Guy de Maupassant
Unser Herz
Guy de Maupassant

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VI

Das Coupé von Frau von Burne rollte im langen Trabe der beiden Pferde über das Pflaster der Rue de Grenelle. Der Hagel eines Frühjahrunwetters – denn man war in den ersten Tagen des April – prasselte an die Scheiben und peitschte die Straße, die schon ganz voll weißer Körner lag. Die Vorübergehenden hatten den Kragen ihrer Überzieher in die Höhe geschlagen und liefen unter den aufgespannten Regenschirmen hin. Nach zwei Wochen wunderschönen Wetters kam wieder eine eisige letzte Mahnung an den Winter.

Die junge Frau hatte die Füße auf einer Wärmflasche stehen und saß eingewickelt in ihren Pelz, dessen feines Streicheln sie wärmte durch die Kleider hindurch und ihrer empfindlichen Haut wohlthat. Sie dachte mit Angst daran, daß sie in spätestens einer Stunde eine Droschke nehmen mußte, um zu Mariolle nach Auteuil zu fahren.

Der Wunsch durchzuckte sie, ihm ein Absagetelegramm zu schicken. Aber seit zwei Monaten schon hatte sie sich vorgenommen, dies so wenig wie möglich zu thun, denn sie hatte sich mit aller Gewalt angestrengt, ihn so zu lieben wie er sie.

Mitleid war über sie gekommen, als sie ihn so leiden sah, und seit der Unterhaltung, bei der sie ihn in wirklicher Zärtlichkeit auf die Augen geküßt, ward ihre Neigung zu ihm wirklich einige Zeit hindurch wärmer und stärker.

Sie hatte sich gefragt, selbst erstaunt über die Kälte, für die sie nichts konnte, warum sie ihn schließlich nicht so lieben sollte, wie viele Frauen ihre Liebhaber lieben. Denn sie fühlte sich von Herzen zu ihm hingezogen, da er ihr besser gefiel als irgend ein anderer Mann.

Diese Unfähigkeit eines Aufschwungs ihres Herzens konnte nur von einer Art Indolenz kommen, die man vielleicht wie alle Art Faulheit überwinden konnte.

Sie versuchte es. Sie versuchte sich an den Tagen des Stelldicheins zu erregen, indem sie an ihn dachte. Und es gelang ihr manchmal wirklich, wie man nachts sich in Furcht versetzen kann, wenn man an Diebe und Gespenster denkt.

Sie gab sich sogar Mühe, zärtlicher und hingebender zu sein. Zuerst glückte es ihr recht gut.

Und nun glaubte sie an den Beginn eines Liebesrausches, der etwa dem ähneln könnte, den sie in seinen Adern fühlte. Dieselbe Stimmung kam über sie, wie an dem Abend, wo sie sich entschlossen hatte sein zu werden, als sie angesichts der Bucht des Saint-Michel, über die die nächtlichen Nebel strichen, geträumt. Es kam wieder über sie, weniger stark, weniger von poetischen und idealen Wolken umhüllt, aber schärfer, menschlicher, von allen Illusionen fern, nachdem sie sich einmal ihm gegeben.

Da hatte sie vergeblich nach dem großen Liebesrausch ausgeschaut, nach der großen Sehnsucht, die einen Menschen zum anderen treibt, wenn Leib an Leib gekettet ist. Dieser Taumel war nicht erschienen.

Aber sie gab sich Mühe, sich hineinzureden. Sie bestellte Mariolle öfter zum Stelldichein, um ihm zu sagen: »Ich fühle, daß ich Sie mehr und mehr liebe.« – Aber eine große Müdigkeit überkam sie und die Unfähigkeit, sich und ihn auf längere Zeit zu betrügen. Erstaunt stellte sie fest, daß seine Zärtlichkeiten auf die Länge ihr nicht angenehm waren, obgleich sie nicht ganz unempfindlich dagegen schien. Sie stellte es fest durch die unbestimmte Gleichgültigkeit, die sie immer überkam am Morgen des Tages, an dem sie ihn treffen sollte. Warum fühlte sie sich nicht an solchem Morgen im Gegenteil erregt, wie so viele andere Frauen in Erwartung der sinnverwirrenden, heißbegehrten Umarmung. Sie überließ sich ihm, besiegt, brutal erorbert und zitternd wider ihren Willen, aber niemals hingerissen. Bewahrte vielleicht ihre feine, zarte Haut, ihre so außerordentlich aristokratische, gepflegte Haut, ein unbekanntes Gefühl der Scham, der Scham des höheren und geheiligten Wesens, einer Scham, von der ihre hypermoderne Seele nichts wußte?

