Guy de Maupassant
Zwei Brüder
Guy de Maupassant

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Viertes Kapitel.

Dieser dem Champagner und der Chartreuse zu verdankende tiefe Schlaf mußte ihn offenbar beruhigt und milde gestimmt haben, denn er befand sich beim Erwachen in einer leidlich wohlwollenden Seelenverfassung. Während des Ankleidens ging er mit allem, was ihn gestern so erregt, streng ins Gericht, prüfte, erwog, überlegte und suchte sich die thatsächlichen und geheimen Ursachen seiner Aufregung, sowohl die äußeren wie die in ihm selbst liegenden, klar und deutlich vor Augen zu stellen.

Es war ja erklärlich, daß ein Schenkmädchen, als sie hörte, daß nur ein Sohn des Hauses Roland von einem Unbekannten zum Erben eingesetzt sei, einen niedrigen, einer Dirne natürlich naheliegenden Gedanken gehabt; ist es denn nicht die Art solcher Geschöpfe, jeden makellosen Ruf ohne den Schatten einer Veranlassung zu verdächtigen? Hört man sie denn nicht, so oft sie den Mund aufthun, alle die in den Schmutz ziehen, verleumden, deren tadellose Reinheit sie empfinden? So oft in ihrer Gegenwart ein unantastbarer Name genannt wird, sind sie gereizt, als ob darin eine persönliche Beleidigung für sie läge, und sofort heißt es: »Aha, deine anständigen Frauen, die kennen wir, eine nette Sippe das! Haben mehr Liebhaber als unsereine, nur verstehen sie sich besser aufs Heucheln. Das kennt man; das sind saubere Damen, die!«

Andeutungen dieser Art über seine arme Mutter, die so gut, so schlicht und so würdig vor ihm stand, hätte er bei andrer Gelegenheit überhaupt nicht verstanden, weil sie ihm ganz unmöglich, ganz undenkbar erschienen wären. Allein im Innersten seines Herzens gärte der Neid und trübte ihm die Seele. Sein überreizter Verstand, der wider sein besseres Wollen immer auf der Lauer lag, um etwas aufzuspüren, was dem Bruder zum Nachteil gereichen konnte, hatte vielleicht dieser Kellnerin mit dem Bierglas in der Hand gehässige Absichten unterschoben, die sie nie gehabt. Dieser grauenvolle Verdacht konnte möglicherweise nur eine Ausgeburt seiner eignen Phantasie sein, dieser Einbildungskraft, die er nicht beherrschte, die jeden Augenblick mit ihm durchging, und kühn, verwegen und abenteuerlustig in das nicht Ende noch Anfang habende Reich der Gedanken hinauszog und deren manchmal so schmähliche und niedrige zurückbrachte, daß sie selbst bestrebt war, ihre Beute wie gestohlenes Gut in dem undurchdringlichsten Winkel der Seele zu bergen. Kein Zweifel, daß sein eignes Herz der Untiefen und Geheimnisse genug barg, und konnte dies Herz nicht jenen abscheulichen Zweifel geboren haben, nur um den Bruder des Erbes zu berauben, das er ihm neidete? Der Verdächtige war er selbst, und kein andrer, und wie ein Frommer vor der Beichte durchforschte er Gedanken und Gewissen.

Und wenn diese Frau Rosémilly auch im ganzen eine beschränkte Natur war, so hatte sie doch weiblichen Takt, weibliches Feingefühl und Spürsinn. Ihr aber war dieser Gedanke nicht gekommen, sonst würde sie nicht mit so voller Unbefangenheit den Manen Marschalls ihr Glas geweiht haben. Wenn auch nur der leise Hauch eines Verdachtes ihre Seele gestreift hätte, würde sie das unterlassen haben. Jetzt hatte er Gewißheit – seine unwillkürliche Verstimmung über den seinem Bruder vom Himmel fallenden Reichtum und auch – das durfte er sich sagen – seine heiße, ehrfürchtige Liebe zur Mutter hatten seine an und für sich ehrenwerten und pietätvollen Bedenken bis zur Übertreibung gereizt.

Nachdem er zu diesem Schluß gelangt, war ihm zu Mut, wie wenn er eine gute That vollbracht; ein Verlangen, sich der ganzen Menschheit freundlich und hilfreich zu zeigen, erfüllte ihn, und er gedachte damit bei seinem Vater den Anfang zu machen, dessen Liebhabereien und thörichte Behauptungen, triviale Anschauungen und allzu deutlich zu Tage tretende Mittelmäßigkeit ihn täglich und stündlich reizten und verstimmten.

Heute kam er nicht zu spät zum Frühstück und ergötzte seine ganze Familie durch Witz und frohe Laune.

»Peterchen, du weißt gar nicht, wie geistreich und amüsant du sein kannst, wenn du nur magst,« sagte die Mutter ganz entzückt.

