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VI. Lessing im Siebenjährigen Kriege

Als der Frühlingssänger Kleist, um preußische Rekruten zu werben, nach Zürich kam, schrieb er begeistert an seinen Gleim über den Ort, der »unvergleichlich« sei nicht nur wegen seiner »uniquen« Lage, sondern auch wegen der »guten und aufgeweckten Menschen«. »Statt daß man in dem großen Berlin kaum drei bis vier Leute von Genie und Geschmack antrifft, trifft man in dem kleinen Zürich mehr als zwanzig bis dreißig derselben an.« Er setzt hinzu: »Es sind zwar nicht alle Ramlers«, und kennzeichnet damit den Höhepunkt dessen, was 1755 in Berlin Genie und Geschmack war.

Und eben die gleiche Empfindung einer trostlosen Öde mag Lessings Entschluß gereift haben, Berlin zu verlassen. Er hatte die wenigen Funken aus dem Kiesel geschlagen, die etwa darin schlummerten, und vielleicht mochte der Druck und Zwang des preußischen Lebens sein bürgerliches Klassenbewußtsein geschärft, die geistige Wüste von Berlin die seinem beweglichen Geiste immer naheliegende Gefahr der Zerstreuung ein wenig gemindert haben. An diesem »entscheidenden Anstoße« mag sich der patriotische Stolz erfreuen, aber mehr soll er uns doch lieber nicht aufreden wollen. Eine der Ähnlichkeiten zwischen Lessing und Marx besteht darin, daß sie, in ihren öffentlichen Kämpfen von einer Rücksichtslosigkeit, die den feigen Zeitgenossen unheimlich erschien, eine tiefe Bescheidenheit besaßen, die sie höchst ungern von ihren eigenen Personen sprechen ließ; selbst aus den vertrauten Briefen Lessings ist selten ein Aufschluß über die Beweggründe seiner persönlichen Entschlüsse zu gewinnen. Um so deutlicher sprechen dann freilich seine Werke, und – der Verfasser der Miß Sara Sampson stand auf einer Höhe, die ihm das Berliner Leben ekel, schal und unersprießlich erscheinen lassen mußte. Was konnten dem zum Manne herangereiften Jünglinge die vierthalb »Genies« von Berlin bieten? Zwar dieser weltfreudige Mensch hungerte so nach Menschen, daß er aus jedem Menschen noch etwas zu machen suchte; so aus dem hämischen Schwachkopfe Sulzer, den er lieber »inkonsequent« als »falsch« nennen wollte, so aus dem trockenen Versdrechsler Ramler, dem er beim Becher, wie Ramler selbst bezeugt, ein »gelinder, nachgebender, lustiger Gesellschafter« war. Aber was konnten sie ihm für den Kampf seines Lebens sein, sie und selbst die beiden jungen Berliner, in denen Lessing sozusagen seine Schüler erblicken durfte?

Sozusagen – denn nur eine in den allgemeinsten und dünnsten Kategorien geistiger Begriffe sich umtreibende Geschichtsbetrachtung kann Moses Mendelssohn und Nicolai in einem Atem mit Lessing nennen. Diese Männer mag Herr Erich Schmidt, wenn er sonst will, die »religiös und politisch Liberalen«, die Lasker und Eugen Richter ihrer Zeit nennen, aber ebendeshalb trennte sie eine Welt von Lessing. Moses ist immerhin eine gute Strecke mit ihm gegangen, etwa bis in die Tage des Laokoon, zu dem er manches beigesteuert hat; er war ein bescheidenes Licht, aber ein guter Mensch von rührender Anhänglichkeit, dem im buchstäblichen Sinne des Worts das Herz brach, als er – in seiner glücklichen Blindheit erst einige Jahre nach Lessings Tode – endlich entdeckte, wie weit sich sein bewunderter Freund schon lange vor seinem Tode von ihm entfernt hatte. Alle Achtung vor dem, was Moses für die Emanzipation seiner »Nation« getan oder doch zu tun versucht hat, denn die Unduldsamkeit der Juden selbst setzte ihm nicht weniger zu als der friderizianische Despotismus. Nur daß er auch in diesen Emanzipatiorisbestrebungen, abgesehen von dem ungleich beschränkteren Schauplatze, in Halbheit und Zaghaftigkeit weit hinter Lessing zurückblieb! Er war nicht ein Freier durch und durch wie Lessing, sondern ein frei Gewordener, dem noch bei jedem Schritte die zerbrochene Kette mit verräterischem Klirren nachschleifte. Eine Art Lasker in der Tat: frei von den Lastern seiner »Nation«, aber voll von befangener Selbstgefälligkeit über diese Freiheit. Ein sehr idealisierter Lasker bei alledem, denn wenn beide kein Geld mehr auf Pfänder liehen, so eiferte Moses deshalb um so mehr gegen die Ephraim und Itzig, die großen Wucherer der damaligen Zeit, während Lasker aus seiner Enthaltsamkeit einen wehmütigen Glanz der Entsagung über die verrufensten Gründerhäuser der Gegenwart zu verbreiten suchte. Politisch ähnelten sich beide mit ihrer halben und schwankenden Opposition gegen den Despotismus, aber mit seiner kauderwelschen Philosophie stand Lasker wieder tief unter Moses, der ein sauberer Popularphilosoph der Leibniz-Wolffischen Schule war. In ihre Gewebe eingesponnen, stand er dem Leben viel ferner als sein großer Freund, dagegen als Lessing – welch ein Streber! – mit dem 1754 veröffentlichten Schriftchen »Pope ein Metaphysiker!« der friderizianischen Akademie eine schallende Ohrfeige für eine alberne Preisfrage erteilte, durch die Maupertuis dem Deutschen Leibniz einen neidischen Seitenhieb zu versetzen gedachte, da hat Moses ihm den philosophischen Stoff geliefert.

