Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

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III

Sobald die Gräfin mit ihrer Tochter allein war im Wagen, der sie nach Hause brachte, fühlte sie sich plötzlich beruhigt, erleichtert, blickte lächelnd die Häuser an und erkannte mit Vergnügen die Stadt wieder, von der der echte Pariser die intimste Kleinigkeit im Auge und im Herzen zu tragen scheint. Jeder Laden, den sie sah, führte ihre Gedanken schon zum folgenden, die ganze Reihe der Boulevards hinab, und sie erriet hinter den Schaufenstern das Gesicht des Kaufmanns, das sie so oft erblickt. Sie fühlte sich gerettet! Wovor? Erleichtert! Warum? Vertrauensvoll! Worauf?

Als der Wagen in der Thordurchfahrt hielt, stieg sie leicht aus und trat, als flöge sie, in das Dunkel der Treppe, dann in den dämmrigen Salon und dann in das Halbdunkel ihres Zimmers. Dann blieb sie ein paar Augenblicke stehen, glücklich, hier in Sicherheit zu sein, in dem nebligen, unbestimmten Dunst von Paris, der kaum erhellt, und mehr erraten, als sehen läßt. Wo man das zeigen kann, was gefällt, und verstecken kann, was man verstecken will. Und die Erinnerung an das strahlende Licht draußen auf dem Lande blieb noch immer in ihr, wie ein nun vorübergegangenes Leid, haften.

Als sie zu Tisch hinunterging, umarmte sie ihren Mann, der eben nach Hause gekommen war, herzlich, und er sagte lächelnd:

– Ah, ich wußte schon, daß Freund Bertin Dich herbringen würde. Es war schon das richtige, daß ich ihn geschickt habe.

Annchen antwortete ernst, in jenem eigenen Ton, den sie annahm, wenn sie ohne zu lachen einen Scherz machte:

– Ach, es war sehr schwer, Mama wollte garnicht!

Und die Gräfin war etwas verlegen und schwieg.

Es sollte niemand angenommen werden, und so blieben sie allein an diesem Abend. Am nächsten Tag machte die Gräfin in verschiedenen Läden ihre Besorgungen. Seit ihrer Jugend, beinah seit ihrer Kindheit schon, liebte sie das Anprobieren vor den Spiegeln der großen Schneiderinnen. Wenn sie nur eintrat, freute sie sich im Gedanken an alle Einzelheiten jener peinlich sorgsamen Probe. Sie liebte die rauschenden Röcke der Probiermamsells, die herbeistürzten, wenn sie kam, ihr Lächeln, ihre Offerten, ihre Fragen; und die Schneiderin, die Modistin, oder die Korsettmacherin war für sie eine Persönlichkeit von Bedeutung, die sie wie eine Künstlerin behandelte, wenn sie sie um Rat fragte. Noch mehr liebte sie es, von den jungen Mädchen bedient zu werden, die mit geschickter Hand sie aus- und anzogen und sie vor ihrem reizenden Spiegelbild hin- und herdrehten. Das Gefühl, wenn die leichten Finger über ihren Hals glitten, über ihre Haut oder in ihr Haar, war einer der süßesten und besten Genüsse ihres Modedamendaseins.

Aber an diesem Tag hatte sie doch eine unangenehme Empfindung so, ohne Schleier, ohne Hut, vor all diesen ehrlichen Spiegeln. Der erste Besuch bei der Modistin gab ihr aber wieder Mut. Die drei Hüte, die sie kaufte, standen ihr wundervoll, darüber war kein Zweifel, und als die Verkäuferin ihr gesagt: »O, Frau Gräfin, blonde Damen sollten nur Trauer tragen,« – ging sie zufrieden davon und besuchte vertrauensvoll die übrigen Läden.

Als sie zurückkam, fand sie ein paar Zeilen von der Herzogin, die sie besucht und ihr hinterlassen hatte, sie würde abends wiederkommen. Dann schrieb sie Briefe, darauf träumte sie einige Zeit, erstaunt, daß der einfache Ortswechsel das große Leid, das ihre Seele zerrissen, bereits weit in die Vergangenheit gerückt. Sie konnte garnicht glauben, daß sie erst am Tage vorher aus Roncières heimgekehrt, so hatte sich ihre Stimmung seit ihrer Rückkehr nach Paris verändert, als ob die kleine Reise ihre Wunden geschlossen.

