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II. Der Keim der Lessing-Legende

Der erste Keim der Lessing-Legende findet sich in Goethes »Sprüchen in Prosa«. Es sind ihrer etwas über tausend; Abfälle aus der Gedankenwerkstatt des alternden und des alten Dichters, Eigenes und Angeeignetes, Ethisches, Kunst, Natur, dem Stoffe nach so verschieden wie dem Werte nach. Manches Tiefsinnige und Weltweite; selbst schon ein Anflug von ökonomischer Dialektik, wie im Spruch 305: »Innungszwang und Gewerbsfreiheit, Festhalten und Zersplittern des Grundbodens, es ist immer derselbe Konflikt, der zuletzt wieder einen neuen erzeugt. Der größte Verstand des Regierenden wäre daher, diesen Kampf so zu mäßigen, daß er ohne Untergang der einen Seite sich ins Gleiche stellte; dies ist aber den Menschen nicht gegeben, und Gott scheint es auch nicht zu wollen.« Dann wieder in Spruch 466 das Bekenntnis einer schönen Seele: »So wie der Weihrauch einer Kohle Leben erfrischet, so erfrischet das Gebet die Hoffnungen des Herzens«, oder in Spruch 638 der orphisch dunkle Satz: »In Rücksicht aufs Praktische ist der unerbittliche Verstand Vernunft, weil, vis-à-vis des Verstandes, es der Vernunft Höchstes ist, den Verstand unerbittlich zu machen.« Mitten darin aber als Keim der Lessing-Legende der Spruch 514: »Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen wollte, daß verdroß die Deutschen doch, und sie taten das möglichste, als Etwas vor ihm zu erscheinen.« Wonach denn unsere klassische Literatur nichts anderes wäre als eine Empörung des beschränkten Untertanenverstandes gegen schlechte Behandlung durch den König von Preußen. Goethes Werke, 19, 112; Ausgabe von Hempel. Es könnte zweifelhaft erscheinen, ob Goethes Spruch Eigenes oder Angeeignetes wäre, denn Justi schreibt in seiner Biographie Winckelmanns, 2, 301, vom Friedrich des Jahres 1765: »Er blieb, sagte man damals, seiner eigenen Nation fremd und hatte an der Veredlung derselben, welche sein Zeitalter ebenso ehrwürdig machte, wie das Zeitalter Ludwigs XIV. gewesen, keinen anderen Anteil, als daß er Deutschland zur Eifersucht reizte, sich durch eigene Erhebung an seiner Verachtung zu rächen.« Allein obgleich bei Justi selbst dieser Satz in Anführungszeichen steht, kann er nicht wohl »damals«, das heißt 1765, von irgendwem in Deutschland geäußert worden sein. Es scheint vielmehr, daß Justi oder seine Quelle den Gedanken von Goethe umschrieben hat, nur daß Goethe diese Betrachtung nicht »damals«, sondern mehr als vierzig Jahre später anstellte.

Breiter ausgeführt findet sich derselbe Gedanke im siebenten Buche von »Dichtung und Wahrheit«. Die »berühmte Stelle« ist unzählige Male nachgedruckt worden, aber da ihre erschöpfende Kritik die genaue Kenntnis ihres Wortlauts zur Voraussetzung hat, so muß sie hier noch einmal wiedergegeben werden. Goethe schildert den Zustand der deutschen Literatur, wie er ihn im Herbste von 1765 bei seiner Übersiedlung auf die Hochschule von Leipzig als sechzehnjähriger Jüngling vorfand, und schließt diese nach seinem sechzigsten Lebensjahre geschriebene Übersicht wie folgt:

»Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Kriegs in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für einen Mann stehen. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen und dadurch viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Teilnahme derselben entziehen. In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts notwendig ist.

Die Kriegslieder, von Gleim angestimmt, behaupten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche Form, als hätte sie ein Mitstreitender in den höchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden läßt.

