Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Berlin im achtzehnten Jahrhundert

Nach seiner Flucht aus Leipzig wandte sich Lessing zunächst nach Wittenberg, der anderen sächsischen Universität, wo er im August 1748 als Student der Medizin eingeschrieben wurde. Es scheint indes, daß seine Gläubiger ihn auch hierher verfolgt haben; jedenfalls siedelte er noch vor Schluß des Jahres nach Berlin über. Er vollzog damit aber keineswegs eine »Option für Preußen«, einen »entscheidenden, tief begründeten Schritt«, wie Herr Erich Schmidt unter gewaltigem Aufwande patriotischer Redensarten behauptet. Vielmehr vertrieb ihn aus Sachsen seine finanzielle Misere, und wenn er von nun an auf eigenen Füßen stehen wollte, was um so mehr seine Absicht war, als er der Armut seiner Eltern weitere Opfer für seine Universitätsstudien nicht zumuten mochte, so mußte er sein Heil in einer großen Stadt versuchen. Denn wenn überhaupt, so konnte er nur in einer solchen auf literarische Anknüpfungspunkte hoffen. Für diesen Zweck lag ihm aber Berlin am nächsten, namentlich auch deshalb, weil sein Jugendfreund und Vetter Mylius eben aus Leipzig nach Berlin übergesiedelt war, um die Redaktion der »Berlinischen privilegierten Zeitung« zu übernehmen, derselben Zeitung, die heute unter dem Namen der »Vossischen Zeitung« bekannt ist und der Kürze wegen gleich so genannt werden mag.

Sonst freilich konnte sich Berlin mit Leipzig in keiner Weise messen, es sei denn an Einwohnerzahl, die bei Lessings Einzug in die preußische Hauptstadt sich bereits auf mehr als hunderttausend Köpfe belief. Berlin und Leipzig vertraten mit in erster Reihe zwei sehr voneinander verschiedene Kategorien deutscher Städte. Eine unparteiische Zeugin, Lady Montague, 1716 durch Deutschland reiste, vergleicht die Handelsstädte wie Leipzig mit holländischen Hausfrauen, die von einem gewissen sauberen und soliden Wohlstande umgeben seien, während sie als gemeinsamen Charakterzug der Residenzstädte wie Berlin eine gewisse schäbige Eleganz, eine aufgeputzte Unsauberkeit und Armut, namentlich in den höheren Klassen, nennt. Nach ihrem Ausdrucke glichen diese Städte geschminkten und frisierten Freudenmädchen mit Bändern in den Haaren und Silbertressen auf den Schuhen, aber in zerrissenen Unterröcken. Das Urteil klingt hart, doch ist es nach allen sonstigen Zeugnissen nicht ungerecht. Derartige Städte waren meist künstliche, parasitische Schöpfungen, bestimmt, der fürstlichen Allmacht einen prunkenden Hintergrund zu geben, jeder kommunalen Selbständigkeit entkleidet, überfüllt mit kriechenden Höflingen, servilen Beamten, brutalen Soldaten, ausländischen Abenteurern, im günstigsten Falle noch ausgestattet mit allerlei Privilegien, die eine künstliche Gewerbe- und Handelstätigkeit hervorrufen sollten, aber natürlich nur in mehr oder minder beschränktem Maße hervorrufen konnten, womit dann die Abhängigkeit der Bürgerschaft vom Hofe noch verstärkt wurde. Diese Städte waren Mikrokosmen des deutschen Elends, dessen verheerende Folgen nirgends so traurig hervortraten wie in ihnen.

Kaum irgendwo in Deutschland aber sah es mit dem Städtewesen so übel aus wie im Preußischen. Wir haben schon bemerkt, daß der preußische Absolutismus nicht in derselben Weise entstanden war wie der Absolutismus in ökonomisch vorgeschrittenen Ländern: nicht durch die Entwicklung des Warenhandels und der Warenproduktion, nicht durch die Stütze, die er an den Städten gegen den Adel gewann, und nicht durch den Schutz, den er den Städten gegen den Adel gewährte. Er ist immer, auch in seinen scheinbar glänzendsten Zeiten, abhängig gewesen von den feudalen Junkern. Vielleicht hatte die Armut des Landes und die Ungunst der geographischen Lage die märkischen Städte im Ausgange des Mittelalters nicht in dem Maße erstarken lassen, daß die zur Herrschaft gelangten Hohenzollern mit ihrer Hilfe die Macht der Junker hätten brechen können. Aber es ist auch gar kein ernsthafter Versuch dazu gemacht worden, es sei denn, daß man das sehr vorübergehende Bündnis, das der erste Hohenzoller mit den Städten schloß, um die Quitzows niederzuwerfen, als solchen Versuch betrachten will. Jedenfalls schor bereits der zweite Hohenzoller auf Halbpart mit dem Adel die märkischen Städte, namentlich die Schwesterstädte Berlin-Kölln, bis aufs nackte Leben. Patriotische Geschichtsschreiber nennen das »die trotzigen Städte in die wohltätige Zucht des Staatsgedankens nehmen«, aber die aus dem Jahre 1448 erhaltenen, leider nur spärlichen Urkunden geben ein etwas abweichendes Bild des Hergangs.

