Guy de Maupassant
Unser Herz
Guy de Maupassant

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Zweiter Teil

I

Mariolle war eben zu ihr gekommen. Er erwartete sie, denn sie war noch nicht heimgekehrt, obgleich sie ihn durch eine Stadtdepesche heute morgen bestellt hatte.

In diesem Salon, wo er so gern weilte, wo alles ihm gefiel, empfand er trotzdem jedesmal, wenn er sich allein befand, Herzklopfen, etwas Nervosität und Unruhe, die es ihm unmöglich machte Platz zu nehmen, so lange sie nicht da war. In glücklicher Erwartung schritt er auf und ab, jedoch zugleich in der Befürchtung, irgend etwas möchte sie verhindern, rechtzeitig heimzukehren und er sie so erst am folgenden Tage sehen.

Er zitterte hoffnungsvoll, als er einen Wagen vor dem Haus halten hörte, und als die elektrische Klingel tönte, zweifelte er nicht mehr.

Sie trat ein, den Hut auf dem Kopfe, was sie sonst nie that, eilig und mit zufriedenem Ausdruck.

– Ich habe eine Neuigkeit für Sie! sagte sie.

– Was denn, gnädige Frau?

Sie blickte ihn lächelnd an:

– Nun, ich will einige Zeit aufs Land gehen.

Ein Kummer kam über ihn, plötzlich und stark, und man sah es ihm an:

– Und Sie sagen mir das mit einem glücklichen Gesicht?

– Ja. Setzen Sie sich mal hin. Ich will Ihnen etwas erzählen. Sie wissen doch – oder Sie wissen es nicht – daß Herr Valsaci, der Bruder meiner armen Mutter, Oberingenieur des Brückenbauwesens, in Avranches eine kleine Besitzung hat, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern einen Teil seiner Zeit zubringt, denn er muß von Berufs wegen dort sein. Kurz, wir besuchen sie jeden Sommer. Dieses Jahr wollte ich eigentlich nicht hingehen. Aber das hat ihn geärgert, und er hat Papa eine unangenehme Scene gemacht. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen nun sagen, daß Papa auf Sie eifersüchtig ist und mir auch Scenen macht. Er behauptet, ich kompromittierte mich. Sie müssen also weniger oft kommen. Aber regen Sie sich nicht weiter darüber auf, ich werde die Sache schon in Ordnung bringen. Also Papa hat mir eine kleine Rede gehalten, und ich habe ihm versprechen müssen, zehn oder zwölf Tage vielleicht in Avranches zuzubringen. Dienstag früh reisen wir ab. Was sagen Sie dazu?

– Ich bin trostlos!

– Das ist alles?

– Ja. Was soll ich denn thun? Ich kann Sie doch nicht daran hindern.

– Und Sie finden keinen Ausweg?

– Nein, – ich nicht. Und Sie?

– Oh, ich habe eine Idee. Hören Sie. Avranches liegt ganz nahe vom Mont Saint-Michel. Kennen Sie den Mont Saint-Michel?

– Nein, gnädige Frau!

– Nun, wissen Sie was, nächsten Freitag kommt Ihnen plötzlich die Idee, dieses Wunderbauwerk sich einmal anzusehen. Sie machen dazu in Avranches Station und gehen Sonnabend abend zum Beispiel, bei Sonnenuntergang etwa, im Stadtwald spazieren, von wo man das Meer übersieht. Dort werden wir uns zufällig treffen. Papa wird ein böses Gesicht machen, – aber das ist mir gleich. Ich werde eine kleine Partie verabreden, und dann fahren wir alle zusammen – die ganze Familie – am nächsten Tag nach der Abtei. Sie müssen begeistert davon sein. Seien Sie liebenswürdig, wie Sie es sein können, wenn Sie nur wollen. Gewinnen Sie meine Tante und laden Sie uns alle in dem Hotel, wo wir absteigen, zu Tisch ein. Dort bleiben wir die Nacht, und so trennen wir uns erst am anderen Morgen. Ueber Saint Malo können Sie zurückkehren, und acht Tage darauf bin ich wieder in Paris. Nun, habe ich das nicht gut ausgedacht? Bin ich nicht nett?

Er flüsterte in plötzlicher Dankbarkeit:

– O Sie sind mir das liebste auf der Welt!

– Pst! machte sie.

Und ein paar Augenblicke sahen sie sich in die Augen. Sie lächelte. Und in diesem Lächeln drückte sie ihm nun ihre Dankbarkeit aus, den Dank ihres Herzens und ihre Sympathie, ganz ehrlich, denn sie war weich geworden. Er betrachtete sie und verschlang sie beinahe mit den Augen. Er wäre ihr am liebsten zu Füßen gefallen, hätte ihre Kniee umschlungen, ihre Kleider zerissen, irgend etwas gebrüllt und vor allen Dingen ihr gezeigt, daß er das nicht ausdrücken konnte, was ihn von Kopf bis zu Fuß durchzitterte, was in seinem Leib, in seiner Seele unaussprechlich schmerzlich schlummerte, weil er seine Liebe, seine furchtbare, köstliche Liebe nicht zeigen konnte.

Aber sie begriff ihn, ohne daß er es sagte, wie ein Schütze fühlt, daß seine Kugel mitten ins Schwarze getroffen hat. In diesem Mann regierte nichts mehr als sie allein. Er gehörte ihr mehr, als sie sich selbst. Sie war zufrieden, und sie fand ihn reizend.

Und guter Laune sagte sie zu ihm:

– Also nichtwahr, abgemacht? Wir machen die Partie.

Er stammelte, indem er vor Bewegung kaum sprechen konnte:

– Jawohl, gnädige Frau, ich bin einverstanden!

Dann schwiegen sie wieder. Sie sagte ohne alle Entschuldigung:

– Sie können jetzt nicht länger bleiben. Ich bin nur nach Haus gekommen, um Ihnen das zu sagen, weil ich doch übermorgen abreise. Morgen bin ich den ganzen Tag beschäftigt, und vor Tisch muß ich noch vier oder fünf Besorgungen machen.

Er erhob sich sofort. Und nachdem er ihr die Hand geküßt, ging er davon, ein wenig beklommenen Herzens, aber doch voll Hoffnung.

Vier lange Tage hatte er zu durchleben. Er brachte sie in Paris mühselig hin, ohne irgend einen Menschen zu sehen, indem er das Schweigen der Unterhaltung seiner Freunde und die Einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzog.

Am Freitag morgen fuhr er also mit dem Kurierzug davon. Er hatte kaum geschlafen, fiebrig erregt durch die Erwartung dieser Reise. Sein dunkles schweigendes Zimmer, in dem man nur das Rollen später Droschken hörte, das nur seinen Wunsch abzureisen wachrief, hatte die ganze Nacht auf ihm gelastet wie ein Gefängnis.

Sobald nur ein Schein zwischen den Vorhängen auftauchte, der graue, traurige Schein des dämmernden Tages, sprang er aus dem Bett, öffnete das Fenster und blickte zum Himmel auf. Er hatte Angst, es möchte schlecht Wetter sein. Es war schön. Ein leiser Dunst lag in der Luft, das Vorzeichen großer Hitze. Schneller als es nötig war, zog er sich an. Zwei Stunden zu früh stand er schon fix und fertig da, Ungeduld im Herzen, das Haus zu verlassen und endlich unterwegs zu sein. Sein Diener mußte eine Droschke holen, nachdem er sich kaum angezogen, weil sein Herr fürchtete, er könnte keine finden.