Ramler singt auf eine andere, höchst würdige Weise die Taten seines Königs. Alle seine Gedichte sind gehaltvoll, beschäftigen uns mit großen, herzerhebenden Gegenständen und behaupten schon dadurch einen unzerstörlichen Wert.

Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk, welches auf einem würdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die Behandlung durch Geschick, Mühe und Fleiß die Würde des Stoffes nur desto glücklicher und herrlicher entgegenbringe.

Die Preußen und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen also für ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen Mangel sie durch keine nachherige Bemühung hat ersetzen können. An dem großen Begriff, den die preußischen Schriftsteller von ihrem König hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um desto eifriger, als derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein für allemal nichts von ihnen wissen wollte. Schon früher war durch die französische Kolonie, nachher durch die Vorliebe des Königs für die Bildung dieser Nation und für ihre Finanzanstalten eine Masse französischer Kultur nach Preußen gekommen, welche den Deutschen höchst förderlich ward, indem sie dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgestachelt wurden; ebenso war die Abneigung Friedrichs gegen das Deutsche für die Bildung des Literarwesens ein Glück. Man tat alles, um sich von dem König bemerken zu machen, nicht etwa um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung, man tat, was man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies geschah nicht und konnte nicht geschehen; denn wie kann man von einem König, der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre verliere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzuspät entwickelt und genießbar zu sehen? In Handwerks- und Fabriksachen mochte er wohl sich, besonders aber seinem Volke statt fremder, vortrefflicher Waren sehr mäßige Surrogate aufdrängen; aber hier geht alles geschwinder zur Vollkommenheit, und es braucht kein Menschenleben, um solche Dinge zur Reife zu bringen.

Eines Werks aber, der wahrsten Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt muß ich hier vor allen ehrenvoll erwähnen: Es ist die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion von spezifisch temporärem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat: Minna von Barnhelm. Lessing, der im Gegensatze von Klopstock und Gleim die persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können, gefiel sich in einem zerstreuten Wirtshaus- und Weltleben, da er gegen sein mächtig arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte, und so hatte er sich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien begeben. Man erkennt leicht, wie genanntes Stück zwischen Krieg und Frieden, Haß und Neigung erzeugt ist. Diese Produktion war es, die den Blick in eine höhere, bedeutendere Welt aus der literarischen und bürgerlichen, in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glücklich eröffnete.

Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während dieses Krieges gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die ihm der überstolz gewordene Preuße geschlagen hatte. Durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den Gemütern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen, und sowohl an den Hauptpersonen als den Subalternen wird eine glückliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäß dargestellt.«

Soweit die »berühmte Stelle«, das klassische Zeugnis, woraufhin die bürgerlich-preußischen Literarhistoriker das »Zeitalter Friedrichs des Großen« als fünftes an das Zeitalter des Perikles, des Augustus, der Mediceer und Ludwigs XIV. reihen. Aber es fehlt noch die Nutzanwendung, die aus guten Gründen weggelassen zu werden pflegt. Unmittelbar nach jenen Sätzen fährt nämlich Goethe fort: »Habe ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen über deutsche Literatur meine Leser in einige Verwirrung gesetzt, so ist es mir geglückt, eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben, in welchem sich mein armes Gehirn befand«, und schildert dann als seine Rettung aus »dieser Not« weiter »diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen ... Alles, was daher von mir bekanntgeworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.« Wonach denn also »genau besehen« Goethes ganze Dichtung »mehr ein Kunststück« ist, verglichen nämlich mit den »unzerstörlichen Kunstwerken« von Gedichten, in denen Ramler den König Friedrich besang.

