Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

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IV

Olivier kehrte mit kurzen Schritten nach Haus zurück, verwirrt, als hätte er ein schimpfliches Familiengeheimnis erfahren. Er suchte sein Herz zu prüfen, klar über sich selbst zu werden, jene intimen Blätter des inneren Herzens zu lesen, die eins am anderen zu hängen scheinen, und die nur manchmal eine fremde Hand umwenden kann, indem sie sie auseinander reißt. Er glaubte wirklich nicht, Annchen zu lieben. Die Gräfin, deren Eifersucht immer wach war, hatte von weitem die Gefahr entdeckt und ihn darauf aufmerksam gemacht, ehe sie wirklich bestand. Aber konnte diese Gefahr wirklich morgen, in einem Monat da sein? Er suchte auf diese Frage sich selbst eine Antwort zu geben. Gewiß erregte die Kleine in ihm etwas wie Zärtlichkeit. Aber im Menschen liegen so viel solche Strömungen, daß man die unschuldigen nicht mit den bedenklichen verwechseln durfte. So liebte er Tiere, vor allem Katzen, und konnte ihr weiches Fell nicht sehen, ohne daß ihn eine sinnliche Lust packte, den buckligen Rücken zu streicheln und ihr elektrisches Fell zu küssen. In der Anziehungskraft, die das junge Mädchen auf ihn übte, lag etwas von jenen unbewußten, unschuldigen Wünschen, die all die unaufhörlichen, ruhelosen Vibrationen menschlicher Nerven verursachen. Sein Künstlerauge und sein Blick als Mann wurden gefesselt durch ihre Frische, durch das junge blühende Leben, durch das Erwachen in ihr, und sein Herz, in dem all die Erinnerungen seiner langjährigen Beziehungen zur Gräfin wieder auflebten, fand in der außergewöhnlichen Ähnlichkeit Annchens mit ihrer Mutter einen Anklang an einstige Herzenskämpfe, an Gefühle wieder, die seit den ersten Zeiten seiner Liebe geschlummert hatten. Und sein Herz hatte vielleicht in Gedanken an eine Wiederbelebung stärker geschlagen. Eine Wiederlebung? Ja, das war es, der Gedanke regte ihn an. Er fühlte sich erwacht, nachdem er Jahre geschlummert. Wenn er wirklich, ohne es zu ahnen, die Kleine liebte, hätte er in ihrer Nähe die Verjüngung gefühlt, eine Verjüngung die einen ganz neuen Menschen schafft, indem sie eine neue Leidenschaft in ihm entzündet. Nein, dieses Kind hatte nur das erloschene Feuer wieder angefacht, er liebte immer noch die Mutter, aber wegen ihrer Tochter, in der er sie verjüngt wiederfand, wahrscheinlich etwas mehr als früher. Und diese Entdeckung formulierte er in folgendem beruhigenden Sophismus: Man liebt nur einmal. Das Herz kann öfters entflammen, wenn man ein anderes Wesen trifft, denn jeder übt auf den anderen eine anziehende oder abstoßende Wirkung aus. All diese Wirkungen erzeugen die Freundschaft, die Begierde, den Wunsch zu besitzen, die Leidenschaft, die aufflammt und schnell verraucht, aber nicht die wahre Liebe. Wenn die Liebe entstehen soll, so müssen die beiden Wesen eins für das andere geboren sein und so viel gemeinsame Berührungspunkte haben, den gleichen Geschmack, Verwandtschaft des Leibes, des Geistes, des Charakters, so viel Dinge aller Art müssen sie aneinander fesseln, sie miteinander verbinden, daß ein ganzes Bündel von Fesseln da ist. Und was man im übrigen liebt, ist nicht Frau X. oder Herr Z., sondern ein Weib oder ein Mann, ein namenloses Geschöpf, von der großen Mutter Natur geboren mit Organen, Gestalt, Herz, Geist, ein Wesen, das wie ein Magnet unsere Organe, unsere Augen, unsere Lippen, unser Herz, unsere Gedanken und all unsere sinnlichen und geistigen Begierden an sich zieht. Man liebt einen Typus, das heißt in einem Einzigen die Verkörperung aller menschlichen Eigenschaften, die uns einzeln bei den Anderen fesseln können.

