Guy de Maupassant
Unser Herz
Guy de Maupassant

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V

Bis es Winter ward, kam sie so ziemlich regelmäßig zum Stelldichein. Sie kam, wenn auch nicht pünktlich.

Während der zwei ersten Monate schwankte ihr Zuspätkommen zwischen dreiviertel und zwei Stunden. Als der Regen im Herbst Mariolle zwang, unter aufgespanntem Regenschirm hinter der Gartenthür zu warten, vor Kälte zitternd, die Füße im durchweichten Boden, ließ er hinter jener Thür eine Art kleinen hölzernen Kiosk bauen, gedeckt und geschlossen, um sich nicht bei jedem Stelldichein zu erkälten. Die Bäume waren nicht mehr belaubt. An Stelle der Rosen und der anderen Blumen waren jetzt hohe, breite Beete von weißen, rosa, violetten, purpurnen und gelben Chrysanthemen gepflanzt, die in der feuchten Luft, in die sich der melancholische Duft des Regens und des welken Laubes mischte, ihren etwas scharfen balsamischen Geruch, der auch ein wenig traurig war, ausströmten. Vor der Thür der kleinen Wohnung war aus verschiedenen seltenen Blumen, die künstlich getrieben worden, ein großes Malteserkreuz hergestellt in zarten immer wechselnden Tönen, eine Erfindung des Gärtners; und Mariolle konnte an diesem Beet, in dem immer neue wundervolle Spielarten aufblühten, nicht vorübergehen, ohne daß ihm der Gedanke kam, daß dieses blühende Kreuz ein Grab decke.

Oh, er kannte jetzt dies lange Warten in dem kleinen Kiosk hinter der Thür. Der Regen rieselte aufs niedrige Dach nieder, rieselte an den Brettern herab, und jedesmal wenn er in dieser kleinen Kapelle wartete, gingen seine Gedanken denselben Gang, durchlief er die gleichen Stationen von Hoffnung, Ungeduld und Verzweiflung.

Es war ein unausgesetzter, bitterer, schwächender Kampf mit einem unfaßbaren Ding, mit etwas, das es vielleicht garnicht gab: der Liebe dieses Frauenherzens.

Ihr Zusammentreffen war so eigentümlich.

Bald kam sie lächelnd an, sie wollte schwatzen, setzte sich, ohne ihren Hut abzulegen, ohne die Handschuhe auszuziehen, ohne den Schleier in die Höhe zu schlagen und selbst ohne ihn zu küssen. Ja wirklich, an solchen Tagen dachte sie oft nicht daran, ihn zu küssen. Eine Menge kleiner, nichtiger Angelenheiten beschäftigten sie, die ihr wichtiger schienen als der Wunsch, die Lippen diesem Liebenden entgegen zu strecken, den die Glut der Verzweiflung zerfraß. Er setzte sich an ihre Seite, das Herz voll glühender Liebesworte, die er aber nicht aussprach. Er hörte zu, er antwortete, als schiene es ihn sehr zu unterhalten, was sie ihm erzählte. Er versuchte manchmal, eine ihrer Hände zu ergreifen, die sie ihm überließ, freundlich und ganz ruhig, ohne weiter etwas zu denken.

Ab und zu schien sie zärtlicher, ihm mehr zu gehören. Aber er, der sie mit ängstlichen Augen betrachtete, bespähte, mit den Augen des Liebhabers, der nicht fähig ist, sie ganz zu gewinnen, begriff und erriet, daß jene etwas größere Zugänglichkeit nur daran lag, daß nichts sie besonders aufgeregt und sie gerade an diesem Tag durch nichts von seiner Person abgewendet worden.