Als Bertin zu Tisch kam, rief er:

– Sie sind ja strahlend heute abend!

Und dieser Ausruf ließ sie in Glück erschauern.

Nach Tisch forderte der Graf, der gern Billard spielte, Bertin zu einer Partie auf, und die beiden Damen begleiteten sie in das Billardzimmer, wo der Kaffee getrunken wurde.

Während die Herren noch spielten, wurde die Herzogin gemeldet, und sie kehrten alle in den Salon zurück. Zur gleichen Zeit kamen Herr und Frau von Corbelle mit ganz traurigem Ausdruck, und ein paar Minuten lang schien es nach dem jammervollen Ton der Worte, als würden sie alle anfangen zu weinen. Aber allmählich gingen sie nach den sentimentalen Fragen in anderes Fahrwasser über, die Stimmen wurden heller, und sie begannen gemütlich zu schwatzen, als wäre plötzlich der düstere Todesschatten, der über ihnen lag, verschwunden.

Da stand Bertin auf, nahm Annchen bei der Hand, führte sie zum Bild ihre Mutter, stellte sie ins Lampenlicht und fragte:

– Ist das nicht wirklich ganz wunderbar?

Die Herzogin war so erstaunt, daß sie außer sich geriet und rief:

– Mein Gott, wie ist das möglich! Mein Gott, wie ist das möglich! Das ist ja die reine Auferstehung, und dabei hatte ich das noch gar nicht gesehen. Nein, meine kleine Any, das sind ja ganz Sie, kann ich nur sagen, ich, der ich Sie das erste Mal, als Sie als Frau Trauer hatten, so genau kannte. Nein, es war das zweite Mal, denn Sie hatten Ihren Vater schon verloren. Nein, das Annchen so in Trauer, das ist ja die reine Mutter. Wie damals! So ein Wunder! Ohne das Bild wüßte man's garnicht. Ihre Tochter sieht Ihnen sehr ähnlich, aber doch noch mehr dem Bild.

Musadieu, der die Rückkehr der Gräfin Guilleroy erfahren, erschien. Er wollte einer der ersten sein, ihr sein »tiefgefühltestes Beileid« auszusprechen.

Er hielt plötzlich inne, als er das junge Mädchen neben dem Gemälde stehen sah; vom selben Licht bestrahlt wie das Bild, schien sie die lebende Schwester der auf dem Kunstwerk dargestellten. Da rief er:

– Donnerwetter, das ist aber das seltsamste, was mir je vorgekommen ist!

Und die Corbelles, die immer die Meinung der anderen hatten, begeisterten sich nun auch ihrerseits, wenn auch etwas gedämpft.

Das Herz der Gräfin zog sich zusammen, allmählich, als ob die erstaunten Ausrufe all dieser Leute ihr weh gethan und es hätten zusammenkrampfen machen. Ohne ein Wort zu sagen, betrachtete sie ihre Tochter neben ihrem Bild und wurde fiebrig vor Nervosität. Sie hätte am liebsten gerufen: »So schweigt doch, ich weiß ja, daß sie mir ähnlich sieht!«

Den ganzen Abend war sie schwermütig gestimmt und verlor von neuem die Sicherheit, die sie eben erst wiedergefunden.

Bertin unterhielt sich mit ihr, da wurde der Marquis Farandal gemeldet. Als der Maler ihn eintreten und auf die Hausfrau zugehen sah, stand er auf, trat hinter ihren Stuhl und flüsterte: »Na, wenn der Kerl kommt, denn adje!« – Dann machte er einen Bogen um ihn zur Thür und ging fort.

Nachdem die Gräfin ein paar Begrüßungsworte mit dem Neuangekommenen gewechselt, suchte sie Olivier mit den Augen, um mit ihm die Unterhaltung, die sie interessierte, fortzusetzen. Als sie ihn nicht mehr gewahrte, fragte sie:

– Was, ist der große Künstler fort?

Ihr Mann antwortete:

– Ich glaube ja, meine Liebe. Ich glaube, er hat sich englisch gedrückt.