Für ihn war Gräfin Guilleroy dieser Typus gewesen, und die Dauer ihres Verhältnisses zu einander, das er nicht satt bekam, bewies ihm das aufs sicherste. Und da nun Annchen körperlich genau so aussah, wie ihre Mutter einst gewesen, daß man sie hätte verwechseln können, lag doch nichts Erstaunliches darin, daß sein Männerherz etwas stutzig geworden war, ohne sich doch in Fesseln schlagen zu lassen. Er hatte eine Frau geliebt. Eine andere Frau, beinah die gleiche, ward von ihr geboren. Er konnte sich doch nicht dagegen schützen, daß er auf die zweite einen leichten Rest von Liebe und Zuneigung, die er einst für die erste gehabt, übertrug. Darin lag nichts Böses und keine Gefahr. Nur sein Blick, sein Gedächtnis nahm Teil an dieser Auferstehung. Aber sein natürliches Empfinden geriet nicht auf Abwege, denn niemals hatte er dem jungen Mädchen gegenüber, die geringste sinnliche Begierde gehabt.

Und doch warf ihm die Gräfin vor, daß er auf den Marquis eifersüchtig wäre! War das richtig? Er prüfte sich noch einmal ernstlich und fand, daß er wirklich etwas eifersüchtig war. Aber war das nach all dem zu verwundern? Ist man nicht alle Augenblicke eifersüchtig auf irgend einen Mann, der irgend einer Frau den Hof macht. Empfindet man nicht auf der Straße, im Restaurant, im Theater eine kleine, feindliche Regung gegen den Herrn, der mit einem schönen Mädchen vorübergeht oder eintritt. Jeder, der eine Frau besitzt, ist ein Nebenbuhler. Ein Mann, der sein Ziel erreicht hat, ist ein Sieger, den die anderen Männer beneiden. Und dann, ohne sich auf psychologische Betrachtungen einzulassen, war es ganz natürlich, daß er für Annchen eine etwas lebhaftere Sympathie wegen ihrer Mutter empfand. War es nicht ganz natürlich, daß er ein kleines bißchen tierischen Haß gegen den zukünftigen Gemahl empfand. Dieses häßliche Gefühl würde er bald überwinden.

Und doch blieb in seiner Seele eine Bitterkeit und Unzufriedenheit gegen sich selbst und gegen die Gräfin zurück. Würden ihre täglichen Beziehungen nicht durch den Verdacht, den er in ihr wach fühlte, getrübt werden?

Mußte er nun nicht mit peinlicher, ermüdender Sorgfalt auf jedes Wort, auf jede That, auf jeden Blick, auf jede Kleinigkeit im Benehmen dem jungen Mädchen gegenüber aufpassen, denn alles, was er that und sagte, konnte der Mutter Verdacht vermehren. Schlechter Laune kehrte er heim und rauchte Cigaretten mit der Nervosität eines Menschen, der geärgert worden ist, und zehn Streichhöher braucht, um seinen Tabak in Brand zu setzen. Vergebens versuchte er zu arbeiten. Hand, Auge, Geist schienen das Malen nicht mehr gewöhnt zu sein, als ob sie es vergessen hätten, als ob er niemals seine Kunst gekannt und geübt. Er hatte ein kleineres angefangenes Bild vorgenommen, um es zu vollenden. Eine Straßenecke, an der ein armer Blinder sang. Und mit unwiderstehlicher Gleichgültigkeit, mit einer solchen Unfähigkeit, weiter zu arbeiten, blickte er sein Werk an, daß er, die Palette in der Hand, starr und zerstreut sitzen blieb und es ganz vergaß.

Dann wurde er plötzlich ungeduldig, die Zeit schlich so langsam hin, unerträgliche Minuten. Was sollte er anfangen bis zur Essensstunde im Klub, da er nicht arbeiten konnte. Der Gedanke, in die Stadt zu gehen, machte ihn schon müde. Er ekelte sich vor den Bürgersteigen, den Vorübergehenden, den Wagen und Buden, und die Idee, Besuche zu machen, an diesem Tage irgend jemand zu treffen, versetzte ihn in eine Art Haß gegen alle seine Bekannten.

Was sollte er also anfangen? Sollte er in seinem Atelier auf und ab laufen und immer nach der Uhr blicken, deren Zeiger ein paar Sekunden vorrückte? O, er kannte diese Wanderungen von der Thür bis hinüber zu dem Schrank, auf dem tausenderlei Krimskrams stand. Zu Zeiten, wo er leicht arbeitete, in Schwung kam, in Wärme, schöpferisch gestimmt war, war es ihm eine küstliche Erholung, durch das hohe, belebte, von der Arbeit warme Zimmer hin und her zu gehen. Aber zu Stunden, wo er nicht vorwärts kam, zu jenen elenden Stunden, wo ihm nichts auch nur der Mühe wert zu sein schien, es zu versuchen, war das wie der eintönige, fürchterliche Spaziergang eines Gefangenen in seinem Verließ. Wenn er nur hätte schlafen können, nur eine Stunde auf dem Sofa. Aber nein, er würde doch nicht schlafen, er würde sich aufregen, bis er vor Verzweiflung zitterte. Woher kam nur plötzlich diese schwarze Stimmung. Er dachte, ich muß jetzt doch sehr nervös sein, wenn mich eine solche Kleinigkeit in einen derartigen Zustand versetzt.