Um aber noch ein wenig mehr Licht auf die »berühmte Stelle« fallen zu lassen, schlagen wir im siebenten Buche von »Dichtung und Wahrheit« um fünfzehn Seiten zurück. Hier spricht Goethe von einem gewissen König, der die Stelle eines Dresdener Hofpoeten mit »Würde und Beifall« bekleidete und ein großes Gedicht auf ein Hoflager Augusts des Starken (mit den 354 natürlichen Kindern) verfertigte. Goethe sagt da:

»In allen souveränen Staaten kommt der Gehalt für die Dichtkunst von oben herunter, und vielleicht war das Lustlager von Mühlberg der erste würdige, wo nicht nationelle, doch provinzielle Gegenstand, der vor einem Dichter auftrat. Zwei Könige, die sich in Gegenwart eines großen Heers begrüßen, ihr sämtlicher Hof- und Kriegsstaat um sie her, wohlgehaltene Truppen, ein Scheinkrieg, Feste aller Art: Beschäftigung genug für den äußeren Sinn und überfließender Stoff für schildernde und beschreibende Poesie.

Freilich hatte dieser Gegenstand einen inneren Mangel, eben daß es nur Prunk und Schein war, aus dem keine Tat hervortreten konnte. Niemand außer den Ersten machte sich bemerkbar, und wenn es ja geschehen wäre, durfte der Dichter den einen nicht hervorheben, um andere nicht zu verletzen. Er mußte den Hof- und Staatskalender zu Rate ziehen, und die Zeichnung der Personen lief daher ziemlich trocken ab; ja, schon die Zeitgenossen machten ihm den Vorwurf, er habe die Pferde besser geschildert als die Menschen. Sollte dies aber nicht gerade zu seinem Lobe gereichen, daß er seine Kunst gleich da bewies, wo sich ein Gegenstand für dieselbe darbot? Auch scheint die Hauptschwierigkeit sich ihm bald offenbart zu haben; denn das Gedicht hat sich nicht über den ersten Gesang hinaus erstreckt.«

Und indem Goethe den Zweifel Breitingers erwähnt, ob Königs Gedicht wirklich ein Gedicht sei, fügt er hinzu, daß Breitinger in seiner »Kritischen Dichtkunst«, »von einem falschen Punkte ausgehend, nach beinahe schon durchlaufenem Kreise doch noch auf die Hauptsache stößt und die Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren Menschen, auf den die Dichtkunst doch wohl vorzüglich angewiesen ist, am Ende seines Buches gleichsam als Zugabe anzuraten sich genötigt findet«. Also auch hier derselbe Widerspruch wie bei der »berühmten Stelle«; der erste würdige Gehalt für die Dichtkunst kommt von den »Königen«, kommt »von oben herunter«, aber die »Hauptsache« ist doch der »innere Mensch«, sind »Sitten, Charaktere, Leidenschaften«.

Aber nicht nur deshalb gleiten die bürgerlich-preußischen Literarhistoriker über diese »nationelle« Stelle in »Dichtung und Wahrheit« fort. Noch schwerer liegt ihnen das »Lustlager von Mühlberg« im Magen als ein wenn nicht ganz, doch beinahe so würdiger Gegenstand der deutschen Dichtung wie der Siebenjährige Krieg. Das Lager von Radewitz, wie es in den alten Geschichtsbüchern gewöhnlich heißt, gehörte zu den kostspieligsten Sultanslaunen Augusts des Starken; das sächsische Heer von dreißigtausend Mann war zusammengezogen, um einen vollen Monat hindurch – Juni 1750 – einen lustigen Krieg zu führen; die schwelgerische Bewirtung der zahllosen Gäste, von denen der König von Preußen und der Kronprinz Friedrich die vornehmsten waren, verschlang solche Unsummen, daß sie selbst in jener Zeit ein gewisses peinliches Aufsehen erregten. Wenn Goethe in diesem Lustlager einen ersten Sporn der nationalen Poesie erblickte, so sieht es mit dem sei es auch »höheren Lebensgehalte«, den ihr der Siebenjährige Krieg gebracht haben soll, allerdings bedenklich aus. Eine drastische Schilderung des Lagers von Radewitz findet sich unter anderem bei Carlyle, Geschichte Friedrichs des Zweiten, 2, 145 ff.