Noch viel weniger als Moses darf Nicolai im Gefolge von Lessing erscheinen. Seiner eigenen Berufung haben die »Xenien« von Goethe und Schiller schon die treffende Abfertigung entgegengesetzt:

»Nenne Lessing nur nicht! Der Gute hat vieles gelitten,
Und in des Märtyrers Kranz warst du ein schrecklicher Dorn.«

Nur in seinen ersten Anfängen hat Nicolai eine gewisse Anregung von Lessing erhalten, aber in dem harten und trockenen Boden seines Geistes wucherte der empfangene Keim höchstens zu einem verkrüppelten Unterholz auf. Wie das Zerrbild dem Bilde; so gleicht Nicolai im besten Falle dem wirklichen Lessing, wenngleich er dem Lessing der bürgerlichen Literaturgeschichte zum Muster gesessen zu haben scheint. Sein »gnadenhungriges« Rufen nach Fürstengunst verspottete schon Herder. Verbohrter Preuße, sah Nicolai in der Idee eines deutschen Nationalgeistes ein »politisches Unding«, und einen »hämischen Parteizweck«. Er war der erste Eingeborene des Berliner Philistertums, der es zu literarisch-politischem Einflüsse brachte, und wie seine beschränkte und verkümmerte Sonderart sich aus dem mütterlichen Boden erklärt, so hat sie ausdörrend auf diesen Boden zurückgewirkt, über den die Lessing und die Fichte und die Hegel nach Lassalles treffendem Ausdrucke in der Tat wie die Kraniche dahingeflogen sind. Betriebsam und rührig in seiner Art, wollte Nicolai, wie sein bewundertes Vorbild Friedrich, gern erobernd in Deutschland vordringen, aber was in Deutschland Geist und Kraft und Leben besaß, schlug mit Händen und Füßen gegen den bösen Nickel aus. So Herder und Goethe und Schiller, so Kant und Fichte und Schelling, so die beiden Schlegel und Tieck. Wie Herr Erich Schmidt mit einem ganz guten Worte sagt: Auf Nicolai regneten »Prügel von allen Seiten«. In diesem erquicklichen Umstände wie in vielem sehr Unerquicklichem: in dem schäbigen Angeifern alles Bedeutenden, Großen, Neuen, in der verbohrten Unduldsamkeit eines faulen und feigen Aufklärichts, in dem Cliquen- und Koteriemachen, war Nicolai der Eugen Richter seiner Zeit; Jedennoch darf man nicht übersehen, daß die kapitalistische Korruption damals ein Embryo war gegen den Riesen von heute, und wenn Nicolais spießbürgerliche Ehrbarkeit die Saaten seines Geistes in hohes Unkraut geschossen sehen könnte, so würde er vielleicht doch zum ersten Male an seiner Unfehlbarkeit zweifeln. Aber deshalb hängt alles geistige Bourgeoisgewächs, das in Berlin mit »seinem« Lessing prahlt, nicht weniger an Nickels Rockschößen, wie denn nicht Gotthold Ephraim, sondern Karl Gotthelf Lessing, der Großvater der »Vossischen. Zeitung«, sein wirklicher Geistesverwandter war.

Nach alledem begreift sich, daß der Boden Berlins unter Lessings Füßen brannte, als er sich zu einer selbständigen Stellung im deutschen Geistesleben emporgearbeitet hatte. Er kehrte nach Leipzig zurück mit dem lebhaften Wunsche, die große Welt kennenzulernen, und das Glück schien ihm günstig, als der junge Winkler, ein reicher Patrizier von Leipzig, ihn auf mehrere Jahre zu seinem Begleiter auf einer Reise durch Europa wählte. Sie brachen im Mai 1756 auf, aber in Amsterdam, von wo sie im September nach England gehen wollten, traf sie die Nachricht vom Ausbruche des Siebenjährigen Krieges, und besorgt um seine Schätze eilte Winkler nach Leipzig zurück. Lessing scheint das Mißgeschick schwer empfunden zu haben, aber vielleicht ersparte die große Enttäuschung ihm eine größere, denn zum Begleiter eines eigensinnigen Geldprotzen taugte er nun schon gar nicht, und sehr bald nach der Rückkehr überwarf er sich völlig mit Winkler.

Auf Lessings Stellung zum Siebenjährigen Kriege sind bereits in dem ersten Teile dieser Darstellung einige Streiflichter gefallen. Dieser Kabinettskrieg ging die bürgerlichen Klassen als solche nichts an, und Lessing war am wenigsten geneigt, sich als Partei in den »blutigen Prozeß zwischen unabhängigen Häuptern« zu mischen. Aber sein Klassenbewußtsein war schon viel zu sehr entwickelt, um nicht zu erkennen, daß die bürgerlichen Klassen die Zeche des Krieges zu zahlen hatten, und so haßte er den Krieg als ein unseliges Ding, das die Musen verscheucht, und in einem Lande, wo sie nicht recht viele, recht feurige Freunde haben, auf sehr lange Zeit verscheucht. Dieser bürgerliche Standpunkt war aber zugleich der nationale, der deutsche, und diejenigen bürgerlichen Historiker, die von rechts bis links, von Scherer bis Scherr, Lessings Mangel an Patriotismus und Vaterlandsliebe beklagen, weil ihn einmal das wütende Geheule des würdigen Gleim gegen Deutsche, mit denen der König von Preußen zufällig Krieg führte, ernstlich verdroß, sollten billigerweise mindestens doch auch den schon ein Jahr früher geschriebenen Brief Lessings erwähnen, worin er Gleim beschwor, bei der Besetzung Halberstadts durch französische Truppen ja den Stolz und die Würde eines Deutschen zu zeigen. »Und von Voltaire selbst müssen Sie tun, als ob Sie weiter nichts als seine dummen Streiche und Betrügereien gehört hätten. Das soll wenigstens meine Rolle sein, die ich mit jedem nicht ganz unwissenden Franzosen spielen will, der etwa nach Leipzig kommen sollte.« Lessings Werke, 20, 2, 136. Gleim scheint Lessings Wunsch nur in bedingtem Maße erfüllt zu haben, denn in einem Briefe an Kleist, Kleists Werke, 3, 242, berichtet er nicht ohne Selbstgefälligkeit von den Richelieus und Mazarins, die er gesehen und gesprochen habe. Übrigens soll daraus dem guten Gleim kein Vorwurf gemacht werden; auf Lessings Tadel änderte er auch seine Verwünschungen der Sachsen und Österreicher beinahe in Segensgebete um. Er war eben ein harmloser Reimschmied, der selbst am meisten darunter leidet, wenn man ihn zu einem nationalen und patriotischen Dichter stempeln will. Nicht als ob wir es sozusagen als eine Schande von Lessing abwehren wollten, daß er nach dem Lobe eines eifrigen Patrioten nicht geizte, des Patrioten nämlich, der ihn vergessen lehrte, daß er ein Weltbürger sein sollte. Man kann vielmehr nicht ohne Schaudern an die – glücklicherweise unmögliche – Möglichkeit denken, daß die Lessing, Schiller, Goethe nicht »Weltbürger« nach ihrer Art, sondern »Patrioten« nach dem Schlage der Gleim und Ramler geworden wären. Aber es ist allerdings notwendig, sowohl aus Gründen der historischen Gerechtigkeit als zur Abwehr einer politischen Brunnenvergiftung, die Tatsache festzustellen, daß die Männer unserer klassischen Literatur als Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen durchaus vom national-deutschen Standpunkte ausgingen, und erst nachdem sich diese Klassen als zu verelendet erwiesen hatten, um den fürstlichen Despotismus zu brechen, allein im Interesse des Bürgertums lieber mit Lessing »Weltbürger« oder mit Schiller »Zeitgenosse aller Zeiten« als habsburgisch oder hohenzollerisch, welfisch oder wettinisch abgestempelte Winkelpatrioten wurden. Gerade Goethe, der in einer schwachen Greisenstunde die »berühmte Stelle« mit den »unzerstörlichen Kunstwerken« der Gleim und Ramler schrieb, hat jene Entwicklung schlagend gekennzeichnet in dem bekannten, so oft mißverstandenen und selbst von einem demokratisch sich gebärdenden Historiker wie Scherr als »traurige Verirrung der Wolkenkuckucksheimerei« beschimpften Distichon:

»Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens:
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.«

Und wie fern die Masse der bürgerlichen Klassen dem nationalen Gedanken noch stand, beweist die von Lessing selbst hervorgehobene Tatsache, daß er zur Zeit des Siebenjährigen Krieges in Leipzig für einen Erzpreußen und in Berlin für einen Erzsachsen gehalten wurde, weil er keines von beidem, sondern ein Deutscher war.

Lessing hat in diesem Kriege dreimal den Aufenthalt gewechselt. Zunächst blieb er von Oktober 1756 bis zum Mai 1758 in Leipzig, obschon hier nichts mehr für ihn zu suchen war. Sowohl deshalb nicht, weil Friedrich die reiche Stadt mit eiserner Faust an der Gurgel gepackt hatte und die Musen gänzlich aus ihr entflohen waren, als auch weil Lessing, »der doch Winklers Brot aß«, wie Herr Erich Schmidt mit dem ernsten Stirnrunzeln des sittlich entrüsteten Bourgeois bemerkt, in die Jammerschreie der Leipziger Kapitalisten über die ihren Geldsäcken von preußischer Seite angesetzten Schröpfköpfe nicht mit der gehörigen Andacht einstimmte. Friedrich war nun doch einmal nur einem gegen ihn selbst geplanten und in erster Reihe von dem sächsischen Minister. Brühl betriebenen Überfalle zuvorgekommen, und an jenem feinen Verständnis für die kapitalistischen Interessen, das heutzutage den »wahren« Freiheitskämpfer macht, hat es dem unglücklichen Lessing leider immer gefehlt. Die äußerst scherzhafte Vorstellung des Herrn Erich Schmidt, daß Lessings damalige Frevel am Kapitalismus durch seine plötzliche Borussifizierung zu erklären seien, findet ihre gebührende Beleuchtung durch einen am 5. Juni 1777 von Nicolai an Lessing gerichteten Brief, worin es heißt: »Mich dünkt, Sie hätten mir einmal selbst gesagt, wenn Sie oft hintereinander mit dem eifrigen Kreuchauf in Leipzig disputiert hätten, so wären Sie durch die Hitze des Streits eine Zeitlang im Ernste preußisch geworden.« Siehe Lessings Werke, 20, 2, 890 f. Wenn Herr Erich Schmidt dem eigenen Zeugnisse Lessings nicht glauben mochte, auf das Zeugnis des preußischen Patrioten Nicolai konnte er sich ganz sicher verlassen. Trotzdem hat er den traurigen Mut, über Lessing im Siebenjährigen Kriege zu schreiben, daß er »reißende Fortschritte in preußischer Gesinnung gemacht«, daß er »als ein rechter Preuße oder Brandenburger hautement ihre Partei genommen«, daß er »diesen Krieg, ohne über privates Mißgeschick zu klagen, als ein reinigendes Gewitter empfunden«, daß er »in seiner preußischen Sympathie nicht nachgelassen« habe usw. usw. Alles das saugt sich Herr Erich Schmidt reinweg aus den Fingern. Wir wollen diese Geschichtsklitterung nicht beim richtigen Namen nennen, aber eine schüchterne Bitte möchten wir uns erlauben. Man verzichte doch endlich darauf, sich über das byzantinisch-charakterlos-hohlköplige Geschlecht, das aus den Hörsälen solcher Universitätslehrer hervorgeht, des Todes zu verwundern. Als »Erzpreuße« verketzert, kam er in freundlichen Verkehr mit preußischen Offizieren, an deren einem, dem Major von Kleist, er den vielleicht geliebtesten Freund seines Lebens gewann. Durch ihn lernte er auch den Obersten von Tauentzien kennen, als dessen Sekretär Lessing dann die vielleicht glücklichste Zeit seines Lebens verlebt hat; auch diesem alten Haudegen, dem er geistig freilich nicht so nahestehen konnte wie dem Frühlingssänger Kleist, hat er zeitlebens eine große Anhänglichkeit bewahrt.

Auf den ersten Blick scheint es ein Widerspruch zu sein, daß ein Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen in so freundliche und nahe Beziehungen zu ein paar hinterpommerschen Junkern und friderizianischen Offizieren treten konnte, und es hieße diesen Widerspruch mehr umgehen als lösen, wenn man sagen wollte, es habe sich nur um rein persönliche Beziehungen gehandelt. Kein Zweifel, daß Lessing gern in soldatischen Kreisen verkehrte und in seinen besten dramatischen Werken mit Vorliebe soldatische Charaktere schilderte: von Philotas ganz abgesehen, so denke man nur an Tellheim, Paul Werner, Just in der Minna, an Odoardo Galotti in der Emilia, an Saladin und den Tempelherrn im Nathan. Man muß auch hier auf den sozialen Untergrund der Dinge zurückgehen, um sie richtig zu verstehen. In jener unglaublich verphilisterten Zeit war der Soldatenstand der einzige, in dem sich wenigstens zu Kriegszeiten individuelle Selbständigkeit und Tüchtigkeit entfalten konnte, so, wie Schiller in dem Reiterliede des Wallenstein singt:

»Im Felde, da ist der Mann noch was wert,
Da wird das Herz noch gewogen,
Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allein.«

Und das Schlußwort dieses Liedes, recht aus Lessings Seele gesprochen:

»Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein«,

atmet eine Gesinnung, die zur Zeit des Siebenjährigen Krieges nur im Kriegslager, nicht in den bürgerlichen Klassen lebte. Dazu kam. daß der Militarismus als selbständiger Gegensatz zur bürgerlichen Kultur sich noch nicht entfaltet hatte, solange die Heere als Privateigentum und die Kriege als Privatindustrie der Fürsten galten. Und wie mit dem friderizianischen Offizier, so mochte Lessing auch mit dem hinterpommerschen Junker gut auskommen. Der hinterpommersche Adel, sehr im Gegensatze zu dem vorpommerschen arm und frugal, mehr Bauer als Junker, mit seinen Hintersassen mehr patriarchalisch hausend, als sie rücksichtslos ausbeutend, war die übelste Rasse nicht; er besaß mehr die Tugenden als die Laster einer herrschenden Klasse; dem von den Berliner Spießern gelangweilten und von den Leipziger Geldprotzen gepeinigten Lessing mußte so ein Kleist oder Tauentzien aus der Kassubei, die nichts als ihre Ehre, ihren Degen und ihr Treben besaßen, die ihr Leben täglich in die Schanze schlugen und lieber ihren Degen zerbrachen, als ihre Ehre befleckten, eine gar willkommene Erscheinung sein. Die Dinge lagen nun einmal so in Deutschland, daß ein kräftiger und männlicher Charakter, wie Lessing war, in den herrschenden Klassen viel eher seinesgleichen fand als in den beherrschten. Es wäre sehr ungerecht, zu verkennen, daß der Siebenjährige Krieg das beste Blatt in der Geschichte der preußischen Junker ist; ihrer viertausend blieben auf den Schlachtfeldern. Gewiß im Kampfe für ihre Klasseninteressen, aber das deutsche Bürgertum brachte es ja nicht einmal entfernt zu einer gleichen Aufopferung für seine Klasseninteressen. Und dank der elenden Verseuchung der deutschen Bourgeoisie liegen die Dinge heute auch noch so. Die hinterpommerschen Junker der »Kreuz-Zeitung« stehen an ehrlichem Kampfesmut und ritterlicher Gesinnung turmhoch über den kapitalistischen Soldschreibern der Freisinnigen oder der »Vossischen Zeitung«; wer die preußische Literatur einigermaßen kennt, der weiß auch, daß die Offiziere, die daran mitgearbeitet haben, wenigstens die begabteren von ihnen, ungleich ehrlicher und freimütiger beispielsweise über den friderizianischen Staat schreiben wie die bürgerlichen Literaten vom Schlage des Herrn Schmidt, und man braucht nur ein Jahr zurück, an die Krisis des preußischen Volksschulgesetzes, zu denken, um sofort zu erkennen, daß sich dabei der Junker Zedlitz als ein Mann, der Bourgeois Miquel aber als ein älteres Mitglied des zarteren Geschlechts benommen hat. Der seichte, an die oberflächlichsten Schlagworte gekettete Liberalismus, der in der deutschen Presse das große Wort führt, versteht diesen Zusammenhang nicht; ja, er darf ihn nicht einmal verstehen, wenn er sein kümmerliches Dasein nicht selbst aufgeben will, und aus diesem Selbsterhaltungstriebe erklärt sich einigermaßen jene sonst unerklärliche Meisterschaft im persönlichen Niederhetzen, Niederlügen und Niederverleumden politischer Gegner, die Herrn Eugen Richter und ähnliches Gelichter auszeichnet und die sich aus guten Gründen mit der kläglichsten Feigheit im Kampfe der Klassen zu paaren pflegt. Lessing ist diesem scheußlichen Unwesen, soweit er es in seinen ersten, noch verhältnismäßig schüchternen Anfängen kennengelernt hat, stets rücksichtslos entgegengetreten; in seiner späteren Predigt über zwei Texte, von der uns leider nur ein kleines, aber köstliches Bruchstück erhalten ist, führt er den Gedanken aus, daß man eine Klasse grundsätzlich bekämpfen und hassen, aber ihre würdigen Glieder deshalb nicht weniger, ja deshalb erst recht lieben und schätzen könne, wie sie verdienen. Gehandelt hat er immer nach diesem Grundsatze, der sich für jeden ehrlichen Kämpfer schon deshalb von selbst versteht, weil er in dem Begriffe eines ehrlichen Kampfes enthalten ist. Und Lessing hat sich den Teufel an das gekehrt, was die Leipziger Geldsäcke über seinen Verkehr mit dem preußischen Offizier Kleist und später die Berliner Aufklärer über seinen Verkehr mit dem Hauptpastor Goeze hinter seinem Rücken zischelten.

Seine Freundschaft für Kleist versteht man noch besser, wenn man in Kleists Briefwechsel verfolgt, wie der »Dichter und Soldat« im Felde, wo ihn Lessing kennenlernte, ein ganz anderer Mann wird. In seiner Potsdamer Friedensgarnison erscheint er immerhin als ein seltsamer Heiliger: mit »Mädchens spielend«, mit seinem Gleim läppisch tändelnd, mittelmäßige Verse spinnend, von den Kameraden wegen seiner poetischen Neigungen verspottet, unter der launenhaften Ungnade des Königs seufzend, verfällt er bald in »Melancholie«, bald will er dies »in Vergleichung anderer ganz elende Land verlassen«. Schon der »pure Gedanke«, noch zwanzig oder dreißig Jahre in Potsdam zu leben, ist ihm »eine Hölle, und sollte ich auch hier indessen Generalfeldmarschall werden, dafür mich doch der Himmel wohl bewahren wird«. Diese Stimmung war unter dem eisernen Drucke Friedrichs wohl verständlich, aber sie besserte sich zusehends, als Kleist eine Kompanie und damit ein. ausbeutungswürdiges Vermögensobjekt erhielt. Auf der lukrativen Werbung trieb er in Zürich, der »uniquen« Stadt, den Menschenhandel so arg, daß er bei Nacht und Nebel vor den ihm aufpassenden Behörden fliehen mußte, wofür er sich dann [durch] geistlosgrobe, mit seinen tändelnden Liederchen in gar seltsamem Gegensatze stehende Epigramme auf die Schweiz und die Schweizer rächte. Aber im Kriege fallen die Schlacken seines Wesens ab. Wieder leidet er unter Friedrichs Willkür; aus seinem alten, angesehenen Regimente wird er in ein sächsisches Infanterieregiment versetzt, das bei Pirna gefangen war und nun preußische Dienste tun muß; er kommt »hinter die Mauer« nach Leipzig. Aber als Vorsteher des Lazaretts, bei den ihm aufgetragenen Kontributionen im Sächsischen erweist er sich als ein menschenfreundlicher und milder Mann, der jede persönliche Bereicherung verschmäht. In seinem einzigen Kriegsliede, das mehr kriegerischen und mehr menschlichen Geist atmet als Gleims gesamte Grenadierpoesie, ruft er dem preußischen Heere zu:

»Nur schone wie bisher im Laufe großer Taten
Den Landmann, der dein Feind nicht ist!
Hilf seiner Not, wenn du von Not entfernet bist!
Das Rauben überlaß den Feigen und Kroaten!«

und wie er es sich in diesem Liede gewünscht hatte:

»Auch ich, ich werde noch – vergönn es mir, o Himmel! –
Einher vor wenig Helden ziehn.
Ich seh' dich, stolzer Feind, den kleinen Haufen fliehn
Und find' Ehr' oder Tod im rasenden Getümmel«,

findet er bei Kunersdorf einen so tapferen Tod, daß ihn selbst die russischen Barbaren mit hohen Ehren bestatten. Lessing hat ihn mit wildem Schmerze betrauert.