Da wollte er ein Buch vornehmen. Die Legende der Jahrhunderte war auf dem Gartenstuhl liegen geblieben, wo Annchen gesessen. Er schlug sie auf, las zwei Seiten Verse und verstand sie nicht. Er begriff nicht mehr davon, als wenn sie in einer fremden Sprache geschrieben wären. Aber er zwang sich dazu und fing wieder an, um festzustellen, daß er es wirklich nicht kapieren könne.

»Nanu,« sagte er sich, »ich scheine abwesend zu sein.« Aber ein plötzlicher Gedanke beruhigte ihn über die beiden Stunden, die er noch bis zum Essen totschlagen mußte. Er ließ ein Bad machen und blieb dann, träumend, durch das warme Wasser beruhigt, bis der Diener mit der Wäsche kam und ihn aus dem Halbschlaf rüttelte. Nun ging er in den Klub, wo seine gewöhnlichen Gefährten schon versammelt waren; mit offenen Armen wurde er empfangen, mit allerlei Zurufen, denn seit ein paar Tagen hatte er sich nicht blicken lassen.

– Ich komme vom Land zurück, sagte er.

Alle die Herren hatten, bis auf den Landschafter Maldant, eine tiefe Verachtung für das Landleben. Rocdiane und Landa gingen wohl dahin zur Jagd, aber es machte ihnen auf Feld und Wald nur Spaß, Fasane, Rebhühner und Wachteln von ihrem Blei getroffen wie ein Federbündel niedersinken zu sehen, oder die Purzelbäume der Kaninchen zu beobachten, die sich wie Clowns fünf- oder sechsmal überschlugen, daß man jedesmal die helle Bauchdecke sah. Außer diesen Herbst- oder Wintervergnügen fanden sie das Land fürchterlich. Rocdiane sagte:

– Mir sind junge Mädchen lieber, wie junge Schoten.

Das Diner war, wie immer, laut, gemütlich, allerlei Diskussionen wurden geführt, aber nichts Ungewöhnliches geschah. Bertin sprach viel, um in gute Laune zu kommen. Man amüsierte sich über ihn, aber sowie er Kaffee getrunken und mit dem Bankier Liverdy eine Partie Billard gespielt hatte, ging er fort, bummelte von der Madeleine bis zur Rue Taitbout, lief dreimal am Vaudeville vorüber, mit sich uneins, ob er hineingehen oder eine Droschke nehmen sollte, um zum Hippodrom zu fahren, ward wieder anderer Ansicht, lief zum neuen Cirkus und machte dann ohne Grund, ohne daß er wußte warum, wozu, kehrt, ging den Boulevard Malesherbes zurück, verlangsamte seinen Schritt, als er an Gräfin Guilleroys Haus kam, und dachte, sie findet es am Ende eigentümlich, wenn ich heute abend wiederkomme, beruhigte sich aber dann und überlegte, es sei doch eigentlich nichts dabei, wenn er sich ein zweites Mal nach ihr erkundigte.

Sie war allein im kleinen Salon mit Annchen und arbeitete immer noch an der Decke für die Armen.

Als sie ihn eintreten sah, sagte sie einfach:

– Nun, Sie, lieber Freund?

– Ja, ich wollte doch noch einmal sehen, wie's Ihnen geht.

– Ach, ganz gut!

Sie zögerte einen Augenblick, dann fügte sie mit Bedeutung hinzu:

– Und Ihnen?

Er lachte und gab zurück:

– O, mir gehts sehr, sehr gut. Ihre Befürchtung hatte nicht den mindesten Grund.

Sie sah auf, hörte auf zu arbeiten und sah ihn langsam mit einem Blick voll Bitte und Zweifel an.

– Es ist wirklich wahr, – sagte er.

– Desto besser – sagte sie, etwas gezwungen lächelnd.

Er setzte sich, und zum ersten Mal war ihm in diesem Haus nicht angenehm zu Mute. Eine Art Lähmung der Gedanken überfiel ihn, noch stärker als vorhin vor seiner Leinwand.

Die Gräfin sagte zu ihrer Tochter:

– Du kannst fortfahren, liebes Kind, es stört nicht.

Er fragte:

– Was that sie denn?

– Sie übte eine Phantasie.

Annchen stand auf und ging ans Clavier; er folgte ihr unwillkürlich, wie immer, mit den Blicken, und sie gefiel ihm. Da fühlte er das Auge ihrer Mutter, drehte sich schnell herum und that, als hätte er in der dunklen Ecke des Salons nach etwas geguckt.

