathan ist reich an schönen und tiefen Worten, die wir gar manches Mal freilich lieber in Lessings klassischer Prosa als in seinen holperigen Versen besitzen möchten, und einzelne Nebencharaktere wie der Derwisch, der Klosterbruder, der Patriarch, der immerhin nicht den orthodoxen Fanatiker Goeze, aber wohl den orthodoxen Fanatismus plastisch verkörpert, sind zu klassischen Gestalten geworden. Nicht zu vergessen des Herzbluts, mit dem Lessing die Szenen zwischen Nathan und Recha tränkte: es war eine der letzten Infamien der deutschen Philister an Lessing, daß sie ihm durch nichtswürdige Klatschereien den Schatten häuslichen Glücks zerstören wollten, den ihm die kindliche Liebe seiner Stieftochter Malchen schuf. Aber die gänzlich unhistorischen Voraussetzungen des Stückes und die fast ifflandische Gemütlichkeit, womit sich Jude, Sultan und Tempelherr über Toleranz unterhalten, haben dem Nathan das schlimmste Schicksal bereitet, das einem Werke von Lessing zustoßen kann; er ist zum Banner desselben breimäuligen und schwatzschweifigen Aufklärichts geworden, gegen den Lessing gerade sein gutes Schwert gezogen hatte.

Immerhin muß man sich hüten, den Wert dieses dramatischen Gedichts nach seiner heutigen Gefolgschaft abzuschätzen. Trotz alledem bleibt es der weihevolle Akkord, in dem Lessings größter Kampf ausklang. »Es wird nichts weniger als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe«, schreibt Lessing seinem Bruder. Er will damit »dem Feinde auf einer anderen Seite in die Flanke fallen«, aber er sagt auch: »Mein Stück hat mit unsern jetzigen Schwarzröcken nichts zu tun ... Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen, aber dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleibenlassen.« Lessing dichtete den Nathan unter den schwersten Bedrängnissen, in der eigenen Brust schon die Todeskrankheit, durch polizeiliche Verbote in seiner schriftstellerischen Tätigkeit gelähmt, gebrochen durch den Tod seiner geliebten Frau, von Sorgen um das tägliche Brot so geplagt, daß er über die Subskription auf sein Gedicht schrieb, vielleicht sei das Pferd schon verhungert, ehe der Hafer reif geworden. Und aus all diesem Elend rang sich sein hoher Geist zu der heiteren Naivität empor, die Goethe bereits an dem Nathan rühmte. Den Besten der Zeitgenossen tat das Werk genug, ja, es wirkte auf sie wie eine überwältigende Offenbarung. »Lange, lange«, so schrieb Elise Reimarus, »muß kein Trunk Wassers in einer dürren Sandwüste so verschluckt worden sein, so gelabt haben als dieser uns ... So ein Jude, so ein Sultan, so ein Tempelherr, so eine Recha, Sittah – was für Menschen! Wenn es deren viele von ordentlichen Eltern geboren gäbe, wer möchte nicht so lieb auf Erden als im Himmel leben, da, wie Sie ganz recht bemerken, der Mensch dem Menschen doch immer lieber bleibt als der Engel.« Und trotz aller Mängel, die von berühmten und unberühmten Kritikern dem Drama nachgesagt worden sind, wird seine kürzeste und treffendste Kritik bleiben, was Herder an Lessing schrieb: »Ich sage Ihnen kein Wort Lob über das Stück; das Werk lobt den Meister, und dies ist Manneswerk.«