Ihr fortwährendes Zuspätkommen bewies übrigens Mariolle, wie wenig es sie zu diesen Zusammenkünften trieb. Man beeilt sich, zu dem zu kommen was man liebt, was einen anzieht. Aber zu dem, was einen nicht besonders berührt, kommt man zu spät. Alles dient zum Vorwand, um Aufschub zu gewinnen, und die peinliche Stunde zu verzögern. Ein seltsamer Vergleich mit sich selbst kam ihm unausgesetzt. Während des Sommers beeilte er sich früh beim Anziehen, um nur ja schnell ins Bad zu kommen, wohin er täglich früh ging, während wenn es kalt wurde, er so viel kleine Beschäftigungen zu Haus fand, ehe er fortging, daß er die Badeanstalt immer eine Stunde später betrat als sonst. Das Stelldichein erschien ihm für sie, wie das Baden im Winter.

Seit einiger Zeit hatte sie auch begonnen, öfters ihre Zusammenkünfte zu verschieben auf den nächsten Tag. Im letzten Moment telegraphierte sie ab, schien allerlei Gründe zu finden, daß es nicht ging. Alles war ihr dafür recht. Und das brachte ihm seelische Aufregungen und eine physische Nervosität zum Verrücktwerden.

Wenn sie sich kälter gezeigt oder geradezu ausgesprochen hätte, daß die Leidenschaft, die sie in ihm immer wachsen fühlte, ihr nicht angenehm sei, so würde er vielleicht zuerst erregt geworden sein, dann sich gekränkt gefühlt haben, verzweifelt, und endlich hätte die Glut nachgelassen. Aber im Gegenteil, sie war anhänglicher denn je. Seine Liebe schmeichelte ihr mehr als je, sie schien noch mehr den Wunsch zu haben, sie sich zu erhalten. Ohne ihm übrigens andre als freundschaftliche Vergünstigungen zu bezeugen, mit denen sie ihre anderen Bewunderer eifersüchtig machte.

Bei sich konnte sie ihn nie genug sehen. Und dasselbe Telegramm, das ihm meldete, sie sei verhindert nach Auteuil zu kommen, bat ihn immer dringend, bei ihr zu essen oder abends eine Stunde zu erscheinen. Zuerst hatte er die Einladungen für eine Entschädigung angesehen. Dann aber mußte er begreifen, daß sie seiner wirklich bedurfte, seiner schmeichelnden Worte, seines verliebten Blickes, der heimlichen Zärtlichkeit, die schon allein in seiner Anwesenheit lag. Sie bedurfte dessen, wie ein Götzenbild, um ein wirklicher Götze zu sein, Gebete und Glauben braucht. Ist die Kapelle leer, so ist das Idol nichts als geschnitztes Holz; aber wenn nur ein einziger Gläubiger ins Heiligtum tritt, die Hände faltet, sich verneigt und in Anbetung sich niederwirft, befangen von seinem Glauben, wird es genau dasselbe wie Brahma, Allah oder Jesus. Denn jedes angebetete Wesen hat etwas Göttliches an sich.

Frau von Burne fühlte sich mehr, denn eine andere, geboren für die Rolle eines Fetisch, für die natürliche Sendung der Frau, angebetet und bestürmt zu werden, zu triumphieren über die Männer durch Schönheit, Liebreiz und Koketterie.

Sie war wirklich so eine Art menschlicher Gottheit, fein, hochmütig, anspruchsvoll, unnahbar, die der Liebeskult der Männer stolz macht, beweihräuchert, unter die Himmlischen versetzt.

Indessen bezeigte sie Mariolle ihre Anhänglichkeit und Vorliebe beinah offen, ohne sich darum zu kümmern, was man darüber sagen konnte, und vielleicht mit dem heimlichen Wunsch, die anderen dadurch zur Verzweiflung zu bringen und anzustacheln. Man konnte auch kaum mehr zu ihr kommen, ohne daß er da gewesen wäre in einem großen Fauteuil, den Lamarthe den »Pfarrstuhl« nannte. Und es machte ihr aufrichtiges Vergnügen, ganz allein lange Abende mit ihm zu sitzen und ihn erzählen und sprechen zu hören.

