Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Auf dem Boulevard klangen zwei Namen in aller Mund: Emma Helsson und Montrosé. Je mehr man sich der Oper näherte, desto häufiger hörte man sie. Von den Anschlagsäulen starrten sie auf Riesenanzeigen den Vorübergehenden entgegen, und an diesem Abend lag etwas, wie ein besonderes Ereignis in der Luft.

Das massige Gebäude, »Nationale Musik-Akademie« geheißen, lag unter dem schwarzen Himmel da, der darauf zuströmenden Menschenmenge die prachtvolle weiße Fassade und die Kolonnade von Marmorsäulen zuwendend, die durch unsichtbare elektrische Lampen wie eine Dekoration bestrahlt wurde.

Auf dem Platz ordneten berittene Schutzleute den Verkehr, und von allen Ecken von Paris kamen ungezählte Wagen an, hinter deren offenen Fenstern man duftige Wolken von Kleidern und Stoffen und blasse Gesichter gewahrte.

Die Coupés und Landauer ordneten sich an dem reservierten Saaleingang zu langer Kette, hielten einen Augenblick, und dann stiegen jedesmal in den mit Pelz, mit Federn oder mit Spitzen von unschätzbarem Wert garnierten Abendmänteln Damen der guten Gesellschaft und andere, in wundervollen Toiletten aus.

Die ganze Breite der berühmten Treppe stiegen, ein märchenhafter Anblick, ununterbrochen königlich geschmückte Damen empor, an deren Busen und Ohren Diamanten blitzten und deren lange Schleppen über die Stufen glitten.

Der Saal füllte sich bei Zeiten, denn man wollte keinen Ton der berühmten Künstler verlieren, und im weiten Amphitheater wogte es im strahlenden Schein des elektrischen Lichtes, das vom Kronleuchter niederfiel, hin und her, und ein unbestimmtes Summen klang.

Von der Loge auf der Bühne, in der schon die Herzogin, Annchen, der Graf, der Marquis, Bertin und Herr von Musadieu saßen, sah man nichts als die Coulissen, in denen Leute schwatzend standen, hin und her liefen und riefen, Maschinisten in der Bluse, Herren im Frack, Darsteller schon im Kostüm. Aber auf der anderen Seite des riesigen herabgelassenen Vorhangs hörte man schon das dumpfe Gemurmel der Menge, fühlte man die Anwesenheit von tausend unruhig bewegten Wesen, deren Hin und Her die Leinwand zu durchbrechen schien, um sich auf der Bühne zu verbreiten.

Es sollte »Faust« gegeben werden.

Musadieu erzählte Anekdoten über die ersten Aufführungen des Werkes im lyrischen Theater. Die Oper errang damals einen phänomenalen Erfolg. Er erzählte von den damaligen Darstellern, über ihre Manier, jede einzelne Nummer vorzutragen. Annchen hatte sich halb zu ihm gewendet und hörte ihm mit jener Aufmerksamkeit der Jugend zu, mit der sie alles in der Welt erfaßte, und ab und zu warf sie einen zärtlichen Blick auf ihren Verlobten, der in ein paar Tagen ihr Mann sein sollte. Sie liebte ihn jetzt, wie eben ein naives Herz liebt, das heißt, sie liebte in ihm alle ihre Hoffnungen für die Zukunft. Sie zitterte vor Erwartung und Erregung, der Taumel der ersten Feste des Lebens kam über sie und das glühende Bedürfnis, glücklich zu sein.

Und Olivier, der alles sah, alles wußte, der alle Qualen heimlicher Liebe durchkostet, eifersüchtig und nicht imstande war, etwas zu thun, der Menschenleid bis in seine Tiefen ausgeschöpft, wo das Herz zu verbrennen scheint, wie auf einem Scheiterhaufen, stand im Hintergrund der Loge und blickte sie beide qualvoll an. Die drei Schläge klangen und plötzlich der trockene Ton des Aufklopfens des Taktstockes auf dem Dirigentenpult. Sofort war alles still, Husten und Flüstern. Dann nach kurzer, tiefer Pause begannen die ersten Takte der Ouvertüre und erfüllten den Raum mit dem unsichtbaren, unwiderstehlichen Zauber der Töne, der Nerven und Seelen erfaßt mit poetischem und wirklichem Fieber, indem er die Luft, die man atmet, wie Tonwellen einem zuführt.

Olivier saß im Hintergrund der Loge, schmerzlich bewegt, als ob die Wunden seines Herzens durch die Töne aufgerissen würden. Aber als der Vorhang aufgegangen war, erhob er sich ein wenig und erblickte als Dekoration ein Laboratorium, in dem Doktor Faust sinnend saß.

Er hatte die Oper schon zwanzigmal gehört, kannte sie beinah auswendig, und seine Aufmerksamkeit flog vom Stück fort in den Zuschauerraum hinüber. Er konnte nur zwischen den Coulissen, hinter denen die Loge versteckt lag, ein kleines Stück übersehen. Aber dieser Ausschnitt, der vom Orchester bis zum obersten Rang hinaufging, zeigte ihm ein Stück des Publikums, in dem er eine Menge Bekannte sah. Im Parkett saßen die Herren in Frack und weißen Cravatten, einer neben dem anderen, wie eine ganze Sammlung von bekannten Gesichtern, Leute der großen Welt, Künstler, Journalisten, alle die, die dort nie fehlen, wo alle Welt hingeht. Im ersten Rang, Balkon und Logen konnte er die einzelnen Damen bei Namen nennen. Die Gräfin Lochrist saß in einer Proceniumsloge, wirklich reizend, während ein Stück weiter entfernt sich eine jung verheiratete Frau befand, die Marquise von Ebelin. Sie hob das Opernglas. »Ihr erstes Auftreten ist ganz nett,« sagte sich Bertin.

Man hörte aufmerksam zu, mit augenscheinlicher Teilnahme, wie der Tenor Montrosé seine Klagen über das Dasein hinaussendete.

Olivier dachte: »Solch ein Unsinn. Faust, der göttliche Faust singt hier die Nichtigkeit und den Ekel des Lebens in die Welt hinaus, und das Publikum fragt sich ängstlich, ob Montrosés Stimme nicht gelitten hat.« Nun hörte er zu, wie die anderen, und hinter den banalen Worten des Textbuches tauchte ihm durch die Musik, die in den Seelen Träume erweckt, ein Begriff von dem auf, wie sich Goethe Fausts Seele gedacht.

Er hatte früher die Dichtung gelesen, die er sehr schön fand, ohne doch besonders erschüttert zu sein, und nun plötzlich fühlte er ihre unergründliche Tiefe, denn es war ihm, als würde er an diesem Abend selbst Faust.

Annchen hatte sich auf die Logenbrüstung gestützt und hörte angespannt zu. Und beifälliges Gemurmel ging durch das Publikum, denn die Stimme Montrosés war sogar ausgeglichener und runder geworden als früher.

Bertin hatte die Augen geschlossen. Er setzte seit einem Monat alles, was er empfand, was er sah, was ihm im Leben begegnete, in Beziehung zu seiner Leidenschaft. Alles was er Schönes, Seltenes erblickte, was er sich Reizendes dachte, brachte er sofort in Beziehung zu seiner kleinen Freundin. Er hatte keinen Gedanken mehr, der nicht mit seiner Liebe zusammengehangen hätte.

Jetzt hörte er im Innern seines Herzens Fausts Klagen, und in ihm stieg der Wunsch auf, zu sterben, der Wunsch, all sein Leid zu enden, all das Elend, all das endlose Leiden seiner Liebe. Er betrachtete Annchens feingeschnittenes Profil und dann den Marquis Farandal, der hinter ihr saß und sie auch besah. Er fühlte sich alt, abgethan, ein verlorener Mann. Welche Qual, nichts mehr zu erwarten, keine Hoffnung zu haben, nicht einmal das Recht zu besitzen, etwas zu wünschen, sich deklassiert fühlen, am Abend seines Lebens. Wie ein Beamter, der die Altersgrenze überschritten hat, dessen Laufbahn zu Ende geht.

Beifall klang. Montrosé hatte schon gesiegt und Mephisto-Labarrière tauchte aus der Versenkung auf. Olivier, der ihn in dieser Rolle niemals gehört hatte, merkte wieder auf. Die Erinnerung an Aubin mit seinem dramatischen Baß, an Faure mit seiner wundervollen Baritonstimme, brachte ihn einen Augenblick auf andere Gedanken.

Aber plötzlich erschütterten ihn zwei Verse, die Montrosé mit unwiderstehlicher Gewalt hinausschleuderte, bis ins tiefste Herz. Faust sagte zu Mephisto:

»Gieb mir den Schatz, der alle andern in sich schließt,
Gieb mir die Jugend wieder.«

Und der Tenor erschien im Seidenkleid, das Schwert an der Seite, einen Federhut auf dem Kopf, elegant, jung, hübsch in seiner etwas gezierten Sängerschönheit.

Ein Murmeln ging durch die Reihen, er sah famos aus und gefiel den Damen.

Olivier überlief es im Gegenteil wie Verzweiflung, denn das Bild von Goethes seelenzwingendem Drama verschwand bei dieser Verwandlung. Von nun ab sah er vor sich nichts, als eine Feerie mit einzelnen hübschen Gesangsnummern, und talentvolle Sänger, bei denen er nur noch auf die Stimme achtete. Dieser Mann da im Seidenwams, der hübsche Kerl, der dort trillerte und seine Beine und Töne zeigte, mißfiel ihm. Das war nicht der wahre, unwiderstehliche Faust, der Gretchen verführen sollte.