Das erste Rattern des Wagens war für ihn wie ein beginnendes Glück. Aber als er in den Bahnhof von Montparnasse kam, wurde er ganz ungeduldig und erregt, daß es noch fünfzig Minuten dauerte, bis der Zug ging.

Ein Kupee war frei. Er nahm es ganz, um allein zu sein und sich seinen Gedanken überlassen zu können. Als er den Zug in Gang fühlte, der zu ihr glitt, wuchs in dem gleichmäßig schnellen Hinschießen des Kurierzuges seine Glut, statt sich zu beruhigen, und die Lust, eine kindische Lust überkam ihn, mit beiden Händen die Wände einzurennen, daß es schneller ginge.

Lange, bis mittag, blieb er in Erwartung und Hoffnung sitzen. Dann allmählich, nachdem Argentan hinter ihnen lag, zog das grüne, normannische Land seine Blicke an.

Der Zug fuhr durch ein welliges, von Thälern durchzogenes Hügelland, in dem die Bauernhöfe lagen, die Weiden, die Obstpflanzungen, alle von großen Bäumen umfriedigt, die zu leuchten schienen in den Strahlen der Sonne. Es war gegen Ende Juli, die Zeit, wo diese Erde, die mächtige Ernährerin, alle ihre Kraft des Lebens ausströmt. In allen Koppeln, die durch hohe Hecken verbunden und getrennt waren, standen starke Ochsen, Kühe, seltsam bunt gefleckt, Stiere mit breiter Stirn, stolz herausfordernd an den Hecken, oder lagen auf der Weide, die ihre Bäuche rundete; und ununterbrochen dasselbe Bild in der frischen Landschaft, deren Boden Fleisch und Apfelwein auszuschwitzen schien.

Am Fuße der Pappeln, leicht von Weiden verborgen, glitten schmale Wasserläufe hin; eine Sekunde blitzten im Grase Bäche auf, verschwanden, um weiterhin wieder aufzutauchen, und tränkten das ganze Land mit fruchtbarer Frische.

Und Mariolle dachte zerstreut und glücklich bei diesem unausgesetzten schnellen Hinjagen durch den schönen Park von Apfelbäumen, in dem die Herden weideten, an seine Liebe.

Aber als er in Folligny umgestiegen war, ward er wieder ungeduldig, und während der letzten vierzig Minuten zog er zwanzigmal die Uhr. Alle Augenblicke beugte er sich zum Fenster und endlich erblickte er auf einem ziemlich hohen Hügel die Stadt, wo sie ihn erwartete. Der Zug hatte Verspätung gehabt, und es war nur noch eine Stunde bis zu dem Augenblick, wo er sie zufällig im Stadtpark treffen sollte.

Der Hotelomnibus fuhr mit ihm, dem einzigen Reisenden, langsam die Straße nach Avranches hinauf, dem die Häuser, die die Höhe krönten, aus der Ferne fast den Anblick einer Festung gaben. In der Nähe besehen war es eine hübsche, alte, normannische Stadt mit kleinen, regelmäßigen, sich einander fast gleichenden Häusern, die eines an das andere sich lehnten in altertümlichem Stolz und bescheidenem Wohlstand, etwas mittelalterlich und bäuerlich.

Sobald Mariolle seine Reisetasche auf dem Zimmer hatte, ließ er sich die Straße angeben, die zum botanischen Garten führt. Und mit langen Schritten, obgleich er noch viel Zeit hatte, ging er davon, in der Hoffnung, sie könnte etwas früher da sein.

Als er an das Gitter kam, sah er auf den ersten Blick, daß der Park leer oder fast leer war. Nur drei alte Männer ergingen sich dort, Bürger aus dem Ort, die dort ihren täglichen Spaziergang machten, und eine englische Familie, Knabe und Mädchen mit dünnen Beinen, die um eine blonde Erzieherin spielten, deren zerstreuter Blick zu träumen schien.

Mariolle ging mit klopfendem Herzen seines Weges. Er kam an eine große Ulmenallee von dunklem Grün, die den Garten mitten durchschnitt, und als er mit einemmal auf einer Terrasse stand, die weiten Blick über das Land hatte, schweiften seine Gedanken von der ab, die ihn hierher rief. Von der Küste aus zog sich eine unendliche Sandebene hin, die in der Ferne mit dem Firmament zusammenging. Ein Fluß durchströmte sie. Und unter den glühenden Sonnenstrahlen glitzerten hier und da, wie leuchtende Flecken, Wasserlachen, die aussahen wie Löcher, die mitten durch die Erde einen andern Himmel zu zeigen schienen.

Mitten in dieser gelben Wüste, die noch naß war von dem zurückebbenden Meer, erhob sich auf 12 oder 15 Kilometer vom Strand entfernt das monumentale Profil eines spitzen Felsens, einer phantastischen Pyramide, auf der eine Kathedrale stand.

In diesen riesigen Dünen fand sich nur ein einziges Gegenstück auf dem Trockenen, im Sande auf rundem Hügel: Tombelaine.

Weiterhin zeigten in der blauen Linie der Fluten andere Felsen ihre braunen Köpfe. Und wenn das Auge am Horizont weiter nach rechts hinglitt, entdeckte es neben diesen einsamen Sandflächen weithin gestreckt das grüne normannische Land, überall so mit Bäumen übersät, daß es wie ein unendlicher Wald aussah. Auf einmal, auf einen Blick des Auges erschien an diesem Punkt die ganze Natur in all ihrer Größe und kräftigen Frische und ihrem Liebreiz. Und der Blick ging zurück von diesen scheinbaren Wäldern zu der jähen Erhöhung des Granitberges, der einsam aus dem Sande ragte und seine seltsame, gothische Gestalt riesenhaft emporreckte.

Das eigene Gefühl, das Mariolle so oft beim Anblick unbekannter Gegenden gepackt, kam so plötzlich über ihn, daß er unbeweglich stehen blieb, erregt und weich geworden und sein gequältes Herz vergaß. Aber als eine Glocke klang, wendete er sich herum, und plötzlich kam wieder die Erwartung über ihn, ihr zu begegnen. Der Park war noch immer fast leer. Die englischen Kinder waren davongegangen. Nur die drei alten Leute setzten noch ihren monotonen Spaziergang fort. Und er begann auf und nieder zu schreiten wie sie.

Jeden Augenblick mußte sie kommen. Er würde sie sehen am Anfang der Wege, die zu dieser wunderbaren Terrasse führten. Er würde ihre Figur erkennen, dann ihr Gesicht, ihr Lächeln. Und dann ihre Stimme hören. Welches Glück, welches Glück! Er fühlte sie nahe, noch unwahrnehmbar und unsichtbar. Aber sie dachte an ihn, denn auch sie wußte, daß sie sich wiedersehen würden.

Er hätte beinah einen Schrei ausgestoßen: ein blauer Sonnenschirm, nur das Rund des aufgespannten Schirmes glitt dort drüben über dem Gebüsch hin. Sie war es ohne Zweifel. Ein kleiner Junge erschien, einen Reifen vor sich hertreibend, dann kamen zwei Damen, – er erkannte sie, – dann zwei Herren, ihr Vater und noch ein anderer. Sie war ganz in Blau wie ein Frühlingshimmel. O er erkannte sie, auch ohne ihre Züge unterscheiden zu können. Aber er wagte nicht, zu ihr zu gehen, er fühlte, er würde erröten, stammeln und diesen Zufall unter dem prüfenden Blick des Herrn von Pradon nicht erklären können.