Schließlich sei kurz erwähnt, was Goethe über Gleim und Ramler sonst noch in »Dichtung und Wahrheit« zu sagen hat: auf die Beziehungen von Lessings Minna zum Siebenjährigen Kriege müssen wir in anderem Zusammenhange zurückkommen. Zehn Seiten vor der »berühmten Stelle« lesen wir: »Gleim, weitschweifig, behagelich von Natur, wird kaum einmal konzis in den Kriegsliedern. Ramler ist eigentlich mehr Kritiker als Poet.« Drei Seiten weiter wird Gleim mit den Worten gestreift: »Das anakreontische Gegängel ließ unzählige mittelmäßige Köpfe im breiten herumschwanken.« Und endlich, allerdings erst im zehnten Buche, lobt Goethe die schöne Verwendung, die Gleim von seinem reichen Einkommen machte, und fügt hinzu: »Er gewann sich so viele Freunde, Schuldner und Abhängige, daß man ihm seine breite Poesie gern gelten ließ, weil man ihm für die reichlichen Wohltaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner Gedichte.« Anderes übergehen wir. Goethes Werke, 21, 62 ff., 48 ff., 53, 56, 172.

Denn der Leser wird wohl an den vorstehenden Zitaten schon genug haben. Gleichwohl ließen sie sich nicht umgehen, wenn die »berühmte Stelle«, die als ein versteinerndes Dogma die bürgerliche Literaturgeschichte beherrscht, einmal in ihre wirklichen Atome aufgelöst werden soll. Der von Fichte schon geschilderte »reine Leser«, der nicht mehr die Bücher selbst, sondern nur über die Bücher liest, steht heute ja in vollster Pracht; läse unsere bürgerliche Welt ihren Weltdichter wirklich und schwätzte sie nicht bloß nach Anleitung ihrer modischen Literaturhistoriker über ihn, so hätte jenes Dogma niemals entstehen können. Gerade im nächsten Zusammenhange mit der »berühmten Stelle« sagt Goethe selbst, als was er sein »Büchlein« betrachtet wissen will, als ein Stück seiner »Konfession«. Ein mehr als sechzigjähriger Greis erzählt, was ein sechzehnjähriger Jüngling gedacht, gefühlt, geträumt hat. Und wo ihm die »schwankenden Gestalten« wieder nahen, »die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt«, da fühlt sein Busen sich »jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der ihren Zug umwittert«; wo ihm »die Bilder froher Tage und manche liebe Schatten« aufsteigen, da quillt sein »Büchlein« von lauterer Weisheit, da fallen die tiefsten Blicke in Herz und Welt. Aber ein herzoglich weimarischer Geheimrat kann doch nicht mehr ganz so denken, fühlen und träumen wie der genialste Jüngling des achtzehnten Jahrhunderts; auch ein Goethe lebte nicht ungestraft mehr als ein Menschenalter in dem kleinstädtischen Hofleben einer deutschen Winkelresidenz. Da wird ihm gar manches »bedeutend«, was für sein Geistesleben niemals bedeutend gewesen ist: August der Starke und das Lustlager von Mühlberg, Friedrich der Große und der Siebenjährige Krieg; es fehlt nur noch Napoleon und der russische Feldzug. Oder vielmehr: Sie fehlen nicht. Denn zur Zeit, wo das siebente Buch von »Dichtung und Wahrheit« entstand, im Juli 1812, als sich die napoleonischen Heersäulen auf den Njemen zu wälzten und ganz Europa in der Ahnung eines drohenden Weltuntergangs erbebte, sang Goethe gelassen an »Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät«:

»Nun steht das Reich gesichert wie geründet,
Nun fühlt Er froh im Sohne sich gegründet«,

und als Schlußvers:

»Der alles wollen kann, will auch den Frieden.« Goethes Werke, 2, 413.