Er setzte sich wieder, und die beiden Verse, die er vorhin gehört, kehrten in sein Gedächtnis zurück:

»Gieb mir den Schatz, der alle andern in sich schließt,
Gieb mir die Jugend wieder.«

Er summte sie zwischen den Zähnen, sang sie schmerzlich in tiefster Seele und, den Blick immer auf den blonden Nacken Annchens gerichtet, der in dem viereckigen Ausschnitt der Loge auftauchte, fühlte er in sich die ganze Bitterkeit dieses nie zu verwirklichenden Wunsches.

Aber Montrosé hatte eben die Schlußnoten des ersten Aktes so wunderbar gesungen, daß die Begeisterung losbrach; wie ein Ungewitter tobte ein paar Minuten lang das Klatschen, Trampeln und Bravorufen durch den Saal. In allen Logen sah man die Frauen die Handschuhe aufeinander schlagen, während die Männer hinter ihnen standen und klatschten und riefen.

Der Vorhang fiel und hob sich zweimal hintereinander, ohne daß der Beifall nachgelassen hätte. Als er aber dann das dritte Mal gesunken war, vom Publikum die Bühne und die Logen auf der Bühne scheidend, klatschten die Herzogin und Annchen noch immer ein paar Augenblicke weiter und bekamen durch eine kleine, diskrete Verbeugung einen besonderen Dank vom Tenor.

– Ah, er hat uns gesehen! – sagte Annchen.

– Welch wunderbarer Künstler! – rief die Herzogin. Und Bertin, der sich vorgebeugt hatte, sah mit einem unbestimmten Gefühl von Erregung und Verachtung zu, wie der gerufene Schauspieler zwischen zwei Thüren verschwand, das Bein ausgestreckt, die Hand in die Hüften gestemmt, immer noch in Theaterpose. Man sprach von ihm. Seine Erfolge machten ebenso viel Aufsehen wie sein Talent. Er hatte alle Hauptstädte Europas besucht, begeistert von den Frauen aufgenommen, die mit Herzklopfen ihn auf die Bühne kommen sahen, da sie wußten, daß er unwiderstehlich war. Übrigens schien er, hieß es, sich wenig um diese sentimentale Begeisterung zu kümmern und begnügte sich mit musikalischen Erfolgen. Musadieu erzählte mit vorsichtigen Worten, wegen Annchens Anwesenheit, von dem Dasein, das der schöne Sänger führte, und die Herzogin, die ganz weg war, begriff und billigte sehr wohl alle Verrücktheiten, deren Veranlassung er gewesen, – so verführerisch, elegant, vornehm und wahrhaft künstlerisch fand sie ihn. Lächelnd schloß sie:

– Wie soll man einer solchen Stimme widerstehen!

Olivier ärgerte sich und ward bitter. Er verstand absolut nicht, wie man an einem Mimen Geschmack finden konnte, an jener fortwährenden Darstellung von Menschen und Charakteren, die niemals er selbst sind, an diesem eingebildeten Darsteller von Phantasiefiguren, an diesem geschminkten Kerl, der für so und so viel den Abend alle Rollen heruntersingt.

– Sie sind eifersüchtig, – sagte die Herzogin. – Ihr Herren von der Gesellschaft und ihr Künstler seid alle auf die Schauspieler nicht gut zu sprechen, weil sie mehr Erfolg haben wie ihr.

Dann wendete sie sich zu Annchen:

– Nun sag mal Kleine, Du, die Du erst ins Leben trittst und mit gesunden Augen um Dich blickst, wie findest Du denn den Tenor?

Annchen antwortete mit überzeugter Miene:

– Ich finde ihn großartig! – Die drei Schläge zum zweiten Akt erklangen, und der Vorhang hob sich.

Es war wundervoll, wie die Helsson über die Bühne schritt. Auch sie schien mehr Stimme zu haben, wie früher, und sie noch mit größerer Sicherheit zu beherrschen. Sie war wirklich die große, ausgezeichnete, unvergleichliche Sängerin geworden, deren Weltruf dem Bismarcks und Lesseps' gleichkam.

Als Faust auf sie zutrat und die reizende Stelle mit seiner verführerischen Stimme sang:

– Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?

und als das blonde, schöne Gretchen ihm antwortete:

– Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn,

lief es wie ein Rauschen von Vergnügen durch den Saal.

Als der Vorhang fiel, klang gewaltiger Beifall, und Annchen klatschte so lange, daß Bertin die Lust ankam, ihre Hände festzuhalten, damit sie aufhören sollte. Eine neue Qual bedrückte ihn. Er sprach nicht während des Zwischenaktes, denn er verfolgte in Gedanken zwischen den Coulissen, wie in einer fixen Idee, die fast etwas von Haß bekommen hatte, den gräßlichen Kerl von Sänger, der das Kind so begeisterte, wie er in seine Garderobe ging und weiß auflegte.

Dann kam die Gartenscene.

Sofort verbreitete sich etwas, wie ein Liebesfieber im Hause. Denn diese Musik, die nur wie ein Hauch von Küssen scheint, war noch nie von zwei solchen Künstlern gesungen worden. Es waren nicht mehr zwei berühmte Sänger, nicht mehr Montrosé und die Helsson, sondern zwei Idealwesen, kaum zwei Wesen, eigentlich nur zwei Stimmen, die ewige Stimme des Mannes, der liebt, die ewige Stimme der Frau, die sich hingiebt. Und zusammen seufzten sie allen Zauber der Liebe, die dem Menschen gegeben ist, hinaus.

Als Faust sang:

– Laß mich Dein Antlitz schauen –

klang aus den Tönen eine solche Anbetung, solches Flehen, daß wirklich eine Liebessehnsucht einen Augenblick in aller Herzen drang.

Olivier erinnerte sich, daß er selbst im Park von Roncières unter den Fenstern des Schlosses die Worte gesungen. Er hatte sie bis dahin für ein bißchen banal gehalten, aber jetzt kamen sie ihm auf die Lippen wie ein letzter Schrei der Leidenschaft, ein letztes Gebet, die letzte Hoffnung, die letzte Gunst, die er vom Leben erwarten durfte.

Dann hörte er nicht mehr zu, vernahm nichts mehr. Fürchterliche Eifersucht zerriß sein Herz, denn er hatte eben gesehen, wie Annchen das Taschentuch an die Augen gedrückt.

Sie weinte. Ihr Herz erwachte also, regte sich, schlug, ihr kleines Mädchenherz, das noch von nichts wußte. Hier, ganz nahe von ihm, ohne daß sie an ihn dachte, sah sie, wie die Liebe ein Menschenherz erschüttern kann. Und diese Enthüllung kam ihr von dem elenden, singenden Mimen da.

Ach, er war gar nicht mehr bös auf den Marquis Farandal, diesen Dummkopf, der nichts sah, nichts merkte, nichts fühlte. Aber er haßte diesen Mann im engen Trikot, der diese Mädchenseele bezauberte.

Es kam ihm die Lust an, sich auf sie zu stürzen, wie man sich auf jemand wirft, den ein durchgehendes Pferd niederreißen wird. Er wollte sie beim Arm packen, sie fortziehen und ihr sagen: »Komm' mit mir fort von hier. Ich flehe Dich an, komm' mit mir!«

Wie sie zuhörte, wie sie zitterte, und wie er litt; er hatte schon sehr gelitten, aber so schmerzlich doch noch nicht. Und er dachte wieder an frühere Augenblicke, alle Qualen der Eifersucht kamen wieder, wie sich Wunden wieder öffnen. In Roncières war es, als sie vom Kirchhof zurückkamen, da fühlte er zum ersten Mal, daß ihre Seele ihm entwischte, daß er keine Macht über sie hatte, über dieses kleine Mädchen, das frei umher lief wie ein junges Tier! Aber dort empfand er, als sie fortrannte, um Blumen zu pflücken, hauptsächlich die brutale Lust, sie zurückzuhalten, ihren Körper an seiner Seite. Heute aber war es ihre Seele, die ihm unwiederbringlich entfloh. Er erinnerte sich an all die verschiedenen Stiche der Eifersucht, die ihn allmählich getroffen. Jedesmal, wenn sie etwas gesehen, bewundert, geliebt, gewünscht, war er eifersüchtig gewesen. Eifersüchtig über alles, unausgesetzt eifersüchtig auf alles, was Annchens Zeit, Blick, Aufmerksamkeit, Lachen, Staunen erregte, denn alles das nahm ihm etwas, das ihm gehörte. Er war eifersüchtig gewesen auf alles, was sie ohne ihn that, auf alles, wovon er nichts wußte, ihre Spaziergänge, ihre Lektüre, auf alles, was ihr zu gefallen schien. Eifersüchtig auf einen Offizier, der in Afrika nach heldenmütigem Kampf gefallen und von dem man in Paris acht Tage lang sprach; eifersüchtig auf den Verfasser eines Romans, der sehr gerühmt ward; eifersüchtig auf einen unbekannten jungen Dichter, den sie nie gesehen, aber dessen Verse Musadieu vorgetragen; eifersüchtig auf alle Männer, die man in ihrer Gegenwart lobte; eifersüchtig auf ganz banale Art, denn wenn man eine Frau liebt, kann man es nicht vertragen, daß sie mit Interesse an jemand anderes zu denken scheint, da man das unwiderstehliche Bedürfnis fühlt, ganz allein vor ihren Augen zu stehn. Man will, sie soll niemand sehen, niemand kennen, niemand anderes schätzen. Wenn sie sich nur umblickt, um jemand zu betrachten, zu erkennen, stellt man sich zwischen ihre Blicke, und wenn man ihr Auge nicht abwenden und ganz auf sich ziehen kann, schmerzt es einen bis in die tiefste Seele.