Und doch ging er ihnen entgegen. Immer blickte er durch sein Opernglas, als sähe er sich die Landschaft an. Da rief sie ihn an, ohne sich auch nur die Mühe zu geben, erstaunt zu scheinen.

– Guten Tag, Herr Mariolle! Es ist schön hier, nicht wahr?

Er war erschrocken über den Empfang und wußte nicht, was er antworten sollte. Er stammelte:

– Ach Sie sind es, gnädige Frau! Nein so ein Glück, Sie hier zu finden. Ich wollte mir auch einmal diese wundervolle Gegend ansehen.

Sie sagte lächelnd:

– Und Sie haben sich gerade den Augenblick ausgesucht, wo ich hier bin. Das ist aber liebenswürdig.

Dann stellte sie vor:

– Einer meiner besten Freunde, Herr Mariolle, – meine Tante Frau Valsaci, mein Onkel.

Sie begrüßten sich. Herr von Pradon und der junge Mann reichten sich kalt die Hand, und man setzte den Spaziergang fort.

Sie hatte es so eingerichtet, daß er zwischen ihr und ihrer Tante ging und warf ihm einen plötzlichen Blick zu, einen jener Blicke, die fast aussehen wie Schwachheit. Sie sagte:

– Nun, wie finden Sie es hier?

– O, sagte er, ich glaube ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen.

Sie antwortete:

– Oh, wenn Sie ein paar Tage hier gewesen wären wie ich, würden Sie fühlen, wie man ganz davon hingenommen ist. Das ist garnicht auszudrücken. Dies fortwährende Kommen und Gehen des Meeres über den Sand, diese unausgesetzte Bewegung, die nie aufhört, die alles das zwei Mal täglich überspült und so schnell, daß ein galoppierendes Pferd nicht vor der Flut entfliehen könnte. Dieses wunderbare Schauspiel, das der Himmel uns hier umsonst beschert, ich sage Ihnen, es bringt mich um alle Sinne. Ich erkenne mich garnicht wieder, nicht wahr, Tante?

Frau Valsaci, eine schon ältere Dame mit grauem Haar, eine vornehm aussehende Provinzlerin, die als Frau eines hohen Beamten eine Stellung hatte, gestand, sie hätte nie eine solche Begeisterung von ihrer Nichte gehört. Dann nach einigem Nachdenken sagte sie:

– Übrigens ist das weiter nicht wunderbar, wenn man wie sie all sowas immer nur als Dekorationen im Theater gesehen hat.

– Aber ich gehe beinah jedes Jahr nach Dieppe oder Trouville.

Die alte Dame begann zu lachen: – O nach Dieppe und Trouville geht man nur, um seine Freunde zu besuchen. Das Meer ist nur da, um daran Rendezvous abzuhalten.

Sie hatte das ganz einfach, ohne jede Bosheit gesagt.

Man kehrte nach der Terrasse zurück, die unwiderstehlich die Schritte zu sich lenkte. Man konnte garnicht anders. Von jeder Ecke des Parkes aus mußte man dorthin gehen, wie eine Kugel nur bergab rollt. Die untergehende Sonne schien ein goldenes, feines, durchsichtiges, leuchtendes Netz hinter der hohen Silhouette des Mont Saint-Michel auszuspannen, der immer dunkler ward. Aber Mariolle sah nur noch das angebetete blonde Antlitz an, das an seiner Seite ging in einer blauen Wolke. Er hatte sie nie so schön gefunden. Sie schien ihm anders geworden, ohne daß er wußte wodurch, als wäre eine unvorhergesehene Frische über ihr Fleisch, über ihre Augen, über ihr Haar gehaucht und auch in ihre Seele. Eine Frische, die dieses Land, dieser Himmel, diese Klarheit, dieses Grün rundum ausströmte. Nie hatte er sie so gesehen, und nie erschien sie ihm so begehrenswert.

Er schritt neben ihr hin. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Und die Berührung ihrer Kleider, wenn ihr Arm ihn ab und zu streifte, wenn ihre Blicke sich sprechend trafen, alles nahm ihn ganz hin, als wäre in ihm alles übrige gestorben. Er fühlte sich ganz gelähmt durch die Berührung mit dieser Frau, ganz von ihr in Fesseln geschlagen, daß er nichts mehr war, daß er nur noch einen Wunsch hatte, einen Gedanken, eine Anbetung.

Sie hatte all ihre frühere Art verbrannt, wie einen Brief.

Sie sah und begriff sofort diesen völligen Sieg. Und zitternd, gerührt, lebhafter noch in der Landluft, angesichts dieses Meeres von Licht, von Duft und von frischen jungen Keimen, sagte sie, aber sie blickte ihn nicht dabei an:

– Ich freue mich, daß Sie hier sind.

Sofort fügte sie hinzu:

– Wie lange bleiben Sie?

Er antwortete:

– Zwei Tage, wenn heute als ein ganzer Tag zählen kann.

Dann wendete er sich gegen ihre Tante:

– Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, mir mit Ihrem Herrn Gemahl die Ehre zu erweisen, morgen mit zum Mont Saint-Michel zu fahren?

Frau von Burne antwortete für ihre Verwandte:

– O sie darf nicht nein sagen, da wir einmal das Glück gehabt haben, Sie hier zu treffen.

Die Frau des Ingenieurs setzte hinzu:

– Sehr gern. Aber dann müssen Sie auch heute abend unser Gast sein.

Er verbeugte sich dankend.

Plötzlich kam eine wahnsinnige Freude über ihn, ein Glück, wie es einen packt, wenn man die Nachricht bekommt, die man am meisten ersehnt hat. Was war ihm geschehen? Was sollte Neues in sein Leben kommen? Nichts. Und doch fühlte er sich ganz bewegt, voll der Trunkenheit eines unerklärlichen Vorgefühls. Sie gingen lange auf der Terrasse hin in Erwartung des Sonnenuntergangs, um zuletzt noch am. feurigen Horizont den schwarzen gezackten Schatten des Mont Saint-Michel sich abzeichnen zu sehen.

Sie sprachen jetzt von gewöhnlichen Dingen, von allem was man in Gegenwart eines Fremden sagen kann, und dabei blickten sie sich ab und zu an.

Dann gingen sie zur Villa, die mitten in schönen Gärten mit dem Blick auf das Meer, am Ausgang von Avranches stand.

Mariolle wollte diskret sein, auch störte ihn das etwas kalte, beinah feindliche Benehmen des Herrn von Pradon. So ging er zeitig fort. Als er Frau von Burnes Hand an den Mund zog, sagte sie zwei Mal zu ihm mit seltsamer Betonung: – Also morgen auf Wiedersehen! Morgen auf Wiedersehen!

Sobald er fort war, machten Herr und Frau Valsaci, die seit Jahren so lebten, wie man in der Provinz lebt, den Vorschlag zu Bett zu gehen.

– O, sagte Frau von Burne, ich gehe erst noch, ein bißchen in den Garten. – Und ihr Vater fügte hinzu:

– Und ich auch.