Die Gräfin nahm von ihrem Arbeitstisch ein goldenes Zigarettenetui, das sie einst von ihm bekommen, öffnete es und hielt es ihm hin:

– Rauchen Sie, mein Freund, Sie wissen, daß ich das gern habe, wenn wir hier allein sind.

Er gehorchte, und das Clavier erklang. Es war eine Musik aus alter Zeit, leicht und graziös, eines jener Stücke, die den Eindruck machen, als hätte ein milder Mondschein-Frühlingsabend sie dem Komponisten eingegeben.

Olivier fragte:

– Von wem ist denn das?

Die Gräfin antwortete:

– Von Schumann, es ist nicht sehr bekannt, aber reizend.

Die Lust wuchs in ihm, Annchen anzusehen, aber er wagte es nicht. Er brauchte sich nur ein wenig herumzudrehen, um von der Seite die Flammen der beiden Lichter, die die Noten erhellten, zu sehen. Aber er ahnte so sehr den spähenden Blick der Gräfin, daß er unbeweglich sitzen blieb, vor sich hinsah, scheinbar mit den Rauchwolken seiner Cigarette beschäftigt.

Gräfin Guilleroy flüsterte:

– Haben Sie mir nicht etwas zu sagen?

Er lächelte:

– Seien Sie nicht böse, Sie wissen, die Musik hypnotisiert mich, sie verschluckt meine Gedanken. Einen Augenblick noch, dann werde ich sprechen.

– Hören Sie mal – sagte sie – ich hatte für Sie etwas eingeübt, ehe die Mama starb. Sie haben es nie gehört, ich werde es Ihnen nachher vorspielen, wenn die Kleine fertig ist. Sie sollen mal sehen, wie seltsam das klingt.

Sie hatte wirklich Talent und ein feines Gefühl für alles das, was in den Tönen liegt. Das war sogar eine der feinsten Anziehungskräfte, die sie auf den Maler übte.

Sobald Annchen die ländliche Symphonie von Méhul beendigt, stand die Gräfin auf, setzte sich ans Clavier, und unter ihren Händen ertönte eine seltsame Melodie, deren Harmonien wie Klagen erklangen, wechselnde, zahlreiche Klagen immer von einem einzigen Ton unterbrochen, der unausgesetzt wiederkehrte, mitten in den Melodien erklang, sie durchschnitt, zerriß wie ein Schrei, immerfort der gleiche durchdringende Schrei, der gellende Angstschrei einer Verfolgten.

Aber Olivier blickte Annchen an, die sich ihm gegenüber gesetzt, hörte nicht und verstand nicht.

Er sah das Mädchen gedankenlos an und sättigte sich an ihrem Anblick, wie an einem liebgewordenen Gegenstand, den er zu entbehren gezwungen war, trank sich an ihrem Anblick gesund, wie man Wasser trinkt, wenn man Durst hat.

Nun fragte die Gräfin: – Ist das nicht schön?

Er fuhr auf und rief:

– Ja, wundervoll! Von wem ist denn das?

– Wissen Sie es nicht?

– Nein.

– Was, Sie wissen es nicht?

– Nein, wirklich.

– Von Schubert.

Er sagte scheinbar mit tiefster Überzeugung:

– Das wundert mich nicht, es ist prachtvoll! Ach bitte, spielen Sie es doch noch einmal.

Sie begann von neuem. Er wendete den Kopf, betrachtete wieder Annchen, hörte aber zu gleicher Zeit die Melodie, um beides zu genießen.

Als die Gräfin dann wieder sich auf ihren Platz gesetzt hatte, blickte er, einfach aus natürlicher männlicher Schlauheit, das blonde Profil des jungen Mädchens, das der Mutter gegenüber auf der anderen Seite der Lampe stickte, nicht mehr an.

Aber wenn er sie auch nicht mehr sah, so genoß er doch ihre Gegenwart, wie man die Nähe des warmen Ofens fühlt; und die Lust, sie flüchtig anzublicken, um dann wieder zur Gräfin hinzusehen, quälte ihn fortwährend, wie einen Schuljungen, der zum Fenster hinausblickt, sobald der Lehrer nicht hinsieht.

Er ging zeitig fort, denn seine Zunge war ihm eben so gelähmt wie sein Gehirn, und sein unausgesetztes Schweigen konnte wieder auffallen.

Sobald er auf der Straße stand, packte ihn die Lust umherzustreifen, denn immer wenn er Musik gehört hatte, erklang sie noch lange in ihm nach und versenkte ihn in Träume, in denen er die Melodien immer weiter und eindringlicher fortführte. Die Töne kamen wieder, ab und zu, flüchtig, von weitem her, abgerissen, schwach, entfernt wie ein Echo, dann schwiegen sie ganz, als wollten sie es den Gedanken überlassen, den Harmonien einen Sinn unterzulegen und auf die Suche zu gehen nach einem, den süßen Tönen angepaßten Idealbild.