So litt Olivier durch diesen Sänger, der ihm im Saale Liebe zu verbreiten und entgegenzunehmen schien, und war wütend auf alle Welt wegen des Beifalls, den der Tenor fand, wütend auf die Frauen, die er erregt in den Logen sah, auf die Männer, diese albernen Gecken, die diesem Fatzke da eine Apotheose bereiteten.

Ein Künstler! Sie nannten ihn einen Künstler, einen großen Künstler. Und er hatte Erfolg, dieser Einfaltspinsel, der nur der Dolmetsch der Gefühle eines Fremden war. Einen Erfolg, wie ihn nie ein Schöpfer selbst gehabt. Darin zeigte sich das Gerechtigkeitsgefühl, die Intelligenz dieser Leute der Gesellschaft, dieser unwissenden, prätentiösen Dilettanten, für die die Meister der Kunst bis zu ihrem Tode arbeiten. Er sah sie klatschen, rufen, sich begeistern, und jene alte Feindseligkeit, die immer in der Tiefe seines ehrgeizigen, erfolgstolzen Herzens geschlummert, ward zur Verzweiflung, zu einer wiedersinnigen Wut gegen diese Dummköpfe, die die Macht hatten, allein durch Geburt und Geld.

Bis zum Ende der Vorstellung schwieg er, mit seinen Gedanken beschäftigt. Als dann der Orkan der Begeisterung am Schluß sich gelegt hatte, bot er der Herzogin den Arm, während Annchen den des Marquis nahm. In dem Gewirr von Damen und Herren, in einer Art prachtvollen langsamen Wassersturzes von glänzenden Nacken, prachtvollen Kleidern und schwarzen Fracken, stiegen sie die große Treppe hinab. Dann setzten sich die Herzogin, das junge Mädchen, ihr Vater und der Marquis in denselben Wagen, während Olivier Bertin mit Musadieu allein auf dem Opernplatz stehen blieb.

Plötzlich empfand er etwas wie eine Zuneigung gegen diesen Mann, etwas von jener natürlichen Herzlichkeit, die man gegen einen Landsmann empfindet, wenn man ihn in fremdem Lande trifft. Denn unter diesen gleichgiltigen Menschen fühlte er sich jetzt verloren und fremd, während er mit Musadieu doch wenigstens von ihr sprechen konnte. Er nahm also seinen Arm und sagte:

– Sie gehen doch nicht gleich nach Haus. Es ist so schön, wir wollen noch ein bißchen bummeln.

– Sehr gern! – Und sie schritten zur Madeleine hinunter, durch die nächtliche Menge, in jenem kurz aber gewaltig sich um Mitternacht, nach Theaterschluß, die Boulevards hinunter ergießenden Menschenstrom.

Musadieu hatte tausend Dinge im Kopf, all jenes kleine Geschwätz, das Bertin sein »Tagesmenu« nannte, und er erschöpfte nun seine Beredsamkeit mit den zwei oder drei Dingen die ihn am meisten augenblicklich interessierten. Der Maler ließ ihn reden, ohne ihm zuzuhören, hielt ihn beim Arm, indem er bestimmt meinte, er würde ihn dahin bringen, nachher auch von ihr zu sprechen. Und von seiner Liebe ganz gefangen, ging er dahin, ohne irgend etwas um sich herum zu sehen. Er schritt, ganz erschöpft durch den Eifersuchtsanfall, der ihn plötzlich gepackt, seines Weges, vernichtet durch die Gewißheit, daß er nichts mehr auf dieser Welt zu suchen habe.

So würde er mehr und mehr leiden, aber nichts mehr zu erwarten haben, öde Tage würden einander folgen, einer dem anderen. Von weitem sah er Annchen, sah sie glücklich, geliebt, und selbst zweifellos liebend. Ein Liebhaber! Ach Gott, vielleicht würde sie auch einen Liebhaber bekommen, wie ihre Mutter einen gehabt. Er fühlte so namenloses Leid von allen Seiten über sich hereinbrechen, ein solches Zusammenströmen geradezu von Unglück, so viel Kummer, dem er nicht entgehen konnte. Er fühlte sich so unselig, verloren, in unerklärlichem Niedergang, wie ein langsames Sterben, daß er sich nicht denken konnte, es hätte je einer so gelitten wie er. Und plötzlich fiel ihm die kindliche Einfalt der Dichter ein, die des Sisyphus unnütze Arbeit und den unstillbaren Tantalusdurst, die zerfleischte Leber des Prometheus erfunden. Hätten sie etwas geahnt von der verzweiflungsvollen Liebe eines alten Mannes für ein junges Mädchen, wie hätten sie die entsetzliche geheime Qual eines Wesens geschildert, das nicht mehr lieben kann. Den Jammer der ungestillten Begierde, der furchtbarer war als der scharfe Schnabel des Geiers: ein kleines, blondes Angesicht, das ein altes Herz zerfleischte.

Musadieu sprach immer weiter, und Bertin unterbrach ihn, indem er, fast ohne daß er es selbst wollte, ganz von seiner fixen Idee festgehalten, murmelte:

– Annchen war reizend heute abend.

– Jawohl, wunderhübsch.

Der Maler fügte hinzu, um Musadieu daran zu hindern, den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen:

– Sie ist hübscher, als ihre Mutter je gewesen ist.

Der andere stimmte zerstreut bei, indem er ein paar Mal sagte: – Ja, ja, ja – ohne daß er doch bei diesem Gedanken blieb.

Olivier bemühte sich, ihn dabei festzuhalten, und indem er eines der Lieblingsthemata Musadieus aufgriff, sagte er:

– Wenn sie verheiratet ist, wird sie einen der ersten Salons von Paris machen.

Das genügte. Und der überzeugte Gesellschaftsmensch, der der Inspektor der schönen Künste war, begann genau abzuwägen, welche Stellung in der französischen Gesellschaft die Marquise Farandal später einnehmen würde.

Bertin hörte zu und sah Annchen vor sich in einem großen erleuchteten Salon, von Damen und Herren umgeben, und wieder machte ihn dieses Phantasiebild eifersüchtig.

Sie schritten jetzt den Boulevard Malesherbes hinauf. Als sie am Haus der Guilleroy vorüberkamen, blickte der Maler hinauf. Durch einen Vorhangspalt schien Licht zu schimmern. Ihm kam der Verdacht, die Herzogin und ihr Neffe wären vielleicht gebeten worden, noch oben eine Tasse Thee zu trinken, und plötzlich packte ihn eine Wut, daß er fast Schmerzen empfand vor Leid.

Er drückte noch immer Musadieus Arm und suchte ihn ab und zu durch eine Gegenrede dazu zu bringen, immer weiter von der künftigen Marquise zu sprechen. Diese banale Stimme, die von ihr erzählte, zauberte ihm in der Dunkelheit um sie herum ihr Bild vor die Seele.

Als sie an die Thür des Malers kamen, Avenue de Villiers, fragte Bertin:

– Kommen Sie mit?

– Nein, danke. Es ist spät, ich will schlafen gehen.

– Ach, kommen Sie doch eine halbe Stunde mit herauf, wir schwatzen noch ein bißchen.

– Nein, es ist wirklich zu spät.

Der Gedanke, nach den Qualen, die er durchgemacht, jetzt allein zu bleiben, flößte Olivier Entsetzen ein. Jetzt hatte er einmal jemanden, und den wollte er auch festhalten:

– Kommen Sie doch mit hinauf. Sie sollen eine Studie aussuchen, die ich Ihnen schon lange schenken wollte.

Der andere wußte, daß Maler nicht immer in der Gebelaune sind und daß, wenn sie etwas versprochen haben, ihr Gedächtnis oft kurz ist. Die Gelegenheit mußte er fassen. Als Inspektor der schönen Künste besaß er eine geschickt zusammengebrachte Bildersammlung.

– Ich komme mit – sagte er.

Sie traten ein.

Der Diener wurde geweckt und brachte Grog, und eine Zeitlang redeten sie über Malerei. Bertin zeigte Studien und bat Musadieu die auszusuchen, die ihm am besten gefiel. Und Musadieu zögerte wegen des Gaslichtes, das die Farben nicht gut erkennen ließ. Endlich wählte er eine Gruppe von kleinen Mädchen, die auf dem Trottoir Seil sprangen, und wollte sofort mit seinem neuen Besitz davongehen.

– Ich will es Ihnen schicken, sagte der Maler.

– Nein, ich muß es gleich mitnehmen, damit ich's noch einmal betrachten kann, ehe ich zu Bett gehe.

Er war nicht mehr zurückzuhalten, und wieder war Olivier Bertin in seinem Haus allein, in diesem Gefängnis seiner Erinnerungen und schmerzlichen Kämpfe.