Sie ging hinaus, einen Shawl um die Schultern. Und nun schritten sie auf dem weißen Sand der Alleen, die der Mondschein erleuchtete und die aussahen wie kleine Wasserläufe, mitten durch den Rasen und zwischen den Büschen dahin.

Nach ziemlich langem Schweigen sagte Herr von Pradon beinah flüsternd:

– Liebes Kind, nichtwahr, Du wirst zugeben, daß ich Dir nie Ratschläge gegeben habe.

Sie fühlte es kommen und bereitete sich auf den Angriff vor:

– Pardon, Papa, Du hast mir wenigstens einen Ratschlag gegeben.

– Ich?

– Gewiß, gewiß!

– Einen Ratschlag, der . . . . . Deine Existenz betraf?

– Jawohl, und sogar einen sehr schlechten Rat. Ich bin auch ganz entschlossen, wenn Du mir noch einmal rätst, es nicht zu thun.

– Was für einen Rat habe ich Dir gegeben?

– Herrn von Burne zu heiraten. Und das ist, glaube ich, der Beweis, daß Du kein Urteil hast, keine Voraussicht, daß Du die Menschen im allgemeinen nicht kennst und Deine Tochter nicht im besonderen.

Er schwieg ein paar Augenblicke ganz erstaunt und verlegen. Dann sagte er langsam:

– Ja, damals habe ich mich getäuscht. Aber ich bin meiner Sache sicher, daß ich mich nicht täusche, wenn ich Dir einen väterlichen Rat gebe, wie ich ihn Dir heute geben muß.

– Bitte sage es nur. Ich werde davon an nehmen was nötig ist.

– Du bist im Begriff Dich zu kompromittieren.

Sie begann zu lachen, etwas zu lebhaft:

– Mit Herrn Mariolle wahrscheinlich?

– Mit Herrn Mariolle.

– Ja, Du vergißt nur, daß ich mich schon kompromittiert habe: mit Herrn Georg von Maltry, mit Herrn Massival, mit Herrn Gaston von Lamarthe, mit zehn anderen, auf die Du eifersüchtig gewesen bist. Denn ich kann keinen Herrn nett und angenehm finden, ohne daß die ganze Gesellschaft wütend wird und Du an der Spitze, Du, den die Natur mir zum Heldenvater und Oberregisseur gegeben hat.

Er antwortete lebhaft:

– Nein, nein, Du hast Dich nie mit irgend jemand kompromittiert. Du bist im Gegenteil im Verkehr mit Deinen Freunden sehr taktvoll.

Sie antwortete keck:

– Mein lieber Papa, ich bin kein Pensionsmädchen mehr, und ich verspreche Dir, ich werde mich durch Herrn Mariolle nicht mehr kompromittieren lassen wie durch die anderen. Habe nur keine Angst. Allerdings gestehe ich zu, daß ich ihn gebeten habe herzukommen. Ich finde ihn reizend. Ich finde ihn ebenso gescheut, aber viel weniger egoistisch wie die anderen. Und Du warst genau derselben Ansicht bis zu jenem Tag, an dem Du glaubtest zu entdecken, daß ich ihn etwas vorziehe. Gott bewahre, so boshaft bist Du nicht? O ich kenne Dich auch. Ich könnte Dir noch mehr erzählen, wenn ich wollte. Nun, da Herr Mariolle mir gefiel, habe ich mir gesagt, daß es doch sehr nett wäre, so eine hübsche Partie mit ihm zu unternehmen, daß es doch lächerlich ist, sich um das ganz ungefährliche Vergnügen zu bringen, um alles, was einem Spaß macht. Und ich laufe keine Gefahr mich zu kompromittieren, denn Du bist ja dabei.

Jetzt lachte sie freimütig, denn sie wußte ganz genau, daß jedes Wort saß, daß sie ihn durch diesen eifersüchtigen Verdacht, der schon lange in ihm schlummerte, festhielt. Und sie amüsierte sich über diese Entdeckung mit geheimer Koketterie, die sie nicht eingestehen wollte.

Er schwieg etwas verlegen. Er war unzufrieden, erregt und fühlte auch im Grunde seiner väterlichen Einsamkeit, in der er lebte, ein seltsames Rachegefühl, dessen Ursprung er nicht einmal suchen wollte.

Sie fügte hinzu:

– Habe nur keine Angst; es ist doch nichts Besonderes dabei jetzt in dieser Jahreszeit mit Onkel und Tante und mit Dir, Papa, und einem guten Freunde einen Ausflug nach dem Mont Saint-Michel zu unternehmen. Übrigens wird es weiter garnicht bekannt werden. Und wenn man es erfährt, so kann niemand darüber reden. Wenn wir wieder in Paris sind, wird dem Freunde ganz genau sein Platz in der Reihe der anderen wieder angewiesen.

– Meinetwegen! meinte er. Ich will nichts gesagt haben.

Sie gingen noch ein Stück hin. Dann meinte Herr von Burne:

– Wollen wir nicht umkehren, ich bin müde und möchte zu Bett gehen.

– Nein, ich gehe noch etwas spazieren. Die Nacht ist so schön.

Er sagte mit einem Hintergedanken:

– Geh nicht zu weit fort. Man weiß nie, wen man hier trifft.

– O, ich bleibe hier unter den Fenstern.

– Dann gute Nacht, liebes Kind!

Er küßte sie flüchtig auf die Stirn und verschwand im Haus.

Sie setzte sich ein Stück entfernt auf eine Rasenbank am Fuß einer Eiche. Die Nacht war warm. Von den Feldern wehte Duft herüber, mischte sich mit dem Geruch von der See her, und Nebel lagen in der Helle gebreitet, denn beim strahlenden Mondschein am wolkenlosen Himmel hatte sich das Meer mit Dünsten überzogen.

Sie krochen hin wie weißer Rauch und verbargen die Dünen, die die Flut jetzt überspülen mußte.

Michaëla von Burne faltete die Hände über den Knieen und blickte in die Weite hinaus. Sie schien in ihrer Seele durch einen undurchdringlichen Nebel, der bleich war wie der Sand, lesen zu wollen.

Wie oft hatte sie sich schon in ihrem Toilettenzimmer in Paris, wenn sie so vor dem Spiegel saß, gefragt: Was liebe ich eigentlich? Was ersehne ich? Was hoffe ich? Was will ich? Was bin ich?

Neben ihrem Selbstgefühl und dem Wunsch zu gefallen, der ihr großen Genuß bereitete, hatte sie nie etwas anderes im Herzen empfunden als flüchtige schnell verlöschende Aufmerksamkeit. Sie kannte sich ganz gut, denn sie war zu sehr gewöhnt, ihr Gesicht zu betrachten und zu studieren, wie ihre ganze Person, daß sie nicht auch ihre Seele durchstöbert haben würde. Bis dahin hatte sie nun sich mit dem allgemeinen Interesse abgefunden, für alles was die Menschen bewegt, das aber sie nicht fesseln, höchstens zerstreuen konnte.

Und doch jedesmal, wenn sie ein großes Interesse für jemand hatte erwachen fühlen, jedesmal, wenn eine Rivalin ihr einen Mann streitig machte, von dem sie etwas hielt, und ihre weiblichen Instinkte reizte, war ihr doch das Blut etwas heiß durch die Adern gelaufen und sie hatte bei diesen Irrgängen der Liebe ein größeres Glück empfunden, als allein die Freude zu gefallen. Aber das hielt nicht an. Warum? Es ermüdete sie, es ekelte sie an. Vielleicht war bei ihr der Verstand zu vorherrschend. Alles, was ihr zuerst an einem Mann gefiel, alles was sie bewegt, gereizt, verführt, schien ihr bald alt, welk, banal. Sie waren doch alle dieselben, ohne freilich genau die gleichen zu sein. Und bisher war ihr noch nie jemand vorgekommen, der Charakter und Eigenschaften gehabt hätte, die sie länger hätten fesseln und ihr Herz wirklich tief ergreifen können.