Sie war erstaunt, dachte einen Augenblick nach, und fing dann mit dem Marquis an zu plaudern.

Übrigens brachen die Freunde des Hauses aus Zartgefühl bald auf, denn sie wollten sie, so kurz nach dem Todesfall, nicht lange stören.

Als sie sich dann im Bett streckte, kamen alle Qualen, die sie auf dem Lande draußen gepeinigt, wieder zum Vorschein, und sie wuchsen noch, sie empfand klar: sie fühlte sich alt.

An diesem Abend hatte sie zum ersten Mal gefühlt, daß in dem Salon, wo sie bisher allein bewundert, gefeiert, geliebt worden, eine andere, ihre Tochter, ihren Platz einnahm. Mit einemmal hatte sie das eingesehen, als sie fühlte, wie man Annchen den Hof machte. Sie sah in diesem Königreich, dem Haus einer hübschen Frau, in diesem Königreich, in dem sie keine Verdunklung erträgt, aus dem sie jeden zu fürchtenden Nebenbuhler diskret aber energisch hinausweist, in das sie Gleichberechtigten nur Einlaß gewährt, um Vasallen aus ihnen zu machen, in diesem Königreich sah sie ihre Tochter die Herrscherin werden. Es war doch seltsam gewesen, dieses Gefühl, als aller Augen sich zu Annchen gewendet, die Bertin bei der Hand hielt, beide neben dem Bilde. Sie hatte sich plötzlich verschwinden fühlen, sie war ihrer Macht entkleidet, entthront, alle Welt blickte Annchen an, keiner hatte sich mehr um sie gekümmert. Sie war so daran gewöhnt, Artigkeiten und Schmeicheleien zu hören, jedesmal wenn man ihr Bild ansah, sie war dieser Lobsprüche so sicher, auf die sie keinen Wert legte, aber die sie trotzdem freuten, daß diese Abkehr von ihr, diese plötzliche Niederlage, die Bewunderung, die mit einem Male einzig auf ihre Tochter überging, sie mehr erstaunt, bewegt und getroffen hatten, als hätte es sich um irgend eine wirkliche Rivalität bei irgend einer Gelegenheit gehandelt.

Aber da sie eine jener Naturen war, die bei allen Fehlschlägen nach der ersten Schwäche sich wieder aufrichten, kämpfen, Trost finden, überlegte sie sich, daß, wenn ihr Töchterchen einmal verheiratet wäre und sie nicht mehr unter demselben Dach lebten, sie auch nicht mehr unter dem ewigen Vergleich zu leiden haben würde, der ihr unter den Augen ihres Geliebten anfing peinlich zu werden.

Aber der Schlag war stark gewesen, sie fieberte und schlief nicht mehr.

Am nächsten Morgen stand sie müde und zerschlagen auf, und da überkam sie ein unbezwingliches Bedürfnis, getröstet zu sein, irgend jemand um Hilfe anzurufen, der ihr hätte helfen können, in all ihrem Leid, in all diesem seelischen wie körperlichen Elend.

Sie fühlte sich wirklich so unwohl, so schwach, daß ihr der Gedanke kam, den Arzt zu befragen, vielleicht wurde sie ernstlich krank. Denn das war nicht natürlich, daß sie im Laufe von ein paar Stunden solche Gemütsveränderungen durchmachte. Sie telegraphierte also nach dem Arzt und erwartete ihn.

Gegen elf Uhr kam er. Er war einer jener würdevollen Modeärzte, deren Orden und Titel eine Garantie für ihre Tüchtigkeit sind, die mindestens soviel wissen, wie alle anderen, die aber vor allen Dingen die Damen geschickt zu behandeln verstehen mit Worten, die besser wirken als Medizin.

Er trat ein, grüßte, blickte seine Patientin an und sagte lächelnd: – Na, es wird ja nicht schlimm sein, mit solchen Augen ist man nicht krank!