Als der Diener den andern Morgen mit dem Thee und den Zeitungen kam, fand er seinen Herrn, der im Bett saß, so bleich, daß er einen Schrecken bekam:

– Sind der Herr nicht wohl?

– Es ist nichts, Kopfweh.

– Soll ich nicht irgend etwas holen?

– Nein. Was ist denn für Wetter?

– Es regnet.

– Gut.

Nachdem der Diener wie gewöhnlich auf den Nachttisch das Theebrett und die Zeitungen gelegt hatte, ging er davon.

Olivier nahm den Figaro zur Hand und entfaltete ihn. Der Leitartikel lautete:

›Moderne Malerei‹

Es war eine Dithyrambe auf vier oder fünf junge Maler, die ein kräftiges koloristisches Talent hatten, das sie auf den Effekt übertrieben, und die sich nun als Revolutionäre und umstürzende Genies gebärdeten.

Wie alle älteren ärgerte sich Bertin über die jungen. Ihr Scherbengericht machte ihn nervös, er bestritt ihre Lehrsätze. Er begann also den Artikel schon zu lesen mit der aufsteigenden Wut des nervös Überreizten. Dann las er ein Stück weiter unten und sah seinen Namen. Und am Ende eines Satzes trafen ihn, wie ein Faustschlag vor die Brust, die paar Worte: »Die veraltete Kunst des Olivier Bertin.«

Er war immer empfindlich gegen Kritiken gewesen und zugänglich für Lob. Aber in der Tiefe seiner Seele, trotz seiner berechtigten Eitelkeit, litt er mehr unter Angriffen, als er sich über Lob zu freuen vermochte, die Folge seiner fortwährenden Unsicherheit über sich selbst. Früher, als er ganz oben gewesen, war das Lob so häufig, daß er die Nadelstiche darüber vergaß. Heute aber, wo unausgesetzt rund herum neue Künstler emportauchten, wurden die Lobsprüche seltener, die Angriffe schärfer. Er fühlte sich jetzt zu den alten gerechnet, die die jungen als Meister gar nicht gelten lassen wollten. Und da er nun ebenso klug wie scharfsinnig war, so litt er bei den geringsten Anspielungen ebenso, wie durch direkten Angriff.

Und doch hatte ihn keine Wunde, die seinem Künstlerehrgeiz geschlagen wurde, so getroffen, wie diese. Atemlos las er den Artikel noch einmal, um jede Kleinigkeit zu verstehen. Mit beleidigenden Worten waren er und ein paar Kollegen zum alten Eisen geworfen, und er erhob sich, indem er die Worte vor sich hinmurmelte, die ihm im Gedächtnis geblieben waren: »Die veraltete Kunst Olivier Bertins.«

Ihn hatte noch nie eine solche Traurigkeit, eine solche Entmutigung, ein solches Gefühl, es sei nun alles zu Ende, körperlich wie geistig, gepackt und ihn zu solcher Verzweiflung gebracht. Bis zwei Uhr blieb er in einem Lehnstuhl am Kamin sitzen, die Füße gegen das Feuer ausgestreckt. Er hatte keine Kraft mehr, sich zu bewegen, irgend etwas vorzunehmen. Dann packte ihn das Bedürfnis, getröstet zu sein, das Bedürfnis, irgend eine Freundeshand zu drücken, in ein treues Auge zu blicken, bemitleidet zu werden, geliebkost mit ein paar lieben Worten. So ging er denn, wie immer, zur Gräfin.

Als er eintrat, war Annchen allein im Salon. Sie stand da, drehte ihm den Rücken und schrieb die Adresse auf einen Brief. Auf dem Tisch neben ihr lag der auseinandergefaltete Figaro. Bertin erblickte das junge Mädchen und die Zeitung zu gleicher Zeit, blieb niedergeschmettert stehen und wagte nicht mehr, einen Schritt zu thun. Wenn sie nun gelesen hatte! Sehr eilig, beschäftigt, irgend eine kleine Mädchenidee im Kopf, wendete sie sich um und sagte:

– Ah, guten Tag, Herr Maler. Seien Sie nicht böse, wenn ich fortgehe, die Schneiderin ist oben, die nach mir ruft. Wissen Sie, die Schneiderin vor der Hochzeit ist wichtig. Ich schicke Mama, die eben mit meiner Kleiderkünstlerin etwas bespricht. Wenn ich sie brauche, muß sie noch ein paar Minuten zurückkommen.

Und halb laufend, um ihre Eile zu zeigen, ging sie davon.

Ihre plötzliche Flucht, ohne irgend ein liebes Wort, ohne einen lieben Blick zu ihm, der sie so sehr, ach so sehr liebte, machte ihn ganz verstört. Da fiel sein Auge wieder auf den Figaro, und er dachte, sie haben's gelesen. Man vernichtet mich, man beschmutzt mich, sie glaubt nicht mehr an mich, ich bin nichts mehr in ihren Augen.

Er ging auf das Blatt zu, wie auf einen Menschen, dem man eine Ohrfeige geben will. Dann sagte er sich: »Vielleicht hat sie's doch nicht gelesen, sie ist heute so beschäftigt. Aber man wird in ihrer Gegenwart davon sprechen, heute abend bei Tisch. Kein Zweifel. Und dann wird sie es lesen wollen.«

Mit plötzlicher Bewegung, ohne nachzudenken, hatte er das Blatt ergriffen, geschlossen, zusammengefaltet und flink, wie ein Dieb, in der Tasche verschwinden lassen.

Die Gräfin trat ein. Sobald sie das verzerrte, blutleere Gesicht Oliviers sah, ahnte sie, daß es mit seinem Kummer bis zum äußersten gekommen. Sie ging auf ihn zu, ihre arme Seele, die auch so zerrissen war, ihr armer Leib, der ebenso gequält war, wendeten sich ihm zu. Sie legte ihm den Arm um den Hals, blickte ihm tief in die Augen und sagte:

– O Gott, wie unglücklich Sie sind.

Er leugnete dieses Mal nicht mehr, und fast röchelnd sagte er:

– Ja, ja, ja.

Er fühlte, er würde gleich weinen und zog sie in die dunkelste Ecke des Salons zu zwei Lehnstühlen, die ein Schirm aus alter Seide verbarg. Dort setzten sie sich hinter der dünnen, gestickten Wand, durch die graue Dämmerung des Regentages halb verborgen, und sie sagte, indem sie hauptsächlich ihn beklagte, ganz erstickt in Schmerz:

– Mein armer Olivier, wie Du leidest.

Er lehnte den weißen Kopf an die Schulter seiner Freundin:

– Mehr als Du denkst.

Sie flüsterte traurig:

– O, das wußte ich, ich habe es gefühlt, ich sah es kommen.

Er antwortete, als hätte sie ihn angeklagt:

– Ich kann nichts dafür, Any.

– Das weiß ich wohl, ich mache Dir keinen Vorwurf.

Und leise drückte sie, indem sie sich ein wenig herumdrehte, den Mund auf das eine Auge Oliviers, und schmeckte eine bittere Thräne.

Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen Tropfen Verzweiflung getrunken, und wiederholte mehrmals:

– O, armer Freund! Mein armer Freund! Mein armer Freund!

Dann fügte sie nach einem Augenblick Schweigen hinzu:

– Weil unsere Herzen nicht alt geworden sind. Meines fühle ich noch so jung.

Er versuchte zu sprechen, konnte es aber nicht, denn Schluchzen erstickte seine Stimme. Sie lauschte, ohne es zu wollen, auf das Röcheln in seiner Brust, dann packte sie plötzlich die egoistische Angst der Liebe, die so lange an ihr fraß, und sie sagte mit dem herzzerreißenden Ton, in dem man ein furchtbares Unglück feststellt:

– Gott, wie Du sie liebst!

Noch einmal gestand er:

– Ja, ich liebe sie.

Sie dachte ein paar Augenblicke nach und sagte wieder:

– Mich hast Du nie so geliebt, – mich.

Er leugnete es nicht, denn er befand sich in einer jener Stimmungen, wo man die ganze Wahrheit sagt, und er flüsterte:

– Nein, ich war damals zu jung.

Sie war erstaunt:

– Zu jung. Warum?

– Weil unser Leben zu leicht dahinfloß. Bis zur Verzweiflung liebt man nur in unserem Alter.

Sie fragte: – Empfindest Du für sie ähnlich, wie einst für mich?

– Ja und nein, – und doch ist es fast dasselbe. Ich habe Dich geliebt, wie man nur eine Frau lieben kann. Ich liebe sie, wie Dich, weil Du es bist. Aber diese Liebe ist etwas Unwiderstehliches, etwas mich Zerstörendes geworden, das stärker ist als der Tod. Ich gehöre ihr, wie ein brennendes Haus dem Feuer gehört.

Sie fühlte, wie ihr Mitleid schwand, unter einem Hauch von Eifersucht, und nahm einen tröstenden Ton an:

– Mein armer Freund, in ein paar Tagen ist sie verheiratet und reist ab. Wenn Du sie nicht mehr siehst, wirst Du gesund werden.

Er schüttelte den Kopf:

– Nein, ich bin verloren, verloren.

– Aber nein, nein. Du siehst sie ein Vierteljahr nicht, das hilft schon. Ein halbes Jahr hast Du nur gebraucht, um sie mehr zu lieben wie mich, die Du doch seit zwölf Jahren kennst.