Wie kam das? Lag es an den Männern oder an ihr? Fehlte ihnen das, was sie suchte, oder fehlte ihr das, was in den Menschen die Liebe entzündet? Liebt man, weil man einmal ein Wesen getroffen, das man wirklich für sich geschaffen wähnt, oder liebt man, weil man einfach mit der Fähigkeit zu lieben geboren ist? Manchmal schien es ihr, als hätte das Herz der anderen Menschen Arme wie der Körper, zarte ausgestreckte Arme, um an sich zu ziehen, zu umarmen und zu umschlingen und daß ihr Herz nur mit einem Sinn begabt sei: ihr Herz besaß nur Augen.

Manchmal erlebt man es, daß hervorragende Männer sich wahnsinnig in Mädchen verlieben, die ihrer unwürdig sind, ohne Geist, ohne Wert, sogar manchmal nicht schön. Warum und weshalb? Ein Wunder! Dieses Gefühl in den Menschen kam also nicht bloß durch eine Begegnung sondern durch eine Fügung, irgend einen Keim, den wir in uns tragen und der sich plötzlich entwickelt. Sie hatte Geständnisse angehört, sie war Zeuge von Geheimnissen geworden, sie hatte selbst mit eigenen Augen die plötzliche Veränderung erlebt, die jener Rausch in die Seele zaubert und hatte lange darüber nachgedacht.

In der Gesellschaft, im Kommen und Gehen der Besuche, bei dem Klatsch, bei all den kleinen Albernheiten, mit denen man sich unterhielt, mit denen die reichen Nichtsthuer sich beschäftigen, hatte sie ab und zu mit neidischer Überraschung, mit Eifersucht und fast unglücklich, Wesen, Frauen und Männer, gefunden, in denen ohne Zweifel etwas Ungewöhnliches vor sich gegangen war. Es zeigte sich nicht ganz auffällig, nicht – sofort zu begreifen. Aber mit ihrem feinen Instinkt fühlte und erriet sie es auf ihren Gesichtern, in ihrem Lächeln, in ihren Blicken. In allem lag etwas Unwiderstehliches, Köstliches, etwas von wundersamem Glück, eine tiefe Glückseligkeit der Seele, die sogar über den ganzen Menschen sich erstreckte, Hautfarbe und Blick erleuchtend.

Ohne zu wissen warum, ärgerte sie sich darüber. Verliebte hatten sie immer gereizt. Sie fühlte eine dumpfe tiefe Verachtung gegen Menschen, deren Herz in Liebe pochte. Sie meinte sie zu erkennen mit außergewöhnlicher Sicherheit und Genauigkeit. In der That hatte sie oft Verhältnisse geahnt, ehe man in der Gesellschaft irgend etwas davon gemerkt.

Wenn sie daran dachte, an jenen goldenen Wahnsinn, in den uns ein Mitmensch versetzen kann, sein Anblick, seine Worte, seine Gedanken, etwas an seinem Wesen und Sein, das unser Herz namenlos bewegt, so wußte sie, dessen war sie unfähig. Und doch, wie oft hatte sie von allem ermüdet, von unsagbaren Wünschen träumend, von jener quälenden Lust nach Abwechslung gepeinigt, einem Unbekannten, das vielleicht nur die dunkle Regung eines unbestimmten Liebesgefühls war, – wie oft hatte sie da gewünscht, mit geheimer Scham, die in ihrem Stolz aufstieg, dem Manne zu begegnen, der sie besiegen kannte, und wäre es nur auf kurze Zeit, ein paar Monate, dem Manne, der sie in diese zauberische Regung aller Gedanken, des ganzen Seins und Wesens, versetzte. Denn in solchen Zeiten großer seelischer Erregung mußte das Leben seltsam anmuten wie Extase und Rausch.

Sie hatte diese Begegnung nicht nur gewünscht, sie hatte sie sogar ein wenig herbeizuführen gesucht. Nur ein wenig, mit jener indolenten Betriebsamkeit, die nicht lange bei den Dingen verweilt.

Aber jedesmal, wenn sie geglaubt einen außergewöhnlichen Mann zu finden, hatte der Anfang: jenes kurze Aufflammen des Herzens nach ein paar Wochen in unendlicher Enttäuschung ein Ende gefunden. Sie erwartete zu viel von seinem Wert, seiner Art, seinem Charakter, seiner Zartheit, seinen Eigenschaften. Bei jedem war sie noch dahingekommen festzustellen, daß die Fehler der bedeutenden Menschen oft viel größer sind, als ihre Vorzüge, und daß das Talent einfach eine Gabe ist wie ein scharfes Auge oder ein guter Magen, die Gabe, im Arbeitszimmer sitzen zu können, eine vereinzelt vorkommende Gabe, die mit all den persönlichen Annehmlichkeiten, die die Beziehungen der Menschenherzen anziehend machen, garnichts zu thun hatte.

Doch seitdem sie Mariolle getroffen, knüpfte sie anderes an ihn. Aber liebte sie ihn wirklich? Liebte sie ihn mit ihrem Herzen? Ohne besondere Vorzüge, ohne Namen zu haben, hatte er sie durch Hingebung, durch seine Zärtlichkeit, durch seine Intelligenz, thatsächlich durch die einfache Anziehungskraft seiner Person gefangen. Er hatte sie gefangen, denn sie dachte unausgesetzt an ihn; unausgesetzt wünschte sie ihn bei sich zu haben; kein anderes Wesen auf der Welt war ihr angenehmer, sympathischer und notwendiger. War das die Liebe?

Sie fühlte in sich nicht jene Glut, von der die Menschen reden. Aber sie fühlte zum ersten Male in sich den ernsten Wunsch, diesem Manne mehr zu sein, als eine verführerische Freundin. Liebte sie ihn? Mußte, um geliebt zu werden, ein Wesen außergewöhnliche Anziehungskräfte besitzen, ganz anders sein wie die anderen, über ihnen stehen in dem Glorienschein, den das Herz um alles flammen läßt, was es liebt? Oder genügte es, daß er ihr so gut gefiel, daß sie beinah ohne ihn nicht mehr sein konnte?

Wenn es so war, dann liebte sie ihn, oder war wenigstens nahe daran ihn zu lieben. Nachdem sie ernstlich darüber nachgedacht, sagte sie sich endlich: »Ja, ich liebe ihn, aber der Schwung fehlt mir, die Leidenschaft. Die liegt nun einmal nicht in meinem Charakter.«

Und doch hatte sie vorhin von jenem Schwung etwas in sich gefühlt, als sie ihn auf der Terrasse des Gartens von Avranches auf sich zukommen sah. Zum ersten Male hatte sie jenes Unaussprechbare in sich empfunden, das uns zu jemand zieht, treibt, uns ihm entgegenwirft. Sie hatte sich gefreut, neben ihm zu schreiten, ihn an ihrer Seite zu wissen, der lichterloh brannte für sie, als die Sonne niederstieg hinter den hohen Schatten des Mont Saint-Michel gleich einem Märchenbild. War die Liebe da nicht für sie selbst wie ein Märchen, an das die einen instinktiv glauben, und das die anderen, durch die Gewalt, mit der sie daran denken, endlich auch für wahr zu halten beginnen? Würde sie endlich auch daran glauben? Eine seltsame weiche Lust hatte sie angewandelt, ihren Kopf an die Schulter dieses Mannes zu lehnen, ihm näher zu sein, ganz in ihm aufzugehen, das, was man nie findet, ihm zu geben, was man umsonst anbietet und immer für sich behält: ihr innerstes Wesen.

