Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

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IV

Es war, als ob sämtliche Wagen von Paris an diesem Tag eine Pilgerfahrt zum Industriepalast unternommen hätten. Von neun Uhr morgens ab kamen sie aus allen Straßen durch die Avenuen und über die Brücken zu der Kunsthalle, wohin alles, was in Paris Künstler hieß, die Pariser Gesellschaft einlud zur Eröffnung der Ausstellung von dreitausendvierhundert Bildern.

Eine ungeheure Menschenmenge drängte sich an den Thüren und ging ohne auf die Skulpturen zu achten gleich hinauf in die Säle, wo die Bilder hingen. Während man die Stufen hinaufging, blickte man schon nach den Bildern, die an den Wänden des Treppenhauses hingen, wo jene Bilder hinkommen, die entweder ein ungewöhnlich großes Format haben, oder Werke, die man nicht gewagt hat, abzulehnen. In den viereckigen Salons wogte eine lärmende, auf- und niederflutende Menge hin und her. Die Maler, die bis zum Abend die Honneurs machten, erkannte man an ihrer Geschäftigkeit, am lauten Klang ihrer Stimme, an der Sicherheit ihres Auftretens. Sie zogen hier und da ein paar Freunde am Ärmel zu Bildern, auf die sie mit der Hand und mit Ausrufen und energischer Gebärdensprache als Kenner aufmerksam machten. Alle möglichen Künstler waren da. Große, mit langem Haar, mit mächtigen grauen oder schwarzen Hüten von nicht zu beschreibender Form, breit und rund wie Dächer mit mächtigen Krempen; andere wieder klein, beweglich, schlank oder untersetzt mit wehender Kravatte in ganz eigentümlichen Künstleranzügen.

Hier waren eine Anzahl eleganter Herren, die Boulevard-Künstler nach der neuesten Mode gekleidet, dann eine andere Clique, die Akademiker, sehr korrekt, das Band der Ehrenlegion im Knopfloch, riesengroß oder winzig klein, je nachdem sie das für chik und vornehm hielten. Dann die Clique der spießbürgerlichen Maler, von ihrer ganzen Familie begleitet, die den Vater wie ein Triumphchor umgab.

Auf den vier riesigen, stoffbespannten Wänden des Ehrensaales gleich am Eingang glänzten die Bilder durch ihre Farben und das Leuchten ihrer Rahmen, durch die Frische der Farbe und des Firnis, der förmlich blendete beim grellen von oben einfallenden Licht.

Gegenüber der Thür hing das Bild des Präsidenten der Republik, während auf einer anderen Wand ein General in goldstrotzender Uniform mit Federhut in roter Hose hing neben ein paar nackten Nymphen unter Weiden und einem in Seenot befindlichen Schiff, das beinah von einer Woge verschlungen wurde. Dann fesselten ein Bischof aus früherer Zeit, der einen Barbarenkönig exkommuniziert, eine orientalische Straße voll Toter, Opfer der Pest, und der Schatten Dantes in der Hölle den Blick und nahmen ihn unwiderstehlich gefangen.

In dem Riesenraum erblickte man noch eine Kavallerieattaque, eine Schützenkette im Walde, Kühe auf der Weide, zwei große Herren aus dem vergangenen Jahrhundert, die sich an einer Straßenecke duellierten, eine Verrückte auf einem Prellstein sitzend, einen Priester, einem Sterbenden die letzte Ölung reichend, Erntearbeiter, Flußstimmungen, einen Sonnenuntergang, ein Mondscheinbild, genug, Proben von allem, was gemalt wird, von allem, was die Maler malen und malen werden bis zum letzten Tage der Welt.

Olivier befand sich unter einer Anzahl berühmter Kollegen, Mitglieder der Akademie und der Jury, und tauschte mit ihnen seine Ansichten aus. Er fühlte sich unbehaglich, er empfand eine gewisse Unruhe über das Bild, das er ausgestellt, das, wie er meinte, trotz der Glückwünsche von allen Seiten, keinen rechten Erfolg hatte.

Die Herzogin Mortemain erschien am Eingang, und er ging ihr entgegen.

Sie fragte:

– Ist die Gräfin gekommen?

– Ich habe sie nicht gesehen.

– Und Herr von Musadieu?

– Auch nicht.

– Er hatte mir versprochen, um zehn Uhr an der Treppe zu sein, um mich durch die Ausstellung zu führen.

– Darf ich das vielleicht statt seiner übernehmen, Durchlaucht?