Da flehte er sie an mit unendlicher Verzweiflung:

– Any, hilf mir doch!

– Was soll ich thun, mein Freund?

– Laß mich nicht allein.

– Ich will so oft kommen, wie Du willst.

– Nein, ich muß so viel als möglich hier sein.

– Dann wärest Du bei ihr.

– Und bei Dir.

– Du darfst sie vor der Hochzeit nicht wiedersehen.

– O, Any!

– Oder doch fast nicht.

– Darf ich heute abend hierbleiben?

– Nein, in dem Zustande, in dem Du bist, nicht. Du mußt Dich zerstreuen. Geh in den Klub, ins Theater, irgend wohin, aber Du darfst nicht hier bleiben.

– Ich bitte Dich.

– Nein, Olivier, das ist unmöglich. Und dann habe ich ein paar Leute zu Tisch, deren Anwesenheit Dich noch mehr erregen würde.

– Die Herzogin und ihn?

– Jawohl.

– Aber ich bin doch gestern mit ihnen zusammen gewesen.

– Jawohl! Und darum bist Du eben heute so elend!

– Ich verspreche Dir, ruhig zu sein.

– Nein, es ist unmöglich.

– Dann gehe ich fort.

– Warum so eilig?

– Ich muß Luft schöpfen.

– Gut, geh spazieren. Geh, bis es dunkel ist, laufe Dich totmüde und dann geh zu Bett.

Er war aufgestanden.

– Adieu Any.

– Adieu, lieber Freund. Ich komme morgen früh. Soll ich wie früher eine große Unvorsichtigkeit begehen und so thun, als frühstückte ich um zwölf hier, und in Wirklichkeit frühstücke ich um einviertel zwei mit Dir.

– Schön, Du bist so gut.

– Weil ich Dich liebe.

– Ich liebe Dich auch.

– O, sprich nicht davon.

– Adieu, Any.

– Adieu, lieber Freund. Auf Wiedersehen!

– Adieu!

Er küßte ihr abwechselnd beide Hände, dann die Schläfe und den Mund. Sein Auge war jetzt trocken, er sah entschlossen aus. Im Augenblick, als er hinausging, packte er sie, umschloß sie mit beiden Armen, drückte den Mund auf ihre Stirn, als suche er all die Liebe, die sie für ihn hatte, zu trinken, einzusaugen in seine Seele.

Und schnell, ohne zurück zu blicken, ging er davon.

Als sie allein war, ließ sie sich in einen Stuhl fallen und schluchzte. Sie wäre bis zum Abend so sitzen geblieben, wenn nicht plötzlich Annchen gekommen wäre, sie zu rufen. Die Gräfin antwortete, um Zeit zu gewinnen, ihre roten Augen abzuwischen:

– Ich habe noch eine Zeile zu schreiben, mein Kind. Geh nur immer hinauf, ich komme gleich.

Bis zum Abend mußte sie sich mit der wichtigen Frage der Ausstattung beschäftigen.

Die Herzogin und ihr Neffe aßen allein bei den Guilleroy.

Als sie sich eben zu Tisch gesetzt und man von der Opernvorstellung am Tag vorher redete, trat der Haushofmeister ein und brachte drei riesige Blumensträuße.

Frau von Mortemain war erstaunt:

– Mein Gott, was ist denn das?

Annchen rief: – Nein, ist das schön! Wer mag denn das schicken?

Die Mutter antwortete:

– Gewiß Olivier Bertin.

Seit er fort war, dachte sie an ihn. Er hatte ihr so düster, so tragisch ausgesehen. Sie sah so deutlich sein unendliches Unglück, sie fühlte so entsetzlich all seinen Schmerz, sie liebte ihn so sehr, so zärtlich, so aus tiefsten Tiefen der Seele, daß etwas wie eine dunkle Ahnung auf ihr lastete.

In der That war an jedem der Blumensträuße eine Karte des Malers; auf jede hatte er mit Bleistift den Namen der Gräfin, der Herzogin und Annchens geschrieben.

Die Herzogin fragte:

– Ist Ihr Freund Bertin krank? Ich fand, er sah gestern recht schlecht aus.

Und Frau von Guilleroy antwortete:

– Ja, ich habe eigentlich Sorge um ihn, obgleich er nicht klagt.

Ihr Mann fügte hinzu:

– Ach, es geht ihm wie uns, – er wird alt. Er wird jetzt sogar sehr alt. Ich glaube übrigens, die Junggesellen brechen so mit einem Male zusammen, das geht plötzlicher bei ihnen wie bei anderen. Er hat sich wirklich sehr verändert.

Die Gräfin seufzte:

– Oh ja.

Farandal hörte plötzlich auf, mit Annchen zu flüstern, und sagte:

– Heute früh stand ein Artikel im Figaro, der sehr unangenehm für ihn war.

Jeder Angriff, jede Kritik, jede ungünstige Erwähnung des Talentes ihres Freundes brachte die Gräfin außer sich, und sie sagte:

– O, Leute von solcher Bedeutung, wie Bertin, brauchen sich an solche Anrempeleien nicht zu kehren.

Guilleroy war erstaunt:

– So? Ein für Olivier unangenehmer Artikel? Auf welche Seite steht er denn?

Der Marquis sagte es ihm:

– Der Leitartikel, überschrieben: Moderne Malerei.

Der Abgeordnete war nicht weiter erstaunt:

– Ah so. Ich habe ihn nicht gelesen, weil er von Malerei handelte.

Man lächelte. Alle wußten, daß der Graf Guilleroy außer Politik und Landwirtschaft keine Interessen hatte.

Dann ging die Unterhaltung auf andere Themata über, bis sie in den Salon hinübergingen, um den Kaffee zu trinken. Die Gräfin hörte nicht zu, antwortete kaum, in Sorge, wie es wohl Olivier ginge. Wo war er, wo hatte er gegessen, wie betäubte er nun sein nicht zu heilendes Herz. Sie fühlte jetzt Gewissensbisse, daß sie ihn fortgehen lassen, ihn nicht dabehalten hatte. Sie ahnte, daß er durch die Straßen irrte, traurig, einsam, auf der Flucht vor seinem Leid.

Bis die Herzogin und ihr Neffe gingen, sprach sie kaum, von allerhand unbestimmter Furcht verfolgt. Dann legte sie sich zu Bett, und in der Dunkelheit blieb sie, in Gedanken an ihn, mit offenen Augen liegen.

Es war lange Zeit vergangen, da war es ihr, als tönte die Hausglocke.

Sie zitterte, richtete sich auf, lauschte, und zum zweiten Mal klang die Glocke in der Nacht.

Sie sprang aus dem Bett und drückte mit aller Kraft die elektrische Klingel, um ihre Jungfer zu wecken. Dann lief sie, ein Licht in der Hand, an die Flurthür und fragte:

– Wer ist da?

Eine unbekannte Stimme antwortete:

– Ein Brief.

– Ein Brief! Von wem?

– Von einem Arzt.

– Was für ein Arzt?

– Ich weiß nicht. Es ist ein Unglück geschehen.

Sie zögerte nicht mehr, öffnete und stand vor einem Droschkenkutscher mit Lackhut. Er hielt ein Papier in der Hand, das er ihr reichte, und sie las:

– Sehr dringend. Herrn Graf Guilleroy.

Sie kannte die Handschrift nicht.

– Bitte kommen Sie herein. Da setzen Sie sich hin und warten Sie.

Am Schlafzimmer ihres Mannes schlug ihr Herz so stark, daß sie ihn nicht rufen konnte. Sie pochte mit dem Metallfuß ihres Leuchters an die Thür, der Graf schlief und hörte nicht.

Da wurde sie ungeduldig, stieß mit den Füßen gegen das Holz, und hörte eine verschlafene Stimme fragen:

– Wer ist denn da? Wieviel Uhr ist es?

Sie antwortete:

– Ich bin's. Ich habe einen dringenden Brief, den ein Kutscher gebracht hat. Es ist ein Unglück geschehen.

Er brummte vom Bett her:

– Einen Augenblick, – ich stehe auf, ich komme.

Und im Schlafrock erschien er eine Minute darauf. Mit ihm zugleich waren zwei Diener herbeigelaufen, die das Klingeln geweckt. Sie waren erschrocken, da sie im Eßzimmer einen Fremden auf einem Stuhl sitzen gefunden hatten.

Der Graf hielt den Brief in der Hand, drehte ihn in den Fingern und murmelte:

– Was ist denn das, ich habe keine Ahnung.

Sie sagte fiebernd:

– So lies doch.

Er riß das Couvert auf, entfaltete den Briefbogen, stieß einen Schrei des Entsetzens aus, und sah dann mit verstörten Augen seine Frau an.

– Mein Gott, was ist denn? fragte sie.

Er stammelte und konnte kaum sprechen, so groß war seine Erregung:

– Ein großes Unglück . . . ein großes Unglück. Bertin ist überfahren worden.

Sie rief:

– Tot!

– Nein, nein, – sagte er, – lies selbst.