Mariolle fühlte es allmählich. Er sah jene künstliche Glut ersterben. Er erriet, daß es nur der Versuch einer völligen Hingabe gewesen. Und eine schwere, tötliche Traurigkeit schlich in seine Seele.

Sie wußte jetzt wie er, daß der Versuch mißlungen und alle Hoffnung verloren war. Und heute nun, warm in ihren Pelz eingewickelt, die Füße auf der Wärmflasche, mollig und wohlig, hinausblickend, wie der Hagel an die Fensterscheiben schlug, fand sie nicht den Mut in sich, aus dieser Behaglichkeit und Wärme in eine eisige Droschke zu steigen, um den armen Menschen zu besuchen.

Der Gedanke, zu brechen, sich seinen Zärtlichkeiten zu entziehen, kam ihr nicht einen Augenblick. Sie wußte wohl, daß, um einen Mann, der einmal verliebt ist, ganz zu fangen und für sich zu behalten, bei der Rivalität anderer Frauen, man sich ihm überlassen und ihn halten muß mit der Kette, die Körper an Körper bindet. Sie wußte es, denn das ist einmal so und darüber nicht weiter zu reden. Es ist sogar recht so. Sie würde sich also weiter ihm überlassen und immer weiter. Aber warum so oft? Würde sogar ihr Stelldichein nicht reizvoller für ihn werden, wenn es etwas seltener stattfand? Ein unschätzbares Kleinod, ein Glück, das sie anbot und das man nicht verschwenden müßte.

Jedesmal, wenn sie nach Auteuil fuhr, hatte sie das Gefühl, daß sie ihm das kostbarste, unschätzbarste Geschenk machte. Wenn man so schenkt, ist das Glück zu geben untrennbar von dem gewissen Bewußtsein, daß man ein Opfer bringt. Es ist nicht der Rausch, in Banden geschlagen zu werden, es ist der Stolz, zu schenken und glücklich zu machen.

Sie meinte sogar, daß die Liebe Andrés ihr dauernder bliebe, wenn sie sich ein wenig seltener machte. Denn jeder Hunger wächst durch Fasten, und das sinnliche Gefühl ist nichts anderes, als Appetit. Sobald dieser Entschluß einmal festgestellt war, nahm sie sich vor, heute noch nach Auteuil zu fahren, aber zu thun, als ob ihr nicht wohl wäre. Die Fahrt dorthin, die ihr noch vor einer Minute bei diesem Hagelwetter so gräßlich erschienen war, kam ihr jetzt plötzlich ganz angenehm vor. Und sie begriff, indem sie nun über sich selbst lächelte und über jene plötzliche Sinnesänderung, warum es ihr so schwer ward, dies doch nur Normale zu überwinden. Vorhin hatte sie nicht gewollt, jetzt wollte sie. Sie wollte vorhin nicht, denn all die kleinen entnervenden Abenteuer eines Stelldicheins quälten sie. Sie stach sich mit den Nadeln, die sie nicht zu stecken wußte, in die Finger; sie fand keinen Gegenstand von denen wieder, die sie herumgeworfen, als sie sich schnell entkleidete, immer schon in dem Gedanken an die gräßliche Qual, sich allein wieder anziehen zu müssen.