Sie war ihm gleich dankbar für diese Einleitung, erzählte ihm von ihren Schwächeanwandlungen, nervösen Zuständen, ihrer Traurigkeit und dann, ohne zu genau darauf einzugehen, von ihrem schlechten Aussehen. Er hörte ihr aufmerksam zu, fragte nur nach ihrem Appetit, als ob er die heimliche Natur dieses Frauenleidens ganz gut kennte, behorchte, untersuchte sie, faßte mit der Fingerspitze das Fleisch auf der Schulter an, hob ihren Arm auf, da er offenbar ihre Gedanken erraten und wohl als alter Praktiker, der hinter alles kommt, sich sagte, daß sie ihn mehr ihrer Schönheit als ihrer Gesundheit wegen konsultiert. Dann sagte er: – Ja, etwas blutarm und nervös. Das ist weiter nicht wunderbar bei dem Verlust, den Sie erlitten haben. Ich werde Ihnen etwas aufschreiben, was alles das beseitigen soll. Vor allen Dingen müssen Sie sich gut nähren, müssen Fleischextrakt essen, kein Wasser, sondern Bier trinken, – ich werde Ihnen ein gutes Bier nennen. Übermüden Sie sich nicht, indem sie zu lange aufbleiben, machen Sie sich so viel als möglich Bewegung, schlafen Sie viel, und sehen Sie zu, daß Sie etwas stark werden. Mehr kann ich Ihnen, gnädigste und schönste Patientin, nicht raten.

Sie hatte aufmerksam zugehört und suchte hinter seinen Worten zu lesen. Sie griff das letzte Wort auf:

– Ja, ich bin mager geworden. Ich war zu einem gewissen Zeitpunkt zu stark und habe mir vielleicht geschadet durch die Entfettungskur.

– Ohne Zweifel! Wenn man mager ist, kann man's ja bleiben, aber sich bemühen, mager zu werden, da fehlt's dann immer irgend wo anders. Na, das wird sich aber schnell wieder einrichten. Adieu, Frau Gräfin!

Sie fühlte sich schon wohler, frischer, und ließ schon zum Frühstück das bestimmte Bier aus dem Hauptgeschäft holen, damit es frischer wäre.

Sie hatte eben gegessen, als Bertin eintrat:

– Da bin ich wieder, immer wieder. Ich muß Sie etwas fragen. Haben Sie etwas vor?

– Nein, nichts.

– Und Annchen?

– Auch nichts.

– Können Sie um vier Uhr zu mir kommen?

– Ja, und warum?

– Ich bin bei meinem Bild »Träumerei«. Ich habe Ihnen ja davon erzählt, und ich fragte, ob Ihre Tochter mir ein paar Mal sitzen könnte. Es wäre mir sehr angenehm, wenn ich sie nun heute eine Stunde hätte. Ist es Ihnen recht?

Die Gräfin zögerte. Es war ihr peinlich, sie wußte nicht warum, und sie antwortete:

– Schön, wir werden um vier Uhr bei Ihnen sein.

– Danke. Sie sind die Liebenswürdigkeit selbst.

Und er ging davon, um die Leinwand vorzurichten und sich in sein Bild zu vertiefen, um das Modell nicht zu sehr zu ermüden.

Dann ging die Gräfin allein zu Fuß aus, Besorgungen zu machen, auf die Hauptverkehrsadern, darauf mit langsamen Schritten den Boulevard Malesherbes zurück, denn sie fühlte sich matt und müde. Als sie an der Kirche St. Augustin vorüberkam, überfiel sie die Lust, dort einzutreten und sich auszuruhen. Sie öffnete die Thür, atmete auf, als sie die kühle Luft des weiten Schiffes einsog, dann nahm sie einen Stuhl und setzte sich.

Sie war fromm, in einer Art, wie es viele Pariserinnen sind. Sie glaubte ohne zu zweifeln an Gott, denn sie meinte, die Welt könnte nicht da sein ohne Schöpfer. Aber wie sie es alle thaten, vermischte sie die Göttlichkeit mit der Natur, die sie sah, und personifizierte Gott mit seiner Schöpfung, ohne in Wirklichkeit genau darüber nachgedacht zu haben, wie der wunderbare Schöpfer aussehen sollte.