Kein Mensch, auch der klügste nicht, kann über den Gedankenkreis seiner Zeit hinaus; was wir auf dem heutigen Standpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis wissen, daß sich nämlich in den historischen Religionen immer nur die ökonomischen Entwicklungskämpfe der Menschheit widerspiegeln, das konnte Lessing höchstens, wie ein Satz in seinen Freimaurergesprächen zeigt, ganz von fern ahnen. Vom bürgerlich-ideologischen Standpunkte aus sah Lessing in dem Hader der Religionen nicht die Wirkung, sondern die Ursache der sozialen Kämpfe; er meinte: »Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland, wo dieses Stück schon itzt aufgeführt werden könnte. Aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird.« Nun, schon zwei Jahre nach seinem Tode wurde Nathan in Berlin aufgeführt, und was war es denn mehr? Deshalb benutzte Friedrichs aufgeklärter Despotismus die positiven Religionen nicht weniger als Machtmittel seiner Regierung; deshalb gediehen die jüdischen Wucherer Ephraim und Itzig nicht weniger zur »Freiheit von christlichen Bankiers«, während der jüdische Philosoph Moses nur eben eine rechtlose Duldung genoß und seine Tochter Recha nicht einmal hatte, wo sie nach seinem Tode ihr Haupt hinlegen durfte. Aber je weniger Lessing nach dem Erkenntnisvermögen seiner Zeit auf den tiefsten Grund der Dinge blicken konnte, um so bewundernswerter ist die geistige Klarheit, womit er praktisch den Standpunkt vertrat, über den die Besten unserer Zeit nicht hinausgekommen sind und auch gar nicht hinauskommen wollen, auf den die halben Aufklärer unserer Tage so wenig gelangen können wie ihre Vorfahren vor hundert Jahren: den Standpunkt, daß der religiöse Glaube die private Sache jedes einzelnen Menschen sei, um derentwillen er schlechterdings nicht behelligt werden dürfe, aber daß ebendeshalb auch alle Religion, die sich zum Kappzaum der wissenschaftlichen Forschung oder zur Waffe der sozialen Unterdrückung mache, rücksichtslos bekämpft werden müsse, sie sei welche sie wolle. Und wenn der Jüngling alle geoffenbarten Religionen gleich wahr und gleich falsch genannt hatte, so gab der alternde Mann in demselben Gedankengange der Parabel von den drei Ringen, die schon seit den Tagen der Kreuzzüge durch die Weltliteratur lief, die bezeichnende Wendung: Kein Ring ist der echte, der echte Ring vermutlich ging verloren, aber wer seinen Ring den echten glaubt, der eifre, die Kraft des Steins in seinem Ring mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun an den Tag zu legen.

Nichts törichter daher, als im Nathan eine Verunglimpfung des Christentums oder gar eine Verherrlichung des Judentums zu suchen. Es ist ein schnöder Verrat an Lessing, wenn der philosemitische Kapitalismus sich unter dem Banner des Nathan zu scharen versucht. Lessing nahm den Juden einfach aus der Novelle des Boccaccio, die ihm die Parabel von den drei Ringen lieferte. Er hat. wie jede soziale Unterdrückung, so die soziale Unterdrückung der Juden bekämpft, aber die heutzutage der Menschheit von der »Freisinnigen Zeitung« auferlegte Verpflichtung, in jedem jüdischen Börsenjobber lieber gleich einen Erzengel Gabriel zu verehren, hat seine freie Seele noch nicht geahnt. Er kannte neben den Licht- auch die Schattenseiten des jüdischen Charakters sehr wohl, und über die jüdische Unduldsamkeit hat er genau mit derselben Verachtung gesprochen wie über die pfäffische. Aber mit dem politischen Takte eines rechten Kämpfers wußte er, daß man die Unterdrückten nicht striegeln darf, solange man die Unterdrücker bekämpfen muß. So sparte er sich die Kritik des Judentums, die andere große Denker und Dichter unserer klassischen Literatur sich nicht sparen zu sollen glaubten. Dafür prangen ihre Namen denn nun auch in der Leporelloliste des Antisemitismus, während es Lessings bleibender Ruhm ist, daß sich weder die Antisemiten noch die Philosemiten mit irgendwelchem Recht auf ihn berufen dürfen.