Bei diesen Überlegungen blieb sie und versenkte sich zum ersten Mal ganz hinein. War diese Liebe zu bestimmter Stunde, am Tag vorher oder zwei Tage vorher festgestellt, nicht wie ein Geschäft oder wie der Besuch beim Arzt? Nach einem langen, zufälligen, freien, sinnverwirrenden Zusammensein kommt nichts natürlicher, als der Kuß auf die Lippen, der zwei Menschen eint, die sich gefallen haben, die sich durch warme und zärtliche Worte einander genähert. Aber wie verschieden ist das von dem Kuß ohne Aufregung, schon vorher genau festgestellt, den sie einmal wöchentlich empfangen sollte mit der Uhr in der Hand. Das war so zwingend richtig, daß sie manchmal an Tagen, an denen sie André nicht sehen sollte, in sich eine unbestimmte Lust empfand, ihn aufzusuchen, während dieser Wunsch kaum in ihr wach ward, wenn sie zu ihm fuhr durch versteckte Straßen, in schmutzigen Wagen, wobei ihr Herz durch tausend Dinge von ihm abgelenkt wurde.

O die Stunde des Stelldicheins in Auteuil hatte sie auf allen Uhren all ihrer Freundinnen schon nahen sehen. Sie hatte sie nahen sehen Minute auf Minute bei der Baronin Frémines, bei der Marquise Bratiane, bei der schönen Frau Le Prieur; wenn sie an solchen Nachmittagen durch Paris fuhr, um nicht zu Haus zu bleiben, wo ein unvorhergesehener Besuch, ein plötzliches Hindernis sie hätte festhalten können.

Sie sagte sich plötzlich: Heute bei diesem schlechten Wetter werde ich sehr zeitig hinfahren, um ihn nicht nervös zu machen. Dann öffnete sie an der Vorderwand des Coupés eine Art von kleinem, unsichtbarem Schränkchen, das in der schwarzen Seide, mit der der Wagen ausgeschlagen, gleich einem kleinen Boudoir eingelassen war. Sobald die beiden Thürchen des Verstecks bei Seite geschlagen waren, erschien ein Spiegel, den sie bis zur Höhe des Gesichts niedergleiten ließ. Hinter dem Spiegel standen in kleinen Fächern mit Satin ausgeschlagen ein paar Toilettengegenstände aus Silber. Eine Büchse mit Puder, ein Lippenstift, zwei Odeurflaschen, ein Tintenfaß, ein Federhalter, eine Scheere, ein winziges Papiermesserchen, um den neusten Roman, den man unterwegs las, aufzuschneiden. Eine reizende Uhr, groß und rund wie eine goldene Nuß, war in dem Stoff eingelassen: sie zeigte die vierte Stunde.

Frau von Burne dachte: Ich habe mindestens noch eine halbe Stunde Zeit. Und sie drückte auf eine Feder, sodaß der Diener, der neben dem Kutscher saß, das Hörrohr an das Ohr hielt, um ihre Befehle entgegenzunehmen. Sie ergriff das andere Ende, das im Wagen hing, näherte das kleine Sprachrohr aus Bergkrystall ihren Lippen und rief:

– Österreichische Botschaft.

Dann erblickte sie sich in dem Spiegel, wie sie immer hineinschaute, mit jener Zufriedenheit die man empfindet, wenn man das geliebteste Wesen wiedersieht. Darauf öffnete sie etwas ihren Pelz, um noch einmal ihr Kleid zu betrachten. Es war eine hübsche Demi-Saison- Toilette. Der Kragen war mit feinen, weißen Federn eingefaßt, so hell, daß sie leuchteten. Auch die Taille war mit Federn garniert, sodaß die junge Frau aussah, wie ein seltener, wilder Vogel. Auf ihrem Hut saß ebenfalls ein Federbusch in lebhaften Farben, und ihr hübsches Gesicht schien so davonzufliegen unter dem grauen Himmel im Hagel.

Sie betrachtete sich noch, als der Wagen plötzlich in die große Einfahrt der Botschaft einbog. Da schlug sie ihren Pelz wieder übereinander, ließ den Spiegel herab, und schloß die kleine Thür des Schränkchens. Als das Coupee hielt, sagte sie zuerst dem Kutscher:

– Sie können nach Haus fahren, ich brauche Sie nicht mehr. – Dann fragte sie den Lakai, der ihr entgegentrat:

– Durchlaucht zu Haus?

– Jawohl, gnädige Frau.

Sie trat ein, stieg die Treppe hinauf und kam in einen ganz kleinen Salon, in dem die Fürstin Malten beim Briefschreiben saß.