Sie glaubte fest an Gott, betete ihn in der Theorie an und hatte eine unbestimmte Furcht vor ihm, denn sie wußte nichts von seinen Schickungen, von seinem Willen, da sie zu den Priestern nur ein beschränktes Zutrauen hatte. Ihr Vater, ein bürgerlicher Pariser hatte ihr keine bestimmte Frömmigkeit vorgeschrieben, und bis sie sich verheiratet hatte, war sie auch nicht besonders fromm gewesen. Durch ihre neue Stellung bekam sie dann der Kirche gegenüber auch einen anderen Standpunkt und hatte sich an diese leichte Knechtschaft mit Pünktlichkeit gewöhnt.

Sie war im Vorstand von einer Menge der bekanntesten Krippen, fehlte nie Sonntags bei der Mittagsmesse, war wohlthätig für sich selbst und für die Welt unter Beihilfe eines Abbé, des Vikars ihrer Gemeinde.

Wie der Soldat vor dem Haus des Generals Schildwache steht, so betete sie einfach aus Pflicht und Schuldigkeit. Manchmal auch, weil sie traurig war, weil sie eine Untreue Oliviers fürchtete. Ohne Gott dabei den Grund ihrer Gebete vorzutragen, hatte sie ihn in naiver Weise um Hilfe angefleht. Früher beim Tode ihres Vaters und jetzt erst beim Tode ihrer Mutter hatte sie heftige Frömmigkeitsanfälle gehabt, hatte sich mit glühender Inbrunst aufgeschwungen zu dem, der über uns wacht und uns tröstet.

Und nun empfand sie heute in dieser Kirche, in die sie durch Zufall geraten, plötzlich das tiefe Bedürfnis zu beten, nicht für jemand Bestimmtes, nicht für eine Sache, sondern für sich, für sich allein, so wie sie es neulich am Grabe ihrer Mutter gethan. Sie mußte Hilfe haben von irgendwoher, und nun rief sie Gott an, genau so, wie sie noch heute morgen den Arzt gerufen.

Im Schweigen der Kirche, durch das nur ab und zu Schritte hallten, blieb sie lange auf den Knien liegen. Plötzlich, als hätte in ihrem Herzen eine Uhr geschlagen, dachte sie wieder an die Dinge der Welt, zog die Taschenuhr und schreckte zusammen, als sie sah, daß es bald vier war. Dann lief sie davon, um ihre Tochter zu holen, die Olivier schon erwarten mußte.

Sie fanden den Künstler in seinem Atelier damit beschäftigt, auf der Leinwand die Stellung seiner Träumenden zu entwerfen. Er wollte genau das wiedergeben, was er im Park Monceau gesehen, als er mit Annchen spazieren ging. Ein armes Mädchen, das, ein Buch auf den Knieen, dasaß und träumte. Er hatte lange gezögert, sollte er sie hübsch machen oder häßlich? Häßlich – wäre sie charakteristischer gewesen, hätte mehr gepackt, man hätte mehr hineinlegen können. Hübsch – wurde der Erfolg größer, würde sie mehr gefallen.

Der Wunsch, daß ihm seine kleine Freundin sitzen sollte, enschied. Die Träumende mußte hübsch sein und konnte infolge dessen, eines Tages oder des anderen, ihren poetischen Traum verwirklichen, während, wenn sie häßlich war, sie hoffnungslos, endlos weiter träumen würde.

Sobald die beiden Damen eingetreten waren, sagte Olivier, sich die Hände reibend:

– Nun, Fräulein Annchen, wir wollen also zusammen arbeiten!

Die Gräfin schien nachdenklich. Sie setzte sich in einen Fauteuil und sah zu, wie Olivier einen eisernen Gartenstuhl in die Beleuchtung, die er brauchte, rückte. Dann ging er an den Bücherschrank, um ein Buch zu suchen, und sagte zögernd:

– Was darf denn Ihre Tochter lesen?

– Gott, was Sie wollen. Geben Sie ihr einen Band Victor Hugo.

– Die Legende der Jahrhunderte?

– Gut!

Da sagte er:

– So, Kleine, nun setz Dich mal dahin und nimm dieses Gedichtbuch in die Hand, schlag mal die Seite auf, – die Seite 336, da findest Du ein Gedicht: »Die armen Leute«. Vertiefe Dich ganz allmählich hinein, als tränkest Du den besten Wein, Wort um Wort, und laß Dich ganz davon gefangen nehmen, ganz bewegen. Hör auf Dein Herz! Dann mach das Buch zu, blicke etwas auf, denke nach und träume. Ich will mein Arbeitszeug während der Zeit zurecht machen.