Und er sprach, kam auf allerlei liebenswürdige Einfälle und erregte durch launige Charakterisierung der Freunde größte Heiterkeit. Beausire diente seinem Witze zur Zielscheibe und auch Frau Rosémilly kam nicht unversehrt davon, doch nahm er sich wohl in acht, irgend etwas wirklich Verletzendes zu äußern. Wenn er dann den Bruder ansah, dachte er im stillen: »So nimm sie doch in Schutz, Gimpel, der du bist! Was hilft dir all dein Geld, ich werde dich doch überall in Schatten stellen, wenn ich nur Lust habe.«

Beim Kaffee fragte er seinen Vater: »Brauchst du die ›Perle‹ heute?«

»Nein, mein Junge.«

»Kann ich sie haben?«

»Ja, natürlich, so lange du willst.«

An der nächsten Straßenecke kaufte er sich eine gute Cigarre und frohen Muts ging er zum Hafen hinunter.

Der Himmel, den er sich prüfend ansah, war hell und klar, sein lichtes Blau wie reingefegt vom Seewind.

Papagris, der alte Matrose, hielt in der Barke, die er, falls nicht morgens gefischt wurde, immer um diese Zeit bereit halten mußte, sein Mittagsschläfchen.

»Wir fahren, Alter!« rief Peter, ging die eisernen Stufen am Quai hinunter und sprang in das Fahrzeug.

»Was für Wind?« fragte er.

»Alleweil Ostwind, Herr Peter. Draußen weht eine nette Brise.«

»Gut, gut, Alterchen! Vorwärts!«

Sie zogen das Focksegel auf, lichteten den Anker, und das freigewordene Schiff glitt leise auf dem ruhigen Wasserspiegel des Hafens dem Molo zu. Der schwache Landwind, der von der Stadt kam, fiel auf den höchsten Teil des Segels und war fast nicht wahrnehmbar, so daß die »Perle«, wie von eignem Leben beseelt, von einer geheimnisvoll in ihr verborgnen Kraft dahingetrieben erschien. Peter hatte das Steuer in die Hand genommen, und die Cigarre zwischen den Zähnen, die Beine lang ausgestreckt, die Augen vor dem blendenden Licht der Sonne halb zugedrückt, sah er blinzelnd die geteerten Balken des Wellenbrechers an sich vorüberziehen.

Als sie die äußerste Spitze des nördlichen Hafendammes erreicht hatten und auf offner See waren, strich die frische Brise wie eine etwas kühle Liebkosung dem Doktor über Gesicht und Hände, drang ihm in die Brust, die sich mit einem tiefen Seufzer aufthat, um sie einzuatmen, und schwellte das braune Segel so stark, daß die ›Perle‹ sich ein wenig neigte und rasch dahintrieb.

Plötzlich hißte der alte Papagris den Klüver auf, dessen windgefülltes Dreieck wie ein Flügel aussah, dann, mit zwei langen Schritten den Stern des Bootes erreichend, machte er das an seinen Mast gebundene Besansegel los.

Darauf legte sich das Boot zur Seite und schoß pfeilschnell dahin, daß das zurückweichende Wasser es plätschernd und klatschend umspülte.

Das Vorderteil durchschnitt die See, wie eine in rasender Eile dahinstürmende Pflugschar, und die aufgerührten Wogen stürzten weiß und schäumend gerade so zurück, wie es die schweren braunen Schollen der durchfurchten Erde thun.

Bei jeder der kurzen, rasch aufeinander folgenden Wellen erlitt die ›Perle‹ vom Mast bis zum Steuer, das in Peters Hand zitterte, einen Stoß, und als der Wind ein paar Sekunden lang an Stärke zunahm, leckte das Wasser so begehrlich, über Bord, als ob es die Barke zu verschlingen gedachte. Ein Kohlenschiff von Liverpool lag, die Flut erwartend, vor Anker, sie segelten um dasselbe herum, besuchten dann der Reihe nach die auf der Reede liegenden Fahrzeuge und fuhren schließlich noch weiter hinaus, um den Anblick der ganzen Küste zu genießen.

Drei volle Stunden vagabundierte Peter ruhig und zufrieden auf den schäumenden Wellen umher und lenkte, wie ein fügsames, flinkes Flügeltier, dies Geschöpf aus Holz und Segeltuch, das, seinem Fingerdruck gehorchend, nach seiner Laune hin und her flog.

Er träumte dabei, wie man nur auf dem Rücken eines Pferdes oder dem Deck eines Bootes träumt, malte sich seine Zukunft schön und befriedigend aus und sagte sich, wie süß ein vernunftgemäßes, geistig beschäftigtes Leben sei. Gleich am andern Morgen, so beschloß er, wollte er seinen Bruder bitten, ihm auf drei Monate fünfzehnhundert Franken zu leihen, und dann wollte er sich auf der Stelle in dem hübschen Zwischengeschoß am Boulevard Franz I. häuslich einrichten.

»Da wäre der Nebel, Herr Peter; jetzt heißt's machen, daß man heim kommt,« sagte der alte Matrose plötzlich.

Der Doktor schlug die Augen auf und gewahrte im Norden einen tiefen, grauen Schatten, der, den Himmel feucht umhüllend und das Meer verdeckend, wie eine herabgefallene Wolke auf sie zugelaufen kam.