Sie gewann Geschmack an diesem intimen Leben, an der unausgesetzten Berührung mit einem angenehmen klugen Geist, der ihr gehörte, über den sie verfügen konnte genau ebenso wie über die kleinen Nippes auf dem Tisch. Und sie überließ ihm dabei ebenfalls allmählich viel von sich, von ihren Gedanken, von dem Untergrund ihres Wesens, in jenen vertraulichen Mitteilungen, die ebenso süß gegeben wie empfangen werden. Sie fühlte sich mit ihm freier, intimer, familiärer, als mit den anderen und liebte ihn dafür desto mehr. Sie empfand auch jenes Gefühl, das den Frauen vor allem lieb ist, wirklich etwas zu geben, jemand all ihr Wesen anzuvertrauen, was sie bisher noch nie gethan hatte.

Für sie war es viel, für ihn wenig. Er wartete und erhoffte immer noch jenen großen Zusammenbruch ihres ganzen Seins, der ihm ihre Seele ganz ausgeliefert hätte. Zärtlichkeiten schien sie unnütz, beinah peinlich zu finden. Sie unterwarf sich ihnen, nicht ganz unempfindlich, aber ermattete bald davon. Und jene Ermattung war ihr zweifellos unangenehm.

Sogar die leichtesten, unbedeutendsten kleinen Zärtlichkeiten schienen sie zu ermüden und nervös zu machen. Wenn er mit ihr sprach und dabei eine ihrer Hände ergriff, um die Finger zu küssen, die er dabei einen nach dem anderen einen Augenblick an den Lippen behielt, indem er sie einsog, wie ein Bonbon, schien sie immer den Wunsch zu haben, sie ihm zu entziehen, und in ihrem Arm fühlte er fortwährend das Widerstreben.

Wenn er ging und sie auf den Hals küßte zwischen dem Kragen des Kleides und dem goldenen Haar, einen langen Kuß, der das Aroma ihres Körpers unter dem Kleide einzusaugen schien, zuckte sie immer leise zurück.

Er empfand das wie einen Messerstich. Und mit blutender Wunde zog er sich in die Einsamkeit seiner Liebe zurück. Warum hatte sie nicht wenigstens jene Periode der Leidenschaft gehabt, die bei fast allen Frauen folgt, wenn sie, freiwillig oder nicht, ihren Körper hingegeben haben. Sie ist oft kurz, Müdigkeit und Ekel folgen ihr, aber es ist so selten, daß sie überhaupt nicht eintritt, nicht wenigstens eine Stunde, einen Tag! Diese Geliebte hatte aus ihm keinen Liebhaber gemacht, sondern eine Art klugen Lebensgefährten.

Was sollte er sich beklagen? Vielleicht schenken die, die sich ganz hingeben, nicht so viel.

Er beklagte sich nicht, er hatte Angst. Er hatte Angst vor dem nächsten, vor dem, der plötzlich kommen würde, den sie heute oder morgen träfe. Wer es auch immer sei, ein Künstler, ein Herr aus der Gesellschaft, ein Offizier, ein Schauspieler – wer es sei, der geboren war, um dem Weibesauge zu gefallen, und der nur deshalb ihr gefallen würde, weil er derjenige sein würde, der zum ersten Male den unbezwinglichen Wunsch in ihr erregen würde, die Arme zu öffnen.

Er war schon eifersüchtig auf die Zukunft, wie er in manchen Augenblicken eifersüchtig gewesen war auf ihre Vergangenheit, die er nicht kannte. Und alle Intimen der jungen Frau begannen auf ihn eifersüchtig zu werden. Untereinander sprachen sie davon und machten sogar in ihrer Gegenwart leise, dunkle Anspielungen. Für die einen war er ihr Liebhaber, die anderen – Lamarthe vertrat diese Ansicht, – behaupteten, sie unterhielte sich wie immer damit, ihn zum Wahnsinn zu bringen, und ihm mache es Spaß, die anderen zu ärgern und zu erregen, mehr sei nicht daran. Ihr Vater machte ihr Vorstellungen, die sie von oben herunter annahm. Und je mehr um sie herum das Gerede der Leute anschwoll, desto mehr gab sie sich Mühe, öffentlich zu zeigen, daß sie Mariolle vorzog, in seltsamem Widerspruch zur sonstigen Vorsicht, mit der sie ihr Leben eingerichtet.