Ganz anderer Art als Lessings Freundschaft mit Kleist war seine Freundschaft mit Gleim. Jede Faser Lessings mußte sich gegen den kindisch süßlichen Ton sträuben, worin Gleim mit seinen »allerliebsten Engeln« von Freunden umging, aber um Kleists willen hat er den bei aller Albernheit doch auch sehr gutmütigen Mann gern ertragen, heiter neckend mit dem Schreibseligen verkehrt, ihn wie ein großes Kind behandelt. Bald sucht Lessing dem Schwächling das Rückgrat zu steifen, indem er ihn zu einer männlichen Haltung gegenüber den Franzosen in Halberstadt ermahnt oder ihn anfleht, den Schmerz über Kleists Tod nicht durch elende Reime zu entweihen; bald streichelt er ihn ein wenig, nennt ihn einen Äschylos, spricht von seinem »großen König«. Bei alledem war es doch mehr als Ironie, wenn Lessing Gleims Grenadierlieder mit einem heute nicht mehr verständlichen Lobe zum Drucke beförderte. Man muß nur richtig verstehen, was Lessing mit diesem Lobe ins Auge faßte. Nicht etwa die Begeisterung für die »nationale« Sache Friedrichs. Der König selbst würde, wenn er Gleims Grenadierlieder gekannt oder ihnen gar irgendeine Wirkung auf die Bevölkerung zugetraut hätte, den Poeten vermutlich auf die Festung geschickt haben. Was er an ihnen etwa noch verstanden und gewürdigt hätte, nämlich das tobende Geschimpfe auf die Feinde – ein wüterisches Gedicht des Pastors zu Laublingen, das die Zensur beanstandet hatte, gab Friedrich auf ein alleruntertänigstes Schreiben Langes frei –, gerade das war für Lessing ein Greuel; was aber ihm an den Grenadierliedern gefiel, der festere, männlichere, selbstbewußtere Ton, den Gleim anschlug, das wäre dem König ein Greuel gewesen, der, wir wissen aus welchen Gründen, dem Kriege schlechterdings den Charakter eines Kabinetts- und Söldnerkrieges erhalten mußte. Über diese Sachlage mochte sich ein verworrener Kopf wie Gleim täuschen, der heute den Tyrtäos nachahmte wie gestern den Anakreon, aber Lessing konnte natürlich nicht in eine solche Torheit verfallen, und er verbat sich ausdrücklich jedes Interesse des Königs für die Grenadierlieder. In der Vorrede, die er ihnen mitgab, sagt er, wer die kostbaren Überbleibsel der alten nordischen Heldenlieder kenne, wer das jüngere Geschlecht von Barden aus dem schwäbischen Zeitalter seiner Aufmerksamkeit wertschätze, ihre naive Sprache, ihre »ursprünglich deutsche Denkungsart« studiert habe, der werde den neuen preußischen Barden zu beurteilen wissen, und unmittelbar darauf heißt es wörtlich: »Andere Beurteiler, besonders wenn sie von derjenigen Klasse sind, welchen die französische Poesie alles in allem ist, wollte ich wohl für ihn verbeten haben.« Deutlicher ließ sich unter der friderizianischen Zensur doch nicht reden, aber unsere bürgerlichen Literarhistoriker sind taub für diesen überlegenen Spott, und Lessing muß noch immer als preußischen Chauvinismus abbüßen, was für ihn nur die etwas überschwengliche, aber deshalb erst recht begreifliche Freude an einem in der deutschen Literatur einmal durchbrechenden frischeren, kräftigeren und männlicheren Tone war.

Literarisch hat Lessing in dieser Leipziger Zeit viel angefangen, namentlich auf dramatischem Gebiete, aber nichts vollendet. Zwei »Odengerippe« an Kleist und Gleim gehören zu jenen müßigen Stilübungen, wie sie wohl im poetischen Wetteifer unter Freunden entstehen; mit Recht hat Lessing es bei den Entwürfen in Prosa gelassen. Nicht weniger erfreulich, wenn auch aus einem ganz anderen Grunde, ist der gleiche Umstand bei einer Ode an Mäzen, deren markige Prosa durch die Umwandlung in irgendeinen bei Lessing doch immer holperigen Rhythmus nur verloren haben würde. Hier ihre kernigsten Sätze:

»Wer ist's in unsern eisernen Tagen, hier in einem Lande, deren Einwohner von innen noch immer die alten Barbaren sind, wer ist es, der einen Funken von deiner Menschenliebe, von deinem tugendhaften Ehrgeize, die Lieblinge der Musen zu schützen, in sich hege?

Wie habe ich mich nicht nach nur einem schwachen Abdrucke von dir umgesehen! mit den Augen eines Bedürftigen umgesehen! Was für scharfsichtige Augen!

Endlich bin ich des Suchens müde geworden und will über die Afterkopien ein bitteres Lachen ausschütten.–

Dort, der Regent, ernährt eine Menge schöner Geister und braucht sie des Abends, wenn er sich von den Sorgen des Staats durch Schwänke erholen will, zu seinen lustigen Räten. Wieviel fehlt ihm, ein Mäzen zu sein.

Nimmermehr werde ich mich fähig fühlen, eine so niedrige Rolle zu spielen, und wenn auch Ordensbänder zu gewinnen stünden.

Ein König mag immerhin über mich herrschen; er sei mächtiger, aber besser dünke er sich nicht. Er kann mir keine so starke Gnadengelder geben, daß ich sie für wert halten sollte, Niederträchtigkeiten darum zu begehen.«