Nämlich der Kurfürst Friedrich II. benützte einen Zwist zwischen den Geschlechtern und den Zünften von Berlin-Kölln, um sich zum Schiedsrichter aufzuwerfen und eine Zwingburg am Saume der Stadt anzulegen, dasselbe Gebäude, das Herr Eugen Richter mit untertänigstem Bückling als das »altehrwürdige Hohenzollernschloß« preist. Die Berliner von dazumal erstarben nicht ganz in so loyaler Ehrfurcht; Geschlechter wie Zünfte rochen den Braten, noch ehe er gar war; sie vereinigten sich und verschanzten die Städte durch einen Blockzaun gegen die entstehende Burg; sie vertrieben die Bauleute des Kurfürsten sowie die Richter und Zöllner, die er ihnen auf den Hals gesetzt hatte, sie riefen die anderen märkischen Städte zu gemeinsamem Widerstande gegen den drohenden Schlag auf. Aber ehe dieser Widerstand organisiert werden konnte, fielen Kurfürst und Junker mit gewaffneter Hand über Berlin-Kölln her und warfen die Städte vollständig nieder. Der Kurfürst machte seinen Hofrichter zum Bürgermeister, und die Stellen der Ratmannen besetzte er zum Hohn für die Bürgerschaft mit seinen reisigen Knechten. Die Gerichte, Mühlen, Zölle und Landgüter der Stadt wurden dem Küchenmeister des Kurfürsten als Lehen übergeben; das heißt: Sie dienten fortan dazu, den gesamten kurfürstlichen Hofhalt zu unterhalten. Die Patrizier der Städte mußten ihre Lehen, selbst das Leibgedinge ihrer Frauen an den Kurfürsten übergeben, und von ihrem »fahrenden Gute« hatten sie ungeheure Strafgelder zu zahlen. In der Zeit vom 12. September bis zum 14. Oktober 1448 erschienen sie Mann für Mann »in dem kleinen Stüblein über dem Torhause zu Spandau« und haben, wie es in den Protokollen heißt, »ir liep und alle ir gut in mynes gnedigen heren hand gesetzet und gegeben«. An barem Geld allein zahlten die Schum, die Blankenfelde, die Brackow, die Ryke je 3000, die Stroband, die Wyns je 2000 rheinische Gulden und so weiter herab nach dem Besitze der einzelnen Familien bis auf je 1000 oder 700 Gulden. Erwägt man, daß der rheinische Gulden damals den Wert von zwei Talern und nach heutigem Geldwerte mindestens den Wert von zwanzig Mark hatte, so ist leicht zu ersehen, daß sich die »wohltätige Zucht des Staatsgedankens« in diesem eigentümlichen Falle wirklich nur als vollständige Vermögenskonfiskation bewährt hat. Minder offen, aber nicht minder gründlich bluteten die andern märkischen Städte, und dafür, daß sie sich von so erschöpfenden Aderlässen nicht wieder erholten, sorgten die Nachfolger des »eisernen Friedrich«. Um nur noch ein Beispiel anzuführen, so gab der sittenlose und verschwenderische Kurfürst Joachim II., als ihm das nötige Metall zur Ausprägung neuer Münzen fehlte, seinem Hofjuden Lippold eine Vollmacht, bei achtzehn reichen Bürgern einen »Einfall« zu tun und ihnen das vorgefundene Gold und Silber abzunehmen. In dankbarer Erinnerung an diesen »Einfall« hat denn auch die freisinnige Stadtverwaltung von Berlin vor einigen Jahren den andern »Einfall« gehabt, aus der Tasche der städtischen Steuerzahler zehntausend Mark für ein Standbild dieses Joachim zu spenden.

Nach dem Dreißigjährigen Kriege nahm die hohenzollernsche Städtepolitik nicht sowohl ein anderes Wesen als andere Formen an. Mit dem einfachen Ausschöpfen der bürgerlichen Säckel war es vorbei, weil in diesen Säckeln überhaupt nichts mehr zu finden war; Berlin ging aus den Verheerungen jenes Krieges als ein elendes Nest baufälliger Hütten hervor mit ein paar Tausend Einwohnern, die nichts mehr zu brechen und zu beißen hatten. Der militärische Absolutismus brauchte nun aber Geld, viel Geld; er mußte ausländische Kapitalien und Kapitalisten heranziehen; so sorgte er in seiner Weise für die »Peuplierung« der Städte und die Förderung der städtischen Industrie. Er setzte dafür alle möglichen Hebel an, gebrauchte dazu alle möglichen Mittel, mitunter nicht üble, oft aber auch sehr gewagte. Nützlich, namentlich in wirtschaftlicher Beziehung, war die Aufnahme der französischen, böhmischen, salzburgischen aus ihrer Heimat vertriebenen Protestanten, aber daneben lockte die verschwenderische Hofhaltung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und mehr noch seines Sohnes, des Königs Friedrich I., allerlei zweifelhaftes Volk nach der preußischen Hauptstadt. Unter Friedrich Wilhelm I. hörte dieses Zugmittel zwar auf zu wirken; vielmehr wurde die Bürgerschaft unter einem so scharfen Drucke gehalten, daß sie sich den harmlosesten Lebensgenuß höchstens auf die Gefahr königlicher Stockprügel gönnen durfte. Allein in seiner besonderen Weise sorgte der wunderliche Tyrann doch auch für die Erweiterung seiner Residenz; er befahl wohlhabenden Leuten oder solchen, die er dafür ansah, ohne weiteres den Bau von Häusern in Berlin, deren Fundamentierung in dem sumpfigen Boden nicht selten das ganze Vermögen ihrer glücklichen Besitzer kostete. Was immer für die Städte geschah, das geschah nicht um der Städte willen, sondern im Interesse des militärischen Absolutismus, der denn auch alsbald wieder die Henne zu schlachten begann, ehe sie noch die goldenen Eier legen konnte. Friedrich Wilhelm I. nahm den Städten das Kämmereiwesen ab und stellte es unter seine Steuerräte mit dem Befehle, den Städten nur das Notdürftigste zu lassen und den Überschuß an die königlichen Kassen abzuführen. Vermutlich ist es dies »Verdienst um das Bürgertum«, das ihn nach Herrn Schäffles glaubwürdiger Versicherung befähigte, den Thron als einen Felsen von Erz zu errichten. Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, 4, 287. Friedrich II. führte das schöne Prinzip seines Vaters noch strenger durch: Die städtische Verwaltung wurde zu einer königlichen; die Kriegs- und Domänenkammern verfügten über das städtische Eigentum nach ihrem Belieben und ernannten die Magistrate; als ein General seinen invaliden Regimentspauker zum Bürgermeister einer Stadt empfohlen hatte, antwortete ihm der König, zuvor müßten die gedienten Unteroffiziere in diesen Ämtern versorgt werden. Was aber Berlin im besonderen angeht, so schlug Friedrich sozusagen einen mittleren Weg zwischen den Methoden seiner Vorgänger ein; unter ihm wurde die preußische Hauptstadt ein zwar nicht lustiges, aber dafür liederliches Gefängnis.