Aber ihn störten ein wenig diese Gerüchte. Und er sprach ihr davon.

– Das ist mir ganz gleich! – sagte sie.

– Ach, wenn Sie mich doch wenigstens wirklich liebten!

– Liebe ich Sie nicht, mein Freund?

– Ja und nein. Sie lieben mich hier in Ihrem Hause, aber anderwärts nicht. Ich wünschte für mich und auch für Sie das Gegenteil.

Sie begann zu lachen und flüsterte:

– Jeder thut was er kann.

Er fuhr fort:

– Wenn Sie wüßten, wie mich alle meine Bemühungen aufregen, meine Bemühungen, Sie zu mir zu führen. Mir ist es manchmal, als griffe ich ins Unfaßbare, manchmal, als umarmte ich Eis, das mich erkältet, indem es schmilzt in meinen Armen.

Sie antwortete nicht. Sie mochte dies Thema nicht leiden. Und sie nahm jenes zerstreute Wesen an, wie oft in Auteuil.

Er wagte nicht, mehr zu sagen. Er blickte sie an, wie man Kostbarkeiten in den Museen ansieht, die die Liebhaber reizen und die man doch nicht mit sich heimnehmen darf.

Tag und Nacht litt er unausgesetzt, denn die fixe Idee war über ihn gekommen, mehr mit Hülfe des Gefühls, als des Verstandes, daß sie sein war, ohne ihm zu gehören, daß sie gefangen und doch frei, daß sie erobert und doch uneinnehmbar war. Er lebte in ihrer Nähe und kam ihr doch nicht nah. Und er liebte sie doch mit allen nicht gesättigten Instinkten seiner Seele und seines Körpers. Wie im Anfang ihrer Liebe begann er ihr wieder zu schreiben. Einmal schon hatte er dadurch das erste Hindernis überwunden, und mit einem Brief konnte er vielleicht den letzten geheimen Widerstand brechen. Er kam weniger häufig, aber beinah täglich wiederholte er ihr in Briefen die vergeblichen Beteuerungen seiner Liebe. Ab und zu, wenn er sehr beredt, leidenschaftlich, schmerzlich gesprochen hatte, antwortete sie ihm. Ihre Briefe, die sie spitzfindig: Mitternacht – 1 Uhr, – 2 Uhr, – 3 Uhr morgens – datierte, waren klar, durchsichtig, gut durchdacht, sehr freundlich, aufmunternd, – zum Verzweifeln. Sie schrieb sehr gut, geistreich, es war sogar Phantasie darin. Aber er konnte sie lesen und lesen, er konnte sie ganz richtig, klug, gut abgefaßt, seiner männlichen Eitelkeit schmeichelnd finden, ihr Herz enthielten sie nicht. Nicht mehr wie die Küsse in Auteuil.

Er überlegte warum. Und wie er sie Zeile für Zeile auswendig wußte, kannte er sie so genau, daß er den Grund entdeckte, denn man lernt den Menschen am besten aus seinen geschriebenen Worten kennen. Das gesprochene Wort trügt und blendet, denn das Gesicht spielt mit. Man sieht es von den Lippen kommen, und die Lippen gefallen und die Augen verführen. Aber die schwarzen, einfachen Worte auf dem weißen Papier sind die nackte Seele.