Das Boot ward gewendet, und, den Wind im Rücken, glitt es, von dem rasch näher kommenden Nebel verfolgt, dem Damme zu. Ein kalter Schauer fuhr Peter durch die Glieder, als die Wolke sie doch einholte und in ihre graue, dichte, ungreifbare Masse hüllte, und der dem Meernebel eigne scharfbrandige, feuchte Geruch ließ ihn den Mund fest schließen, damit er möglichst wenig von der schweren, nassen, eisigen Luft einatme. Als die Barke an ihrem gewohnten Platze im Hafen anlegte, war schon die ganze Stadt in Dunst gehüllt, und ohne sich eigentlich in Wasser zu verwandeln, durchnäßte der Nebel mehr als jeder Regen und machte Pflaster und Straßen schlüpfrig.

Mit kalten Füßen und frierenden Händen ging Peter eilig nach Haus und warf sich aufs Bett, um vor der Mahlzeit noch ein Stündchen zu schlummern. Als er dann später ins Eßzimmer kam, sagte seine Mutter gerade zu Hans: »Du sollst sehen, die Galerie wird sich reizend machen. Wir stellen Blumen hinein; die Pflege und Ergänzung ist meine Sache. Wenn du dann Gesellschaften gibst, wird es sich feenhaft ausnehmen.«

»Wovon ist denn die Rede?« fragte der Doktor.

»Von einer entzückenden Wohnung, die ich soeben für deinen Bruder gemietet habe. Wirklich ein glücklicher Fund – ein Zwischengeschoß, das nach zwei Straßen geht. Es sind zwei Salons darin, eine Galerie mit Glasverschluß und ein runder, kleiner Speisesaal, für einen Junggesellen fast ein wenig kokett.«

Peter ward blaß; der Zorn kämpfte ihm das Herz zusammen.

»In welcher Lage?« fragte er.

»Am Boulevard Franz I.«

Nun war die Sache über allen Zweifel erhaben, und völlig außer sich, setzte er sich an den Tisch und hätte nur schreien mögen: »Das ist mir aber doch zu toll! Alles, alles scheint nur noch für ihn auf der Welt zu sein.«

»Und denke dir nur,« fuhr die Mutter in ihrer Begeisterung arglos fort, »wir kriegen die ganze Wohnung um zweitausendachthundert Franken. Dreitausend wurden ursprünglich verlangt, aber weil ich einen Mietkontrakt auf je drei, sechs oder neun Jahre einging, wurden zweihundert Franken nachgelassen. Das Haus ist wie gemacht für deinen Bruder. Ein elegantes Bureau und Arbeitszimmer, und das Glück des Advokaten ist fix und fertig. Das zieht den Klienten an, hält ihn fest, blendet ihn, flößt ihm Respekt ein und macht ihm begreiflich, daß ein Mann, der so rechnet, sich die guten Ratschläge teuer bezahlen lassen muß.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Wir müssen nun daran denken, etwas Aehnliches für dich zu finden, Peter; viel einfacher und bescheidener natürlich, da du kein Vermögen hast, aber doch auch recht hübsch. Das wird dir ebenso zu statten kommen, glaube mir.«

»Wie, Mutter? Ich werde durch Wissen und Können allein zum Ziele gelangen,« versetzte der Doktor im wegwerfendsten Tone.

»Jawohl, natürlich, aber eine hübsche Wohnung macht doch viel aus,« sagte die Mutter, auf ihrer Lieblingsidee beharrend.

Im Verlaufe der Mahlzeit fragte Peter plötzlich: »Auf welche Weise habt ihr denn diesen Marschall kennen gelernt?«

Der Vater blickte auf und suchte mit einiger Anstrengung in seinen Erinnerungen.

»Ja, warte mal, wie war das eigentlich – ich weiß nicht mehr genau. Es ist gar lange her. O ja, halt, jetzt hab' ich's! Deine Mutter war's, die seine Bekanntschaft gemacht hat, im Laden, nicht wahr, Luise? Er wollte irgend etwas bestellen und ist dann häufig wiedergekommen. Mit der Kundschaft fing die Freundschaft an.«

Peter, der eben Bohnen aß und in denselben umherstocherte, als ob er sie mit der Gabel einzeln aufspießen wollte, fragte weiter: »Um welche Zeit etwa hat sich denn diese Bekanntschaft gemacht?«

Roland gab sich abermals die Mühe, sein Gedächtnis zu durchforschen, da er aber rein nichts darin vorfand, rief er seine Frau zu Hilfe.