Die Botschafterin erhob sich mit freudigem Lächeln, als sie ihre Freundin sah. Sie küßten sich zweimal auf die Wangen, dann setzten sie sich, eine neben der anderen, auf zwei kleine Sessel am Kamin. Sie mochten sich ungeheuer gern, sie gefielen einander sehr. In allen Kleinigkeiten stimmten sie überein, denn sie waren ganz ähnliche Naturen, von derselben weiblichen Rasse, in derselben Atmosphäre groß geworden, mit denselben Wünschen und Gedanken, obgleich die Fürstin eine Schwedin und nur an einen Österreicher verheiratet war. Eine zog auf seltsame Weise die andere an, so daß sie sich wirklich wohl und zufrieden fühlten, wenn sie beieinander waren. Ihr Geschwätz dauerte ununterbrochen halbe Tage lang, flüchtig, interessant für beide, nur weil sie denselben Geschmack hatten.

– Sehen Sie, wie gern ich Sie habe, sagte Frau von Burne, heute abend sind Sie bei mir, und ich konnte doch nicht anders, als Sie vorher noch einmal besuchen. So lieb habe ich Sie.

– Genau wie ich! antwortete lächelnd die Schwedin.

Und aus Gewohnheit sagten sie sich Artigkeiten, Koketterien, als ob sie mit einem Mann sprächen, wenn auch in etwas anderer Art kämpfend, da sie nicht den Gegner vor sich hatten, sondern die Rivalin.

Frau von Burne blickte, während sie redete, ab und zu nach der Uhr. Es schlug fünf. Er wartete schon seit einer Stunde. Jetzt ist's genug, dachte sie und stand auf.

– Schon? fragte die Prinzessin.

Die andere antwortete keck:

– Ja, ich habe es eilig, ich werde erwartet. Ich möchte viel lieber hierbleiben.

Sie küßten sich, und Frau von Burne, die gebeten hatte, eine Droschke rufen zu lassen, fuhr davon.

Das Pferd ging lahm und zog mit unglaublicher Mühe den alten Wagen. Und das Entsetzliche dieses Kastens, die Müdigkeit des Tieres, alles fühlte die junge Frau auch in sich. Wie das Zugtier fand auch sie den Weg lang und hart. Und je mehr sie die Freude tröstete, André zu sehen, desto trauriger machte sie das, was sie im Begriff stand zu thun.

Sie fand ihn halb erfroren an der Thür. Die Regengüsse peitschten durch die Bäume, der Hagel prasselte auf den Regenschirm, während sie nach dem kleinen Häuschen ging. Ihre Füße sanken in den Schmutz ein.

Der Garten war traurig, unendlich traurig, tot, sumpfig. André war bleich, er litt sehr.

Als sie eingetreten waren, sagte sie:

– Herrgott ist's kalt!

Und doch brannte helles Feuer in beiden Zimmern. Da es aber erst Mittag angezündet war, hatte es die feuchten Mauern noch nicht trocknen können, und ein Schauer lief ihr über den Körper.

Sie sagte:

– Ach ich möchte doch noch etwas im Pelz bleiben.

Sie öffnete ihn nur, und das mit Federn besetzte Kleid erschien darunter, daß sie aussah wie ein fremder Zugvogel, der nie an einem Orte bleibt.

Er setzte sich neben sie. Sie sagte:

– Heute abend ist bei mir ein reizendes Diner. Ich freue mich schon darauf.

– Wer kommt denn?

– Nun, zuerst Sie, dann Prédolé, den ich so gern kennen lernen möchte.

– Ach Prédolé kommt.

– Ja. Lamarthe bringt ihn mit.

– Aber Prédolé paßt nicht für Sie. Überhaupt sind gewöhnlich Bildhauer nicht die Leute, um jungen hübschen Frauen zu gefallen, und der weniger denn irgend ein anderer.

– O lieber Freund, das ist unmöglich. Ich bewundere ihn so sehr.

Seit zwei Monaten hatte der Bildhauer Prédolé durch die Ausstellung, die er in der Galerie Varin veranstaltet, Paris erobert und sich zu Füßen gezwungen. Man liebte ihn früher schon, man schätzte ihn, man sagte von ihm, er mache köstliche kleine Figuren. Aber als das Publikum der Künstler und Kenner eines Tages vor seinem ganzen Lebenswerk stand in den Sälen der Rue Varin, brach der Strom des Enthusiasmus los.