Ja, sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, und in diesem Augenblick noch zitterte dieser Schwung im Innersten ihres Herzens nach. Sie brauchte sich ihm vielleicht nur völlig zu überlassen, dann wurde Liebe daraus. Sie wehrte sich zu sehr dagegen, sie überlegte zu viel, sie sträubte sich zu sehr gegen den Reiz der Menschen. Würde es nicht köstlich sein, eines Abends so wie heute mit ihm am Bach, an den Weiden hinzuschreiten, und, um ihre ganze Leidenschaft ausströmen zu lassen, ihm ab und zu die Lippen zu bieten.

Ein Fenster der Villa ging auf. Sie wendete den Kopf. Es war ihr Vater, der sie ohne Zweifel suchte.

Sie rief ihm hinauf:

– Schläfst Du denn nicht?

Er antwortete:

– Du wirst Dich erkälten, wenn Du nicht bald kommst.

Da stand sie auf und ging ins Haus. In ihrem Zimmer zog sie die Vorhänge noch einmal auseinander, um hinauszublicken auf das Meer, dessen Dünste im Mondschein immer heller schienen, und es war ihr, als ob auch in ihrem Herzen die Nebel sich zerteilten beim Erwachen der Liebe.

Aber sie schlief gut, und das Mädchen mußte sie wecken, denn zeitig sollte zum Mont Saint-Michel aufgebrochen werden.

Ein großer Stellwagen fuhr vor, und als sie ihn auf dem Sande vor dem Hause knirschen hörte, beugte sie sich aus dem Fenster und traf sofort André Mariolles Augen, der nach ihr sah. Ihr Herz begann ein wenig zu schlagen. Erstaunt und widerwillig stellte sie eine seltsame neue Bewegung dieses Muskels fest, der da stark klopft und das Blut heftig treibt, weil man jemand erblickt hat. Wie am Tag vorher, ehe sie eingeschlafen, sagte sie sich: »Ich bin also im Begriff ihn zu lieben.«

Als sie ihm dann gegenüberstand, erriet sie, wie er in ihren Fesseln lag, wie er krank war vor Liebe. Und sie hätte am liebsten die Arme geöffnet und ihm den Mund geboten.

Sie wechselten nur einen Blick, der ihn vor Glück erblassen machte.

Der Wagen zog an. Es war ein heller Sommermorgen, die Vögel sangen, Jugendfrische lag über der Landschaft, und es ging durch Dörfer auf schmaler, steiniger Straße, daß die Reisenden auf den Bänken des Wagens tüchtig durchgerüttelt wurden. Nach langem Schweigen begann Frau von Burne mit ihrem Onkel über den Zustand des Weges zu scherzen. Das genügte, um das Eis zu brechen, und die Heiterkeit, die über dem jungen Tage lag, schien auch in die Herzen zu dringen.

Plötzlich, als sie aus einem Dörfchen herauskamen, erschien wieder die Meeresbucht, jetzt nicht mehr rötlich wie am Abend vorher, sondern in durchsichtigem Glanz der Flut, die die Dünen und Sandflächen und feuchten Wiesen überspülte und, wie der Kutscher meinte, ein Stück weiterhin sogar den Weg.

So fuhren sie eine Stunde lang Schritt, um dem Wasser Zeit zu lassen, sich wieder ebbend zurückzuziehen.

Ulmen und Eichen, die die Höfe einfaßten, zwischen denen sie durchfuhren, verdeckten ab und zu die immer größer werdenden Umrisse des Mont Saint-Michel, der jetzt meerumspült auf seinem Felsen sich erhob. Dann tauchte er einmal zwischen zwei Höfen plötzlich wieder auf, näher und immer wundervoller. Die Sonne vergoldete die gezackte Granitkirche dort auf dem Felsen.

Michaëla von Burne und André Mariolle betrachteten sie. Dann gingen ihre Blicke ineinander, und vermischten sich bei der langsam steigenden Bewegung ihrer Herzen.

Man unterhielt sich freundschaftlich. Frau Valsaci erzählte tragische Geschichten vom Versinken im Sande, nächtliche Abenteuer, wie der Triebsand die Menschen verschlungen. Herr Valsaci verteidigte den Deich, über den die Künstler sich ärgerten, zählte seine Vorteile auf, da er die ununterbrochene Verbindung mit dem Mont Saint-Michel möglich machte und Landteile vom Meer abschnitt, die zuerst zur Weide und später zur weiteren Kultur gewonnen wurden.

Plötzlich hielt der Wagen. Das Meer war über die Straße gespült; fast nichts, nur ein flüssiger Schaum glitt über die steinige Straße. Aber man mußte fürchten, daß hier und da tiefere Stellen, Löcher sich befunden, in denen man hängen bleiben konnte. Sie mußten also warten.

– Ach, das Wasser geht schnell zurück! – sagte Herr Valsaci –, und er bezeichnete mit dem Finger den Weg, den die dünne Wasserschicht zurückfloh, als würde sie von der Erde eingesogen oder durch eine gewaltige Zauberkraft aus der Ferne fortgezogen.

Sie stiegen aus, um dies seltsame schnelle und stumme Zurückfluten des Meeres in der Nähe zu betrachten und folgten ihm Schritt auf Schritt. Schon erschienen grüne Flecken von Seegras, das hier und da sich leise hob. Die Flecken vergrößerten sich, wurden rund, wuchsen zu Inseln; diese Inseln sahen bald aus wie festes Land, das nur durch kleine Meere getrennt wurde. Und bald wich die Flut, so weit die Bucht zu übersehen war, zurück: es war als zöge man einen silbernen Schleier von der Erde, einen gewaltigen durchlöcherten, zerrissenen Schleier, so daß große, kurz bewachsene Wiesenflächen sichtbar wurden.

Man war wieder eingestiegen, aber alle blieben im Wagen stehen, um besser zu sehen. Wie nun der Weg vor ihnen trocken ward, setzten sich die Pferde von neuem in Gang, jedoch immer im Schritt. Und wie beim Schwanken des Wagens ab und zu das Gleichgewicht verloren ging, fühlte André Mariolle plötzlich Frau von Burnes Schulter gegen die seinige gelehnt. Zuerst meinte er diese Berührung sei zufällig durch das Rütteln hervorgebracht, aber sie blieb und jeder Ruck der Räder drängte ihre Schulter näher an ihn heran. Und bei jedem Stoß zitterte sein Leib und zuckte sein Herz. Er wagte nicht mehr die junge Frau anzusehen, voll Glück über dies unerhoffte Entgegenkommen, und er dachte in einer Sinnverwirrung wie Trunkenheit: Ist das nur möglich? Kann es wirklich sein? Verlieren wir wahrhaftig beide den Verstand?