– Nein, nein, Ihre Freunde brauchen Sie. Wir sehen Sie nachher wieder, denn ich denke, wir frühstücken doch zusammen.

Musadieu kam gestürzt. Er war im Skulpturensaal ein paar Minuten zurückgehalten worden, entschuldigte sich, außer Atem, und sprach:

– Hierhin, Durchlaucht, hierhin, wir wollen rechts anfangen.

Sie verschwanden in der Menge, als Gräfin Guilleroy, ihre Tochter am Arm führend, eintrat und Olivier Bertin mit den Blicken suchte.

Er sah sie, ging ihnen entgegen und grüßte:

– Nein, wie Sie hübsch sind. Annchen wird wirklich immer hübscher, in acht Tagen hat sie sich schon verändert.

Mit forschendem Auge blickte er sie an und fügte hinzu:

– Die Linien sind weicher geworden, gehen mehr ineinander, der Teint ist leuchtender. Sie ist schon viel weniger Backfisch und mehr Pariserin.

Aber plötzlich kehrte er zum großen Ereignis des Tages zurück.

– Wir wollen rechts anfangen und der Herzogin folgen.

Die Gräfin, die, was Malerei betraf, auf dem Laufenden und erregt war, als hätte sie selbst ausgestellt, fragte:

– Nun, was sagt man?

– Schöne Ausstellung, der Bonnat ist wirklich bemerkenswert. Dann zwei ausgezeichnete Carolus Duran, ein wundervoller Puvis de Chavannes, ein erstaunlicher Roll, etwas ganz Neues. Dann ein prächtiger Gervex und viele andere Sachen von Beraud, Cazin, Duez, kurz eine Menge ausgezeichneter Sachen.

– Und Sie, fragte sie.

– Man sagt mir allerhand Liebenswürdigkeiten, aber zufrieden bin ich nicht.

– Sie sind nie zufrieden.

– Doch, manchmal schon. Aber heute habe ich, glaube ich, wirklich recht.

– Warum denn?

– Ich weiß es nicht.

– Kommen Sie, wir wollen es mal ansehen.

Als sie vor das Bild traten – zwei kleine Bauernmädchen, die in einem Bache badeten – bewunderten es ein paar Menschen, die davor standen. Sie war glückselig und sagte leise:

– Aber das ist wundervoll, – ein Kleinod. Etwas Besseres haben Sie nie gemacht!

Er lehnte sich zärtlich an sie, dankbar für jedes Wort, das ein Leiden beruhigte, eine Wunde schloß. Und allerlei Überlegungen kamen schnell, ihn zu überzeugen, daß sie mit ihren klugen Pariser Augen recht geurteilt. Er vergaß, um sich zu beruhigen, daß er ihr doch seit zwölf Jahren gerade vorwarf, daß sie nichtssagende Dinge, die elegant hingeworfen, ausgedrückte Gefühle, gleichgültige Modethorheiten bewunderte und nie die Kunst, die Kunst allein, die Kunst, losgelöst vom Gedanken, von der Tendenz, von Conventionen und Vorurteilen.

Sie gingen weiter, und er führte sie lange von Saal zu Saal, zeigte ihnen die Bilder, erklärte den Vorwurf, glücklich mit ihnen, glücklich durch sie.

Plötzlich fragte die Gräfin:

– Wie viel Uhr ist es?

– Halb eins.

– O, da wollen wir schnell frühstücken gehen. Die Herzogin erwartet uns bei Ledoyen, wohin ich Sie mitbringen soll, falls wir uns nicht schon in den Sälen getroffen hätten.

Das Restaurant, das in einem Meer von Bäumen und Sträuchern lag, war wie ein überfülltes, bewegtes Bienenhaus. Ein unbestimmtes Summen von Stimmen, Rufe, Gläser- und Tellerklirren klang aus allen Fenstern und allen weitgeöffneten Thüren. Die eng stehenden Tische, um die herum die Leute beim Frühstück saßen, standen in langen Reihen bis in die benachbarten Wege hinein, rechts und links vom schmalen Durchgang, in dem die Kellner geschäftigt liefen, auf dem erhobenen Arm Schüsseln mit Fleisch, Fisch oder Früchten.

Unter der im Bogen sich herumziehenden Galerie wimmelte es von Menschen. Alles lachte, rief; man trank und aß, die Leute waren lustig durch den Wein und von jener fröhlichen Laune, die manchmal an gewissen Tagen mit der Sonne auf Paris niederzustrahlen scheint.