In ihm lag, wie es schien, ein seltener Reiz, eine so besondere Fähigkeit, Anmut und Eleganz wiederzugeben, daß man meinte, ein ganz neuer Formenkönner wäre erstanden.

Seine Spezialität waren kleine Statuetten, wenig, sehr wenig bekleidet, deren zart verschleierte Modelle er prachtvoll wiedergab. Vor allem wiesen seine Tänzerinnen, deren er eine ganze Menge gemacht, in ihren Bewegungen, in ihren Stellungen, durch ihre Harmonie alles auf, was der weibliche Körper an biegsamer, seltener Schönheit hat.

Seit einem Monat machte Frau von Burne unausgesetzt den Versuch, ihn an sich zu ziehen. Aber der Künstler war etwas wüst, ein wenig sogar, wie man sagte, ein Bär. Endlich durch Lamarthes Hilfe war es gelungen, durch Lamarthe, der für den dankbaren Bildhauer aufrichtig mit aller Leidenschaft Reklame machte.

Mariolle fragte:

– Wer kommt noch?

– Die Fürstin Malten.

Das ärgerte ihn, die Frau mißfiel ihm.

– Und noch?

– Massival, Bernhaus und Georg von Maltry. Weiter niemand, nur die Elite. Kennen Sie Prédolé?

– Ja, ein wenig.

– Wie finden Sie ihn?

– Mir gefällt er sehr gut. Ich habe noch nie einen Künstler gefunden, der so in seiner Kunst lebt, und es ist ungeheuer interessant, wenn er davon spricht.

Sie war glücklich und sagte:

– Das wird ja reizend!

Er hatte unter dem Pelz ihre Hand ergriffen, drückte sie ein wenig, dann küßte er sie. Da merkte sie plötzlich, wie sie ja ganz vergessen hatte zu sagen, daß sie nicht wohl wäre. Und mit einem Male suchte sie einen anderen Grund:

– Gott, ist es kalt!

– Finden Sie?

– Ich bin durchfroren bis auf die Knochen.

Er stand auf, um nach dem Thermometer zu sehen, das allerdings sehr niedrig stand. Er setzte sich wieder neben sie.

Sie hatte eben gesagt: Gott, ist es kalt! Er hatte gemeint, sie zu verstehen. Seit drei Wochen schon bemerkte er bei jeder ihrer Begegnungen das unwiederbringliche Nachlassen ihrer Versuche, ihn zu lieben. Er erriet, daß sie dessen müde war, daß sie es nicht weiterführen konnte. Über ihre Unfähigkeit, zu lieben, war er selbst so verzweifelt, daß er sich in Stunden der Einsamkeit sagte, lieber mit ihr brechen, als so weiter.

Er fragte sie, um ihre Gedanken zu durchdringen:

– Ziehen Sie nicht einmal den Pelz aus heute?

– O nein, sagte sie. Seit heute früh huste ich etwas. Dies furchtbare Wetter hat mir eine Erkältung zugezogen. Ich fürchte, mich noch mehr zu erkälten.

Nach kurzem Schweigen sagte sie:

– Wenn ich Sie nicht unbedingt hätte sehen wollen, wäre ich gar nicht gekommen.

Da er nicht antwortete vor Herzeleid und Kummer, sagte sie:

– Nach so schönen Tagen wie in der letzten Zeit ist diese plötzliche Kälte gefährlich.

Sie blickte in den Garten hinaus, in dem die Bäume schon beinah grün waren, während auf den Zweigen der lose geschmolzene Schnee lag. Er sah sie an und dachte: Das also ist ihre Liebe. Zum ersten Mal packte ihn eine Art männlichen Hasses gegen sie, gegen dieses Gesicht, gegen diese unfaßbare Seele, gegen diesen Frauenleib, der immer entfloh, wenn er verfolgt ward.