Die Pferde begannen zu traben, und sie mußten sich setzen. Da fühlte Mariolle das seltsam drängende Bedürfnis gegen Herrn von Pradon liebenswürdig zu sein. Und er wendete sich zu ihm mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit. Herr von Pradon war Artigkeiten fast ebenso zugänglich wie seine Tochter und ließ sich fangen, so daß er bald anfing zu lächeln.

Endlich hatten sie den großen Deich erreicht und nun fuhren sie dem Mont Saint-Michel zu, der sich am Ende dieses geraden, mitten in den Dünen aufgebauten Dammes erhob. Links bespülte der Bach von Pontorson den Abhang, rechts hatten Weiden mit spärlichem Grün, das der Kutscher Meerfenchel nannte, Platz gemacht, die noch Wasser schwitzten, noch ganz vom Meer vollgesogen.

Das hohe Bauwerk wuchs mehr und mehr; vom blauen Himmel hob sich jetzt klar und deutlich in allen Einzelheiten der Glockenturm ab mit seinen Nebentürmchen, die Spitze der Abtei, wie gespickt mit fratzenhaften Wasserspeiern, unheimlichen Gesichtern, mit denen der Fabelglaube unsrer Väter ihre gotischen Heiligtümer versehen hat.

Es war gegen ein Uhr als sie im Hotel ankamen, in dem das Frühstück bestellt worden. Die Wirtin war vorsichtshalber noch nicht ganz fertig, und man mußte etwas warten. Sie setzten sich also spät zu Tisch und hatten großen Hunger. Der Champagner brachte bald gute Laune.

Alle fühlten sich zufrieden, und zwei Herzen meinten beinah glücklich zu sein. Beim Nachtisch, als die Anregung, die der Wein und die Unterhaltung in sie gebracht, in ihnen jene Lebensfreude angeregt, die uns manchmal am Ende einer guten Mahlzeit überkommt und uns so stimmt, daß wir mit allem einverstanden sind, sagte Mariolle:

– Wollen wir bis morgen hier bleiben? Ach, es wäre zu schön, all das bei Mondschein zu sehen, und es wäre so hübsch, wenn wir heute Abend noch zusammen äßen.

Frau von Burne nahm sofort an; die beiden Herren stimmten bei. Nur Frau Valsaci zögerte wegen ihres kleinen Knaben, der zu Haus geblieben war. Aber ihr Mann beruhigte sie und erinnerte sie daran, daß sie ja öfters so fortgewesen. Er schickte sogar selbst sofort ein Telegramm an die Gouvernante. Er fand André Mariolle reizend, der den Straßendamm, um dem Ingenieur zu schmeicheln, sehr anerkannte und garnicht fand, daß er das landschaftliche Bild des Mont Saint-Michel besonders störe, wie es immer hieß.

Nachdem sie aufgestanden, gingen sie zur Abtei. Sie wählten den Weg über den Wall. Die Stadt, ein Haufen altertümlicher Häuser, hoch an dem riesigen Granitblock, der auf seinem Gipfel die Abtei trägt, in Stockwerken übereinander, ist von den Dünen durch eine hohe krenelierte Mauer getrennt. Diese Mauer umgiebt die alte Stadt, und zieht sich mit Ecken, Winkeln, Plattformen, Wachttürmen empor. Und bei jeder Biegung entdeckt das erstaunte Auge einen neuen weiten Blick über den unendlichen Horizont. Man schwieg, denn alle waren etwas außer Atem nach dem Frühstück und immer wieder erstaunt, dies wunderbare Bauwerk zu sehen oder von neuem zu sehen. Über ihnen stieg ein seltsames Durcheinander von Pfeilern, Granitblumen, von Bogen von einem Turm zum anderen in den Himmel. Eine erstaunliche, gewaltige Bauart und dabei leicht wie Spitzen, durchbrochen auf dem Himmelsblau gearbeitet. In die Luft hinaus ragte die drohende, phantastische Armee von Wasserspeiern in Form von Tieren, die fortzufliegen, zu entfliehen schienen. Wo die Häuser aufhörten, zog sich auf der Nordseite des Hügels von der Abtei bis zum Meer ein schroffer, fast senkrechter Abhang; man nannte ihn den Wald, weil er mit alten Bäumen bestanden war und sich als tiefdunkler Fleck abhob von der weiten, weißen Sandfläche. Frau von Burne und André Mariolle, die vorausgingen, blieben stehen, um alles zu betrachten. Sie stützte sich auf seinen Arm und ein wohliges Gefühl überkam sie, wie sie es noch nie empfunden. Leicht stieg sie empor mit ihm gegen dieses Bauwerk, leicht, lustig, fantastisch, wie ein Traum. Und sie wäre noch weiter gegangen. Sie hatte gewünscht, der schmale Weg möchte nie enden, denn zum ersten Male in ihrem Leben fühlte sie sich ganz befriedigt.

Sie flüsterte:

– Gott, ist das schön!

Er antwortete und blickte sie an:

– Ich denke nur an Sie.

Sie gab mit einem Lächeln zurück:

– Ich bin nicht sehr poetisch, aber schön finde ich das, so schön, daß es mich wirklich packt.

Er stammelte:

– Ich liebe Sie wahnsinnig!

Er fühlte, wie sie leise seinen Arm drückte. Sie gingen weiter.

An der Thür der Abtei empfing sie ein Wächter. Und sie stiegen jene wundervolle Treppe zwischen zwei Riesentürmen hinauf, die zur Salles des Gardes führt. Dann gingen sie von Saal zu Saal, von Hof zu Hof, von Zelle zu Zelle, auf alles horchend, staunend, alles bewundernd: die Krypta mit ihren gewaltigen, kräftig schönen Pfeilern, die auf ihren Riesensäulen den ganzen Chor der prachtvollen Kirche trägt, jenes gothische Monument, das sich in drei Stockwerken erhebt, jenes wunderbare Meisterwerk kirchlicher und kriegerischer Architektur des Mittelalters. Dann kamen sie ins Kloster. Sie waren so erstaunt, daß sie stehen blieben, angesichts dieses großen viereckigen Klosterhofes, der von den zierlichsten reizvollsten Kreuzgängen aller Klöster der Welt umzogen war. In zwei Reihen standen die feinen Säulen mit den köstlichsten Kapitälen längs der vier Galerien, eine ununterbrochene Kette von Ornamenten und gothischen Zierblumen in unendlicher Mannigfaltigkeit, in immer neuer Form, und der geschmackvollen einfachen Erfindung der alten Meister, deren Meißel, Phantasie und Gedankenfülle beim Bearbeiten der Steine leitete.

Michaëla von Burne und André Mariolle gingen rundum, mit langsamen Schritten. Er führte sie, während die anderen etwas ermüdet von weitem bewunderten. Sie waren an der Eingangsthür geblieben.

– Gott ist das schön! sagte sie und stand still.

Er antwortete:

– Ich weiß garnicht mehr wo ich bin, ob ich lebe, was ich sehe. Ich fühle nur Sie an meiner Seite.

Da sah sie ihm ins Gesicht, lächelte und flüsterte:

– André!

Er begriff, daß sie sich ergab. Sie sprachen nicht mehr und gingen.

Das Gebäude wurde weiter besichtigt, doch ohne Aufmerksamkeit.