Ein Kellner führte die Gräfin, Annchen und Bertin in das reservierte Zimmer, wo die Herzogin sie erwartete.

Als der Maler eintrat, bemerkte er den Marquis Farandal neben seiner Tante stehend, wie er eifrig und lächelnd die Arme ausstreckte, um Schirme und Mäntel der Gräfin und ihrer Tochter in Empfang zu nehmen. Das verursachte ihm ein so unangenehmes Gefühl, daß ihn plötzlich die Lust überkam, ihm ein paar Grobheiten an den Kopf zu werfen.

Die Herzogin erklärte, wie sie ihren Neffen gefunden, und daß Musadieu vom Minister der schönen Künste ihr entführt worden; Bertin wurde nervös und empörte sich bei dem Gedanken, daß dieser Fatzke von Marquis etwa Absichten auf Annchen haben könnte, ihretwegen hergekommen sei und sie nun schon als Opfer betrachtete. Das erregte ihn, als ob ein anderer in seine Rechte, seine geheiligten Rechte, eingegriffen.

Sobald man am Tisch saß, bekümmerte sich der Marquis, der neben das junge Mädchen gesetzt worden, mit jener gewissen Zuvorkommenheit um sie, wie einer, der ausersehen ist, ihr den Hof zu machen.

Er hatte neugierige Blicke für sie, die dem Maler frech schienen, ein beinah zufriedenes, zärtliches Lächeln, eine offizielle Galanterie. Aus seinen ganzen Manieren, seinen Worten klang etwas Sicheres, Bestimmtes, als wolle er ankündigen, daß er sie bald besitzen würde.

Die Herzogin und die Gräfin schienen dieses Werben zu billigen und tauschten verständnisinnige Blicke miteinander.

Sobald das Frühstück beendet war, kehrten sie in die Ausstellung zurück. In den Sälen war ein solches Gedränge, daß es fast unmöglich schien durchzukommen. Eine gewisse Wärme, ein fader Geruch nach alten Röcken und Kleidern verursachte eine schwere, fürchterliche Atmosphäre. Man blickte nicht mehr die Bilder an, sondern die Gesichter und Toiletten und suchte Bekannte.

Nach fünf Minuten waren die Gräfin und Olivier von den andern getrennt. Sie wollten sie suchen, aber sie sagte, indem sie sich auf seinen Arm lehnte:

– Ist es nicht viel besser so? Lassen wir sie doch, wir haben ja verabredet, uns um vier Uhr, falls wir uns verlieren sollten, am Büffet wieder zu finden.

– Das ist wahr, sagte er.

Aber der Gedanke, daß der Marquis Annchen begleitete und sie mit seiner lächerlichen Courmacherei überschüttete, nahm ihn ganz in Anspruch.

Die Gräfin flüsterte ihm zu:

– Lieben Sie mich noch immer?

Er antwortete zerstreut und mit anderen Dingen beschäftigt:

– Ja, gewiß.

Und er suchte über die Köpfe hinweg den grauen Hut des Marquis Farandal zu erkennen.

Sie fühlte, daß er zerstreut war und wollte gern seine Gedanken zu sich zurück führen. Darum sagte sie:

– Sie wissen gar nicht, wie wundervoll ich Ihr Bild hier finde. Es ist wirklich Ihr Meisterwerk.

Er lächelte, vergaß plötzlich die jungen Leute, und dachte nur noch an den Zweifel von heute morgen.

– Wirklich, finden Sie?

– Ja, ich ziehe es allen vor.

– Es hat mir viel Sorge gemacht!

Mit schmeichelnden Worten zog sie ihn wieder an sich, da sie seit langer Zeit wohl wußte, daß nichts auf einen Künstler stärker wirkt, als unausgesetzte starke Schmeichelei. Nun wieder ganz gefangen und aufgeheitert durch die süßen Worte, fing er an zu schwatzen, sah nur noch sie und hörte nur noch auf sie in all dem hin- und herflutenden Treiben.

Um ihr zu danken, flüsterte er ihr ins Ohr:

– Ich habe wahnsinnige Lust, Sie zu küssen.

Ein warmer Strom durchfloß sie, sie erhob ihre lächelnden Augen und wiederholte noch einmal ihre Frage:

– Also lieben Sie mich noch immer?

Und er antwortete mit dem Ton, den sie zu hören wünschte und den sie doch vorhin nicht vernommen:

– Ja, ich liebe Sie, meine geliebte Ann.