Sie behauptet, sie friert, dachte er. Sie friert nur, weil ich hier bin. Wenn sie irgend ein Vergnügen vorhätte, eine jener blödsinnigen Launen, die das unnütze Dasein dieser oberflächlichen Wesen ausmachen, würde sie alles wagen und alles versuchen. Fährt sie nicht, um ihre Toiletten zu zeigen, bei der größten Kälte in offenem Wagen? O, so sind sie jetzt alle.

Er blickte sie an, wie sie so ruhig ihm gegenüber saß. Und er wußte, daß hinter dieser kleinen Stirn, dieser geliebten Stirn, der Wunsch lag, dieses Stelldichein nicht fortzusetzen, das so peinlich zu werden drohte.

Hatte es wirklich Frauen gegeben, oder gab es noch Frauen voller Leidenschaft, die die Liebe packt, daß sie leiden, wenn sie sich dem Mann an die Brust werfen, ihn stöhnend umschlingen und mit ihrem Körper ebenso lieben, wie mit der Seele? Mit dem Munde, der da spricht, und den Augen, die da sehen, mit dem Herzen, das da schlägt, und der Hand, die da streichelt. Diese Frauen, die alles wagen, weil sie lieben, tags und nachts belauscht und bespäht, bedroht, zitternd, aber ohne Furcht zu dem eilen, der sie an sein Herz schließt, wahnsinnig vor Glück und Liebeswonne.

O diese gräßliche Liebe, die ihn jetzt in Ketten legte, diese Liebe ohne Ausgang und ohne Ende, ohne Glück und ohne Triumph, die entnervt, verzweifelt, am Herzen frißt. Diese Liebe ohne Weichheit, ohne Trunkenheit, die nur Leid gab und Thränen, und nur immer den unstillbaren Kummer erweckte, daß es unmöglich war, durch seinen Kuß kalte und entsetzlich trockene Lippen, wie erstorbene Bäume, zu erwecken.

Er sah sie an, wie sie so hübsch eingeschnürt war in dieses Federkleid.

– Ihre Toilette ist reizend, sagte er. Denn er wollte nicht von dem sprechen, was ihn quälte.

Sie antwortete lächelnd:

– Passen Sie mal auf, was ich heute abend anhabe.

Dann hustete sie ein paar Mal und sagte:

– Ich erkälte mich vollends. Lassen Sie mich gehen, lieber Freund. Die Sonne wird wiederkehren, und ich wie sie.

Er hielt sie nicht zurück, ganz mutlos geworden. Denn er begriff, daß kein Versuch mehr die Gleichgültigkeit dieses Wesens überwinden könnte, das ohne Schwung war. Er begriff, daß jetzt alles aus war, aus für immer, all seine Hoffnung ewig verloren, daß er von diesem ruhigen Mund kein Wort der Liebe erwarten durfte, kein Feuer aus diesen kühlen Augen. Und plötzlich fühlte er in sich den heftigen Wunsch, aufzustehen, dieser quälenden Herrschaft zu entrinnen. Sie hatte ihn ans Kreuz geschlagen. Er blutete aus allen Gliedern, und sie sah seinem Sterben zu, ohne sein Leid zu begreifen, ganz zufrieden sogar mit dem, was sie gethan. Aber er wollte sich aus dem Todesbann lösen und wenn er Stücke seines Körpers abriß, Fetzen Fleisch und sein ganzes zerrissenes Herz. Er wollte fliehen, wie vor dem Jäger ein Tier, das zu Tode verwundet ist. Er wollte sich in der Einsamkeit verbergen, daß seine Wunde heilen sollte und er den dumpfen Schmerz des zu Tode Verstümmelten nicht mehr empfand.

– Also leben Sie wohl! sagte er.

Der traurige Ton seiner Stimme packte sie, und sie sagte:

– Auf Wiedersehen heute abend, lieber Freund!

Er antwortete:

– Heute abend. Adieu.

Dann führte er sie wieder an die Gartenthür und setzte sich allein ans Feuer.