Der Zeugnisse für diese Tatsache gibt es so viele und – trotz ihres sehr verschiedenen Ursprungs – so übereinstimmende, daß wir uns genügen lassen können, gerade nur ein halbes Dutzend beizubringen. Der englische Gesandte, Sir Charles Hanbury Williams, schrieb 1750 aus Berlin über Friedrich: »Es ist gar nicht zu glauben, wie dieser pater patriae sich um seine Untertanen sorgt ... Er läßt ihnen in der Tat keine andere Freiheit als die des Denkens. Der Zwang geht durch alle Stände, und Mißtrauen drückt sich auf jedem Gesichte aus. Ich denke, Hamlet sagt irgendwo: Dänemark ist ein Gefängnis; das ganze preußische Gebiet ist ein solches im buchstäblichen Sinne des Worts.« Sein Nachfolger, Lord Malmesbury, schrieb im Jahre 1772: »Berlin ist eine Stadt, wo es weder einen ehrlichen Mann noch eine keusche Frau gibt. Eine totale Sittenverderbnis beherrscht beide Geschlechter aller Klassen, wozu noch die Dürftigkeit kommt, die notwendigerweise teils durch die von dem jetzigen Könige ausgehenden Bedrückungen, teils durch die Liebe zum Luxus, die sie seinem Großvater abgelernt haben, herbeigeführt worden ist. Die Männer sind fortwährend beschäftigt, mit beschränkten Mitteln ein sehr ausschweifendes Leben zu führen. Die Frauen sind Harpyen, denen Zartgefühl und wahre Liebe unbekannt sind und die sich jedem preisgeben, der sie bezahlt.« Der italienische Dichter Alfieri, der im Jahre 1770 Preußen besuchte, erklärte in seiner Selbstbiographie, Berlin sei ihm vorgekommen wie » eine große Kaserne, welche Abscheu einflößt«, und der ganze preußische Staat »mit seinen vielen Tausend bezahlter Satelliten wie eine ungeheuere, ununterbrochene Wachtstube«. Georg Forster ließ sich 1779 nach einem längeren Aufenthalte in Berlin brieflich gegen Jacobi also aus: »Ich habe mich in meinen mitgebrachten Begriffen von dieser großen Stadt sehr geirrt. Berlin ist gewiß eine der schönsten Städte in Europa. Aber die Bewohner! Gastfreiheit und geschmackvoller Genuß des Lebens ausgeartet in Üppigkeit, Prasserei, ich möchte sagen Gefräßigkeit ... Die Frauen allgemein verderbt.« Der zarte Frühlingssänger Kleist plauderte 1751 in einem Briefe an seinen Freund Gleim: »Sie wissen doch schon die Aventure des Markgrafen Heinrich. Er hat seine Gemahlin auf seine Güter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den Prinzen von Holstein bei ihr im Bette getroffen hat ... Der Markgraf hätte wohl besser getan, wenn er den Handel verschwiegen hätte, statt daß er jetzt ganz Berlin und die halbe Welt von sich sprechen macht. Überdem sollte man eine so natürliche Sache nicht so übelnehmen, zumalen wenn man selber nicht so glaubensfest ist wie der Markgraf. Der Ekel ist doch ganz unausbleiblich in der Ehe, und alle Männer und Frauen sind durch ihre Vorstellungen von anderen liebenswürdigen Vorwürfen nezessitieret, untreu zu sein. Wie kann das bestraft werden, wozu man gezwungen ist?« Gleim aber meldete 1746 über eine Redoute, die er mit Kleist besucht hatte, an Uz: »Wir tanzten, aber ich für mein Teil war gar nicht zufrieden, daß ich nicht durch die Larve hindurch sehen konnte, ob ich mit einer Prinzessin oder mit einer Hure tanzte. Es geht in der Tat bei dieser Lustbarkeit ein bißchen zu unordentlich her, als daß sie mir gefallen sollte. Auf dem adligen Platze ist man zu blöde, und auf dem bürgerlichen findet man kein sprödes Mädchen. Anakreons Maskeraden sind artiger gewesen. Es sind wenig Erfindungen und fast gar keine Scherze bei den hiesigen. Die grobe Wollust hat allenthalben die Oberhand.« So der eine preußische Barde, den nur seine »Blödigkeit« verkennen ließ, daß es auf dem »adeligen Platze« ebenso aussah wie auf dem bürgerlichen. Der andere preußische Barde aber, nämlich Ramler, der als Lehrer am Kadettenkorps angestellt war, schrieb an seinen Bundes- und Liedesbruder, er sei krank, weil er zu arm sei, eine Mätresse zu unterhalten. Mindestens die Zeugnisse von Kleist und Gleim, die 1882 in Kleists Werken, 2, 192 und 3, 30, von Sauer veröffentlicht worden sind, waren Herrn Erich Schmidt bekannt, als er 1885 den ersten Band seiner Lessing-Biographie veröffentlichte. Gleichwohl entdeckt er nur in der sächsischen Residenzstadt Dresden »die prickelnde Lüsternheit, die handfeste Zote« und obendrein den »Privatklatsch, der dort wuchern muß, wo die Schößlinge öffentlicher Interessen ausgerottet und alle politischen Angelegenheiten dem unmündigen Bürger verschlossen wurden ... In Berlin aber wurden die Gazetten nicht geniert«. So wörtlich 1, 38.