– Kommen Sie nur oft abends, sagte sie, jetzt, wo meine Tochter da ist, werde ich nicht viel ausgehen.

Seitdem sie bei ihm das jähe Wiederaufflammen der Leidenschaft fühlte, war sie glückselig. Jetzt wo Oliviers Haar ganz weiß geworden und die Jahre ihn beruhigt, fürchtete sie weniger, er möchte sich durch eine andere Frau in Banden schlagen lassen, aber sie hatte eine entsetzliche Angst davor, er könnte sich etwa aus Verzweiflung über seine Einsamkeit verheiraten. Diese Befürchtung, die sie schon früher gehabt, wuchs unausgesetzt, und sie schmiedete allerlei unmögliche Pläne, um ihn näher bei sich zu haben, so nah als möglich, damit er nicht die langen Abende in der kalten Einsamkeit seines leeren Hauses verbrächte. Da sie ihn nicht immer bei sich sehen und fesseln konnte, dachte sie sich allerlei Zerstreuungen für ihn aus, schickte ihn ins Theater, in Gesellschaften, da es ihr noch lieber war, ihn in einem Damenkreis zu wissen, als still und traurig zu Haus.

Sie sagte aus ihren geheimen Gedanken heraus:

– Ach, wenn ich Sie immer bei mir haben könnte! Ich würde Sie so verziehen; Sie müssen mir versprechen, sehr oft zu kommen, denn ich werde kaum noch ausgehen.

– Das verspreche ich gern.

Ganz nah an ihrem Ohr flüsterte eine Stimme:

– Mama.

Die Gräfin fuhr zusammen und drehte sich um. Annchen, die Herzogin und der Marquis waren ihnen gefolgt.

– Es ist vier Uhr, sagte die Herzogin, ich bin sehr müde und möchte fort.

Die Gräfin antwortete: – Ich gehe auch, ich kann nicht mehr.

Sie gingen zur Innentreppe, die von der Galerie, wo die Handzeichnungen und Aquarelle hängen, in den riesigen Kuppelsaal mit den Skulpturen hinabführt.

Von der Plattform dieser Treppe übersah man von einem Ende zum anderen die Riesenhalle, wo die Bildsäulen längs der Gänge standen, zwischen grünem Buschwerk, und den schwarz dahinfließenden Menschenstrom, der die Wege füllte. Die Marmorstatuen zeichneten sich von dem dunklen Grund von Hüten und Schultern ab, als ob sie Löcher hineingrüben und schienen zu leuchten, so weiß waren sie.

Als Bertin am Ausgang von den Damen Abschied nahm, fragte ihn die Gräfin leise:

– Also kommen Sie heute abend?

– Jawohl.

Und er kehrte in die Ausstellung zurück, um mit den Künstlern von den Eindrücken des Tages zu sprechen.

Die Maler und Bildhauer standen gruppenweise um die Bildsäulen vor dem Büffet, und da wurde wie alljährlich disputiert, indem man dieselben Ideen verteidigte oder angriff, jährlich mit denselben Beweisgründen über ziemlich dieselben Werke urteilte. Olivier, der gewöhnlich bei diesem Streit warm wurde, da er, geistesgegenwärtig, scharfe Antworten und Angriffe fand und im Rufe eines geistreichen Theoretikers stand, worauf er stolz war, wurde lebhaft, um mit dem Herzen teilzunehmen. Aber eigentlich interessierten ihn die Antworten, die er gab, nicht mehr, als was er hörte, und die Lust kam ihn an, fortzugehen und nicht mehr zuzuhören, nichts mehr zu verstehen, denn er wußte schon im Voraus, was man über all die alten Kunstfragen sagen würde, die er von Grund aus kannte.

Und doch liebte er das, hatte bis dahin beinah nichts Anderes geliebt, aber heute war er zerstreut. Eine jener kleinen Betrachtungen und Überlegungen, die uns eigentlich kaum zu berühren scheinen, und die trotz allem, was man auch sagt und thut, in unserm Gehirn hängen bleiben, wie eine unsichtbare Nadel, die im Fleisch steckt, quälte ihn die ganze Zeit.