Dann ging er in eine Ecke, um die Palette herzurichten. Aber während er auf dem dünnen Holzbrettchen die Bleituben ausdrückte, denen seine Farben-Schlangen in Windungen entquollen, drehte er sich ab und zu um, das junge Mädchen zu betrachten, das ganz in seine Lektüre vertieft war. Sein Herz klopfte, seine Finger zitterten, er wußte nicht mehr was er that, während er die kleinen Farbenhäufchen mischte, so sehr bewegte ihn diese Auferstehung, diese Erscheinung an diesem selben Fleck nach zwölf Jahren.

Nun hatte sie fertig gelesen und blickte vor sich hin. Er war näher getreten und sah in ihren Augen zwei helle Tropfen glänzen, die sich lösten und langsam die Wangen hinabliefen. Da zitterte er, er war nicht Herr seiner selbst, und er flüsterte, indem er sich zur Gräfin wandte:

– Gott, ist sie schön!

Aber er war entsetzt, als er das fahle, verzerrte Gesicht der Gräfin sah. Mit aufgerissenen Augen, aus denen das Entsetzen sprach, betrachtete sie ihn und ihre Tochter. Er wurde unruhig und näherte sich ihr:

– Was fehlt Ihnen denn?

– Ich muß Sie sprechen.

Sie stand auf und sagte schnell zu Annchen:

– Warte einen Augenblick, mein Kind. Ich muß Herrn Bertin etwas sagen.

Dann trat sie schnell in den kleinen benachbarten Salon, wo er öfters seine Besucher warten ließ. Er folgte ihr ganz verstört, er begriff nicht was sie wollte. Sobald sie allein waren, nahm sie seine beiden Hände und stammelte:

– Olivier, Olivier, bitte lassen Sie sie nicht mehr sitzen!

Er flüsterte erstaunt:

– Warum denn?

Da sprach sie mit überstürzenden Worten:

– Warum? Warum? Das fragt er! Fühlen Sie denn nicht, Sie, warum. O, das hätte ich früher ahnen sollen! Aber ich habe es eben erst bemerkt. . . . Ich kann Ihnen jetzt nichts mehr sagen . . . nichts! . . . Holen Sie meine Tochter her, sagen Sie ihr, ich bin unwohl, lassen Sie eine Droschke rufen, und nach einer Stunde kommen Sie zu uns und fragen Sie nach. Ich werde Sie allein empfangen.

– Aber was haben Sie denn?

Sie schien eine Nervenkrise bekommen zu sollen:

– Lassen Sie mich. Hier kann ich es Ihnen nicht sagen. Holen Sie meine Tochter, und lassen Sie eine Droschke kommen.

Er mußte gehorchen und trat ins Atelier zurück. Annchen hatte ganz harmlos wieder angefangen zu lesen, noch ganz traurig über die poetisch-rührende Geschichte, in die sie sich eben vertieft. Olivier sagte ihr:

– Deine Mutter ist nicht wohl; ihr ist schlecht geworden, als sie eben in den kleinen Salon trat. Geh einmal hinein, ich will Äther holen.

Er eilte hinaus und holte aus dem Schlafzimmer ein Fläschchen.

Er fand sie weinend einander in den Armen liegen. Annchen war weich gestimmt, durch »die armen Leute« und überließ sich ihren Thränen, und die Gräfin erleichterte sich etwas, indem sie ein wenig ihr Leid mit jenem süßen Schmerz, ihre Thränen mit denen der Tochter mischte. Er wartete einen Augenblick; er wagte nicht zu sprechen, und blickte sie an, selber von unbegreiflicher Schwermut gepackt.

Endlich sagte er:

– Nun geht's besser?

Die Gräfin antwortete:

– Ja, ein wenig, – es wird weiter nichts sein. Haben Sie einen Wagen bestellt?

– Ja, er wird gleich kommen.

– Danke, lieber Freund! Es ist wirklich weiter nichts. Ich habe seit einiger Zeit zu viel durchgemacht.

– Der Wagen ist da, meldete kurz darauf der Diener.