Sie riß ihm den Brief aus der Hand und las:

»Geehrter Herr Graf! Ein großes Unglück ist geschehen. Unser Freund, der große Künstler Herr Olivier Bertin, ist von einem Omnibus überfahren worden, dessen Räder ihm über den Leib gegangen sind. Ich kann noch nichts Bestimmtes über die wahrscheinlichen Folgen des Unglücks sagen, das vielleicht nicht bedenklich ist, vielleicht aber sofort ernste Folgen haben könnte. Herr Bertin bittet Sie inständigst und fleht Gräfin Guilleroy an, ihn sofort zu besuchen. Ich hoffe, Herr Graf, daß Frau Gräfin und Sie der Bitte unseres gemeinsamen Freundes Folge leisten werden, der vielleicht den Tagesanbruch nicht mehr erleben könnte.

Doktor von Rivil.«

Die Gräfin blickte ihren Mann mit aufgerissenen, entsetzensvollen, starren Augen an. Da kam über sie wie ein elektrischer Schlag jener plötzliche Mut der Frauen, der sie manchmal, in schrecklichen Momenten, zu den tapfersten Wesen macht.

Sie wendete sich zur Jungfer:

– Schnell anziehen.

Die Jungfer fragte:

– Was zieht Frau Gräfin an?

– Ganz gleich. Was Sie wollen.

Und dem Diener rief sie zu:

– In fünf Minuten müssen Sie bereit sein.

Sie ging in ihr Zimmer, Entsetzen in der Seele und als sie den Kutscher im Vorübergehen erblickte, der noch immer wartete, fragte sie:

– Sie sind doch mit Ihrem Wagen hier?

– Jawohl.

– Gut. Wir fahren mit Ihnen.

Dann lief sie in ihr Schlafzimmer.

Wie verrückt, mit wahnsinniger Eile warf sie irgend etwas über, heftelte, knöpfte, band, schloß irgend welche Kleider, lief vor den Spiegel und steckte sich das Haar zusammen, indem sie, ohne diesmal daran zu denken, ihr bleiches Antlitz, ihre aufgerissenen Augen im Glase sah.

Als sie den Mantel übergeworfen hatte, stürzte sie zum Zimmer ihres Mannes, der noch nicht fertig war und rief ihm zu: – Schnell doch, er kann sterben.

Der Graf folgte ihr, ganz verstört. In der Dunkelheit tasteten sie die Treppe hinunter und suchten die Stufen zu erraten, um nicht zu fallen.

Die Fahrt war kurz und schweigend. Die Gräfin zitterte so sehr, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen, und durch das Fenster sah sie im Regen die Straßenlaternen vorüberhuschen. Die Trottoirs glänzten, der Boulevard war öde und verlassen, die Nacht traurig. Als sie ankamen, fanden sie die Hausthür offen, in der Portierloge war Licht und niemand darin.

Oben an der Treppe kam der Arzt, Doktor von Rivil, ein kleiner Mann mit grauem Haar, untersetzt, rundlich, sehr sorgfältig gekleidet, ihnen entgegen. Er machte der Gräfin eine tiefe Verbeugung und reichte dem Grafen die Hand.

Sie fragte außer Atem, als ob das Erklimmen der Treppe ihr allen Atem genommen:

– Nun Herr Doktor?

– Nun, Frau Gräfin, ich hoffe es wird nicht so schlimm sein, wie ich im ersten Augenblick annahm.

Sie rief:

– Er wird doch nicht sterben!

– Nein, ich glaube es wenigstens nicht.

– Wissen Sie es bestimmt?

– Nein. Ich sage nur, ich hoffe, es ist nichts weiter, als eine einfache Eingeweidequetschung ohne innere Verletzung.

– Was nennen Sie Verletzung?

– Einrisse.

– Woher wissen Sie, daß das nicht passiert ist?

– Ich denke es.

– Und wenn es doch wäre?

– Dann wärs allerdings sehr ernst.

– Könnte es sein Tod sein?

– Ja.

– Sehr schnell?

– Sehr schnell. In ein paar Minuten, ja vielleicht in ein paar Sekunden. Aber Frau Gräfin, seien Sie nur ruhig, ich glaube, in vierzehn Tagen wird er wieder hergestellt sein.

Sie hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, um alles zu verstehen.

Sie fragte noch einmal:

– Was könnte denn zerrissen sein?

– Die Leber zum Beispiel.

– Wäre das sehr gefährlich?

– Jawohl. Aber es sollte mich wundern, wenn noch eine Komplikation jetzt hinzuträte. Wir wollen zu ihm hineingehen, das wird ihm gut thun, denn er erwartet Sie ungeduldig.

Das erste, was sie beim Eintreten erblickte, war ein totenbleicher Kopf auf dem weißen Kissen. Ein paar brennende Lichter und das Feuer im Kamin beleuchteten ihn, zeichneten das Profil ab, und warfen Schatten. In diesem blutleeren Angesicht sah die Gräfin zwei Augen, die sie anblickten.

All ihr Mut, ihre Thatkraft, alles brach zusammen, so sehr sah dies halb entstellte Gesicht aus, wie das eines Sterbenden. Er, den sie noch vor wenigen Stunden gesehen, war zu diesem Gespenst geworden. Sie flüsterte:

– O, mein Gott! – ging ihm entgegen, zitternd vor Entsetzen.

Er versuchte zu lächeln, um sie zu beruhigen, und das verzerrte Gesicht dabei war fürchterlich. Als sie ganz nahe am Bett stand, legte sie langsam beide Hände auf die Oliviers, die ausgestreckt waren, und stammelte:

– Ach, mein armer Freund.

– Es ist nichts, – sagte er leise, ohne den Kopf zu bewegen.

Sie betrachtete ihn jetzt, erschrocken über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Er war so bleich, als hätte er nicht mehr einen Tropfen Blut unter der Haut. Seine hohlen Wangen schienen nach innen eingesogen, und auch seine Augen machten den Eindruck, als wären sie an einem Faden in die Höhlen gezogen.

Er sah das Entsetzen seiner Freundin und seufzte:

– Ich sehe gut aus.

Sie sagte, indem sie ihn immer starr anblickte:

– Wie ist denn das gekommen?

Er gab sich übermenschliche Mühe, zu sprechen, und sein Gesicht zitterte nervös:

– Ich habe nicht auf den Weg geachtet . . . . Ich dachte an andere Dinge, – an ganz andere Dinge.

– Ja, ja.

– Ein Omnibus hat mich umgeworfen und ist mir über den Leib gegangen.

Sie hörte ihm zu, sah das Unglück vor sich und sagte mit Entsetzen:

– Haben Sie geblutet?

– Nein. Ich bin nur etwas gequetscht worden.

Sie fragte:

– Wo ist's denn passiert?

Er antwortete leise:

– Ich weiß nicht recht. Weit fort.

Der Arzt rollte einen Lehnstuhl herbei, in dem sich die Gräfin niederließ. Der Graf stand am Fußende des Bettes und sagte:

– O, mein armer Freund, armer Freund, das ist ja ein furchtbares Unglück.

Er empfand wirklich einen tiefen Kummer, denn er hatte Olivier sehr gern.

Die Gräfin fragte weiter:

– Wo ist es denn geschehen?

Der Arzt antwortete:

– Ja, ich weiß selber nicht recht, oder vielmehr, ich verstehe die Geschichte nicht. Es war draußen an der Gobelinfabrik beinah außerhalb von Paris, wenigstens hat der Droschkenkutscher, der ihn hergefahren hat, behauptet, er habe ihn in einer Apotheke dieses Viertels, wohin man ihn gebracht, um neun Uhr abends abgeholt.

Dann beugte er sich zu Olivier:

– Ist's wahr, daß das Unglück bei der Gobelinfabrik geschehen ist.

Bertin schloß die Augen, als wolle er sich besinnen, und flüsterte:

– Ich weiß nicht.

– Aber wo gingen Sie denn hin?

– Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, ich ging so für mich.

Die Gräfin konnte einen Seufzer nicht zurückhalten, und nachdem sie ein paar Augenblicke keine Luft hatte schöpfen können, zog sie ihr Taschentuch, drückte es an die Augen und fing fürchterlich an zu weinen.

Sie wußte es, sie verstand. Etwas Unerhörtes, Vernichtendes hatte ihr Herz getroffen: Gewissensbisse darüber, daß sie Olivier nicht bei sich behalten, daß sie ihn fortgejagt auf die Straße, wo er sinnlos vor Schmerz und Leid unter den Wagen gekommen.

Er sagte mit tonloser Stimme:

– Weinen Sie nicht, das thut mir weh.

Mit gewaltiger Willensaufbietung zwang sie sich, nicht mehr zu schluchzen, nahm das Taschentuch von den Augen, richtete sie groß auf ihn, ohne daß eine Bewegung über ihr Gesicht ging, während langsam die Thränen von ihren Augen niedertropften.

Unbeweglich, die Hände ineinander verschränkt auf dem Bettuch, blickten sie sich an. Sie wußten nicht mehr, daß noch andere da waren, und ihre Blicke gingen in übermenschlicher Bewegung von einem Herzen zum anderen.

Schnell, stumm und schrecklich tauchten zwischen ihnen all die Erinnerungen auf, alles, was sie miteinander gefühlt, alles, was sie verknüpft und in ihrem Leben verbunden hatte, in der Leidenschaft, die sie zueinander zog.

Sie sahen sich an, und das Bedürfnis zu sprechen, von den tausend intimen, traurigen Dingen zu reden, die sie sich noch zu sagen hatten, kam ihnen unwiderstehlich auf die Lippen. Sie fühlte, wie sie um jeden Preis die beiden Männer hinter sich fortbringen, wie sie ein Mittel finden mußte, eine List, irgend etwas, sie, die Frau, die erfinderisch in solchen Dingen war. Und sie dachte, immer den Blick auf Olivier gerichtet, nach, wie sie es machen könnte.