Die tiefe Logik, die in der letzten Wendung von Lessings Leben lag, macht sich auch darin geltend, daß er die dauernden Lorbeeren des Fragmentenstreits da ernten sollte, wo er in richtigem Instinkte den Kampf aufgenommen hatte, wo er den Kant und Fichte und Hegel wirklich die Bahn brach. Er selbst spricht von seinen Streitschriften gegen die Orthodoxie, so klassische Meisterwerke der Polemik sie in ihrer Art waren, als von »Katzbalgereien« und »Schnurren«. Dagegen nannte er in einem Briefe an seinen Bruder seine »Neue Hypothese über die Evangelisten, als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet«, mit einem bei ihm einzig dastehenden Selbstlobe das Gründlichste und Sinnreichste, was er geschrieben zu haben glaube, und ein in dieser Frage so berufener Urteiler wie David Strauß bestätigt, daß dies »Schriftchen von zwei Bogen die fruchtbaren Keime aller späteren Forschungen über den Gegenstand enthalte« Strauß, Leben Jesu, 1, 102.. Lessing legte den festen Boden der Evangelienkritik, indem er zwischen den drei synoptischen Evangelien und dem Evangelium Johannis unterschied und sowohl über die Entstehung und die gegenseitigen Beziehungen der nach Matthäus, Markus, Lukas benannten Evangelien eine Reihe scharfsinniger Bemerkungen machte als auch in bündiger Weise darlegte, daß erst mit dem vierten Evangelium das Christentum aus einer bloßen jüdischen Sekte in den Rang einer Weltreligion übergetreten sei. Wir sahen schon, daß Lessing die Gelehrsamkeit und Gründlichkeit des Fragmentisten sehr hoch schätzte, aber nicht etwa taktisch, sondern prinzipiell diesem Meister »mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd« gegenüberstand. So treffend der Fragmentist die einzelnen Widersprüche in der von den Evangelien berichteten Auferstehungsgeschichte aufgedeckt hatte, so weit schoß er daneben, wenn er meinte, daß sich die Jünger, die in Jesu bis dahin einen weltlichen Messias gesehen hätten, nach seinem wider ihr Erwarten erfolgten Tode aus Not und in einer Art frommen Betrugs ein neues Religionssystem zurechtgezimmert hätten. Einer so oberflächlich-rationalistischen Auffassung war Lessing seinerseits unfähig; er sah in den positiven Religionen ein naturgemäßes Erzeugnis und eine unentbehrliche Bedingung der menschlichen Geistesentwicklung, und Zeller sagt mit Recht, daß er schon den Grundgedanken von Hegels Religionsphilosophie vertreten habe. Wenn Hegel die Aufklärung eine bewußte Lüge nennt, insoweit sie von »Pfaffenbetrug« und »Volkstäuschung« rede, so hat Lessing freilich so grob und so ungerecht nicht über den Fragmentisten geurteilt, der es in seiner Weise durchaus ehrlich meinte, aber es sind lessingische Gedanken, wenn Hegel ausführt, daß »den Glauben die historischen Zeugnisse – das Wissen gemeiner wirklicher Geschichten nichts angehe«, daß es »dem Glauben nicht einfalle, an solche Geschichten, an solche Zufälligkeiten und Zeugnisse seine Gewißheit zu knüpfen«. Genau dies war der Standpunkt, den Lessing sowohl gegenüber der Aufklärung, der wirklichen eines Reimarus und der scheinbaren eines Nicolai, als auch gegenüber der Orthodoxie vertrat, und von diesem Standpunkte aus konnte er mit voller Wahrheit sagen, was ihm neuere Lessing-Forscher gern als Humbug aufmutzen möchten, daß er es mit der christlichen Religion besser meine als Goeze und Kompanie. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 418 ff.