Der Mann kommt durch rhetorische Kniffe, durch die Übung, bei allem, was ihm im Leben aufstößt, schreiben zu müssen, oft dazu, in seiner unpersönlichen litterarischen oder geschäftlichen Praxis seine eigene Natur zu verbergen. Aber die Frau schreibt nur um von sich selbst zu sprechen, und in jedem Wort steckt etwas von ihr. Sie kennt die Listen des Stiles nicht, und unschuldig setzt sie die Worte. Er dachte an die Memoiren und Briefe berühmter Frauen, die er gelesen. Wie klar, wie geistreich, wie sensitiv erschienen sie ihm. Was ihm in Frau von Burnes Briefen am meisten auffiel, war, daß man nie ein Gefühl darin entdeckte. Diese Frau dachte, aber fühlte nicht. Er erinnerte sich anderer Briefe. Er hatte viele bekommen. Ein kleines Bürgermädchen, das er auf der Reise kennen gelernt, das ihn ein Vierteljahr geliebt, hatte ihm köstliche kleine Briefchen geschrieben voll wundervoller Stellen und ungeahnter Tiefe. Er hatte sich sogar gewundert über die Eleganz, die Schmiegsamkeit und Mannigfaltigkeit ihrer Ausdrücke. Woher kam ihr diese Gabe? Daher, daß sie Herz besaß, nichts weiter. Die Frau wählt nicht ihre Worte, ihre Seelenstimmung diktiert sie ihr. Sie wälzt keine Lexika. Wenn sie stark empfindet, drückt sie sich auch richtig aus, ohne zu suchen, ohne Mühe, in der immer beweglichen Aufrichtigkeit ihrer Natur.

Er suchte die Aufrichtigkeit der Natur seiner Geliebten aus den Zeilen, die sie ihm geschickt, herauszulesen. Sie war liebenswürdig und fein. Aber warum fand sie nicht mehr für ihn? O, er hatte für sie Worte gefunden, die brannten gleich feurigen Kohlen.

Wenn sein Diener die Postsachen brachte, suchte er sofort darunter die ersehnte Handschrift auf den Briefen. Wenn er sie erkannt, überkam ihn eine unwillkürliche Erregung und Herzklopfen. Er streckte die Hand aus und nahm das Papier. Er las noch einmal die Adresse, dann riß er es auf. Was würde sie schreiben? Ob das Wort »lieben« darin vorkam? Sie hatte es noch nie geschrieben, nie ausgesprochen ohne den Zusatz »sehr«: Ich habe Sie sehr lieb. Habe ich Sie nicht gern? – O er kannte diese Formeln, die nichts sagen, weil noch andere Worte daneben stehen. Giebt es eine Gradabstufung, wenn man liebt? Kann man sagen, man liebt sehr oder man liebt nicht sehr? Sehr lieben bedeutet wenig Liebe. Man liebt, – nichts mehr, nichts weniger, – da giebt es nichts dazu zu setzen. Man kann nichts ersinnen, nichts sagen, was über dies Wort hinausgeht. Es ist kurz, es bedeutet alles. Es wird der Körper, die Seele, das ganze Sein. Man fühlt es, wie die Wärme des Körpers, atmet es ein, wie die Luft, man trägt es in sich, den Gedanken, denn es macht sich zum einzigen Gedanken. Nichts anderes giebt es mehr daneben. Es ist nicht ein Wort, es ist ein unausdrückbarer Zustand, den ein paar Buchstaben versinnbildlichen. Was man auch anfängt, nichts thut man, nichts sieht man, nichts empfindet man, nichts kostet man, von nichts leidet man so, wie vorher. Mariolle war der Sklave dieses kleinen Wortes geworden. Und sein Blick lief über die Zeilen und suchte den Ausdruck einer Liebe, die gleich sein könnte der seinen. Und er fand genug um sich zu sagen: Sie hat mich gern. Aber nie genug, um zu sagen: Sie liebt mich! In ihrer Korrespondenz spann sie den hübschen poetischen Roman, der am Mont Saint-Michel begonnen, fort. Es war »über Liebe«, aber nicht die Liebe.

Als er die Zeilen zu Ende gelesen hatte und abermals gelesen, schloß er die geliebten Papiere in ein Fach ein und setzte sich verzweifelt in den Lehnstuhl. Dort waren ihm schon viel böse Stunden vergangen.

Nach einiger Zeit antwortete sie etwas kürzer. Sie war wahrscheinlich müde, immer dieselben Phrasen zu machen und dieselben Dinge zu wiederholen. Im übrigen gab es für sie große gesellschaftliche Aufregungen, die André hatte kommen sehen mit jenem Übermaß von Leid, das das Herz trifft bei den kleinsten, unangenehmen Ereignissen.