Und Bertin, voll geheimer Beklemmung, stützte bis an die Hausthür die bleiche noch schwankende Freundin, deren Herz er schlagen fühlte.

Als er allein war, fragte er sich: »Was hat sie denn nur, was soll dieser Anfall?« Und er suchte nach dem Grunde und konnte sich doch nicht entschließen, ihm offen in's Auge zu sehen, obgleich er um die Wahrheit dicht herumging. Endlich kam er ihr nahe und sagte sich: »Sollte sie etwa meinen, ich mache ihrer Tochter den Hof? Nein, das wäre doch zu stark!« Und indem er nun mit ganz geistreichen und aufrichtig gemeinten Gründen diese etwaige Erklärung bekämpfte, war er empört, daß sie seiner natürlichen, beinah väterlichen Zuneigung zu dem jungen Mädchen auch nur einen Augenblick solche Beweggründe unterschieben könnte. Allmählich ward er böse gegen die Gräfin. Er wollte es nicht leiden, daß sie etwas so Häßliches von ihm dächte, eine solche gar nicht zu bezeichnende Infamie. Und er nahm sich vor, wenn er sie nachher sprechen würde, ihr gründlich die Meinung zu sagen.

Bald ging er zu ihr, denn er war ungeduldig, eine Aufklärung herbeizuführen. Während des ganzen Weges legte er sich mit steigender Erregung Worte und Gründe auseinander, um sich gegen solchen Verdacht zu rechtfertigen.

Er fand sie mit leidendem Ausdruck auf der Chaiselongue liegen.

Nun sagte er in trockenem Ton: – Jetzt, bitte, erklären Sie mir mal, liebe Freundin, was diese seltsame Szene vorhin bedeuten sollte.

Sie antwortete mit gebrochener Stimme:

– Das haben Sie noch nicht verstanden?

– Nein. Allerdings nicht!

– Nun, Olivier, prüfen Sie einmal Ihr Herz.

– Mein Herz?

– Ja, das Innerste Ihres Herzens!

– Das verstehe ich nicht, das müssen Sie mir deutlicher erklären.

– Prüfen Sie einmal das Innerste Ihres Herzens, ob Sie keine Gefahr für sich und mich finden!

– Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht verstehe. Ich errate wohl, daß in Ihrer Phantasie irgend etwas vor sich geht, aber mein Gewissen ist rein.

– Ich spreche nicht von Ihrem Gewissen, ich spreche von Ihrem Herzen.

– Ich kann keine Rätsel lösen, bitte erklären Sie mir das deutlicher!

Da hob sie beide Hände des Malers, hielt sie fest und sagte als ob jedes Wort ihr Inneres zerrisse:

– Hüten Sie sich, mein Freund, Sie verlieben sich in meine Tochter!

Jäh zog er die Hände zurück und ereiferte sich mit der Leidenschaftlichkeit eines Unschuldigen, der sich gegen einen schmachvollen Verdacht mit steigender Lebhaftigkeit, mit energischen Bewegungen verteidigt, und klagte sie seinerseits an, ihn so verdächtigt zu haben.

Sie ließ ihn lange Zeit sprechen. Sie glaubte ihm nicht, sie war ihrer Sache gewiß und sagte immer wieder:

– Aber ich verdächtige Sie gar nicht, lieber Freund. Sie wissen selbst nicht, was in Ihnen vorgeht, wie ich es nicht wußte bis heute morgen. Sie thun ja, als hätte ich Ihnen vorgeworfen, daß Sie Annchen verführen wollten! Nein, nein, nein! Ich weiß ja, wie anständig Sie sind, wie man Ihnen blind vertrauen kann, vollkommen vertrauen. Ich bitte Sie nur eins, prüfen Sie einmal Herz und Nieren, ob die Zuneigung, die ohne Ihr Wissen und Wollen in Ihrem Herzen keimt, doch nicht etwas Anderes ist, als eine einfache Freundschaft.

Er ärgerte sich, wurde immer erregter und beteuerte wieder seine Unschuld, wie er es vor sich selbst unterwegs gethan, als er zu ihr gegangen.