Am ausführlichsten hat Lessing seinen religionsphilosophischen Standpunkt in der Erziehung des Menschengeschlechtes entwickelt, und, wie wir schon sahen, gleichfalls im Gegensatze zu Reimarus. Die geoffenbarten Religionen sind ein Erziehungsmittel des Menschengeschlechts gewesen; dieser Nachweis wird an der jüdischen und der christlichen Religion geführt. Man darf den meisterhaft geschriebenen Aufsatz natürlich nicht vom Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus kritisieren, und man darf noch viel weniger seinen Schwerpunkt in der am Schlusse auftauchenden Hypothese der Seelenwanderung suchen. Dieser Schwerpunkt liegt vielmehr in dem Versuche, gerade aus der historischen Berechtigung der geoffenbarten Religionen die Notwendigkeit ihres historischen Verfalls zu erweisen. »Warum wollen wir«, so fragt Lessing, »in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedenorts einzig und allein entwickeln können und noch ferner entwickeln soll, als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele, nur bei unseren Irrtümern nicht?« Aber »die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll ... Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet und der menschlichen Gesellschaft nachteilig geworden ... Nicht den Spekulationen – dem Unsinne, der Tyrannei, diesen Spekulationen zu steuern, Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen.« Vor allem an der Unsterblichkeitsfrage verfolgte Lessing die Ausbildung der geoffenbarten Wahrheiten in Vernunftwahrheiten. Die jüdische Religion wußte nichts von der Unsterblichkeit der Seele, weil das rohe und im Denken ungeübte Volk der Juden nur durch unmittelbare, sinnliche Belohnungen und Strafen erzogen werden konnte. Die christliche Religion lehrte entwickelte Völker, sich von edleren Beweggründen leiten zu lassen; sie erzog zur inneren Reinigkeit des Herzens durch den Hinblick auf ein anderes wahres, nach diesem Leben zu gewärtigendes Leben. Aber nun kommt die Zeit der Vollendung, die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums, »da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer besseren Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die inneren besseren Belohnungen desselben zu erkennen«. Wie der Grundgedanke von Hegels Religionsphilosophie, so ist hier auch schon der Grundgedanke der Kantischen Sittenlehre vertreten, und wenn diese tief durchdachte Arbeit gleichwohl mit der phantastischen Perspektive der Seelenwanderung endet, so spiegelte sich darin nur das deutsche Elend wider. Ein so weltfreudiger Mensch wie Lessing wollte schlechterdings nichts von einem zukünftigen Leben wissen; in einem seiner hinterlassenen Fragmente heißt es: »Über die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Toren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht ebenso ruhig abwarten als einen künftigen Tag? Dieser Grund gegen die Astrologie ist ein Grund gegen alle geoffenbarte Religion. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Kunst gäbe, das Zukünftige zu wissen, so sollten wir diese Kunst lieber nicht lernen. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Religion gäbe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtet, so sollten wir lieber dieser Religion kein Gehör geben.« Aber die notwendige Voraussetzung dieser Weltfreudigkeit war, daß »der Mensch einer immer besseren Zukunft sich überzeugt fühlet«, und dieser Überzeugung konnte in dem gesegneten Deutschland nur leben, wer mit Lessing hoffend fragte: »Was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?«

Lessings Philosophie, um überhaupt davon zu reden, war ebensowenig systematisch wie seine Theologie. Die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands verschloß ihm das Verständnis des Materialismus, und er war eine viel zu energische, rasche, auf den vollen Genuß des Lebens gerichtete Natur, um mit Behagen an den Spinneweben der idealistischen Philosophie zu spinnen. Sein philosophischer Lebenslauf ging von Leibniz zu Spinoza. Vor- oder rückwärts, wie man will. Denn Leibniz, der eine große spekulative Begabung mit der seltsamsten Anpassungsfähigkeit an den deutschen Duodezdespotismus verband, war »im Herzen selbst ein Spinozist«, wie Lessing treffend sagte; mit seiner Monadenlehre und prästabilierten Harmonie hatte er nur seinen Spinozismus vor den lauernden Augen der Orthodoxie notdürftig verkleidet. Durch diese Schale wieder auf den Kern zu dringen, durch die täuschenden Verhüllungen auf die spinozistischen Grundgedanken: Einheit alles Seienden, Gesetzmäßigkeit alles Geschehens, Wesenseinheit von Geist und Natur zurückzugehen, war Lessings philosophische Entwicklung, die sich aus seinen philosophischen Gedankenspänen, so unsystematisch sie sein mögen, vollkommen sicher nachweisen ließe, wenn auch nicht Jacobis durchaus glaubwürdiger Bericht über Lessings mündliches Bekenntnis zum Spinozismus vorläge. Lessing gelangte bis an die Grenze, die den Idealismus von dem Materialismus trennt; darüber hinauszugehen gestattete ihm im letzten Grunde die Verkommenheit der deutschen Zustände nicht.