Es war ein gesellschaftlich sehr belebter Winter. Ein Vergnügungstaumel war über Paris gekommen, durchzitterte die ganze Stadt, in der die Droschken und herrschaftlichen Wagen die ganze Nacht durch die Straßen rollten, hinter den emporgezogenen Fensterscheiben sah man Damen in hellen Toiletten. Man amüsierte sich. Es war nur noch die Rede von Theaterspielen, von Bällen, Matinéen und Soireen. Etwas wie eine Epidemie von Vergnügen steckte plötzlich alle Klassen der Gesellschaft an und befiel auch Frau von Burne.

Es begann mit einem großen Erfolg ihrer Schönheit bei einem Ballett, das man auf der österreichischen Botschaft getanzt. Graf Bernhaus hatte sie mit der Botschafterin, Fürstin Malten, bekannt gemacht, mit der Frau von Burne plötzlich ganz familiär ward. Sie ward in kurzer Zeit die intime Freundin der Fürstin, und dadurch dehnte sie ihre Beziehungen schnell in der diplomatischen Welt aus und in der höchsten Aristokratie. Ihre graziös verführerische Art, ihre Eleganz und ihre Klugheit, ihr feiner Geist verhalfen ihr bald zum Sieg. Sie ward Mode, kam in die ersten Kreise, und die Frauen Frankreichs, die die höchsten Namen trugen, machten bei ihr Besuch.

Jeden Montag hielt eine ganze Reihe von wappengeschmückten Coupés längs des Trottoirs der Rue du Général Foy. Und die Diener verloren den Kopf, verwechselten die Herzoginnen mit den Marquisen, die Gräfinnen mit den Baroninnen, wenn sie die großen tönenden Namen an der Eingangsthür des Salons ausriefen.

Sie war ganz trunken davon. Die Artigkeiten die man ihr sagte, die Einladungen, das Entgegenkommen, das Gefühl, eine der Auserwählten zu sein, die Paris feiert, das Glück, so bewundert, gesucht und überall verzogen zu werden, erweckten in ihrer Seele eine gefährliche Crisis der Überhebung.

Ihre künstlerische Hausgarde versuchte dagegen anzukämpfen. Und die Revolution brachte es dahin, daß ihre früheren Freunde untereinander ganz intim wurden. Sogar Fresnel wurde unter sie aufgenommen, begann eine Stellung in der Liga zu bekommen. Mariolle wurde an die Spitze gestellt, denn man wußte wohl von seiner Neigung zu ihr und daß sie ihm besonders freundschaftlich gesinnt war.

Aber er sah sie davonfliegen in jener schmeichelhaften, gesellschaftlichen Popularität, wie ein Kind seinen kleinen, roten Ballon, dessen Faden es losgelassen hat, entwischen sieht.

Es war ihm, als fliehe sie in einer eleganten, tanzenden Menge, weit, weit fort von jenem großen Glück, das er so sehr erhofft. Und er ward eifersüchtig auf alle Welt, auf jeden: auf die Männer, die Frauen und die Dinge. Er begann das Leben, das er führte, zu hassen. Alle Gesellschaften, Theater, Besuche, Konzerte, Bälle, denn alles das entriß ihm Stücke von ihr, nahm ihre Tage und ihre Abende in Beschlag. Allein mit ihr war er nur noch in den ganz seltenen Stunden, wo sie frei war. Und er litt so darunter, daß er beinah krank geworden wäre, und sein Gesicht sah so verstört aus, daß sie ihn eines Tages fragte:

– Was fehlt Ihnen denn? Sie haben sich ganz verändert. Sie sind ganz mager geworden.

– Was mir fehlt? Ich liebe Sie zu sehr!

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu:

– Man liebt nie zu sehr, mein Freund.

– Sie sagen das?

– Ja gewiß!

– Und sehen Sie denn nicht, daß ich daran sterbe, Sie vergeblich zu lieben.