Allein! Ja, es war kalt und es war traurig. Es war aus. Schrecklicher Gedanke. Hoffen, erwarten, von ihr träumen mit jener Glut im Herzen, die in uns auf dieser traurigen Erde für Augenblicke etwas entzündet, wie die hellen Freudenfeuer in dunklen Nächten, – alles dahin! Zu Ende waren die Nächte einsamer Erregung, in denen er beinah bis Tagesanbruch im Zimmer auf und ab gegangen und an sie gedacht; sein Erwachen, bei dem er sich, sobald er die Augen aufschlug, sagte: Ich werde sie heut sehen in unserm kleinen Haus.

Wie er sie liebte! Wie er sie liebte! Wie lang es dauern, wie schmerzlich es sein würde, geheilt zu werden davon. Sie war fort, weil es kalt war. Er sah sie wie vorhin noch vor sich, wie sie ihn anblickte, ihn bezauberte, ja, ihn bezauberte, um sein Herz desto sicherer zu zerfleischen. O, sie hatte es zerfleischt mit einem einzigen und letzten Stoß. Er fühlte die Wunde, eine alte Wunde, die noch offen stand, die sie nur gekühlt, die sie aber nun unheilbar gemacht, als sie ihre tötliche Gleichgültigkeit hineingetaucht wie ein Messer. Er fühlte, wie von diesem durchbohrten Herzen etwas in ihn hineinströmte, seinen Körper anfüllte, bis zur Kehle stieg und ihn zu ersticken drohte. Da legte er beide Hände auf die Augen, als wollte er vor sich selbst die Schwäche verbergen, und begann zu weinen. Sie war fort, weil es kalt war. Er wäre nackt durch den Schnee gegangen, um sie zu treffen, gleichviel wo. Er würde sich von einem Dach gestürzt haben, nur um zu ihren Füßen zu liegen. Die Erinnerung an eine alte Geschichte kam ihm, aus der man ein Märchen gemacht; das Märchen »von den Liebenden auf dem Berge von Rouen«. Einem jungen Mädchen hatte ihr grausamer Vater verboten, den zu heiraten, den sie liebte, wenn sie nicht ihn selbst auf den Gipfel des steilen Berges trüge. Und sie trug ihn hinauf. Sie kroch auf Händen und Füßen und starb als sie oben war. Die Liebe ist also nur noch ein Märchen, das in Liedern erklingt oder in erlogenen Romanen erzählt wird.

Hatte die Geliebte ihm nicht selbst, bei einem ihrer ersten Zusammentreffen, jenen Satz gesagt, den er nie wieder vergessen: »Die Männer von heute lieben die Frauen von heute nicht mehr so, daß sie krank vor Liebe werden. Glauben Sie mir, ich kenne sie beide.«

In ihm hatte sie sich getäuscht, aber nicht in sich selbst. Denn sie hatte noch hinzugefügt: »Jedenfalls möchte ich Ihnen das eine sagen, daß ich nicht fähig bin, wirklich heiß zu lieben, wen auch immer.«

Wen auch immer? War das gewiß? In ihn verliebte sie sich nicht, das wußte er jetzt bestimmt. Aber in einen anderen?

Ihn konnte sie nicht lieben. Warum?

Da kam ein Gefühl über ihn, als hätte er alles in seinem Leben verfehlt. Ein Gefühl, das ihn seit langer Zeit peinigte, sank über ihn und machte ihn ganz willenlos. Er hatte nichts gethan, nichts war ihm geglückt, er hatte nichts erreicht. Zu den Künsten fühlte er sich hingezogen, aber er fand in sich nicht den Mut, sich einer von ihnen wirklich ganz zu weihen, noch die ausdauernde Arbeitskraft, die nötig ist, um etwas zu leisten. Kein Erfolg hatte ihn erfreut, keine große Leidenschaft für etwas Hohes hatte sein Leben veredelt und größer gemacht. Sein einziger energischer Versuch, der, ein Frauenherz sich zu erobern, war gescheitert wie alles andere. Er war eigentlich nichts als ein Entgleister.

Er weinte noch immer und drückte die Hand auf die Augen. Die Thränen glitten ihm die Wange herab, netzten den Bart, und er fühlte sie salzig auf den Lippen.

Ihre Bitterkeit steigerte noch sein Elend und seine Verzweiflung.

Als er den Kopf hob, sah er, daß es dunkel geworden war. Er konnte nur noch schnell nach Haus fahren und sich anziehen zum Diner bei ihr.



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