Sie auch trieb ihn in die Höhe jenes hellen, aber etwas luftigen Humanismus, der seine Freimaurergespräche: Ernst und Falk, beseelt. Es ist natürlich dummes Zeug, wenn Stahr aus diesen wiederum meisterhaft geschriebenen Dialogen eine unwiderlegliche Zurückweisung des Sozialismus heraus-, dagegen eine Verherrlichung der Anarchie, die nach Stahr zu unserer Zeit Proudhon und – Karl Vogt am glorreichsten vertreten haben, hineinlesen will. Zu solchem sinnlosen Durcheinanderwürfeln von Begriffen und Namen muß die ideologische Geschichtsschreibung ihrer inneren Natur nach immer gelangen; vom Standpunkt der wissenschaftlichen Geschichtsforschung aus läßt sich nur sagen, daß Lessings Freimaurergespräche unter herber Kritik des Zerrbildes, zu dem sich der humanistische Gedanke in dem Freimaurerorden entwickelt hat, ein ideales, von allem konfessionellen, nationalen, sozialen Unterschiede absehendes, den Menschen im Menschen liebendes Freimaurertum als das edelste und erstrebenswerteste Ziel der menschlichen Entwicklung hinstellen. Lessing schlägt hier zuerst den Flug ein, den die großen Denker und Dichter des deutschen Bürgertums aus dem hoffnungslosen Wirrsal des deutschen Elends in die Ätherhöhen der Idee genommen haben, weil sie ihn nehmen mußten, weil nur so noch eine Aussicht auf die Emanzipation der bürgerlichen Klassen gerettet werden konnte. Aus dieser Höhe hat dann Lessing noch mehr vielleicht als die anderen ihm ebenbürtigen Ritter vom Geiste manch weiten Blick in die Zukunft getan, so wenn Falk den, wie Ernst sagt, »gewaltigen Schritt« tut, zu folgern, daß die Staaten »ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen« haben. Daraus könnte man mit viel größerem Rechte ein Bekenntnis zur materialistischen Geschichtsauffassung machen, als wenn Stahr »seinen« Lessing die Notwendigkeit der Klassenunterschiede »unwiderleglich« beweisen lassen will, weil Lessing für die Zustände seiner Zeit die verheerenden Folgen dieser Unterschiede nicht anders als durch eine ideale Freimaurerei zu beseitigen wußte. Aber man darf der ideologischen Geschichtsschreibung keine Zugeständnisse machen, und wenn Lessing in jenem merkwürdigen Satze die Verschiedenheit der Religionen auf die Verschiedenheit der ökonomischen Zustände zurückzuführen scheint, so lag darin noch nicht der bewußte Anfang einer neuen Weltanschauung, sondern einer jener genialen Gedankenblitze vor, wie sie bei den vorgeschrittensten Persönlichkeiten jedes historischen Zeitalters wiederzukehren pflegen und – namentlich was den Einfluß des Klimas auf die geistige Entwicklung der Völker anbetrifft – schon von Montesquieu und Winckelmann in die Welt geworfen worden waren. Stahr behauptet auch, daß Lessing die Freimaurergespräche »seinem Fürsten« gewidmet habe, und Herr Christian Groß ist vollends so »unklar, ja im tiefsten Grunde unwahr«, aus dem »Fürsten« Stahrs gar noch Lessings »hohen Gönner und Landesherrn« zu machen. Darunter geht es nun einmal nicht bei den modernen Byzantinern, und wenn es sich auch nur um ein längst vermodertes Despötlein handelt. Der Ursprung des albernen Klatsches ist wohl bei K. G. Lessing und den Berliner Aufklärern zu suchen, die gleich nach dem Erscheinen der Freimaurergespräche von einer angeblichen Kriecherei Lessings zischelten, weil »Ernst und Falk« dem »Herzog Ferdinand« gewidmet war, von dem Lessing in ein paar verbindlichen Zeilen die »Erlaubnis erwartete, noch tiefer zu schöpfen«. Das ganze Gemunkel läuft auf eine Personenverwechslung hinaus. Der »Herzog Ferdinand« war nämlich eine ganz andere Persönlichkeit als der Erbprinz und spätere Herzog Karl Wilhelm Ferdinand. Herzog Ferdinand war ein Oheim des Erbprinzen, ein apanagierter, politisch gänzlich einflußloser Welfenprinz, daneben aber auch ein berühmter Feldherr des Siebenjährigen Krieges, der nach dem Hubertusburger Frieden teils aus Ekel vor dem Garnisondienst, teils aus Abscheu über die friderizianische Regie aus preußischen Diensten geschieden war und später den ihm von der englischen Regierung in dem Kriege gegen die amerikanischen Kolonien angebotenen Oberbefehl ablehnte, also einer jener freimütigen und wackeren Soldaten, für die Lessing immer etwas übrig hatte. Es entsprach durchaus nur seiner eigenen, freimütig-wackeren Denkungsart, wenn er, selbst Freimaurer, seine Freimaurergespräche gerade dem Herzoge Ferdinand als dem Großmeister der norddeutschen Logen widmete, denn seine Widmung nahm seiner Kritik der Freimaurerei jeden Schein der Gehässigkeit, während seine Kritik wieder seiner Widmung jeden Schein der Schmeichelei nahm.