– Erstens lieben Sie mich nicht vergeblich, und dann stirbt man von so etwas nicht. Endlich sind alle unsere Freunde eifersüchtig auf Sie. Das ist doch der Beweis, daß ich Sie im großen ganzen nicht zu schlecht behandle.

Er griff nach ihrer Hand:

– Sie verstehen mich nicht.

– Doch. Ich verstehe Sie sehr wohl.

– Hören Sie nicht den Verzweiflungsschrei, den ich Ihnen immer entgegenrufe?

– Ja, ich höre ihn.

– Nun und – – – –

– Und das thut mir sehr leid, weil ich Sie furchtbar gern habe.

– Nun und dann?

– Nun und dann sagen Sie mir: »seien Sie so wie ich. Denken Sie, fühlen Sie, drücken Sie sich aus wie ich.« Aber das kann ich doch nicht, mein armer Freund! Ich bin, was ich nun einmal bin. Sie müssen mich nehmen, wie Gott mich geschaffen hat. Ich habe mich Ihnen so geschenkt, – ich bedauere es nicht. Ich will nicht von Ihnen fort, Sie sind mir das liebste Wesen, das ich kenne.

– Sie lieben mich nicht!

– Ich liebe Sie mit aller Liebesmöglichkeit, die in mir liegt. Wenn sie nicht anders ist oder nicht stärker, kann ich dafür?

– Wenn ich das gewiß wüßte, würde ich vielleicht ruhiger sein.

– Was ist der tiefere Sinn Ihrer Worte?

– Der tiefere Sinn ist, daß ich glaube, Sie müßten anders lieben können, aber daß ich mich nicht für fähig halte, Ihnen wahre Liebe einzuflößen.

– Nein, mein Freund, Sie täuschen sich. Sie sind mir mehr, als mir jemals einer gewesen ist und je einer sein wird. Das glaube ich wenigstens bestimmt. Das ist wenigstens gut an mir, daß ich Sie nicht belüge. Ich mache Ihnen nicht vor, was Sie sich wünschen, wie es viele Frauen thun würden. Danken Sie mir das. Regen Sie sich doch nicht auf, werden Sie nicht nervös. Haben Sie Vertrauen zu meiner Zuneigung, die Ihnen völlig und in aller Aufrichtigkeit gehört.

Er flüsterte, während er fühlte, wie endlos weit ihre Seelen voneinander standen:

– Ach, ist das seltsam, so die Liebe aufzufassen und davon zu reden. Ich bin für Sie jemand, den Sie in der That wünschen, oft neben sich zu sehen auf einem Stuhl an Ihrer Seite. Aber für mich bedeuten Sie die ganze Welt. Ich kenne nur Sie, ich fühle nur Sie darin, und ich bedarf nur Ihrer.

Sie lächelte wohlwollend und antwortete:

– Das weiß ich, das errate ich, das verstehe ich. Ich bin glückselig darüber und sage Ihnen: Lieben Sie mich immer so, wenn es möglich ist, denn darüber bin ich glückselig. Aber zwingen Sie mich nicht, Ihnen eine Komödie vorzuspielen, die mir weh thun würde und unserer nicht würdig wäre. Ich fühlte diese Krisis seit einiger Zeit nahen. Sie thut mir sehr leid, weil ich Ihnen von Herzen geneigt bin. Aber ich kann meine Natur nicht ändern, daß sie der Ihren ähnlich würde. Nehmen Sie mich, wie ich bin.

Er fragte plötzlich:

– Haben Sie einmal gedacht, einmal geglaubt – nur einen Tag lang, nur eine Stunde, sei es früher oder später, – daß Sie mich einmal anders lieben könnten?

Sie war um eine Antwort verlegen und dachte einige Augenblicke nach.

Er wartete ängstlich und sagte:

– Sehen Sie, Sie haben auch einmal an anderes gedacht.

Sie sprach langsam:

– Ich konnte mich wohl einen Augenblick über mich selbst täuschen.