Ihr Mann und der Doktor sprachen leise über die Vorkehrungen zur Pflege, die zu treffen seien. Da wendete sie den Kopf und fragte den Arzt:

– Haben Sie eine Wärterin hier?

– Nein. Ich möchte einen geprüften Pfleger schicken.

– Schicken Sie beide, zuviel kann nichts schaden. Hoffentlich können Sie sie noch in der Nacht bekommen, denn Sie bleiben doch nicht bis zum Morgen.

– Nein, ich will allerdings nach Hause gehen. Ich bin seit vier Stunden schon hier.

– Aber wenn Sie nach Hause gehen, schicken Sie uns eine Wärterin und den Krankenpfleger.

– Das wird sehr schwer sein, mitten in der Nacht, aber ich will's versuchen.

– Es muß sein.

– Sie werden es vielleicht versprechen, aber ob sie kommen.

– Mein Mann fährt mit Ihnen, und ob sie wollen oder nicht, er muß sie herbringen.

– Sie können nicht allein hier bleiben, Frau Gräfin.

– Ich! – stieß sie hervor, mit einem Schrei der Empörung, daß man sich ihrem Willen widersetzte. Dann erklärte sie mit einer Bestimmtheit, der man nicht zu widersprechen wagte, die Lage erfordere es nun einmal, ehe eine Stunde vorüber, müsse ein Krankenwärter hier sein, um für alle Fälle gesichert zu sein. Um sie aber zu bekommen, müßte man sie wahrscheinlich aus dem Bett holen und herbringen. Das könnte nur ihr Mann. Während dieser Zeit würde sie allein bei dem Kranken bleiben, sie, deren Pflicht und Recht es war. Sie kam einfach ihrer Pflicht als Frau und Freundin nach. Übrigens wollte sie es so, und niemand brächte sie davon ab.

Sie sprach ganz vernünftig. Sie mußten nachgeben und entschlossen sich dazu.

Sie war aufgestanden, nur damit beschäftigt, die beiden möglichst schnell fortzubringen. Sie wollte nur sie möglichst bald fort wissen und allein sein. Und nun hörte sie, um während ihrer Abwesenheit nichts zu versäumen, genau zu, was der Arzt befahl, und suchte alles sich zu merken, alles zu verstehen, nichts zu vergessen. Der Diener des Malers, der neben ihr stand, hörte gleichfalls zu und hinter ihm seine Frau, die Köchin, die bei dem ersten Verband mitgeholfen, zeigte durch Kopfnicken, daß auch sie alles verstand. Nachdem die Gräfin dann wie ein Schulmädchen ihre Instruktionen wiederholt, bat sie die beiden Herren, so schnell als möglich zu gehen, indem sie ihrem Mann noch sagte:

– Komm nur schnell, schnell wieder.

– Ich nehme Sie in meinem Wagen mit, – sagte der Doktor zum Grafen. – Er bringt Sie schneller zurück, in einer Stunde sind Sie hier.

Der Arzt untersuchte noch einmal, ehe er fortging, lange den Verwundeten, um sicher zu sein, daß sein Zustand zu keiner Besorgnis Veranlassung gäbe.

Graf Guilleroy zögerte noch und sagte:

– Thun wir nicht etwas Unvernünftiges?

– Nein, es ist keine Gefahr. Er braucht nur Ruhe. Gräfin Guilleroy wird gut thun, ihn nicht sprechen zu lassen und so wenig wie möglich mit ihm zu reden.

Die Gräfin war wie niedergedonnert und sagte:

– Ich darf nicht mit ihm sprechen?

– Nein, Frau Gräfin. Nehmen Sie einen Stuhl und setzen Sie sich hierher, dann fühlt er sich nicht allein und es wird ihm angenehm sein. Aber ermüden Sie ihn nicht, nicht durch Worte noch Gedanken. Gegen neun Uhr morgen früh komme ich wieder. Adieu, Frau Gräfin, ich empfehle mich.

Er machte eine tiefe Verbeugung und ging mit dem Grafen, der noch sagte:

– Mach Dir keine Sorgen, liebes Kind, in einer Stunde bin ich zurück, und Du kannst dann nach Haus.

Sobald sie davongegangen waren, hörte sie das Zumachen der Hausthür, die geschlossen ward, und das Fortrollen des Wagens.

Der Diener und die Köchin waren im Zimmer geblieben und warteten auf Befehle. Die Gräfin schickte sie fort:

– Gehen Sie nur. Ich klingele, wenn ich irgend etwas brauche.

Sie gingen und sie blieb nun allein bei ihm. Sie war wieder nahe ans Bett getreten, legte die Hände auf das Kopfkissen zu beiden Seiten des geliebten Angesichtes und beugte sich herab, ihn zu betrachten. Dann fragte sie, so nah an seinem Gesicht, daß es war, als träfen die Worte seine Haut:

– Hast Du Dich absichtlich überfahren lassen?

Er antwortete mit einem Versuch zu lächeln:

– Nein, der Wagen hat mich überfahren.

– Das ist nicht wahr, Du hast es gewollt.

– Nein. Ich versichere Dir, der Wagen hat mich überfahren.

Sie schwieg einen Augenblick, einen jener Augenblicke, wo die Seelen in die Blicke zu steigen scheinen; dann murmelte sie:

– O, mein lieber, lieber Olivier. Und ich habe Dich fortgehen lassen, und ich habe Dich nicht bei mir behalten.

Er antwortete überzeugt:

– Es wäre mir trotzdem passiert, heute oder morgen.

Sie blickten sich noch einmal an und suchten ihre geheimsten Gedanken zu erraten.

Er antwortete:

– Ich glaube nicht, daß ich wieder aufkomme. – Ich leide zu sehr.

Sie stammelte:

– Schmerzt es sehr?

– O ja.

Sie beugte sich nieder, berührte mit den Lippen seine Stirn, dann seine Augen, seine Wangen mit langsamen, leichten Küssen, zärtlich, wie eine pflegende Hand. Kaum berührten ihn ihre Lippen mit jenem leisen Laut, mit dem Kinder küssen, und es dauerte lange, lange. Er ließ diesen Regen von süßen Zärtlichkeiten über sich ergehen, der ihn zu beruhigen schien, ihm Kraft zu geben schien, denn sein verzerrtes Gesicht zuckte weniger als bisher.

Dann sagte er:

– Any!

Sie küßte ihn nicht mehr, um zuzuhören:

– Was ist?

– Du mußt mir etwas versprechen.

– Ich verspreche Dir, was Du willst.

– Wenn ich nicht tot bin, ehe es Tag wird, schwöre mir, daß Du mir Annchen einen Augenblick herbringst, nur einmal. Ich möchte nicht gern sterben, ehe ich sie wiedergesehen habe, denn schon morgen um diese Zeit habe ich vielleicht die Augen für immer geschlossen. Und ich werde euch nie wiedersehen, nicht Dich, nicht sie.

Sie unterbrach ihn, mit zerrissenem Herzen:

– Schweige doch, schweige doch. Ja, ich verspreche Dir, ich werde sie herführen.

– Schwörst Du es mir?

– Ich schwöre es, mein Freund. Aber schweige nun, sprich nicht mehr. Es thut mir so weh. Schweige doch.

Seine Züge verzerrten sich; es ging wieder vorüber, dann sagte er:

– Wenn wir nur noch ein paar Augenblicke zusammenbleiben, wollen wir sie nicht verlieren. Wir wollen die Zeit nutzen, um uns Lebewohl zu sagen. Ich habe Dich so sehr geliebt.

Sie seufzte.

– Und ich . . . ich liebe Dich noch immer.

Er sagte noch:

– Nur durch Dich habe ich Glück gehabt. Aber die letzte Zeit war schwer. Du kannst nichts dafür. Ach, meine arme Any, wie traurig ist doch oft das Leben, und wie schwer ist es, zu sterben.

– Schweige, Olivier, bitte!

Er fuhr fort ohne auf sie zu hören:

– Ich wäre so glücklich gewesen, wenn nicht Deine Tochter . . . . .

– Schweige doch, mein Gott, mein Gott!

Er schien mehr seine Gedanken wiederzugeben, als mit ihr zu sprechen, da er sagte:

– Ach, der, der dieses Leben erfunden hat und die Menschen gemacht, ist recht blind gewesen oder sehr böse.

– Olivier, ich bitte Dich, wenn Du mich je geliebt hast, schweige doch, sprich nicht so.

Er betrachtete sie, wie sie über ihn gebeugt war, selbst so blaß, daß auch sie wie eine Sterbende aussah, und er schwieg.

Sie hatte sich jetzt in den Lehnstuhl gesetzt, dicht an seinem Bett, und nahm seine Hand, die auf der Decke lag:

– Nun darfst Du nicht mehr sprechen, – sagte sie. – Du darfst Dich nicht bewegen. Denke an mich, wie ich an Dich denke.