Gerade dadurch, daß Lessing in seiner letzten Periode ebenso wie nach ihm Goethe und Schiller, Kant und Fichte und Hegel den »Widerstand der stumpfen Welt« nur durch einen idealen Humanismus zu besiegen gedachte, zeigt er, wie ferne er jeder materialistischen Anschauung stand. Aber sowenig auf dem in seinen Freimaurergesprächen gezeichneten Wege die freie Menschheit erreicht werden sollte, sosehr handelte er im Interesse der bürgerlichen Klassen, indem er diesen Weg einschlug, denn auf keinem anderen war das deutsche Bürgertum als ein die weltgeschichtliche Entwicklung mitbestimmender Faktor noch zu retten. In Deutschland konnte noch die bürgerliche Philosophie eine Weltmacht werden, aber nimmermehr die bürgerliche Politik. Nicht als ob Lessing deren jemals vergessen hätte! Gerade aus den letzten Jahren seines Lebens liegen noch herrliche Zeugnisse seiner politischen Anschauungen vor. Wie treffend geißelt er im Nathan jene in unseren Tagen zur jämmerlichsten Liebedienerei entartete Illusion, die sich mit dem Despotismus abfindet, weil dieser oder jener Despot von weitem etwa einem Biedermann ähnlich sieht, mit den Worten des Derwischs:

»Ei was! – Es wär' nicht Geckerei,
Bei Hunderttausenden die Menschen drücken,
Ausmergeln, plündern, martern, würgen und
Ein Menschenfreund an einzeln scheinen wollen?
...........................Was? es wäre
Nicht Geckerei, an solchen Geckereien
Die gute Seite dennoch auszuspüren,
Um Anteil, dieser guten Seite wegen,
An dieser Geckerei zu nehmen?«

Wie blicken die Spartakus-Fragmente dem bürgerlichen Freiheitsbegriffe schon durch Herz und Nieren, sowohl der lakonische Monolog des Spartakus: »Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?« als auch der nicht minder lakonische Dialog zwischen dem Konsul und Spartakus:

» Konsul: Ich höre, du philosophierst, Spartakus?

Spartakus: Was ist das: Du philosophierst? – Doch ich erinnere mich – Ihr habt den Menschenverstand in die Schule verwiesen, um ihn lächerlich machen zu können – So du nicht willst, daß ich philosophieren soll – philosophieren – es macht mich lachen – nun gut, wir wollen fechten!«

Dann das köstliche Gespräch über die Mönche und Soldaten, die Schnecken und Mäuse, die des Landmanns Saaten vernichten, die als »Beschützer des Staats«, als »Stützen der Kirche« nur Gimpel locken können. Weiter der Aufsatz über die »deutsche Freiheit, von der man itzt überall eine sehr geringe Meinung hat«. Wenn ein französischer Schriftsteller »vorgibt, daß alle deutschen Untertanen Serfs wären, die ihre Herren schinden können, wie sie wollen«, so findet Lessing: »Wenn er von dem redet, was geschieht, so dürfte er fast recht haben.« Aber er findet zugleich, daß dieses die Einrichtung des deutschen Staates gar nicht sei. In den ältesten Zeiten, von denen Tacitus schreibe, hätten die Könige und Herzoge der Deutschen ohne Zuziehung des Volkes nichts Wichtiges unternehmen dürfen. Ebenso seien im Mittelalter die Landstände zu allen wichtigen Regierungsgeschäften gezogen [worden], namentlich wenn neue Steuern auf gelegt oder Kriege beschlossen werden sollten. Wenn dem nicht mehr so sei, wenn »fast überall geworbene und der Landesherrschaft allein zu Befehl stehende Soldaten unterhalten werden«, so sieht Lessing die Ursache dieser Veränderung mit dem Historiker Strube namentlich auch darin, daß »man den auf Landtagen das meiste vermögenden Adel dadurch zur Einwilligung bewegt habe, daß ihm die alte Steuerfreiheit seiner Güter gelassen, er selbst aber und die Seinigen mit Zivil- und Militärämtern versehen worden«. Aber wenn Lessing die »historische« Einsicht Strubes lobt, so tadelt er die »politische« Ansicht dieses Schriftstellers, der das Unrecht von heute durch das Unrecht von gestern zu rechtfertigen suchte, als »desto schlechter und sklavischer«. Er fragt seinerseits: »Wenn aber das geschieht, sollte es auch geschehen? Sollten wir nicht wenigstens in unseren Schriften unaufhörlich gegen diese ungerechten Veränderungen protestieren, anstatt durch schmeichelnde Nachsicht und Entschuldigung der Großen ihre Tathandlungen Recht sprechen?« Und so weiter.