Ein erklärendes Licht auf die sittlichen Zustände Berlins wirft die damalige soziale Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Zahlen, die wir darüber haben auffinden können, rühren allerdings erst aus den siebziger Jahren her, doch dürfte der Unterschied zu den fünfziger Jahren nur ein quantitativer, nicht ein qualitativer sein. Ende der siebziger Jahre lebten in Berlin

Männer 20 755
Frauen und Witwen 25 996
Söhne 16 919
Töchter 21 582
Gesellen und Handlungsdiener 5 588
Lehrjungen 2 410
Diener und Knechte 5 027
Mägde 10 078
Garnison 32 564
_______
138 719

Das Übergewicht der männlichen über die weibliche, der unverheirateten über die verheiratete Bevölkerung springt in die Augen. Ackerbau trieben 85 Personen; in den vier Hauptzweigen der Weberei, der damaligen Hauptindustrie (Seide-, Linnen-, Woll- und Baumwollmanufaktur), belief sich die Zahl der arbeitenden Stühle auf 6 168 mit über 7 000 Arbeitern. Sie lieferten jährlich für 3 774 000 Taler Ware, wovon ins Ausland für 817 000 Taler gingen. Die Arbeitslöhne betrugen 2 117 000 (auf die Person 278) Taler. Andere fabrikmäßige Manufakturen beschäftigten zu gleicher Zeit 2530 Arbeiter mit einem Arbeitsverdienste von 438 000 (auf die Person 249) Talern. Sie produzierten einen Wert von 1 367 000 Talern, wovon für 522 000 Taler ins Ausland abgesetzt wurden. Die Gesamtsumme der in allen Erwerbszweigen zusammen angesetzten Arbeiter belief sich auf 10 113, die Summe der Arbeitslöhne auf 2 600 000, der produzierten Werte auf 6 Millionen, der Ausfuhr auf 1 720 000 Taler. Im Jahre 1785 zeigte sich in allen diesen Ansätzen eine Verminderung von zehn bis zwölf Prozent, ein Beweis mehr für die Behauptung Mirabeaus, daß Gewerbe und Handel im preußischen Staate flau, künstlich erzeugt und ohne nachhaltige Grundlage seien. Die obigen Ziffern sind zusammengestellt aus Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, und aus Reeden, »Zeitschrift für Statistik«. Eine brauchbare Geschichte von Berlin gibt es noch nicht; die Werke von Streckfuß und Schwebe! gleichen sich, bei sehr verschiedener Tendenz, doch darin, daß sie sich den bescheidensten wissenschaftlichen Ansprüchen versagen. Übrigens werfen die obigen Ziffern unter anderem auch einiges Licht auf die manchesterliche Behauptung, daß sich die Arbeitslöhne in diesem Jahrhundert gehoben hätten. Man muß nur den durchschnittlichen Arbeitsverdienst von 260 Talern nicht allein als Geld-, sondern auch als Sachlohn ins Auge fassen; bei den damaligen Lebensmittelpreisen konnte man, wie Lessing an seinen Vater schrieb, für 15 Pfennig eine starke Mittagsmahlzeit haben.