Er hatte sogar seine Unruhe über sein Bild ganz vergessen und dachte immer nur an das Benehmen des Marquis, Annchen gegenüber, das ihm nicht gefiel. Aber was gings ihn eigentlich an. Besaß er irgend ein Recht? Warum hätte er dieser sehr passenden, im Voraus beschlossenen Heirat Hindernisse in den Weg legen sollen? Doch keine vernünftige Überlegung konnte ihn über das unangenehme Gefühl und die Unzufriedenheit hinwegbringen, die ihn gepackt, als er Farandal wie einen Bräutigam schwatzen und lächeln und das Antlitz des jungen Mädchens verliebt betrachten sah.

Als er am Abend zur Gräfin kam und sie allein mit ihrer Tochter fand, indem sie noch immer beim hellen Lampenschein ihre Armenarbeiten strickten, mußte er sich zusammen nehmen, um nicht über den Marquis ein paar boshafte Bemerkungen zu machen und Annchen dessen ganze nur durch einigen Chik übertünchte Albernheit klar zu machen.

Seit langer Zeit schon saß er bei solchen Abendbesuchen ein wenig schläfrig und teilnahmlos da, wie ein alter Freund, der sich nicht mehr weiter geniert. Er lag in seinem Stuhl mit gekreuzten Beinen, den Kopf hinten über gelegt, träumte, während er sprach, und ruhte so Leib und Geist in dieser Stille aus. Und nun war er plötzlich wieder aufgekratzt und lebendig wie ein Mann, der sich Mühe giebt, zu gefallen, der sich darum kümmert, was die Leute wohl sagen werden und der in Gegenwart von anderen geistreich zu sein sucht.

Er ließ nicht das Gespräch nur so hingehen, sondern er unterhielt es und belebte es mit seiner Energie, und wenn er die Gräfin und ihre Tochter zum Lachen gebracht hatte, oder wenn er fühlte, daß sie bewegt waren oder ihn erstaunt anblickten, oder wenn sie die Arbeit sinken ließen, um zuzuhören, lief ihm jedesmal ein kleiner Triumphschauer, ein angenehmes Gefühl über den Leib, das ihn für seinen Aufwand an Geist belohnte.

Jetzt kam er immer wieder, wenn er wußte, daß sie allein waren, und er hatte vielleicht noch nie so schöne Abende verbracht.

Gräfin Guilleroy fühlte sich durch seine Beharrlichkeit in ihren unausgesetzten Befürchtungen beruhigt. Sie gab sich alle mögliche Mühe, um ihn zu fesseln und an sich zu ziehen. Sie sagte Diners, Bälle, Vorstellungen ab, um die Freude zu haben, wenn sie um drei Uhr ausging das Stadttelegramm abschicken zu können: »Heute abend«. – In der ersten Zeit schickte sie ihre Tochter, weil sie schneller mit ihm, wie es sein Wunsch war, allein sein wollte, zu Bett, sobald es zehn Uhr schlug. Als sie dann eines Tages sah, daß er darüber erstaunt war und lächelnd bat, Annchen nicht mehr als kleines, unartiges Kind zu behandeln, gab sie eine Viertelstunde zu, dann eine halbe, endlich eine ganze. Übrigens blieb er nicht mehr lange da, wenn das junge Mädchen fortgegangen war, als ob die Hälfte des Zaubers, der ihn hier hielt, verschwunden sei, wenn sie gegangen. Er rückte dann den kleinen niedrigen Sessel, in dem er immer saß, ganz nahe an die Gräfin heran, setzte sich dicht neben sie und lehnte schmeichelnd manchmal seine Wange an ihr Knie. Sie gab ihm eine ihrer Hände, die er in den seinen hielt dann ließ seine geistige Anspannung plötzlich nach, er hörte auf zu sprechen und schien in süßem Schweigen sich von der Mühe auszuruhen, die er sich gegeben.

Allmählich sah sie mit ihrem feinen weiblichen Instinkt ein, daß Annchen ihn beinah ebenso anzog, wie sie selbst. Sie war nicht böse darüber, sondern glücklich, daß er bei ihnen beiden etwas von dem Familienleben fand, dessen sie ihn beraubt. Und sie nahm ihn nun ganz für sie beide in Beschlag, that wie eine Mutter, damit er meinte, beinah der Vater des jungen Mädchens zu sein, und damit eine neue Art von Zärtlichkeit noch zu all dem hinzuträte, was ihn an dieses Haus fesselte.