Aber die durchbrochene Treppe lenkte einen Augenblick ihre Gedanken ab. Sie lag in einem Bogen, der in freiem Raum zwei Glockentürme verband, als sollte man in die Wolken steigen. Und noch einmal packte sie das Erstaunen, als sie an den Weg der Tollen kamen, einen schwindeligen Granitpfad, der ohne Geländer beinah um die Zinne des Turmes führte.

– Darf man darübergehen? fragte sie.

– Es ist verboten! sagte der Führer.

Sie zeigte ihm ein Zwanzigfrancsstück. Der Mann zögerte. Die ganze Familie, die schon angesichts des Absturzes und der Riesenweite des Blickes erschrocken war, stellte sich dem Leichtsinn entgegen.

Sie fragte Mariolle:

– Aber Sie würden es doch wagen?

Er begann zu lachen:

– Ich bin schon schwierigere Wege geschritten.

Und ohne sich um die anderen zu kümmern, gingen sie: er voraus auf dem schmalen Gesims am äußersten Rande des Absturzes hin; sie folgte ihm, glitt an der Wand entlang mit geschlossenen Augen, um den gähnenden Schlund unter ihnen nicht zu sehen, jetzt doch etwas gepackt, beinah ohnmächtig vor Angst, indem sie sich krampfhaft an die Hand hielt, die er nach ihr ausstreckte. Aber sie fühlte, daß er stark war, daß ihn keine Schwäche anwandelte, er nicht schwindlig wurde und sicher auftrat. Und sie dachte glückselig trotz der Angst: Das ist doch einmal ein Mann. Sie waren jetzt allein in der Weite, so hoch wie die Seevögel strichen, und sie überblickte denselben weiten Raum, durch den unaufhörlich dieses Raubzeug mit den weißen Flügeln hin- und herschießt, die Luft während des Fluges mit den kleinen gelben Augen durchspähend.

Mariolle fühlte sie zittern und fragte:

– Sind Sie schwindlig?

Sie antwortete leise:

– Ein wenig. Aber mit Ihnen fürchte ich mich nicht.

Da näherte er sich ihr, und legte den Arm um sie, sie zu stützen. Und sie fühlte sich durch den festen Halt wieder so stark, daß sie aufzublicken wagte, um in die Ferne hinauszuschauen.

Er trug sie beinah, und sie überließ sich ihm ganz, sie genoß diesen kraftvollen Schutz, der sie durch den Himmel führte und wußte ihm Dank, – den romantischen Dank einer Frau, die sich auf diesem gefährlichen Gang nicht durch einen Kuß versündigen wollte.

Als sie dann wieder bei denen standen, die sie mit Ungeduld erwarteten, sagt Herr von Pradon zu seiner Tochter:

– Gott, ist das albern, was Du da gemacht hast!

Sie antwortete überzeugt:

– Nein, denn es ist ja geglückt. Nichts ist albern was glückt, Papa.

Er zuckte die Achseln, und sie stiegen wieder hinab. Beim Pförtner hielten sie sich noch auf um Photographieen zu kaufen. Als sie ins Hotel kamen, war es beinahe Essenszeit, und die Wirtin riet ihnen noch einen kurzen Spaziergang auf den Dünen, nach dem Meer hinaus zu unternehmen, um den Mont Saint-Michel von der Seeseite aus zu bewundern, von wo er – wie sie behauptete – am schönsten aussähe. Obgleich schon müde, ging doch die ganze Gesellschaft wieder fort um den Wall herum und lief ein Stück auf dem beunruhigend weichen Sand hin und her, der den Eindruck machte als sei er fest, auf dem aber der Fuß, den man auf den schönen, gelben Teppich stellte, plötzlich fast bis zur Wade einsank.

Vom Strand aus verlor die Abtei plötzlich ganz das Aussehen einer Kathedrale mitten im Meer, wodurch sie von dem festen Lande aus den erstaunlichen Anblick bot. Von hier aus sah sie wie ein streitbares, festes Schloß aus mit der großen, gezackten Mauer, von malerischen Schießscharten durchbrochen und durch gewaltige Strebepfeiler gehalten, deren Cyklopenmauerwerk vom Fuß des seltsamen Berges heraufstieg. Aber Frau von Burne und André Mariolle kümmerten sich kaum mehr um alles das, dachten nur an sich selbst, ganz gefangen in dem Netz, in das sie sich gegenseitig verstrickt, in jenem Gefängnis eingeschlossen, in dem man nichts mehr weiß von der ganzen Welt und nichts mehr erblickt als ein einziges Wesen.

Als sie vor dem gefüllten Teller saßen beim warmen Licht der Lampe, schienen sie wieder zu erwachen und fühlten trotz alledem, daß sie hungrig geworden waren.

Lange blieb man bei Tisch sitzen und man vergaß bei gemütlicher Unterhaltung den Mondschein. Übrigens hatte auch niemand mehr Lust hinauszugehen und es wurde gar nicht davon gesprochen. Der volle Mondschein konnte mit poetischem Glanz die kleinen Schaumköpfe der steigenden Flut versilbern, die in hohler Brandung fast unmerklich aber schauerlich über den Strand heranrollte, konnte die Mauern umspülen, die um den Berg herumliefen und auf die unbegrenzte Meeresweite, die vom Licht glänzte, das auf die Dünen fiel, den romantischen, gewaltigen Schatten aller Kirchtürme der Abtei mit seinem Licht umsäumen: man hatte keine Lust mehr zu sehen.

Es war kaum zehn Uhr als Frau Valsaci totmüde davon sprach sich zurückzuziehen. Und ohne den geringsten Widerspruch waren alle der gleichen Ansicht. Nachdem man herzlich gute Nacht gesagt, suchte jeder sein Zimmer auf.

André Mariolle wußte wohl, daß er nicht schlafen würde. Er steckte zwei Lichter auf dem Kamin an, öffnete das Fenster und blickte in die Nacht hinaus.

Sein ganzer Körper zitterte unter der Qual einer vergeblichen Hoffnung. Er wußte sie da, ganz nahe, nur durch zwei Thüren von ihm getrennt. Aber es war beinah so unmöglich zu ihr zu gelangen, als hätte einer das Meer aufhalten wollen, das das Land umspülte. Er hatte Lust zu schreien, und seine Nerven quälte die nicht zu befriedigende unnütze Erwartung derart, daß er sich fragte was er thun sollte, denn er konnte die Einsamkeit dieses öden Zimmers nicht mehr ertragen.

Allmählich war es ganz still im Hotel geworden und auf der einzigen, gewundenen Straße der Stadt. Mariolle blieb noch immer am Fenster. Er wußte nur, daß die Zeit vorüberging. Er sah die silberglänzende Fläche der nahenden Flut, und immer länger verschob er den Augenblick zu Bett zu gehen als hätte er ein Vorgefühl gehabt von irgend einem bevorstehenden Glück.

Plötzlich war es ihm als hörte er Geräusch am Schloß. Er fuhr herum. Die Thür öffnete sich langsam, eine Frau trat ein, einen weißen Schleier über dem Kopf, in einen jener großen Schlafmäntel gehüllt, die ganz aus Seide, Flaum und Duft gemacht scheinen. Sie schloß sorgfältig die Thür hinter sich. Dann, als sähe sie ihn nicht sich scharf abzeichnen gegen den hellen. Rahmen des Fensters, wie er zitternd vor Glück dastand, ging sie geradenwegs zum Kamin und löschte die beiden Lichter.



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