Wenn nun aber schon eine durch allerlei Monopole und Privilegien herangezüchtete Gewerbe- und Handelstätigkeit eine sehr unsichere Grundlage für bürgerliche Unabhängigkeit ist, so kam in diesem Falle noch der erschwerende Umstand hinzu, daß die kapitalistischen Unternehmer sich ganz überwiegend aus Franzosen, Juden und wenn nicht Polen, so doch Tschechen rekrutierten. Die französische Kolonie belief sich auf 5346, die böhmische auf 1125, die Judenschaft auf 4245 Köpfe. Industriell und intellektuell der Sauerteig der Bevölkerung, waren diese Schichten moralisch und politisch, um mit Herrn Mommsen zu sprechen, Elemente der Dekomposition. Vor allem die Franzosen und die Juden. Diese »Nation« – denn so, nicht »Konfession«, nannte sie sich damals selbst – konnte nach ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und ihrer gewaltsamen Beschränkung auf den Geldhandel unmöglich aus Engeln des Lichts bestehen und bestand in ihrer Masse auch wirklich nicht daraus, und was die französischen Einwanderer anbetrifft, so waren sie nach vielen Klagen der Zeitgenossen eben auch keine Tugendhelden. Es ist immer wieder die sinnlose Vorstellung zurückzuweisen, als ob der protestantische Glaube in geistiger und sittlicher Beziehung irgendeinen Vorzug vor anderen Religionsbekenntnissen besitze. Die Hugenotten waren nicht die ökonomisch entwickeltsten Elemente der französischen Bevölkerung, weil ihr protestantischer Glaube sie mit einem besonderen Maße von Einsicht und Tugend gesegnet hatte, sondern vielmehr: Weil sie die ökonomisch entwickeltsten Elemente waren, bekannten sie sich zu dem protestantischen Glauben als dem ihren kapitalistischen Interessen gemäßesten Religionsbekenntnisse. Wie der Hunger nach Mehrwert sie schon in verhältnismäßig früher Zeit, schon in den Jahren Richelieus, der ihnen durchaus wohlwollte, bis zum Bürgerkriege und zur Seeräuberei fortriß, dafür hat Buckle, Geschichte der Zivilisation in England (deutsch von Ruge), 1, 2, 25 ff., eine Fülle unwiderleglicher Zeugnisse beigebracht, deren Gewicht keineswegs dadurch geschwächt wird, daß Buckle sie auch nur in ideologischer Weise zu erklären weiß. Doch auch davon abgesehen, so bildeten diese fremdländischen Kolonien gewissermaßen Staaten im Staate; sie besaßen ihre besonderen Behörden, ihre besonderen Rechte, ihre besonderen Lasten; sie gehörten sozusagen mit Haut und Haaren dem Könige, von dessen Gnade sie vieles zu hoffen und von dessen Ungnade sie alles zu fürchten hatten, und dies Gefühl einer unbedingten Abhängigkeit durchdrang sie um so mehr, als sie von der deutschen Bevölkerung durch starke Interessengegensätze getrennt waren. Dagegen machte es keinen besonderen Unterschied, daß die Franzosen vom Könige mehr gehätschelt, die Juden mehr gestriegelt und in der Tat eher als finanzielles Melkvieh denn als Menschen behandelt wurden. Nach dem »Revidirten Generalprivilegium und Reglement vor die Judenschaft in Preußen« von 1750 sollte die Zahl der Juden beschränkt bleiben, für Berlin beispielsweise auf 152 Familien; sobald die für jeden Ort bestimmte Ziffer überschritten war, sollte der Überschuß durch die Ausweisung der ärmsten und unsittlichsten Juden aus dem Lande wieder beseitigt werden; der König selbst ließ sich die betreffenden Tabellen im Anfange jeden Jahres zur Prüfung vorlegen. Allein da er »denen Juden den Schutz hauptsächlich deßhalb gestattete, um Handel, Commerce, Manufakturen, Fabriquen und dergleichen« zu betreiben, so verhalf er ihnen zu einer ökonomischen Macht, deren Konsequenzen er sich nicht entziehen konnte. Die Schutzjuden Abraham Markus, Veitel Ephraim und Daniel Itzig erhielten schon 1761 »die Freiheit eines christlichen Banquiers bei rechtlichen Angelegenheiten vor und außer Gericht«, während die Masse der Judenschaft trotz aller gesetzlichen Beschränkungen immer stärker anwuchs. Die im Text angeführte Ziffer von 4245 Köpfen gibt Nicolai für 1779 an; Preuß, 3, 431, berechnet 500 Judenfamilien mit 3374 Köpfen, und zwar für das Jahr 1784. Es kommt wenig auf den Unterschied an, doch ist Nicolai die ältere und genauere Quelle. Möglicherweise erklärt sich die Abweichung dadurch, daß Preuß nur die eigentlichen Schutzjuden nebst Familien rechnet, während Nicolai auch die jüdischen Bediensteten dieser Schutzjuden mitzählt, die für die Dauer ihrer Dienste sich in Berlin aufhalten durften. Wurden sie entlassen, so waren die Judenältesten verpflichtet, der Polizei sofortige Anzeige zu erstatten, damit sie die Entlassenen aus Stadt und Land treibe. Zu dieser Kategorie der Juden gehörte beispielsweise Moses Mendelssohn, der Buchhalter in einer der Witwe Bernhard gehörigen Seidenfabrik war. Als der Marquis d'Argens durch einen Juden Raphael von diesen Zuständen hörte, wollte er anfangs nicht glauben, daß solche Unduldsamkeit in den Staaten seines königlichen Freundes herrschen könnte, aber auf eine Anfrage bestätigte ihm Moses, daß die Judenältesten verpflichtet seien, ihn durch die Polizei vertreiben zu lassen, falls die Witwe Bernhard ihn entließe und ihn »nicht einer von den Trödeljuden in der Reezengasse für seinen Diener erklären« wolle. Nach wiederholten Bitten des Marquis d'Argens ernannte Friedrich dann den guten Moses zum außerordentlichen Schutzjuden, das heißt, er gab ihm ein Privileg auf Lebenszeit für seine Person; als dagegen Moses 1779, also fast zwanzig Jahre, nachdem die berüchtigten, aber ökonomisch mächtigen Wucherer Ephraim und Itzig die »Freiheit eines christlichen Banquiers« erhalten hatten, zum ordentlichen Schutzjuden zu avancieren wünschte, der als solcher auch seine Kinder im Lande ansetzen durfte, schlug der König seinem Mitphilosophen die Bitte ab, wie er denn auch seiner Wahl in die Akademie rundweg die Bestätigung verweigerte. Siehe neben Preuß auch Nicolai, Anekdoten von König Friedrich, 1, 62. Übrigens könnten die heutigen Antisemiten aus der damaligen Zeit lernen, was bei dem obrigkeitlichen Kujonieren der Juden herauskommt. Der jüdische Wucher blüht dann um so üppiger, während die Juden, die sich vom Judentum befreien wollen, um so schamloser unterdrückt werden.