»In welchem Jahre war's denn, Luise, du kannst es ja nicht vergessen haben, du, mit deinem guten Gedächtnis? Laß mal sehen . . . es war . . . im Jahre . . . fünf- oder sechsundfünfzig, nicht? So besinne dich doch . . . du mußt es ja besser wissen als ich.«

Sie dachte in der That eine Weile nach und erwiderte dann, vollkommen ruhig, mit sicherer Stimme: »Im Jahre achtundfünfzig ist's gewesen, Alter. Peter war damals drei Jahre. Ich kann es deshalb mit Sicherheit nachrechnen, weil es in demselben Jahre war, da der Junge das Scharlachfieber hatte und Marschall, den wir noch kaum kannten, uns so hilfreich beisprang.«

»Natürlich, so ist's!« rief Roland. »Ja freilich, freilich! Rührend ist der Mann gewesen! Deine Mutter konnte sich vor Überanstrengung und Sorge nicht mehr auf den Füßen halten, ich war festgenagelt im Laden, da rannte er immer in die Apotheke, um deine Arzneien zu holen. Ein Herz wie Gold, wahrhaftig! Und die Freude, als du wieder gesund warst, wie er dich da küßte! Von der Zeit ab waren wir Freunde, und zwar von Herzen.«

Schonungslos und unaufhaltsam wie eine Kugel, die alles zerfetzt und durchlöchert, drängte sich Peter der Gedanke auf: »Wenn er mich zuerst gekannt, sich für mich geopfert, mich lieb gehabt und geküßt hat, wenn ich also die eigentliche Veranlassung gewesen bin, daß er den Eltern näher getreten, weshalb hat er dann sein ganzes Vermögen meinem Bruder hinterlassen, und mir keinen Heller?«

Er stellte keine Fragen mehr und blieb ernst und finster, mehr geistesabwesend und innerlich beschäftigt als nachdenklich, eine neue, noch gestaltlose Sorge, den Keim kommenden Uebels in sich bergend.

Nach Tisch ging er sofort wieder aus und nahm sein Umherstreifen in den Straßen von neuem auf. Die Nacht war durch den Nebel, welcher Häuser, Plätze und Menschen umfing, undurchsichtig düster, die Luft schwer und widerlich, wie wenn ein verpesteter Hauch über der Erde läge. Ueber den Gasflammen sah man den schwärzlichen Dunst zittern, und zuweilen schien er die Oberhand gewinnen zu wollen und sie zu verlöschen. Das Straßenpflaster war so schlüpfrig wie bei Glatteis, und alles, was sich an schlechten Gerüchen in der Tiefe der Häuser fand, schien sich hervorzuwagen; aus Kellern, Gruben, Kloaken und armseligen Küchen des armen Volkes drangen häßliche Dünste, die sich zu dem abscheulichen Geruch des Nebels gesellten.

Den Rücken gebeugt, die Hände in den Taschen, trat Peter, der die Kälte auf die Länge unerträglich fand, bei Marowsko ein.

Der alte Apotheker schlummerte, wie immer, unter seiner einsamen, tief herabgeschraubten Gasflamme, die das Wachen für ihn besorgen mußte. Als er Peter erkannte, dem er zugethan war wie ein treuer Hund, schüttelte er die Schläfrigkeit ab und holte eilends zwei Gläser und den rubinroten »Johannisgeist«.

»Nun,« fragte der Doktor, »wie weit haben Sie es mit dem Gebräu gebracht?«

Der Pole setzte weitläufig auseinander, daß vier der besuchtesten Cafés in der Stadt den Likör zu führen versprochen hatten, und daß der »Leuchtturm« und der »Küsten-Telegraph« Reklame für denselben machen werden, für welchen Dienst er den Herren Redakteuren pharmazeutische Produkte zur Verfügung gestellt habe.

Nach längerem Schweigen fragte Marowsko, ob Hans denn wirklich in den Besitz seines Vermögens getreten sei, und that dann noch drei oder vier nicht sehr eingehende Fragen über diesen Gegenstand. Seine scheue Verehrung und Hingebung für den Doktor empörte sich gegen die Parteilichkeit, und Peter las in den abgewandten Blicken, ahnte, verstand, hörte aus dem unsichren Ton der Stimme alles, was sich dem alten Manne wohl auf die Lippen drängen mochte, was er aber, vorsichtig, schüchtern und ängstlich wie er war, nicht aussprach und nimmermehr ausgesprochen hätte.

Jetzt zweifelte er nicht mehr, er wußte, daß der Alte im Stillen dachte: »Du hättest deinen Bruder diese Erbschaft, die deine Mutter ins Gerede bringen muß, nicht antreten lassen sollen.« Vielleicht glaubte er auch, daß Hans Marschalls Sohn sei. Vielleicht? Nein, ganz gewiß glaubte er es. Und weshalb denn nicht, da ihm die Sache ja so wahrscheinlich, naheliegend erscheinen mußte? Kämpfte denn er, Peter, der eigne Sohn, nicht mit aller Kraft, mit jeder Fiber seines Herzens gegen diesen abscheulichen Verdacht, that er nicht alles, um seine eigne Vernunft zu hintergehen?

Von neuem ergriff ihn das Bedürfnis, allein zu sein, sich zu sammeln, mit sich selbst auseinanderzusetzen, ohne Schwachheit, ohne Bedenken diese grauenhafte Möglichkeit klar ins Auge zu fassen; mit solcher Gewalt machte sich dies Verlangen geltend, daß er, ohne sein Likörglas auszutrinken, aufstand, dem verblüfften Apotheker die Hand drückte und wieder in den Nebel der Straßen untertauchte.