Sie blickten sich wieder an, unbeweglich, durch die Berührung ihrer heißen Hände miteinander verknüpft, und sie drückte ab und zu die fiebernde Hand, die sie hielt, und er antwortete, indem er ein wenig die Finger schloß. Jeder Druck der Hand sagte ihnen etwas, ließ wieder ein Stück der Vergangenheit, die doch abgeschlossen war, aufleben, erweckte neu in ihrer Erinnerung das Andenken an ihre Zärtlichkeit. Jeder war eine geheime Frage, jeder eine wundersame Antwort, eine traurige Frage, eine traurige Antwort, das ›Denkst Du noch daran‹ einstiger Liebe.

Und ihre Gedanken stiegen, bei diesem letzten Zusammensein vor dem Tode, Jahre zurück. Die ganze Geschichte ihrer Leidenschaft stand wieder vor ihnen, und man hörte nichts im Zimmer, als das Knistern des Feuers.

Er sagte plötzlich, als wäre er aus einem Traum erwacht, indem er entsetzt auffuhr:

– Deine Briefe!

Sie fragte:

– Was? Meine Briefe . . .

– Ich könnte sterben, und sie sind noch nicht verbrannt.

Sie rief:

– Ach, das ist mir gleich. Mag man sie finden, lesen, das ist mir ganz gleich.

Er antwortete:

– Aber ich will das nicht. Steh auf, Any, öffne das unterste Fach meines Schreibtisches, das große. Da liegen sie alle, alle, – nimm sie und wirf sie ins Feuer.

Sie regte sich nicht und blieb in ihren Schmerz versunken, als hätte er ihr eine Feigheit geraten.

Er sagte noch einmal:

– Any, ich bitte Dich! Wenn Du es nicht thust, quält es mich, macht mich nervös, verrückt. Denke doch, sie könnten ja in die Hände von irgend jemand fallen, von einem Advokaten oder Diener oder selbst in die Deines Mannes. Das will ich nicht.

Sie erhob sich, zögerte noch immer und sagte:

– Nein, das ist zu hart, zu grausam. Mir ist es, als verbrennte ich unsere beiden Herzen.

Da sie ihn so leiden sah, gab sie sich einen Stoß und ging zu dem Schreibtisch. Sie öffnete das Fach und nun sah sie es voll bis an den Rand hinauf, ein dicker Haufen Briefe, einer auf dem anderen und auf allen Couverts sah sie die beiden Zeilen der Adresse, die sie so oft geschrieben. Sie kannte diese beiden Zeilen, der Name eines Mannes, der Name einer Straße, wie ihren eigenen Namen, wie man eben die beiden Worte kennt, die all unsere Hoffnung, all unser Glück im Leben ausgemacht.

Sie blickte sie an, diese viereckigen, kleinen Dinger, die alles enthielten, was sie von ihrer Liebe zu sagen gewußt, alles, was sie von sich hatte losreißen können, ihm zu geben mit einem bißchen Tinte auf ein wenig weißem Papier.

Er hatte versucht, auf dem Kissen den Kopf zu wenden, um sie anzublicken, und sagte noch einmal:

– Verbrenne sie schnell.

Da nahm sie zwei Hände voll, hielt sie einen Augenblick zwischen den Fingern. Es schien ihr schwer, schmerzlich. Leben und Tod, so viel lag darin in diesem Augenblick. So viel Feines, Zartes, das sie gefühlt und geträumt, sie waren die Seele ihrer Seele, das Herz ihres Herzens, all ihre Liebe hielt sie hier in der Hand. Und sie dachte wieder daran, mit welcher Liebesglut sie einzelne dieser Papiere bekritzelt, mit welcher Trunkenheit zu leben, einen Menschen anzubeten und es ihm zu sagen.

Olivier wiederholte:

– Verbrennen! Verbrennen! Verbrennen, Any!

Mit einer Bewegung ihrer beiden Hände warf sie die beiden Papierstöße ins Feuer, die sich verstreuten, als sie auf die Glut fielen.

Dann holte sie andere aus dem Schreibtisch, häufte sie auf, und wieder andere mit schneller Bewegung, bückte sich und erhob sich regelmäßig, um schnell die fürchterliche Arbeit zu beenden.

Als die Feuerstelle des Kamins voll war und das Fach leer, blieb sie wartend stehen, betrachtete die fast erstickte Flamme, wie sie an den Seiten des Briefberges in die Höhe leckte; an den Ecken faßte sie an, züngelte empor, lief am Papier hin, erlosch, kam wieder, wuchs, und bald hatte sich um die Pyramide weißen Papieres ein glühender Feuergürtel gelegt, der das Zimmer erleuchtete. Und dieses Licht, das die Frau bestrahlte, die dort stand und den Mann, der dort lag, war ihre Liebe, die brannte, ihre Liebe, die in Asche zerfiel.

Die Gräfin wandte sich um, und im hellen Schein des Feuers sah sie ihren Freund, fahl, seitlich über den Bettrand gebeugt.

Er fragte:

– Ist alles fort?

– Alles.

Aber ehe sie zu ihm zurückkehrte, warf sie noch einmal auf ihr Vernichtungswerk einen letzten Blick, und über den Papierhaufen, der schon halb verbrannt war, der sich krümmte und schwarz wurde, sah sie etwas Rotes hinlaufen, als wären es Blutstropfen. Sie schienen aus dem Herzen dieser Briefe zu kommen, aus jedem Brief wie aus einer Wunde, und glitten nun leise der Flamme zu, einen Purpurstreifen hinter sich lassend.

Die Gräfin fühlte im Herzen den Schatten von etwas Übernatürlichem und wich zurück, als sähe sie jemand ermorden, und dann ward ihr plötzlich klar, daß sie einfach das schmelzende Siegellack gesehen.

Schnell ging sie zu dem Verwundeten zurück, hob langsam seinen Kopf, legte ihn sorgfältig mitten auf das Kopfkissen zurück. Aber er hatte sich bewegt und die Schmerzen wurden stärker. Er röchelte jetzt, das Gesicht war durch furchtbare Schmerzen entstellt, er schien nicht mehr zu wissen, daß sie da war.

Sie wartete, daß er sich beruhigte, die geschlossenen Augen öffnete und ihr noch ein Wort sagte.

Endlich fragte sie:

– Thut es sehr weh?

Er antwortete nicht.

Sie beugte sich zu ihm und legte einen Finger auf seine Stirn, um ihn zu zwingen, sie anzusehen. Und da öffnete er die Augen, entsetzt, wie toll.

Sie fragte noch einmal voll Grauen:

– Leidest Du, Olivier? Antworte doch. Soll ich rufen? Sage mir nur noch etwas.

Es war ihr, als stammelte er:

– Bringe sie her . . . Du hast es versprochen . . .

Dann bewegte er sich unter der Decke, sein Leib zuckte, das Gesicht verzerrte sich.

Sie fragte wieder:

– Olivier, mein Gott, Olivier! Soll ich rufen?

Diesmal hatte er verstanden, denn er antwortete:

– Nein . . . es ist nichts.

Er schien in der That ruhiger zu werden, weniger zu leiden, plötzlich in eine Art von Halbschlummer zu verfallen. Sie hoffte, er würde schlafen, setzte sich ans Bett, nahm wieder seine Hand und wartete. Er bewegte sich nicht, das Kinn auf der Brust, den Mund halb offen wegen des kurzen Atems, der die Kehle zusammenzuschnüren schien, beim Aus- und Eintritt. Nur die Finger bewegten sich ab und zu, ohne daß er es wollte, mit leichten Zuckungen, die der Gräfin durch und durch gingen bis zur Wurzel ihres Haares, die sie packten, daß sie hätte schreien mögen. Das war nicht mehr der kleine Fingerdruck, der statt der müden Lippen alle Traurigkeit des Herzens erzählte, das waren unstillbare Krämpfe, die nur vom Leiden des Leibes sprachen.

Sie hatte Angst, eine furchtbare Angst. Die Lust überkam sie, fortzulaufen, jemandem zu klingeln, zu rufen, aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen, um seine Ruhe nicht zu stören.

Man hörte von weitem durch die Mauern Wagenlärm auf der Straße, und sie lauschte, ob nicht ein Wagen an der Thür hielt, ob ihr Mann nicht wiederkäme, sie zu befreien, sie endlich herauszureißen aus diesem furchtbaren Alleinsein.

Als sie versuchte, ihre Hand aus der Oliviers loszumachen, drückte er sie und stieß einen langen Seufzer aus. Da überwand sie sich, zu bleiben, um ihn nicht zu erregen.

Das Feuer erstarb im Kamin unter der schwarzen Asche der Briefe, zwei Lichter gingen aus, irgend ein Möbel krachte.

Alles im Hause war still, alles schien tot. Nur die große, vlämische Uhr auf der Treppe, die regelmäßig die Stunden anzeigte, die halben und die viertel, verkündete in der Nacht, mit ihren verschiedenen Tönen den Gang der Zeit.

Die Gräfin fühlte, wie in ihrer Seele ein furchtbares Entsetzen aufstieg. Grauenvolle Vorstellungen quälten sie, fürchterliche Gedanken umnachteten ihren Geist. Es war ihr, als würden Oliviers Finger kalt in den ihren. Oder war es Wahrheit? Nein, es konnte nicht sein! Und doch, woher kam ihr dieses Gefühl einer unerklärlichen, eisigen Berührung? Sie erhob sich im Entsetzen, um sein Gesicht anzusehen – er lag da, ausgestreckt, unbeweglich, leblos, allem Elend entrückt. Er hatte Frieden gefunden und ewiges Vergessen.

 


 


 << zurück