Bei alledem aber: Auch in seinen höfisch-philiströsen Stimmungen blieb Goethe doch noch immer Goethe, war er noch immer ganz etwas anderes, als die bürgerlich-preußischen Literarhistoriker aus ihm machen möchten. Selbst in der »berühmten Stelle« – eine wie tiefe Menschenkenntnis bekundet er in dem Worte von Lessings Wegwerfen und Wiederaufnehmen der persönlichen Würde! Es gehört zu dem Treffendsten, was je über Lessing gesagt worden ist, und deckt sich in wunderbarer Weise mit einem Gedichte von Lessing, das erst nach Goethes Tode wiederaufgefunden worden ist, mit dem Gedicht Ich, dessen Schlußzeilen lauten:

»Wie lange währt's, so bin ich hin
Und einer Nachwelt untern Füßen;
Was braucht sie, wen sie tritt, zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin.«

Und ferner: Wenn man liest, daß Goethe dem Dresdener Hofpoeten die glücklichere Schilderung der Gäule als der Menschen »gerade zum Lobe« anrechnet, wenn man liest, daß Goethe den preußischen König verteidigt, weil Friedrich, wie man heute sagen würde, den nationalen Gedanken in Gestalt schofler Fabrikware – »billig und schlecht« heißt's ja wohl heutzutage – noch geehrt, aber die deutsche Literatur nicht einmal dieser Pflege für wert erachtet, sondern die Deutschen rein als Kanaillen behandelt habe, damit sie aus lauter Widerspruchsgeist große Denker und Dichter würden, wenn man dies alles mit einfachem, gesundem Menschenverstande liest und dann einen Blick auf den alexandrinischen Notenkram und die byzantinischen Kommentare wirft, die über die »berühmte Stelle« aufgehäuft sind, möchte man dann nicht mit dem alten Baron im Münchhausen sagen: »Der Schulmeister schnappt noch gar über! Das ist ja die blanke, pure Gottessatire?« Aber so sind unsere Schulmeister. Statt wenigstens so viel zu sehen, daß Goethe sowohl von dem Lustlager von Mühlberg wie von dem Siebenjährigen Kriege auf die »Sitten, Leidenschaften, Charaktere« des »inneren Menschen«, der »bürgerlichen Welt« als die »Hauptsache« der damaligen Dichtung im allgemeinen und seiner Dichtung im besonderen zurückkehrt, daß er also von unserer klassischen Literatur nach einigen krausen Schnörkeln eben das sagt, was Schiller schon in die Worte gekleidet hatte: Selbst erschuf sie sich den Wert, statt den höchsten Ruhmestitel des deutschen Bürgertums hervorzuheben und unsertwegen auch mit ihm zu prahlen, den Ruhmestitel, daß die bürgerlichen Klassen des achtzehnten Jahrhunderts, so gedrückt und geschunden, so verarmt und verzopft sie in Deutschland waren, doch noch Kerle wie Lessing, Herder, Goethe, Schiller und wie viele andere noch! aus sich hervorgebracht haben, statt dessen hängen sich unsere literarischen Schulmeister an das Zöpfchen von Goethe, um sich von da an den Zopf Friedrichs schwingen und an diesem ihre loyalen Turnkünste zeigen zu können.