»Weshalb hat dieser Marschall sein ganzes Vermögen meinem Bruder bestimmt?«

Es war jetzt nicht mehr die Eifersucht, die ihn fragen und forschen ließ, es war nicht mehr jener niedrige und doch in der menschlichen Natur begründete Neid, den er insgeheim empfunden und seit Tagen mannhaft bekämpft hatte, nein – es war die Angst vor einem Entsetzlichen, die Furcht davor, daß er selbst glauben könnte, daß Hans, daß sein Bruder der Sohn jenes Mannes sei!

Nein, er glaubte es nicht; sich die Frage vorzulegen, war ja schon ein Verbrechen! Aber auch dieser leise, so ganz und gar unwahrscheinliche Verdacht mußte bis zur Wurzel, für alle Zeit, ausgerottet werden. Er mußte Gewißheit haben, klar sehen, in seinem Herzen mußte sicheres Vertrauen sein, denn er liebte auf der Welt nichts als seine Mutter.

Allein in der Nacht umherirrend, wollte er in seiner Erinnerung nachforschen, die ganze Schärfe seines Verstandes anwenden, daß die Wahrheit hell und leuchtend zu Tage treten würde, treten müßte. Dann wollte er fertig damit sein, nie mehr im Leben daran denken, zu Bett gehen und schlafen.

Er sammelte sich. »In erster Linie sehen wir uns einmal die Thatsachen an,« sagte er sich. »Ferner gilt es, mir alles, was ich von ihm weiß, zurückzurufen, seine Art und Weise, mit mir und meinem Bruder zu verkehren, dann werde ich den Ursachen und Gründen dieser Parteilichkeit wohl auf die Spur kommen. . . . Er hat es miterlebt, als Hans zur Welt kam? Jawohl, aber mich hat er schon vorher gekannt. Wenn er meine Mutter geliebt hätte, stumm und heimlich, so würde er mich vorgezogen haben, denn mir, meinem Scharlachfieber, dankte er es, daß er in nähere Beziehung zu meinen Eltern getreten. Logischerweise hätte er mich wählen, eine besondre Zuneigung für mich empfinden müssen, und er hätte sie empfunden, wenn nicht beim Heranwachsen meines Bruders eine instinktive Vorliebe, ein naturgemäßes Hingezogensein zu diesem sich entwickelt hätten.«

Mit verzweifelter Schärfe und Genauigkeit, mit Aufbietung all seines Denkvermögens durchstöberte er sein Gedächtnis und suchte sich den Mann, der jahrelang, seinem Herzen völlig fremd, in Paris an ihm vorübergegangen, wieder vor Augen zu führen, sich sein Wesen klar zu machen, ihn zu durchschauen und zu verstehen.

Allein er fühlte, daß die Bewegung des Gehens der intensiven Thätigkeit des Gehirns nicht förderlich war, daß seine Gedanken sich verwirrten, sich nicht festhalten ließen, sein Gedächtnis sich etwas verschleierte und sein Scharfblick beeinträchtigt war.

Sollte er Vergangenheit und Gegenwart, Bekanntes und Unbekanntes mit vollendeter Klarheit überschauen, sollte ihm nichts, auch das Kleinste nicht entgehen, so mußte er ruhig und regungslos in einem weiten, einsamen Raume sein, und er beschloß, sich, wie letzte Nacht, auf den Hafendamm zu setzen.

Als er denselben betrat, vernahm er von der offnen See herüber einen düstern, unheimlichen Klagelaut, ähnlich dem Brüllen eines Stieres, nur länger andauernd und gewaltiger. Es war der Ruf des Nebelhorns, der Hilfeschrei der im Nebel verlorenen Schiffe.

Ein Schauder überlief ihn, sein Herz krampfte sich zusammen, so mächtig hatte dieser Jammerschrei, den er fast selbst ausgestoßen zu haben wähnte, ihm Seele und Nerven durchbebt. Dann ließ eine andre Stimme aus etwas größerer Entfernung den nämlichen Klageton vernehmen, und plötzlich stieß in seiner unmittelbaren Nähe die Sirene des Hafens, antwortend, ein ohrzerreißendes Getöse aus.

Mit großen Schritten eilte Peter den Damm entlang; er dachte nichts mehr, er war nur froh, in dieser heulenden, schauerlichen Finsternis zu verschwinden.

Als er die äußerste Spitze des Molo erreicht hatte, drückte er die Augen zu, um weder die nebelverschleierten elektrischen Lichter, die den Hafen bei Nacht zugänglich machen, noch das rote, kaum zu unterscheidende Feuer des Leuchtturms auf der südlichen Hafeneinfahrt wahrzunehmen. Eine halbe Wendung machend, stützte er die Ellbogen auf die Granitstufen und barg sein Gesicht in den Händen.

Ohne daß die Lippen den Namen ausgesprochen hätten, ertönte es unaufhörlich in ihm: »Marschall! Marschall!« als ob sein Wille den Schatten beschwören und herbeirufen wollte. Und plötzlich stand vor seinen festgeschlossenen Augen der Mann, wie er ihn stets gekannt, deutlich und greifbar. Er war ein Sechziger, mit spitzem, weißem Vollbart und gleichfalls weißen, dichten Augenbrauen. Seine Gestalt war weder groß noch klein zu nennen, sein Ausdruck liebenswürdig, die grauen Augen mild und freundlich, die Bewegungen schlicht und einfach, sein ganzes Aeußere vereint einen weichherzigen, ehrlichen, guten Menschen. Er hatte Peter und Hans allezeit seine lieben Jungen genannt; nie hatte es den Eindruck gemacht, als ob er den einen dem andern vorzöge, und er hatte sie immer miteinander zum Essen eingeladen.