Er ging den Boulevard links herab, da er die feenhafte Beleuchtung des Park Monceau sah, und trat in die Hauptallee, die sich in der Beleuchtung der elektrischen Bogenlampen hinzog. Ein Gartenwächter ging langsam auf und ab, ab und zu kam eine verspätete Droschke vorüber, auf einer Bank saß ein Mann und las, von dem hellblauen Licht überflutet, zu Füßen des Broncemastes, der die Bogenlampe trug, seine Zeitung. Andere Laternen erhoben sich mitten zwischen den Bäumen auf dem Rasen und warfen ihr mächtiges Licht auf die grünen Flächen, belebten mit bleichem Schein den großen öffentlichen Garten.

Bertin ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das Trottoir hinab und dachte an seinen Spaziergang mit Annchen in diesem selben Park, als er die Stimme ihrer Mutter zum ersten Mal in ihrer Stimme erkannt.

Er ließ sich auf eine Bank fallen, atmete den frischen Hauch des nassen Rasens ein und fühlte sich ergriffen von der ganzen leidenschaftlichen Erwartung, die in Jünglingsseelen das erste zusammenhangslose Kapitel eines unendlichen Liebesromanes zu bilden pflegt. Früher hatte er solche Abende gekannt, Abende, an denen seine Gedanken umherschweiften, an denen er seine Phantasie sich in eingebildeten Abenteuern verlieren ließ, und es war ihm ganz eigen, Gefühle wieder in sich aufleben zu sehen, die seinem Alter nicht mehr zukamen.

Aber beharrlich, wie der eine Ton in dem Schubertschen Musikstück, packte ihn immerfort der Gedanke an Annchen, die er vor sich sah, wie sie sich beim Licht der Lampe auf die Arbeit beugte, und der seltsame Verdacht der Gräfin. – Ohne daß er es wollte, beschäftigte er sich fortwährend damit, suchte in die Tiefen der Seele einzudringen, wo die menschlichen Gefühle schlummern, ehe sie erwachen. Diese unausgesetzte Beschäftigung erregte ihn, und in seiner Seele erwachten zarte, süße Träume. Er konnte das junge Mädchen aus seinen Sinnen nicht mehr bannen. Er trug ihr Bild in sich, wie er früher, wenn die Gräfin bei ihm gewesen war, das seltsame Gefühl behielt, als sei sie noch da zwischen den Wänden seines Ateliers.

Plötzlich sagte er sich, weil ihn die fortwährende quälende Erinnerung erregte:

– Es ist doch zu dumm, daß Any mir das gesagt hat, jetzt muß ich wirklich fortwährend an die Kleine denken.

Er kehrte jetzt, beunruhigt über sich selbst, heim. Als er sich zu Bett legte, fühlte er, daß er nicht schlafen konnte; ein Fieber lief durch seine Adern, erwachende Träume stiegen in seinem Herzen empor. Er fürchtete die Schlaflosigkeit, jene entnervende Schlaflosigkeit, die durch große Seelenerregung entsteht, und wollte versuchen etwas zu lesen. Wie oft hatte ihm eine kurze Lektüre als Schlafmittel gedient. Er stand auf, ging in die Bibliothek, um irgend ein gut geschriebenes Buch zu suchen, aber seine erregten Gedanken führten ihn wider Willen dazu, irgend etwas zu nehmen, was ihn erregte, und er suchte einen Namen, der seiner Aufregung und Stimmung entsprach. Balzac, den er sonst überaus liebte, sprach heute nicht zu ihm, er fand Hugo schrecklich, wollte von Lamartine, der ihn doch immer noch gerührt, nichts wissen, und griff gierig nach Musset, dem Dichter der Jugend. Er nahm einen Band mit zu Bett, um darin zu blättern.

Sobald er wieder lag, genoß er gierig, wie ein Trinker, diese leichten Verse eines Gottbegnadeten, der, wie ein Vogel, die Morgenröte des Lebens besungen und nur Töne hatte für den frühen Morgen, dem aber die Stimme versagt war für den grellen Tag, diese Verse eines Dichters, der trunken war vom Leben und seine Trunkenheit ausströmen ließ in leidenschaftlichen und naiven Liebesgesängen, ein Echo aller jungen liebeglühenden Herzen.