Er rief:

– O wie fein und psychologisch ausgedrückt! Man philosophiert nicht so über die Stimme des Herzens.

Sie dachte noch nach. Der Gedanke an sich selbst, dieses Suchen, dieses Rückkehren zu ihr interessierte sie. Und sie fügte hinzu:

– Ehe ich Sie so liebte, wie ich Sie liebe, habe ich allerdings wirklich einen Augenblick geglaubt, daß ich für Sie mehr – mehr . . . mehr Feuer haben könnte. Aber dann wäre ich wohl weniger einfach, weniger offen gewesen, vielleicht später nicht so aufrichtig.

– Warum später weniger aufrichtig?

– Weil Sie die Liebe haben wollen in den Worten: Alles oder nichts. Und dieses Alles oder nichts bedeutet nach meiner Auffassung: Zuerst alles, später nichts. Wenn das Nichts anfängt, dann beginnen wir Frauen zu lügen.

Er antwortete nervös:

– Begreifen Sie denn nicht mein Unglück und meine Qual, nur zu denken, daß Sie mich anders hätten lieben können. Sie haben es einmal empfunden, Sie werden also einmal einen anderen so lieben.

Sie antwortete ohne Zögern:

– Das glaube ich nicht!

– Und warum? Jawohl warum? Von dem Augenblick ab, wo Sie die Vorahnung der Liebe gehabt haben, wo Ihnen die Ahnung angeflogen ist von jener nie zu verwirklichenden, quälenden Hoffnung, sein Leben, seine Seele, sein Fleisch mit dem eines anderen zu vermischen, ganz in ihm aufzugehen, da Sie die Möglichkeit gefühlt haben jener unausdrückbaren Herzensbewegung, werden Sie ihr einen oder den anderen Tages erliegen.

– Nein. Meine Einbildungskraft hat mich betrogen. Ich gab Ihnen alles, was ich geben kann. Ich habe, seitdem ich von Ihnen geliebt worden bin, viel nachgedacht. Sie sehen, ich fürchte mich vor nichts, nicht einmal vor Worten. Ich bin wirklich völlig überzeugt, daß ich mehr und tiefer nicht lieben kann, als ich es jetzt thue. Sie sehen, ich spreche mit Ihnen, wie zu mir selbst. Ich thue es, weil Sie klug sind, weil Sie alles verstehen, und es besser ist, Ihnen nichts zu verbergen, und dabei das einzige Mittel, uns eng aneinander für lange Zeit zu fesseln. Und das hoffe ich, mein Freund.

Er hörte ihr zu, wie man trinkt, wenn man verdurstet. Und er sank auf die Kniee und barg seine Stirn in ihren Schoß.

Er drückte ihre beiden kleinen Hände auf seinen Mund und sagte: – Dank! Dank! Als er den Kopf erhoben hatte, um sie anzusehen, glänzten zwei Thränen in ihren Augen. Dann legte sie ihren Arm um Andrés Hals, zog ihn langsam an sich, beugte sich, zu ihm nieder und küßte ihn auf die Lider.

– Setzen Sie sich! sagte sie. Es ist unvorsichtig, hier vor mir zu knieen.

Er setzte sich nun. Nach ein paar Augenblicken Schweigen, während sie sich ansahen, fragte sie ihn, ob er nicht in den nächsten Tagen einmal mit ihr zur Ausstellung des Bildhauers Prédolé gehen wollte, von dem man mit Begeisterung sprach. Sie hatte im Toilettenzimmer von ihm einen broncenen Amor, eine reizende kleine Figur, die in die Badewanne das Wasser einfließen ließ. Sie wollte gern in der Galerie Varin das gesamte Lebenswerk dieses wundervollen Künstlers sehen, von dem Paris seit acht Tagen schwärmte.

Sie setzten den Tag fest. Dann stand Mariolle auf, um zu gehen.

– Wollen Sie morgen nach Auteuil kommen? sagte sie leise.

– O, so gern!

Und er ging davon, ganz benommen vor Glück trunken von jenem »vielleicht«, das in verliebten Herzen niemals stirbt.



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