Mit der Zähigkeit eines Spürhundes, der einer halb verwischten Fährte folgt, suchte er sich Worte, Bewegungen, Stimme und Tonfall, Blick und Ausdruck dieses von der Erde abgeschiedenen Mannes vorzustellen, und ganz allmählich, stückweise vor ihm auftauchend, stand die Wohnung in der Rue Tronchet, wo er sie, seinen Bruder und ihn, so oft zu Tisch geladen, wieder vor ihm.

Zwei weibliche, schon in reifen Jahren stehende Dienstboten versahen den Haushalt, und beide hatten sich längst angewöhnt, die jungen Rolands »Herr Peter« und »Herr Hans« zu nennen.

Marschall stand dann da, den jungen Leuten beide Hände hinstreckend, dem einen die linke, dem andern die rechte, wie sich's eben traf.

»Willkommen, Kinder!« pflegte er zu sagen. »Habt ihr Nachricht von zu Hause? Mir zu schreiben, fällt euren Eltern nicht ein!«

Man plauderte vertraulich und angenehm über dies und jenes. Der Mann war in keiner Hinsicht bedeutend, aber eine durch und durch ansprechende, liebenswürdige Natur, voll Güte und Herzenshöflichkeit. Vor allem aber war er ihnen ein treuer Freund, einer von jenen, über die man sich nie Gedanken macht, weil man ihrer viel zu sicher ist.

Jetzt tauchten die Erinnerungen in Scharen auf und flossen ihm von allen Seiten zu. Als Marschall ihn mehrmals etwas beklommen und verdrießlich gesehen und ihn in Studentennöten vermutet haben mußte, hatte er ihm Geld angeboten und ihm aus freiem Antrieb da und dort ein paar hundert Franken geliehen. Beide Teile hatten das Darlehen sofort vergessen, und zurückerstattet war es niemals worden. Der Mann mußte ihn also doch immer noch gern gehabt, Anteil an ihm genommen haben, sonst hätte er sich ja nicht darum bekümmert, was ihm not that. Aber wenn dem so war . . . warum sein ganzes Vermögen Hans zuwenden? Nein, er hatte niemals eine Bevorzugung des jüngeren vor dem älteren an den Tag gelegt, hatte sich nie mit dem einen mehr als mit dem andern beschäftigt, war dem Bruder nie mit mehr Zärtlichkeit, mehr Liebe begegnet als ihm selbst. Dann . . . dann . . . mußte also ein geheimer, aber vollkommen triftiger Grund vorliegen, Hans alles – buchstäblich alles – zu geben und Peter nichts.

Je mehr er darüber nachdachte, je mehr er die ganze Vergangenheit dieser letzten Jahre wieder durchlebte, desto unfaßlicher, unglaublicher schien ihm dieser zwischen den Brüdern gemachte Unterschied.

Und ein stechender Schmerz, eine unsagbare Angst durchdrang seine Brust und durchzitterte sein Herz, als ob es in Fetzen gerissen werden sollte. Es war ihm, als ob die Klappen den Dienst versagten und das Blut ungehemmt in wildem Lauf hindurchströmte und es hilflos erbeben machte.

Halblaut, wie man beim Alpdrücken zu sich selbst spricht, flüsterte er: »Ich muß es wissen. Mein Gott, ich muß es wissen.«

Nun griff er tiefer zurück in die Vergangenheit, in die Zeit, da die Eltern noch in Paris gewohnt hatten. Allein die Gesichter verschwammen ihm undeutlich, und es lag wie Nebel über dem ganzen Bild. Mit eigensinniger Ausdauer suchte er sich zurückzurufen, welche Haarfarbe Marschall vor dem Ergrauen gehabt, ob er blond, braun oder ganz dunkel gewesen? Es gelang ihm nicht; das Greisenbild des Mannes allein hatte sich, alle früheren verwischend, ihm eingeprägt. Nur daß derselbe früher schlanker, schmächtiger gewesen, fiel ihm wieder ein, daß er freigebig gewesen und daß er häufig Blumen gebracht hatte. Daß dies sehr oft geschehen sein mußte, war klar, denn er erinnerte sich ganz deutlich, seinen Vater sagen zu hören: »Blumen und immer Blumen! Aber mein Bester, das ist ja Unsinn; Sie werden sich mit Rosen zu Grunde richten!«

Marschall aber hatte dann erwidert: »Ach, lassen Sie mir doch die Freude.«

Und plötzlich hörte er ganz genau den Tonfall, mit dem seine Mutter lächelnd gesagt hatte: »Danke, mein Freund!« Merkwürdig, er glaubte wirklich ihre Stimme zu vernehmen! Wie oft mußte sie diese drei Worte gesprochen haben, daß sie sich dem Gedächtnis ihres Sohnes so unauslöschlich eingegraben!