Bertin hatte noch nie den physischen Reiz dieser Gedichte so empfunden, die die Sinne gefangen nehmen, doch kaum den Verstand. Das Auge auf die glühenden Verse gerichtet, fühlte er sich wieder zwanzig Jahre alt, voller Hoffnung, und las in jugendlicher Begeisterung beinah den ganzen Band durch. Als es drei Uhr schlug, war er ganz erstaunt, noch nicht müde zu sein. Er stand auf, um das offene Fenster zu schließen und das Buch auf den Tisch mitten im Zimmer zu legen. Aber als ihn die frische Nachtluft traf, fühlte er längs der Schenkel einen Schmerz, sein altes Leiden, für das er immer in den Bädern von Nix Heilung gefunden – wie ein Ruf, ein deutlicher Wink. Und er warf den Dichter ungeduldig fort und flüsterte: »Alter Esel!« Dann legte er sich zu Bett und löschte sein Licht.

Am nächsten Tag ging er nicht zur Gräfin und nahm sich sogar energisch vor, sie zwei Tage nicht wieder zu besuchen. Aber was er auch anfing, wie er auch sich bemühte zu malen, wenn er spazieren ging oder von einem Haus zum andern seine Schwermut schleppte, überall quälte ihn unausgesetzt das Bild der beiden Frauen.

Da er es sich selbst verboten, sie zu sehen, erleichterte es ihn, wenn er an sie dachte, und nun ließ er seine Gedanken schweifen, sein Herz sich sättigen in der Erinnerung an sie. Nun geschah es ihm häufig, daß in den Phantasiegebilden, die seine Einsamkeit erschuf, die beiden Gesichter sich näherten, verschieden, wie er sie kannte, aneinander vorüberglitten, sich mischten, sich einten, nur noch ein Antlitz in etwas unbestimmten Zügen wurden, nicht das der Mutter und nicht ganz das der Tochter, aber das einer Frau, die er bis zum Wahnsinn liebte einst, jetzt, immer.

Dann bekam er Gewissensbisse, sich so in diesen Gefühlen gehen zu lassen, deren gefährliche Macht er fühlte. Und um ihnen zu entgehen, sie von sich zu weisen, den süßen fesselnden Rausch abzuschütteln, richtete er seinen Geist auf alle möglichen Gedanken. Alles vergeblich. Alle Versuche, sich zu zerstreuen, führten ihn wieder auf denselben Punkt zurück, wo er ein junges blondes Antlitz vor sich sah, das sich dort versteckt zu haben schien, ihn zu erwarten. Es war eine unbestimmte, unvermeidbare Erscheinung, die auf ihn zu schwebte, um ihn herum wirbelte, ihn packte, wie sehr er sich auch mühte, ihr zu entfliehen.

Sobald er aufhörte, nachzudenken und zu überlegen, und an sie dachte, um sich klar zu machen, welche seltsame Leidenschaft in ihm kochte, begannen wieder die beiden Wesen ineinander überzugehen, was ihn am Abend im Park von Roncières so erregt. Er fragte sich: »Empfinde ich für Annchen mehr als ich darf?« Er prüfte sein Herz, – er fand, daß er in Flammen stand für eine ganz junge Frau, die alles von Annchen hatte, aber doch nicht sie war, und feig beruhigte er sich mit dem Gedanken: »Nein, ich liebe die Kleine nicht, ich bin nur ein Opfer der Ähnlichkeit.«

Aber die beiden Tage, die er in Roncières verlebt, blieben in seiner Seele haften als eine Quelle von Wärme, von Glück und Trunkenheit. Die kleinsten Kleinigkeiten kamen ihm nacheinander wieder zu Sinn. Deutlicher greifbar, köstlicher als damals, wie sie geschehen. Plötzlich, als er seinen Erinnerungen folgte, sah er wieder den Weg vor sich, den sie gingen, als sie vom Kirchhof kamen, als das junge Mädchen Blumen pflückte, und plötzlich fiel ihm ein, daß er ihr doch eine Kornblume aus Saphiren versprochen, sobald sie wieder in Paris wären.

Jetzt gab er alle guten Vorsätze auf, kämpfte nicht gegen sich an, nahm den Hut und ging aus, glückselig über die Freude, die er ihr machen würde.

Bei Guilleroys sagte der Diener, als er erschien:

– Frau Gräfin ist ausgegangen, aber die junge Gräfin ist zu Haus.

Er war glücklich.

– Melden Sie ihr doch, ich möchte sie gern sprechen.

Dann schlich er mit leichten Schritten in den Salon, als fürchte er, gehört zu werden.

Annchen erschien einen Augenblick darauf.

– Guten Morgen, teurer Meister, – sagte sie würdevoll.

Er lachte, gab ihr die Hand und setzte sich an ihre Seite:

– Jetzt rat mal, warum ich hier bin!

Sie überlegte ein paar Sekunden:

– Ich weiß nicht.