Und wenn ihnen ja eine Ahnung aufdämmert, daß sie sich auf einem Holzwege befinden, so verlaufen sie sich erst recht. So orakelt Herr Grisebach in seiner Biographie Bürgers, mit dem staatlichen Aufblühen Preußens unter Friedrich dem Großen hebe naturgemäß auch eine neue Epoche der deutschen Literatur an; er zitiert dann einige Sätze aus der »berühmten Stelle«, fügt aber hinzu: »Nur hätte Goethe nicht Gleims und Ramlers politische Reimereien sowie den als Dichter so unglaublich überschätzten Lessing, der sich selbst weit richtiger taxierte, als Beweis des Neuen anführen sollen.« Schade, daß Herr Grisebach nicht mehr den alten Olympier selbst deshalb stellen konnte. Auf diesen vorwitzigen Einwand würde Goethe wohl aus seiner »bedeutenden« Redeweise gefallen und mit dem Gemeinplatze herausgefahren sein: Mein Lieber, woher nehmen und nicht stehlen? Grisebach, G. A. Bürgers Werke, 1, 19. Herr Grisebach ist übrigens auch ein famoses Beispiel dafür, wie die heutigen Reichsdichter »höheren Lebensgehalt« gewinnen. Als Herr Falk seine Kulturkampfgesetze machte, dichtete Grisebach einen »Tannhäuser in Rom«, worin sich Tannhäuser also von der »Teufelinne« befreit: »Auf Rom hernieder sah Tannhäuser, an Deutschland dacht' er und den Kaiser, das teure, edle, deutsche Land, das nun in bittrem Zwist entbrannt wie zu der Hohenstaufenzeit: Hier Kaiser! und hier Pabest! schreit ... Tannhäuser schwur gleich seinen Ahnen zu folgen eines Kreuzzugs Fahnen, doch wider deutschen Reiches Feind als Gottes und des Kaisers Freund, wider den Papst und seine Pfaffen mit seines Worts stahlharten Waffen zu kämpfen als ein treuer Ritter. Die alte, weiche Liebeszither ... Tannhäuser hat sie heut zerschmettert am Felsen Petri, keine Lieder ersinnt die hohe Stirn euch wieder, und sein verschloßner ernster Mund tut nicht mehr im Gesang sich kund, in Büchern, Schriften, flücht'gen Blättern wird er ins alte Schlachthorn schmettern.« Natürlich so lange, bis der »Pabest« von wegen der Lebensmittelzölle wieder »Gottes und des Kaisers Freund« wurde.

Denn wenn schon ein Einfluß Friedrichs und des Siebenjährigen Krieges auf die deutsche Literatur nachgewiesen werden soll, so hat Goethe allerdings dasjenige herausgegriffen, was menschenmöglicherweise in diesem Sinne verwertet werden kann; Lessings Minna verherrlicht den Siebenjährigen Krieg zwar nicht und gewinnt auch nicht ihren »höheren Lebensgehalt« aus ihm, aber sie bezieht sich wenigstens auf ihn. Ramler war zwar schon vor sechzig Jahren, wie damals Platen von ihm sang, »längst in Gott verstorben«, aber als er lebte, besang er allerdings den König Friedrich. Und endlich zeichnen sich Gleims Kriegslieder vor seiner sonstigen läppischen Poesie bis zu einem gewissen Grade immerhin aus. Auch ist Gleim der einzige preußische Dichter, der den König Friedrich wenigstens einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Nachdem er ihn bald ein halbes Jahrhundert angesungen hatte, wurde ihm das Glück kurz vor Friedrichs Ende noch zuteil, und Gleims poetischer Bericht darüber möge hier eine Stelle finden:

»Der König und Gleim
zu Potsdam, den 22. Dezember 1785

Wie heißt der Domdechant? v. Hardenberg.
Macht der auch Verse? Mehr als ich!
Macht er sie auch so gut als Er?
Ich glaube nein: Man schmeichelt sich
Am liebsten selbst. Da hat Er recht! die Brüder
Im heiligen Apoll, die harmonieren nicht.
Wir harmonieren sehr, denn er macht Kirchenlieder,
Ich nicht, und keiner spricht
Von seinen Versen. Das ist besser,
Als wenn ihr's tätet! Aber sagt:
Ist Wieland groß, ist Klopstock größer?
Der, Sire! wäre stolz, der's zu entscheiden wagt.
Er ist nicht stolz? Ich bin's in diesem Augenblick,
Sonst eben nicht. Er geht nach Halberstadt zurück,
Ins hochgelobte Mutterland?
Ja, Ihro Majestät! Grüß Er den Domdechant!« Körte, Gleims Leben, 219.

Das wäre so die einzige Stelle, worauf sich ein literarisches Zeitalter »Friedrichs des Großen« bauen ließe. Aber ach! sie ist bei den bürgerlich-preußischen Literarhistorikern gar nicht »berühmt«.


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