Mit stärkeren und treueren Strichen konnte Lessing seinen Gegensatz zur Tafelrunde von Sanssouci nicht zeichnen, und doch soll er hinter Friedrich und Voltaire dreingelaufen sein! Nach Form und Inhalt gehört die Mäzen-Ode in eine reifere Zeit Lessings; wir setzen sie um so eher mit den Prosa-Oden an Kleist und Gleim zusammen, als Lessing schwerlich zu zwei verschiedenen Zeiten eine so formlose und seinem ganzen Wesen sonst fernliegende Form gewählt haben dürfte und der Verkehr mit Kleist, der die französische Literatenwirtschaft in Sanssouci ähnlich wie Lessing beurteilte, aber aus seinem Potsdamer Garnisonleben noch viel genauer kannte, den sonst auffallenden Umstand erklärt, daß Lessing gerade in Leipzig so beißend über Friedrich und seine französischen Hofnarren geurteilt hat. Trotzdem läßt sich über die Sache streiten, und wir würden kein Wort darüber verlieren, daß Herr Erich Schmidt die Mäzen-Ode sogar bis in das Jahr 1751 zurückversetzt, wenn nur Lessing nicht dadurch zu einem dreimal »schoflen« Kerle gemacht würde, daß er öffentlich »verwegene Hoffnungen« auf Friedrich und Voltaire gesetzt und sie heimlich so bitter wie in der Mäzen-Ode verspottet haben soll. Herr Erich Schmidt hat freilich auch eine eigene Hypothese über die Entstehung der Mäzen-Ode. Klopstock hatte 1751 nämlich seinen Messias dem König von Dänemark mit einer Ode und dem Vorwort gewidmet: »Der König der Dänen hat dem Verfasser des Messias, der ein Deutscher ist, diejenige Muße gegeben, die ihm zur Vollendung seines Gedichtes nötig war.« Herr Erich Schmidt meint nun, Lessing habe in der Mäzen-Ode, »durch Klopstocks lakonische Prosa und stolz-bescheidene Strophen gereizt, eine der großartigsten Spiegelungen seiner Persönlichkeit gegeben«. Wirklich? Dann wäre also der »Regent« der König von Dänemark und der »lustige Rat«, der mit »Schwänken« unterhält, wäre Klopstock? Was doch nicht alles ein treu-fleißiger Untertanenverstand vermittelst der berühmten «genetischen Methode« entdecken kann!

Kleists Freundschaft war es vornehmlich, die Lessings Aufenthalt in dem verwüsteten Leipzig verlängerte, wo sonst nichts für ihn zu brechen und zu beißen war. Als Kleist ins Feld gerufen wurde, ging Lessing »nicht nach Berlin, sondern zu meinen guten Freunden, die in Berlin sind«. Ihm blieb keine Wahl, und er mußte es gern oder ungern nochmals mit Ramler, Moses, Nicolai versuchen. Etwa dritthalb Jahre hielt er den schließlich scheiternden Versuch aus, vom Mai 1758 bis Ende 1760. Es ist die Zeit der Fabeln, des Philotas, der Literaturbriefe, die Zeit immerhin eines gewissen Stillstandes gegenüber der mit der Miß Sara Sampson erreichten Höhe. Nicht deshalb, weil die schon von Herder berichtigten und ergänzten, dann von Jakob Grimm noch viel stärker erschütterten Abhandlungen Lessings über die Fabel den Begriff dieser Dichtungsart falsch oder unzureichend erörtern! Lessings Ästhetik ist ebenso wie seine Dramatik, seine Philosophie, seine Theologie durchaus bestimmt durch das sozial-politische Moment seines Lebenskampfes; er hat dem Äsop und Phädrus nur das abgesehen, was sich zu einer scharfen Waffe gegen die Laster und Torheiten seiner Zeit zuschleifen ließ, und wenn seine Fabeln das naive Element der alten Tierfabel vermissen lassen, so sind ihre vorteilhaftesten Seiten, wie Herder schon bemerkte, »eine schöne Bemerkung, ein allerliebster Einfall, eine neue vortreffliche Wendung, ein überraschender Sprung, der munterste Dialog«. Diese Fabeln sind ein fortlaufendes Kleingewehrfeuer, nicht zuletzt auch gegen den friderizianischen Despotismus. Wie ergötzlich wird Friedrichs Bevormundungssucht verspottet in dem »Geschenke der Feien«, wo die eine »einem jungen Prinzen, der in der Folge einer der größten Regenten seines Landes ward«, den scharfsichtigen Blick des Adlers schenkt, dem in seinem weiten Reiche auch die kleinsten Mücken nicht entgehen, die andere aber als »weise Einschränkung« die »edle Verachtung, ihnen nicht nachzujagen«, hinzufügt. Und dann die Moral des Dichters: »Viele würden weit größere Könige gewesen sein, wenn sie sich weniger mit ihrem durchdringenden Verstande bis zu den kleinsten Angelegenheiten hätten erniedrigen wollen.« Oder wie keck weiß Lessing eine dem heutigen Philister noch unfaßbare Wahrheit zu enthüllen, wenn er in der alten Fabel von den Fröschen, die einen König haben wollten, gegenüber anderen Auslegern »zwei weit größere und kühnere Wahrheiten entdeckt, 1. die Torheit, überhaupt einen König zu haben, 2. die Torheit, nicht mit einem schläfrigen, untätigen Könige zufrieden zu sein, einen großen, anschlägigen Kopf auf den Thron zu wünschen«.

Sonach – groß genug ist Lessing auch in diesem kleinen Genre, aber er selbst war für dies kleine Genre zu groß, und von ihm als Fabeldichter gilt ein wenig, was er später von einer Schauspielerin sagte: »Ich möchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen könnte.« Und so ist auch das Trauerspiel Philotas nur ein kleines Nebenwerk, eine Freundesgabe für Kleist. Wie Kleist nach Lessings Meinung aus übertriebenem Heroismus den Tod suchte, so tötet der gefangene Königssohn Philotas, der gegen den gleichfalls gefangenen Sohn des feindlichen Königs Aridäus ausgetauscht werden soll, sich selbst, um die gleichschwebende Waage zugunsten seines Vaters zu senken. Herr Erich Schmidt versichert, das Stück atme den »aufopfernden Geist der in Waffen starrenden Gegenwart«. Hören wir diesen Geist ein wenig atmen! Es ist der siebente Auftritt; König Aridäus, ein so gütiger und milder Mann, wie Maria Theresia eine gütige und milde Frau war, meldet dem gefangenen Philotas, die Boten an seinen Vater seien auf den schnellsten Pferden abgegangen; in wenigen Stunden könne die Auswechslung der gefangenen Königssöhne erfolgen. Davon hofft der gute Aridäus auch »sonst glückliche Folgen«; liebenswürdige Kinder seien schon oft Mittelspersonen zwischen veruneinigten Vätern geworden, und er seufzt »Unseliger Krieg!« Unmittelbar darauf geht der Dialog weiter wie folgt:

» Philotas: Jawohl, unseliger Krieg! – Und wehe seinem Urheber!

Aridäus: Prinz! Prinz! erinnere dich, daß dein Vater das Schwert zuerst gezogen. Ich mag in deine Verwünschung nicht einstimmen. Er hatte sich übereilt, er war zu argwöhnisch –

Philotas: Nun ja; mein Vater hat das Schwert zuerst gezogen. Aber entsteht die Feuersbrunst erst dann, wenn die lichte Flamme durch das Dach schlägt? ... Bedenke, welch eine stolze, verächtliche Antwort du ihm erteiltest, als er ? doch du sollst mich nicht zwingen; ich will nicht davon sprechen! ... Nur dem untrüglichen Auge der Götter erscheinen wir, wie wir sind; nur das kann uns richten. Die Götter aber sprechen ihr Urteil durch das Schwert des Tapfersten. Laß uns den blutigen Spruch aushören! ...