Dieser Marschall, der reiche, gebildete Mann, der Käufer und Kunde, hatte also dieser kleinen Ladenfrau, der Gattin eines bescheidenen Goldarbeiters, Blumen gebracht. Hatte er sie geliebt? Wie wäre er denn der Hausfreund dieses Geschäftsmannes geworden, wenn er die Frau nicht geliebt hätte? Er war ein unterrichteter Mann, ein feiner, vielseitiger Geist. Wie oft hatte er nicht mit Peter über Litteratur und Poesie gesprochen! Dabei hatte er freilich nicht den Standpunkt des kritischen Beurteilers, sondern den der mitempfindenden, mitlebenden Seele eingenommen, und Peter hatte oft über seine Rührsamkeit, die ihm äußerst kindisch vorgekommen war, gelächelt. Heute ward es ihm klar, daß dieser feinfühlende, zur Sentimentalität neigende Mann nie und nimmermehr der Freund seines so durchaus realistischen, am Boden klebenden, schwerfälligen Vaters, für den Poesie gleichbedeutend mit Unsinn war, hatte sein können.

Also war dieser Marschall als junger, reicher, unabhängiger Mann mit liebebegehrendem Herzen eines Tages in den Laden getreten, entweder rein zufällig, oder weil er eine hübsche Verkäuferin in demselben bemerkt, und hatte gekauft, war wieder gekommen, hatte geplaudert, und zwar von Tag zu Tag vertraulicher, und sich durch zahlreiche bedeutende Einkäufe das Recht errungen, sich häuslich niederzulassen, die junge Frau anzulächeln und dem Gatten die Hand zu drücken.

Und dann . . . dann . . . o mein Gott . . . was dann?

Bis zum Erscheinen des zweiten Kindes hatte er den Erstgeborenen, den Sohn des Juweliers, verhätschelt und geliebkost; bis zu seinem Tod war alles undurchdringlich geblieben, dann aber, als das Grab sich über ihm geschlossen, sein Leib der Verwesung preisgegeben, sein Name aus der Liste der Lebenden gestrichen, sein ganzes Dasein ausgelöscht, dann, als er nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu schonen, nichts mehr zu verbergen gehabt, hatte er sein ganzes Vermögen diesem zweiten Sohn vermacht. . . . Weshalb? . . . Dieser Mann war klug und besonnen gewesen . . . er hätte voraussehen, begreifen müssen, daß dies unfehlbar zu der Annahme führen würde, daß dieser Sohn sein Kind sei. – Er brachte also eine Frau um Namen und Ehre – würde er das gethan haben, wenn Hans nicht sein Fleisch und Blut wäre?

Und plötzlich kam eine sehr bestimmte, entsetzliche Gewißheit über Peter – seine Erinnerung trog ihn nicht: Marschall war blond gewesen, blond, wie sein Bruder Hans. Er wußte es genau, er entsann sich eines Miniaturbildes, das er in Paris gesehen, es hatte in ihrem Salon auf dem Kamin gestanden, jetzt war es verschwunden. Wo war es? Verloren oder verborgen? O, wenn er es sehen, in die Hand bekommen könnte, und wär's auch nur für ein paar Sekunden! Vielleicht, daß seine Mutter es in einem geheimen Fach aufbewahrte, wie man Liebesreliquien aufzubewahren pflegt.

Bei diesem Gedanken fühlte er Elend und Verzweiflung so übermächtig in sich werden, daß er ein Stöhnen hören ließ, einen jener kurzen, wilden Klagelaute, wie der Körperschmerz sie auch festgeschlossenen Lippen erpreßt. Und mit einemmal, als ob sie ihn gehört, ihn verstanden hätte und ihm antworten wollte, heulte die Sirene des Hafens dicht neben ihm. Wie der Schrei eines übernatürlichen Ungeheuers, mächtiger als der Donner, ließ sie ihr Wind und Wogen übertönendes, wildes, entsetzenerregendes Gebrüll ertönen, das weit hinaus drang in die schwarze Nacht, dahin über die im Nebel unsichtbare See.

Und von neuem erhoben sich in der Finsternis draußen, in dem undurchdringlichen Dunst, bald nah, bald fern, die nämlichen Stimmen, und schauerlich klang der Antwortruf der blinden Dampfer durch die nächtliche Stille.

Tiefes Schweigen trat wiederum ein.

Peter hatte die Augen geöffnet und sah, wie von einem beängstigenden Traum erwacht, um sich und gewahrte mit Erstaunen, wo er sich befand.

»Ich bin wahnsinnig,« dachte er, »ich zweifle an meiner Mutter.« Und Liebe, Rührung, Reue, Abbitte, Verzweiflung durchfluteten seine Seele. Seine Mutter! Sie kennen, wie er sie kannte, und ihr mißtrauen? Waren denn Seele und Leben dieser schlichten, keuschen, ehrbaren Frau nicht rein und krystallhell? War's möglich, daß sie für einen, der sie gesehen und gekannt, nicht über jeden Verdacht erhaben dastand? Und er, ihr Sohn, er hat an ihr gezweifelt! Ach! Wenn er sie in diesem Augenblick in die Arme schließen, ihr Mund und Hände küssen, vor ihr auf die Kniee hätte sinken können.