Genug, während Franzosen und Juden ökonomisch die Herrschaft über und intellektuell einen wohltätig aufrüttelnden Einfluß auf die einheimische Bevölkerung gewannen, blieben sie politisch noch abhängiger als diese von jeder Laune des fürstlichen Despotismus, und das eigentümliche Verhältnis hat eine bis auf diesen Tag fühlbare Nachwirkung in den. bürgerlichen Klassen von Berlin gehabt. Von ihm rührt einerseits jener behende Mutterwitz her, der über Gott, König und die Welt die kecksten und schlagendsten Worte findet, andererseits aber auch jene unausrottbare Ehrfurcht vor jeder am Horizont aufblinkenden Helmspitze eines Schutzmannes. Erst seitdem es in Berlin eine selbständig erwachsene Arbeiterklasse gibt, hat sie das Gute mit dem Besseren zu verbinden verstanden. Die Arbeiter eroberten am 18. März 1848 Berlin, während die Bürgerwehr dem wieder einziehenden Heere des Staatsstreichs allein den »passiven Widerstand« und eine Fülle beißender Witze über den alten Wrangel entgegenzusetzen wußte. Man sieht aber, wie unrecht die Reaktion daran tat, Franzosen, Juden und Polen als die Urheber des 18. März anzuklagen; sie hat vielmehr allen Anlaß, den Franzosen, Juden und wenn nicht Polen, so doch Tschechen ihren Dank dafür abzustatten, daß die Bürgerschaft von Berlin den Revolutionär immer nur in Schlafrock und Pantoffeln gespielt hat.

So mußten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts bürgerliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit in Berlin ebenso unbekannte Begriffe wie Tatsachen sein. Städtische Behörden als solche gab es nicht; der königliche Despotismus herrschte über der Stadt unumschränkt, bis ins Kleine und Kleinliche sich einmischend; was er dennoch vielleicht noch ungehudelt ließ, das hudelten der bürokratische und der militärische Despotismus, den die 2986 Beamten und die Offiziere der über 30 000 Mann starken Garnison ausübten. Von einem geistigen Leben kann da kaum gesprochen werden. Es würde so lächerlich sein, die paar kleinen Winkelblätter mit den Leipziger »Acta Eruditorum« in einem Atem zu nennen, wie die paar verkommenen Gymnasien mit den sächsischen Fürstenschulen auf eine Stufe zu stellen. Der gelehrteste Mann der Spreestadt, ihr »griechisches Orakel«, war der Rektor Damm vom Köllnischen Gymnasium; zu ihm pilgerte Winckelmann, um Griechisch zu lernen; bei ihm nahmen Mendelssohn und Nicolai noch als erwachsene Männer Unterricht im Griechischen. Er haftete aber nur am Wortverstande und übersetzte den Homer »in das abscheulichste Rotwelsch, durch das jemals ein Pedant sich an der deutschen Sprache vergangen hat« (Justi). Seine Übersetzung des Neuen Testaments brachte ihn gar in den Verdacht ketzerischer Meinungen. Anfeindungen des Pöbels verdüsterten das Leben des braven Mannes, und seine Schule verfiel gänzlich.

Ein Theater gab es in Berlin zur Zeit von Lessings Übersiedlung nicht, es sei denn, daß gelegentlich einmal eine wandernde Truppe ihre kümmerliche Schaubude aufschlug. Ebenso fehlte, wie selbstverständlich, die Universität. Dagegen hatte Friedrich II. die von Leibniz unter seinem Großvater gestiftete, von seinem Vater verhöhnte und zerstörte Akademie der Wissenschaften wiederhergestellt. Sie war durchweg französiert, und auch die von ihren deutschen Mitgliedern verfaßten Abhandlungen mußten in die fremde Sprache übertragen werden. Ihre vier Klassen beschäftigten sich mit Physik, Mathematik, Philosophie und Philologie; alle anderen Fächer der Wissenschaften, so die geoffenbarte Theologie, aber auch alles, was sich auf bürgerliche Rechte und staatliche Verfassung bezog, war ausgeschlossen. Anfangs leitete sie der Franzose Maupertuis, später bekümmerte sich der König selbst sehr viel um ihre Verwaltung und tat mit ihrer Mitgliedschaft, wie Sulzer an Gleim schrieb, »beinahe rarer als mit seinem gelben Bande«. Es steckte aber nichts Rares dahinter. Da die Wissenschaft nur im Schatten des königlichen Despotismus gedeihen konnte, so gedieh die Akademie der Wissenschaften nur zu einer kümmerlichen und verkümmerten Pflanzung. Die bürgerliche Literaturgeschichte bringt nach ihrer üblichen Weise den wirklichen Sachverhalt in hoffnungslose Verwirrung, wenn sie den König Friedrich wegen seiner Verachtung der deutschen Literatur mit loyalem Schmerze tadelt, aber ihn wegen seiner Verehrung der französischen Literatur doch als einen Pfleger literarischer Kultur im allgemeinen feiert. Vielmehr: Wenn Friedrich die deutsche Literatur verachtete, so war das kein Tadel für ihn und ein Glück für sie; seine Vorliebe für die französische Literatur aber entwickelte sich nach den Bedingungen seines despotischen Regiments zu einer wahren Satire auf literarische Kultur.