– Um mit Dir und der Mama zum Juwelier zu gehen, damit Du die Kornblume in Saphiren aussuchen kannst, die ich Dir in Roncières versprochen habe.

Das junge Mädchen strahlte vor Glück:

– Ach, – sagte sie, – und Mama ist fort. Aber sie wird bald wiederkommen. Nicht wahr, Sie warten, bis sie kommt?

– Wenn's nicht zu lange dauert!

– O, das ist aber häßlich, zu lange, mit mir! Sie behandeln mich ja wie ein Kind.

– Nein, – sagte er, – nicht so sehr wie Du glaubst.

Er fühlte das lebhafte Bedürfnis ihr zu gefallen, geistreich, galant zu sein, wie in den lebhaftesten Tagen seiner Jugend, eine jener instinktiven Anwandlungen, in denen man alle Minen der Verführung springen läßt, wie ein Pfau ein Rad schlägt und ein Dichter Verse macht. Redensarten kamen ihm auf die Lippen, schnell und flink, er sprach leicht wie in seinen besten Momenten, und die Kleine, die sein Redefluß hinriß, antwortete mit aller Feinheit und Bosheit, die sich in ihr entwickelten.

Als er eine ihrer Ansichten bekämpfte, sagte er plötzlich:

– Aber das haben Sie mir schon oft gesagt, und ich habe Ihnen geantwortet . . . .

Sie unterbrach ihn laut lachend:

– Sehen Sie, Sie nennen mich nicht mehr Du. Jetzt denken Sie, Sie sprechen mit Mama!

Er errötete, schwieg und stammelte: – Ja, die Mama hat mir das schon tausendmal gesagt.

Seine Beredtsamkeit war zu Ende, er wußte nicht mehr, was er hatte sagen wollen, und er hatte jetzt plötzlich Angst, eine unbegreifliche Angst vor dem jungen Mädchen.

– Da ist Mama, sagte sie.

Sie hatte die Thür des ersten Salons gehen hören, und Olivier war verlegen, als hätte man ihn bei etwas Unrechtem ertappt; er erklärte, wie er sich plötzlich seines Versprechens erinnert und hergekommen sei, um sie beide zum Juwelier mitzunehmen.

– Ich habe ein Coupé hier, – sagte er, – ich setze mich auf den Vordersitz.

Sie fuhren fort und traten ein paar Minuten später bei Montara ein.

Da er sein ganzes Leben im Verkehr mit Frauen zugebracht, sie beobachtet, studiert und gern gehabt, sich immer mit ihnen beschäftigt hatte, da er ihren Geschmack, ihre Art und Weise hatte studieren, sich auf die Toiletten verstehen müssen wie sie, auf alle gesellschaftlichen Fragen, alle verschiedenen Kleinigkeiten ihrer intimen Existenz, so war er allmählich dahin gelangt, manche ihrer Empfindungen zu teilen. Und so empfand er auch, wenn er in einen jener Läden trat, in denen reizender, zarter Schmuck für ihre Schönheit verkauft wurde, ein Vergnügen, beinah so wie sie selbst. Wie sie, interessierte er sich für all die kleinen koketten Nichtse, mit denen sie sich schmücken; Stoffe thaten seinen Augen wohl, Spitzen lockten ihn, sie zu betasten, der unbedeutendste, elegante Krimskrams zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Für die Schaufenster der Juwelierläden empfand er eine Art religiöser Ehrfurcht wie vor dem größten Heiligtum, und der dunkle Ladentisch, auf dem die feinen Finger des Juweliers die Steine mit den wunderbaren Reflexen hin- und herbewegen, flößte ihm eine gewisse Achtung ein.

Sobald die Gräfin und ihre Tochter sich vor diesen wichtigen Tisch gesetzt hatten, auf den beide mit einer natürlichen Bewegung eine Hand legten, sagte er was er zu sehen wünschte, und es wurden ihm ein paar Zeichnungen von Blumen vorgelegt.

Dann brachte man Saphire zur Auswahl, von denen vier gebraucht wurden. Das Wählen dauerte lange; die beiden Damen drehten sie auf dem tuchüberzogenen Tisch hin und her, nahmen sie in die Hand, ließen das Licht durchscheinen und beobachteten sie leidenschaftlich, mit Kennermiene. Nachdem man die gewählten bei Seite gelegt, mußten sie drei Smaragde aussuchen für die Blätter, und dann einen winzigen Brillant, der in der Mitte ruhen sollte wie ein Tautropfen.

Olivier, den die Freude, die er am Schenken empfand, hinriß, sagte zur Gräfin:

– Machen Sie mir das Vergnügen, und suchen Sie zwei Ringe aus.

– Ich?