Ihre Koketterie, die immer wach gewesen, aber argwöhnisch geworden, seitdem sie von allen Seiten wie eine unendliche Menge Stiche, sie wuße nicht woher, das Alter nahen fühlte, wurde nun plötzlich auffälliger. Um ebenso schlank wie Annchen zu werden, trank sie immer noch nichts, und da sie wirklich magerer wurde, so bekam sie wieder etwas von ihrer einstigen Mädchenfigur und zwar dermaßen, daß man sie und ihre Tochter von hinten kaum unterschied. Aber an ihrem einfallenden Gesicht rächte sich die Kur; die Haut, deren Spannung nachließ, bekam Falten und einen Stich ins Gelbliche, so daß sie von dem wundervoll jugendlichen Teint des jungen Mädchens um so mehr abstach. Da fing sie an, sich zu schminken wie eine Schauspielerin. Und obgleich sie so bei Tage etwas verdächtig weiß aussah, erreichte sie dadurch bei Lampenlicht jenen reizenden wunderbaren Schmelz, den der Teint gutgeschminkter Frauen zu bekommen pflegt.

Da sie aber merkte, daß ihr Äußeres verfiel und weil sie künstliche Mittel anwendete, änderte sie ihre Gewohnheiten. Sie vermied so viel als möglich einen Vergleich bei Sonnenlicht und suchte die Lampenbeleuchtung auf, die für sie vorteilhafter war. Wenn sie sich müde fühlte, bleich, älter als sonst, kamen ihr Migräneanfälle gelegen, so daß sie diesen oder jenen Ball oder das Theater nicht besuchen konnte. Aber die Tage, wo sie sich ganz frisch fühlte, war sie strahlend und spielte neben ihrer Tochter mit würdevoller mütterlicher Bescheidenheit die ältere Schwester. Um immer ähnliche Kleider wie ihre Tochter tragen zu können, zog sie die Tochter mehr wie eine junge Frau an, was eigentlich zu alt und ernst für jene war, und Annchen, die immer lustiger, heiterer wurde, trug ihre Toiletten mit quecksilberiger Lebhaftigkeit, so daß sie dadurch noch hübscher wurde. Mit Vergnügen machte sie all die koketten Manöver der Mutter mit, führte instinktiv mit ihr kleine, nette Scenen auf, wußte sie bei passender Gelegenheit zu umarmen, zärtlich den Arm um sie zu schlingen, durch irgend eine Bewegung, eine Liebkosung, eine geschickte Erfindung zu zeigen, wie sie beide hübsch waren und sich ähnlich sahen.

Olivier Bertin, der sie immer zusammen sah und sie immer verglich, kam dahin, sie ab und zu beinah zu verwechseln. Manchmal, wenn das junge Mädchen mit ihm sprach und er wo anders hingesehen hatte, mußte er sich fragen: »Welche von beiden hat denn eben gesprochen.« Manchmal unterhielt er sich sogar damit, wenn sie alle drei in dem Salon im Stil Ludwig XV. saßen, sie zu verwechseln. Dann schloß er die Augen und bat sie, dieselbe Frage eine nach der anderen an ihn zu richten, dann die Reihenfolge zu tauschen, damit er sie an der Stimme erkenne. Mit solcher Geschicklichkeit versuchten sie, im selben Tonfall zu sprechen, dieselben Sätze mit derselben Betonung zu sagen, daß er es oft nicht erriet, und sie waren thatsächlich dahingekommen, so ähnlich zu sprechen, daß die Dienstboten dem jungen Mädchen: »Jawohl, Frau Gräfin!« und der Mutter: »Jawohl, Komtesse!« antworteten.

Durch dieses unausgesetzte im Scherz einander Nachahmen und alle Bewegungen Kopieren waren sie sich thatsächlich im Wesen und Benehmen so gleich geworden, daß sogar Graf Guilleroy, wenn die eine oder andere sich im dunklen Hintergrund des Salons bewegte, sie immerfort verwechselte und fragte: »Bist Du es Annchen oder die Mama?«

Durch diese natürliche und gewollte, thatsächliche und künstliche Ähnlichkeit hatte sich in Herz und Geist des Malers der seltsame Eindruck gebildet von einem doppelten Wesen, einem früheren und einem neuen, einem, das er genau kannte und doch nicht kannte, der Eindruck zweier Körper, von denen einer nach dem Muster des anderen vom selben Fleisch gebildet, als ob die eine Frau die Fortsetzung der anderen wäre, verjüngt wieder das geworden, was sie einst gewesen. Und er lebte so zwischen ihnen, halb für die eine, halb für die andere, unruhig, verwirrt, indem seine Neigung für die Mutter wieder erwachte und er doch für die Tochter eine dunkle, unbestimmte Zärtlichkeit empfand.

 


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