Sie wartete, bis er zu Ende war. Dann flüsterte sie ohne Zorn, aber ohne in ihrer Überzeugung erschüttert zu sein, totenbleich:

– Olivier, ich weiß das alles, was Sie mir sagen, und ich denke ebenso wie Sie; aber ich irre mich bestimmt nicht. Hören Sie zu, denken Sie einmal nach, begreifen Sie, überlegen Sie sich, meine Tochter ist mir zu ähnlich, sie ist zu sehr so, wie ich früher war, im Anfang unsrer Liebe. Sie müssen sie auch lieben!

– Also Sie wagen, mir so etwas ins Gesicht zu sagen, – rief er, – bloß auf Grund einer einfachen Hypothese und in Folge der lächerlichen Schlußfolgerung? Er liebt mich, meine Tochter gleicht mir, – folglich wird er sie auch lieben.

Aber da er sah, daß das Gesicht der Gräfin einen immer verzweifelteren Ausdruck annahm, fuhr er in weicherem Ton fort:

– Aber liebe Any, die Kleine gefällt mir doch nur deshalb, weil ich Sie in ihr wiederfinde. Wenn ich sie ansehe, liebe ich Sie, Sie allein!

– Ja, darunter leide ich ja eben gerade so, das fürchte ich ja so! Sie wissen noch gar nicht recht, was Sie empfinden, aber bald wird Ihnen das klar sein.

– Any! Sie reden ja irre!

– Soll ich's Ihnen beweisen?

– Jawohl!

– Sie waren trotz meiner flehentlichsten Bitten seit drei Jahren nicht mehr in Roncières gewesen; als Ihnen aber jetzt der Vorschlag gemacht wurde, uns zu holen, kamen sie gleich, sofort!

– Das ist noch besser! Jetzt werfen Sie mir vor, daß ich Sie dort nicht allein gelassen habe, wo ich wußte, daß Sie krank waren nach dem Tode Ihrer Mutter.

– Gut, das will ich zugeben! Aber nun hören Sie. Sie haben ein solches Bedürfnis, Annchen zu sehen, daß Sie den Tag heute nicht verstreichen lassen konnten, ohne mich zu bitten, mit ihr zu Ihnen zu kommen, unter dem Vorwande, Sie wollten sie malen.

– Und Sie nehmen gar nicht an, daß ich Sie sehen wollte?

– Damit widerlegen Sie sich ja selbst! Sie wollen sich selbst überreden, aber Sie machen mich nicht irre. Hören Sie weiter. Warum sind Sie vorgestern abend, als der Marquis Farandal kam, so plötzlich fortgegangen? Wissen Sie das?

Er zögerte, sehr erstaunt, beunruhigt, durch diesen Einwurf aus der Fassung gebracht. Dann sagte er langsam: – Ja, ich weiß nicht, – weiß nicht . . . ich war müde, und dann, offen gesagt, macht mich dieser Schafskopf nervös.

– Seit wann?

– Schon immer.

– Verzeihen Sie, früher sprachen Sie gut von ihm, früher gefiel er Ihnen. Olivier, seien Sie ganz ehrlich!

Er überlegte ein paar Augenblicke und mußte die Worte suchen:

– Ja, es ist möglich, daß die große Zuneigung, die ich zu Ihnen habe, sodaß ich alles gern mag was zu Ihnen gehört, meine Meinung über diese Null etwas verändert haben könnte, diesen Fatzke, der mir gleichgiltig ist, wenn ich ihn ab und zu sehe, aber den täglich bei Ihnen zu finden mir eben unangenehm ist.

– Das Haus meiner Tochter wird ja nicht meines sein. Aber genug davon. Ich weiß, daß Ihr Herz ehrlich und gerade ist; ich weiß, daß Sie darüber nachdenken werden, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, und wenn Sie nachgedacht haben, werden Sie einsehen, daß ich Sie auf eine große Gefahr aufmerksam gemacht habe, zu einer Zeit, wo sie noch zu vermeiden ist. Und Sie werden sich in Acht nehmen. Und nun sprechen wir von anderen Dingen.

Er antwortete nichts. Er fühlte sich nicht angenehm berührt und wußte nicht recht, was er eigentlich denken sollte. Da er wirklich das Bedürfnis fühlte, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ging er nach einem gleichgiltigen Gespräch, ein paar Minuten später, davon.

 


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