– Jawohl! Einen für Sie, einen für Annchen. Erlauben Sie, daß ich Ihnen diese als Andenken an die beiden Tage in Roncières gebe.

Sie wollte nicht, er bat, und ein längerer Kampf mit Worten und Gründen folgte, aus dem er nicht ohne Mühe als Sieger hervorging. Ringe wurden gebracht, die schönsten in besonderen Etuis, die anderen, je nach der Art, in großen, viereckigen Kästen vereinigt, wo sie auf dem Sammt in ihrem ganzen Reiz erschienen. Der Maler hatte zwischen den beiden Damen Platz genommen, und, wie sie, griff er aus den schmalen Spalten, die die Ringe trugen, einen nach dem andern heraus. Dann legte er sie vor sich auf den Tuchüberzug des Ladentisches, wo sich bald zwei Haufen bildeten, von denen, die sofort verworfen wurden, und denen, die in Frage kamen.

Ohne daß sie es merkten, verstrich die Zeit bei dieser Auswahl, die süßer war als irgend etwas auf der Welt, zerstreut und Spaß macht wie ein Schauspiel, fast sinnlich erregt und für ein Frauenherz die köstlichste Wonne bedeutet.

Dann verglich man, stritt sich dabei, und die drei Richter einigten sich nach einigem Zögern auf eine kleine, goldene Schlange, die zwischen dem schmalen Rachen und dem gewundenen Schwanz einen schönen Rubin hielt.

Olivier stand strahlend auf:

– Ich überlasse Ihnen meinen Wagen, sagte er, ich habe noch Besorgungen zu machen, ich muß fort.

Aber Annchen bat ihre Mutter, zu Fuß heimzukehren, da es so schön war. Die Gräfin willigte ein, und nachdem sie Bertin gedankt, ging sie mit ihrer Tochter durch die Straßen davon.

Sie schritten eine Zeit lang schweigend und freuten sich über die Geschenke, die sie erhalten. Dann sprachen sie über all die Edelsteine, die sie gesehen und in der Hand gehabt. Es war ihnen davon wie ein Spiegeln und Glitzern, eine heitere Stimmung zurückgeblieben. Sie gingen schnell durch die große Menschenmenge, die sich gegen fünf Uhr an einem Sommerabend auf den Bürgersteigen hin- und herschiebt.

Herren drehten sich um und blickten Annchen nach, indem sie im Vorübergehen ein paar bewundernde Worte fallen ließen. Es war das erste Mal, seitdem sie in Trauer waren, seitdem das Schwarz ihrer Tochter strahlende Schönheit hob, daß die Gräfin mit ihr in Paris ausging, und das Gefühl, daß sie auf der Straße Sensation erregte, die Aufmerksamkeit der Herren auf sich zog, daß über sie geflüstert wurde, jene ganze schmeichelhafte Erregung, die eine hübsche Frau, wenn sie durch eine Menge Herren geht, verursacht, machte ihr allmählich Beklemmung, flößte ihr peinliche Empfindungen ein, wie neulich abend, als man die Kleine mit ihrem eigenen Bildnis verglich. Ohne es zu wollen, beobachtete sie die Blicke, die man Annchen zuwarf, sie fühlte sie von weitem ihr eigenes Gesicht streifen, ohne daß sie haften blieben, und dann plötzlich auf dem blonden Kopf neben ihr ruhen. Sie erriet und sah in den Augen die plötzliche stumme Huldigung für die aufgeblühte Schönheit, für den ganzen Reiz ihrer Frische und dachte: »So war ich auch, wenn nicht hübscher.« Plötzlich dachte sie an Olivier, und wie in Ronciéres packte sie eine unbezwingbare Lust zu entfliehen.

Sie wollte in dem hellen Licht nicht länger bleiben, in der Menschenmenge, wo sie all diese Männer sah, die sie nicht anblickten. Die Zeit lag weit zurück und doch nah, wo sie einen Vergleich mit ihrer Tochter suchte, ja herausforderte. Wer verglich sie wohl heute noch unter all den Leuten, die da vorübergingen? Ein einziger vielleicht hatte vorhin beim Juwelier daran gedacht, – er. O, welche Qual! Mußte er nicht fortwährend diese Vergleiche anstellen. Er konnte sie ja nicht zusammen sehen, ohne daran zu denken, ohne sich der Zeit zu erinnern, wo sie, so frisch und schön, gewiß geliebt zu werden, zu ihm kam.

– Ich fühle mich nicht wohl, – sagte sie, – wir wollen eine Droschke nehmen, liebes Kind.

Annchen fragte erschrocken:

– Was hast Du denn, Mama?

– Nichts. Du weißt, daß ich seit Großmamas Tode manchmal so etwas habe.

 


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