Goethe sagt in der »berühmten Stelle« sehr treffend: »Wie kann man von einem Könige, der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre verliere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzu spät entwickelt und genießbar zu sehen?« Bis zum Siebenjährigen Kriege, bei dessen Beginne Friedrich vierundvierzig Jahre zählte, hatte die deutsche Literatur nichts aufzuweisen, was sich auch nur einigermaßen mit der französischen Literatur messen konnte, als etwa Gellerts Fabeln und Klopstocks Messias. Jene verstand und lobte der König, als er sie im Kriege kennenlernte; diesen hätte er weder verstanden noch gelobt, wenn er ihn kennengelernt hätte. Sulzer wollte ihn durch Voltaire mit dem Gedichte bekanntmachen, doch Voltaire erwiderte auf die Zumutung: Ich kenne den Messias, den Sohn des ewigen Vaters und den Bruder des heiligen Geistes, und ich bin sein ergebenster Diener, aber ein Profaner wie ich darf nicht das Weihrauchfaß vor ihm schwingen. Ähnlich würde der König selbst über den Messias geurteilt haben. Nach dem Siebenjährigen Kriege lagen in Lessings Laokooii und in Winckelmanns Schriften zwar literarische Leistungen ersten Ranges vor, aber damals war der König schon ein geistig gebrochener Mann, und vor allen Dingen machten ein paar Schwalben noch keinen Sommer. Lessing selbst schrieb 1769 in der Hamburgischen Dramaturgie: »Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln unserer schönen Literatur noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er zu seiner Erholung und Stärkung einmal außer dem einförmigen ekeln Zirkel seiner alltäglichen Beschäftigungen denken will.« Gerade die literarischen Anlagen und Neigungen Friedrichs mußten ihn zu einer schroffen Ablehnung der deutschen Literatur führen. Er schätzte Leibniz, dessen französische Schriften er kannte; er sprach von Thomasius mit großer Achtung, wenn auch kaum mit eindringender Kenntnis; er ließ sich die Werke Wolffs ins Französische übersetzen, aber die deutsche Literatur als solche hielt er nicht nur [für] barbarisch, sondern in seinen geistigen Entwicklungsjahren war sie es auch. Man vergleiche nur ihre damals verhältnismäßig hervorragendsten und lobenswertesten Leistungen mit entsprechenden Erscheinungen der französischen Literatur; das Deutsch von Thomasius mit dem Französisch von Montesquieu; die ledernen Folianten von Bünau und Mascov über die deutsche Reichsgeschichte mit Voltaires Geschichtswerk über Ludwig XIV., und man wird dann dem Könige aus seiner Verachtung der deutschen Literatur keinen persönlichen Vorwurf machen.

War diese Verachtung für den Verächter aber kein Tadel, so war sie für die Verachtete ein Glück. Friedrich hat noch kurz vor seinem Tode zu Mirabeau gesagt: »Was hätte ich zugunsten der deutschen Schriftsteller tun können, das der Wohltat gleichgekommen wäre, die ich ihnen erwies, indem ich sie gehen ließ?« Die Frage klingt zwar mehr nach Mirabeau als nach Friedrich, aber wenn sie von dem Könige herrührt, so ist sie in tieferem Sinne wahr, als er immer gemeint haben mag. Hätte der König auch nur geahnt, daß die aufsteigende deutsche Literatur den sozialen Emanzipationskampf der bürgerlichen Klassen ankündige, so hätte er ihre Werke durch die Hand des Henkers verbrennen lassen. Aber auch so, wie er die Frage gemeint hat, trifft sie den Nagel auf den Kopf. Es war ein höchst berechtigtes Klassenbewußtsein, das die Bahnbrecher unserer klassischen Literatur in Friedrichs Verachtung des deutschen Geistes eine nationale Schmach empfinden ließ, aber Lessing erwies sich auch hier als der klarste Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen, indem er über der Empfindung dieser nationalen Schmach keineswegs den Blick für die sozialen Gefahren des fürstlichen Mäzenatentums verlor, während Klopstock im Schutze eines dänischen Königs und Winckelmann im Schutze eines römischen Kardinals auf den »Fremdling im Heimischen« und den »Schinder der Völker« schalten. Freilich sah Lessing in Berlin auch aus nächster Nähe, wohin es unter dem Schutze eines despotischen Mäzens mit der literarischen Kultur kommen muß.