Trotz dieser klaren Erkenntnis in rein politischen Fragen, das Wort im engeren und engsten Sinne genommen, wußte Lessing, weshalb er seine Perlen nicht mehr vor das deutsche Bürgertum warf. Wie richtig ihn dabei sein bürgerliches Klassenbewußtsein leitete, zeigt das Schicksal der braven Männer, die es gleichwohl auf politischem Wege versuchten. Sie blieben mitten im Sumpfe stecken: Möser, der jüngere Moser, Schlözer und wie sie sonst noch hießen. Neben vielem Trefflichen, was sie schrieben, verteidigte Möser die Leibeigenschaft, schalt Moser über den »Frevel«, das göttliche Recht der Fürsten anzutasten, erklärte es Schlözer für eine »lächerliche Einbildung«, die Ansichten einer Behörde beurteilen zu wollen. Politisch war eben nichts anzufangen mit den bürgerlichen Klassen in Deutschland zu einer Zeit, da ein bürgerlicher Autor schrieb: »Schwerlich wird jemals ein Genie aufstehen, dessen Befehle unsern Gehorsam ermüden könnten«, und ein anderer in einer Abhandlung über den Vaterlandsstolz spottete: »Träume nicht von Freiheit, solange wir auf jeden Wink wie Cäsars Knechte ausrufen:

Gegen das Leben der Brüder, ja gegen die eigene Mutter,
Wenn er's befiehlt, wir führen den Streich, ob die Hand sich auch sträube«,

was denn freilich ja wohl heute schon wieder als der Gipfel »deutscher Freiheit« gelten soll.

Konnte Lessing doch nicht einmal auf seinem idealen Fluge das deutsche Bürgertum mit sich reißen! Ja, nicht einmal die geistige Vorhut dieses Bürgertums! In den theologischen Kämpfen seiner letzten Jahre standen ihm brieflich wenigstens Herder und Moses bei, aber als nach Lessings Tode die betreffenden Briefe veröffentlicht werden sollten, schrieb Herder entrüstet: »Welche Anmutung, mich in die Angelegenheit zu verflechten!« und der edle Moses, das angebliche Urbild des Nathan, erklärte gleichfalls nach Lessings Tode wider die Wahrheit, er habe die Schrift von Reimarus nie gelesen und er habe Lessings Zänkereien nie um der Sache, sondern nur um der eigentümlichen Art und Weise willen angesehen. Wie tief erschüttert angesichts solcher Felonie das Vertrauen, mit dem sich Lessing noch wenige Wochen vor seinem Tode zu diesem ältesten Freunde mit der Bitte um ein schriftliches Lebenszeichen flüchtet: »Und wahrlich, lieber Freund, ich brauche so ein Briefchen von Zeit zu Zeit sehr nötig, wenn ich nicht ganz mißmütig werden soll. Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen Leuten zu zeigen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist, wenn nicht tötend, doch erstarrend ... Ach, lieber Freund, diese Szene ist aus! Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen!« So schrieb Lessing am 19. Dezember 1780 aus Wolfenbüttel, und am 15. Februar 1781 hat er bei einem Besuch in Braunschweig die müden Augen für immer geschlossen.


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