Aridäus: Prinz, ich höre dich mit Erstaunen ? mit Erstaunen, Prinz, und nicht ohne Jammer! – Dich hat das Schicksal zur Krone bestimmt, dich! – Dir will es die Glückseligkeit eines ganzen, mächtigen, edeln Volks anvertrauen, dir! – Welch eine schreckliche Zukunft enthüllt sich mir! Du wirst dein Volk mit Lorbeeren und Elend überhäufen. Du wirst mehr Siege als glückliche Untertanen zählen. – Wohl mir, daß meine Tage in die deinigen nicht reichen werden! Aber wehe meinem Sohne, meinem redlichen Sohne! Du wirst es ihm schwerlich vergönnen, den Harnisch abzulegen –

Philotas: Beruhige den Vater, o König! Ich werde deinem Sohne weit mehr vergönnen, weit mehr!

Aridäus: Weit mehr? Erkläre dich –

Philotas: Habe ich ein Rätsel gesprochen? – Ich wollte, nur sagen: Die Frucht ist oft ganz anders, als die Blüte sie verspricht. Ein weibischer Prinz, hat mich die Geschichte gelehrt, ward oft ein kriegerischer König. Könnte mit mir nicht das Gegenteil sich zutragen? Oder vielleicht war auch dieses meine Meinung, daß ich noch einen weiten und gefährlichen Weg zum Throne habe. Wer weiß, ob die Götter mich ihn vollenden lassen? – Und laß mich ihn nicht vollenden, Vater der Götter und Menschen, wenn du in der Zukunft mich als einen Verschwender des Kostbarsten, was du mir anvertraut, des Blutes meiner Untertanen siehst!«

Kann man deutlicher und gerechter sprechen, als Lessing hier spricht? Deutlicher über den »weibischen Prinzen«, aus dem ein »kriegerischer König« ward? Gerechter über den Ursprung des Siebenjährigen Krieges, aber auch über den völkerfeindlichen Charakter der erobernden Militärkönige? Herr Erich Schmidt aber weiß es natürlich besser. Nach ihm ist Aridäus König Friedrich, und der Protest gegen die »Lorbeeren und das Elend« eines Despotismus, der »mehr Siege als glückliche Untertanen zählt«, erinnert ihn daran, »wie Friedrich II. einen Karl von Schweden nicht bewundern konnte«. Ja, diesen Byzantinern soll mal einer beikommen!

Neben den Fabeln und dem Philotas arbeitete Lessing in den Jahren 1758 bis 1760 an einer kritischen Zeitschrift, den »Briefen, die neueste Literatur betreffend«. Sie erschien im Verlage von Nicolai, und dieser Biedermann hat späterhin auch einige dreiste Versuche gemacht, sich als ihren geistigen Urheber aufzuspielen. Doch unterliegt es gar keinem Zweifel, daß Lessing den Gedanken der Zeitschrift zuerst gefaßt hat und ihre Seele gewesen ist, solange sie das war, was sie sein sollte: ein ehrliches, kritisches Organ im Gegensatze zu den seichten und auf den gegenseitigen Komplimentierton gestimmten Journalen der Zeit, wie deren eines, die »Bibliothek der schönen Wissenschaften«, von Moses und Nicolai bisher in Leipzig herausgegeben worden war. Beide beteiligten sich an den Literaturbriefen, Moses für die Kritik der philosophischen Schriften, Nicolai ausdrücklich als Lückenbüßer, aber Lessing zog seine Hand von diesem Pfluge zurück, als er entdeckte, daß damit nach Nicolais würdiger Absicht das Feld einer Berliner Literaturclique beackert werden sollte. Und diese Entdeckung machte er sehr früh. Nur die beiden ersten Bände zeigen das ursprüngliche Verhältnis, 44 Briefe von Lessing, 15 von Moses, 1 von Nicolai; dann schrumpft Lessings Teilnahme schnell zusammen, bis sie im siebenten Bande ganz erlischt; er hat dann nur noch 1765 den dreiundzwanzigsten und letzten Band mit einem Briefe beschlossen.

Die Literaturbriefe öffneten dem jungen Herder in den livländischen Hinterwäldern eine neue Welt, aber Goethe und Fichte haben sehr abfällig über sie geurteilt, und eine literarhistorische Bedeutung kann nur ihren ersten Bänden nachgesagt werden. Indessen stehen auch die Beiträge Lessings nicht auf der entsprechenden Höhe über seinen »Briefen« von 1752. Sie räumen gründlich mit einigen schlechten Reimern und Übersetzern auf, aber die kritische Behandlung der damaligen literarischen Größen spinnt nur alte Fäden weiter und nicht immer in der glücklichsten Weise. Gottsched wird noch heftiger, aber nicht gerechter als bisher angegriffen; Klopstocks Odendichtung kommt gar zu schlecht weg, verglichen mit Gleims Kriegspoesie oder Gerstenbergs anakreontischen Tändeleien, und gegen Wieland findet sich gar ein persönlicher Ausfall, wie ihn Lessing später an Klotz so scharf verurteilen sollte. Ganz ungestraft konnte selbst ein Lessing nicht unter den Berliner Philistern leben. Aber einiges aus dem Kampfe seines Lebens ist auch in diesen Blättern enthalten; man muß es nur nicht mit der ästhetischen Brille suchen wollen.