Ohne Zweifel war Friedrichs Wertschätzung der französischen Literatur eine aufrichtige und verständnisvolle; in Maupertuis, in Lamettrie und nun gar in Voltaire zog er Männer von hoher geistiger Bedeutung an seinen Hof. Ganz besonders der Schutz, den Lamettrie als sein Leibarzt genoß, und der schöne Nachruf, den der König dem verrufenen Materialisten im Jahre 1751 widmete, zeigen Friedrich auf einer Höhe philosophischen Verständnisses, die gleichzeitig vielleicht kein anderer Deutscher besaß, auch der junge Lessing nicht, der sich dazumal mit einem mehr frommen als weisen Ungestüm gegen Lamettrie erhitzte. Wir heben dieses Verdienst Friedrichs um so lieber hervor, als ihm von Nicolai bis Schlosser und Carlyle wegen seiner Beziehungen zu Lamettrie allerlei Sottisen gesagt worden sind, wie denn auch Herr Erich Schmidt an dem französischen Arzte als »frechen« und »kalten Materialismus« verdonnert, was sein Bundesbruder Scherer eben an Friedrich als »kirchlichen Liberalismus« verherrlicht hatte. Eine treffliche Würdigung Lamettries und seiner Beziehungen zu Friedrich bei F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 1, 270 ff. Allein bis in seine Akademie und seine Tafelrunde verfolgten den Menschen Friedrich die Konsequenzen seines Königtums. Wenn Herr Erich Schmidt sagt, daß Friedrich sich seinen Freunden gegenüber »nie mit vornehmem Purpur gönnerhaft behängt« habe, so will der Lessing-Biograph damit nur einen schlagenden Beweis für Lessings Behauptung liefern, daß es frostige Scherze gibt, die dem Hörer gleich das kalte Fieber zuziehen können. Die alten, untertänig ersterbenden, aber den modernen Byzantinern an Wahrheitsliebe weit überlegenen Hofgeschichtsschreiber wußten es besser. Einer von ihnen weist darauf hin, wie viele von Friedrichs französischen Freunden es nicht einmal ein Jahr in seiner Nähe aushielten, und sagt im besonderen von Algarotti: »Im Dienste des Königs war er gebunden, und er konnte ohne Urlaub nicht von Potsdam nach Berlin gehen. In der Entfernung war gegenseitige Zärtlichkeit.« Preuß, 1, 243. Herr Erich Schmidt hat für sein von den widerwärtigsten Byzantinismen strotzendes Kapitel über Friedrich das Material nur aus den Schriften des Königs selbst entnommen, was denn gleich einen guten Begriff von den »Fortschritten der biographischen Methode« und den »hohen Zielen« gibt, die Herr Schmidt der »Lessing-Forschung« gesteckt haben will. Nicht, als ob die Schriften Friedrichs an Ehrlichkeit nicht vielfach den Friedrich-Mythologen noch als Muster dienen könnten, aber gerade den historischen Wert der von Herrn Schmidt so sehr bewunderten »Ehrengedächtnisse«; die Friedrich in seinen Gedichten den ihm persönlich nahestehenden Personen widmete, beleuchtet der alte Preuß, 1, 260, in folgender ergötzlichen Weise: »In ihren Hof- und Haushaltungen mußte die gesamte königliche Familie sich sehr knapp behelfen ... Dagegen bedachte Friedrich seine Geschwister öfters mit Gedichten, in welchen er ihnen die schmeichelhaftesten Huldigungen widmete oder die beruhigendsten Wahrheiten aussprach.« In den von dem preußischen Staatsarchive herausgegebenen Publikationen sind vor einiger Zeit die Gespräche Friedrichs mit seinem Vorleser Henri de Catt herausgekommen; nach Aufzeichnungen Catts geben sie ein getreues Bild von Friedrich in seinem persönlichen Verkehre, das die Friedrich-Mythologen allerdings bezaubernd finden, während Augen ohne byzantinisch geschliffene Brillen in diesen Gesprächen die verwüstenden Wirkungen des Despotismus erkennen werden, die an einem aufgeweckten und begabten Despoten, wie Friedrich war, um so drastischer hervortreten. Um es mit einem Worte zu sagen: Friedrich betrachtete seine französischen Gelehrten als Hofnarren, und selbst Voltaire, die »verführerischeste Kreatur« unter ihnen, nannte er ganz unverhohlen so. Sie waren zu seiner persönlichen Zerstreuung da, und wenn diese Zerstreuung auch hoch über den Amüsements anderer Fürsten stehen mochte, so war sie deshalb noch lange keine literarische Kultur. Am wenigsten konnte die Akademie der Wissenschaften als Organ einer solchen Kultur gelten. Alles, was die Leipziger Perücken an Pufendorf und Thomasius gesündigt haben mögen, war fast ein Kinderspiel gegen den moralischen Meuchelmord, womit die Berliner Akademie den holländischen Professor König, einen Freund Lessings, abtun wollte, weil er gegen gewisse physikalische Behauptungen ihres Präsidenten Maupertuis einen ganz bescheidenen und ehrerbietigen Widerspruch erhoben hatte. Voltaire allerdings sprang dem Gefährdeten bei, zu seiner Ehre, aber auch zu seinem Unheil, denn der König ließ seine Streitschrift gegen Maupertuis durch Henkershand auf dem Gendarmenmarkte verbrennen und schrieb ihm so ausfallende Briefe, daß Voltaire sich zur Rückkehr nach Frankreich entschloß. Auf der Heimreise erlebte er dann noch in Frankfurt a. M. mit dem preußischen Residenten jene berufenen Abenteuer, durch deren abschreckende Erinnerung zwanzig Jahre später der alte Goethe seinen Sohn vor der Übersiedlung an den Hof von Weimar warnte.

Dies waren in großen Zügen die politischen, sozialen, literarischen Zustände der preußischen Hauptstadt zur Zeit, als Lessing in ihr lebte.


 << zurück weiter >>