Wieviel Schütteln des Kopfes hat beispielsweise Lessings Satz hervorgerufen, daß der Name eines wahren Geschichtsschreibers nur demjenigen zukommt, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibt! Lessing hat damit aber nicht entfernt eine allgemeine Theorie aufstellen wollen, sondern er spricht einfach als ein scharfsichtiger Vertreter des deutschen Bürgertums, der einerseits Voltaires Geschichtswerke und deren gewaltige Wirkung, andererseits die damals berühmtesten deutschen Geschichtsschreiber vor Augen hatte, von denen Bünau mit seiner Kaiser- und. Reichshistorie bis zum Jahre 918, Mascov aber mit seiner Geschichte der Deutschen bis zum Anfange der fränkischen Monarchie glücklich bis zum Ausgange der Merowinger gelangte. Winckelmann, der zeitweise Hilfsarbeiter von Bünau war, entschuldigte später von Rom aus seine Unkenntnis der ersten Lessingschen Schriften mit den Worten: »Da mein Gehirn mit alten fränkischen Chroniken und Leben der Heiligen angefüllt war.« Gegen diese Entfremdung von den bürgerlichen Interessen der Gegenwart erklärt sich Lessing mit jenem paradoxen Satze; und eben dieser Gesichtspunkt beherrscht den umfangreichsten und wichtigsten Teil seiner Literaturbriefe: die Polemik gegen Klopstock und Wieland. Klopstock gab mit Cramer zusammen in Kopenhagen den »Nordischen Aufseher« heraus, eine nach englischem Muster moralisierende Wochenschrift, worin unter anderem gelehrt wurde, daß man ohne Religion kein rechtschaffener Mann sein könne, während Wieland aus Zürich, wo er unter Bodmers Hände geraten und fromm geworden war, »Empfindungen eines Christen« in die Welt sandte, die neben seraphisch verhimmelnden Gefühlen die weltliche Dichtung in der knabenhaftesten Weise verunglimpften. Das eine wie das andere war für Lessing ein Greuel. Niemand hatte bis dahin die Orthodoxie schärfer angegriffen als er, aber nicht die Orthodoxie als eine bestimmte religiöse Richtung, sondern als ein Organ der sozialen Unterdrückung; jetzt nahm er sogar die Partei der Orthodoxie als einer bestimmten religiösen Richtung, insoweit als eine faule und feige Aufklärung sich über sie zu erheben behauptete, aber die soziale Unterdrückung mindestens ebenso munter handhabte. In den »Empfindungen eines Christen« fiel Wieland über Uz »mit so frommer Galle, mit einem so pietistischen Stolze auf den moralischen Charakter desselben her, brauchte so hämische Waffen, verriet so viel Haß, einen so verabscheuungswürdigen Verfolgungsgeist, daß einen ehrlichen Mann Schauder und Entsetzen darüber befallen mußte«. Und indem Lessing gegen den »Nordischen Aufseher« ausführt: »Die Orthodoxie ist ein Gespötte geworden; man begnügt sich mit einer lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christentum gezogen hat, und weichet allem Verdachte der Freidenkerei aus, wenn man von der Religion nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß«, weist er in einer längeren Folge von Briefen sowohl die Halbheit und Zweideutigkeit dieser »lieblichen Quintessenz« gegenüber der Orthodoxie als auch die Sinnlosigkeit der anmaßlichen Behauptung nach, die keinen Mann ohne Religion als rechtschaffen gelten lassen will.

Klopstock und Wieland waren zu tüchtige Naturen, um bei aller augenblicklichen Verstimmung nicht Lessings Kritik zu beherzigen; namentlich von Wieland darf man sagen, daß sie ihn auf den richtigen Weg geleitet hat. Wie aber in unseren Tagen die Arbeiterklasse sich der Liebäugelei mit der Orthodoxie schuldig gemacht haben sollte, weil sie nicht umhinkonnte, die »liebliche Quintessenz vom Christentum«, womit die freisinnigen Nicolaiten das preußische Volksschulgesetz bekämpften, abgeschmackt zu finden, so erboste sich Ehren-Nicolai über Lessings angebliches Eintreten für die Orthodoxie. Es scheint, daß er sich sogar erdreistet hat, als Verleger in Lessings Beiträge für die Literaturbriefe unterdrückend dreinzufahren; mindestens hat er sie nach Lessings Tode in einer hämisch verstümmelten Ausgabe veröffentlicht. Unter der Kontrolle eines bornierten Verlegers zu schreiben, war Lessing nun aber der letzte Mann, und ebensowenig konnte er daran denken, sich den immer dreisteren Ansprüchen der Berliner Clique zu fügen. In seinen Abhandlungen über die Fabel hatte er die Fabeln von Lafontaine und die Fabeltheorie von Batteux kritisiert; nun erhob der edle Ramler ein großes Geschrei, daß Lessing »durch Unterdrückung sich Luft schaffen und Platz machen wolle«, weil – Ramler den Batteux übersetzt und Gleim Fabeln nach dem Muster von Lafontaine gemacht hatte. Gleim beging dazu noch die unglaubliche Sottise, den Philotas in preußische Grenadierverse umzudichten. Dazu mußte der »Erzsachse« jeden Tag »tausend ausschweifende Reden hören«; als Lessing, der die Herausgabe von Gleims Grenadierliedern in Berlin besorgte, den guten Geschmack hatte, die gröbsten Unflätigkeiten zu streichen, schrieb Ramler an Gleim, daß »unser sächsischer Freund« es »doch lieber sehen würde, wenn die Flüche auf die Türken und Persianer gingen als auf seinen Prinzen und seines Prinzen alliierte Kaiserin«. Sulzer wieder bewies auf andere Weise sein wohlwollendes Gemüt gegen Lessing. Die Geschichte hat zwar nicht mehr unmittelbar Lessings Abgang von Berlin beeinflußt, aber sie kennzeichnet jenes Cliquenwesen, das ihn von dannen trieb. Der Propst Süßmilch, dessen literarische Fähigkeit denn doch groß genug war, um Lessings Wert wenigstens zu ahnen, beantragte als Mitglied der Akademie, ihn zum auswärtigen Mitgliede dieser Körperschaft zu wählen. Aber Sulzer widersprach, weil ihm diese Ehre für Lessing zu hoch erschien. Eine »wunderliche Ehre«, wie sogar Ramler an seinen Gleim schrieb; sie wurde gleichzeitig an drei Italiener, einen Franzosen, einen Holländer, einen Schweizer und einen Deutschen erteilt, einen Rat Huber in Kassel, dessen Name an erster Stelle der Liste erschien, während Lessing trotz Sulzers Widerspruch gerade noch an letzter Stelle durchschlüpfte. Lessing wurde von dem Humbug um so peinlicher berührt, als die Akademie die wahrhaft phänomenale, selbst von Nicolai getadelte Unverschämtheit hatte, ihre Ernennungen mit der Begründung zu veröffentlichen, daß sie auf »wiederholtes Ansuchen der Beteiligten«, die schon »seit geraumer Zeit« darum gebeten hätten, erfolgt seien. Am leidlichsten fuhr Lessing noch immer mit dem guten Moses, aber der quälte ihn wieder mit seiner selbstgefälligen Schulmeisterei über Dinge, denen Lessing entwachsen war, sosehr sie für Moses ein großer Fortschritt sein mochten. Moses war stolz darauf, sich aus der Hefe des jüdischen Schachers zur Ehrbarkeit des deutschen Philisters emporgearbeitet zu haben, allein Lessing hatte den deutschen Philister selbst schon ganz und gar ausgezogen. Mit seinen großen Schwächen denn freilich auch seine kleinen Tugenden. Ordnungsliebe und Pünktlichkeit in den Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens ist niemals Lessings Vorzug gewesen, aber um so mehr mußte es ihn verdrießen, sich darüber gerade von Moses, der den großen Kampf seines Lebens so gar wenig begriff, hofmeistern zu lassen.

Nichts begreiflicher daher, als daß Lessing sich aus all diesen kleinlichen und peinlichen Verhältnissen im November von 1760 durch einen kühnen Entschluß zu seinem »alten, ehrlichen Tauentzien« in das Kriegslager von Breslau rettete.


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