Sie sollte seinen Vater hintergangen haben, sie? . . . Seinen Vater! Gewiß, er war ein wackerer Mann, rechtlich und geschickt in seinem Geschäft, allein sein Geist hatte nie über seinen Laden hinausgereicht und sein Horizont war äußerst beschränkt. Wie hatte diese Frau, die einst reizend gewesen war – man hatte ihm das oft erzählt, und die Spuren der Schönheit waren noch heute sichtbar – wie hatte sie mit ihrer feinfühligen, liebevollen, weichen, warmherzigen Natur diesen Mann, der so grundverschieden von ihr war, als Bräutigam und Gatten annehmbar finden können?

Lagen die Gründe nicht auf der Hand. Sie hatte ihn geheiratet, wie jedes junge Mädchen den ihr von den Eltern zugeführten, wohlbestallten Freier heiratet. Sie hatten dann sofort in der Rue Montmartre ihren Laden eröffnet, und die junge Frau, die im Comptoir den Herrscherstab führte, hatte, im Bewußtsein, für den eignen Herd zu arbeiten, von jener tiefwurzelnden, geheiligten Gemeinsamkeit der Interessen erfüllt, die in so vielen Ehen des Pariser Handelsstandes Liebe, ja, sogar Achtung ersetzt, ihre ganze Kraft, ihren ganzen regsamen und feinen Verstand aufgewendet zur Gründung eines Vermögens. So war das Leben dahingegangen, einförmig, ruhig, ehrbar, ohne Leidenschaft!

Ohne Leidenschaft? . . . War es möglich, daß einer Frau die Liebe fremd bliebe? Konnte eine Frau, die jung, hübsch, in Paris lebte, Romane las und den Schauspielerinnen, die auf der Bühne vor Liebe starben, Beifall zujubelte, konnte sie dem Matronenalter entgegenreifen, ohne daß ihr Herz auch nur ein einzigmal berührt worden wäre? Bei jeder andern würde er das nicht für möglich halten – weshalb sollte er es von seiner Mutter glauben?

Der Liebe fähig war sie, zweifelsohne so gut wie jedes Weib! Weshalb sollte sie anders sein als die andern, nur weil sie seine Mutter war?

Sie war jung gewesen, hatte alle poetischen Ueberschwänglichkeiten, die junge Herzen trüben, in sich getragen. Sie hatte von Mondenschein, von heimlichen Küssen im abendlichen Dunkel, von Reisen in fernen Landen geträumt an der Seite eines gewöhnlichen Menschen, der nur vom Geschäft sprach und sie in seinem Laden gefangen hielt. Und eines Tages war ein Mann zu ihr getreten, gerade wie die Liebhaber im Roman auftreten, und hatte die nämlichen Reden geführt wie diese.

Sie hatte ihn geliebt! Weshalb denn nicht? Es war seine Mutter! Wohl und gut, aber mußte man aus Liebe zur Mutter blind und taub sein, mußte man augenscheinliche Thatsachen leugnen, weil es sich um sie handelt?

Hatte sie sich dem Manne geschenkt? . . . Ja – denn dieser Mann hatte keine andre Geliebte gehabt; ja – denn dieser Mann war der alternden, ihm entrückten Frau treu geblieben: ja – denn dieser Mann hatte sein ganzes Vermögen seinem, ihrem Sohne hinterlassen! . . .

Wutbebend erhob sich Peter. Er hätte jemand totschlagen mögen. Sein ausgestreckter Arm, die geöffnete Hand waren bereit zum Dreinschlagen, zum Morden, zum Erdrosseln, zum Zerreißen! Wen? Die ganze Welt! Seinen Vater, seinen Bruder, den Verstorbenen, seine Mutter.

Er raffte sich auf, nach Hause zu gehen. Was würde er thun?

Als er an dem Türmchen beim Signalmast vorüberging, ertönte der markdurchdringende Schrei der Sirene unmittelbar neben ihm. Er fuhr so heftig zusammen, daß er beinahe gefallen wäre und bis an die granitene Brüstung zurücktaumelte. Er setzte sich wieder; er war an allen Gliedern zerschlagen durch Aufregung und Schreck.

Der erste Dampfer, der Antwort gab, schien ganz in der Nähe zu sein und ward, da die Flut hochstand, am Hafeneingang sichtbar.

Peter wandte sich um und unterschied eine nebelgetrübte, rote Laterne, und in dem hellen Lichte der elektrischen Flammen am Hafen zeichnete sich zwischen beiden Leuchtfeuern ein tiefer Schatten. In seinem Rücken hörte er die heisere Stimme des Wächters, eines ausgedienten Kapitäns.

»Name des Schiffes?«

Und aus dem Nebel klang die gleichfalls heisere Stimme des auf dem Deck stehenden Lotsen herüber: »Santa Lucia.«

»Land?«

»Italien.«

»Hafen?«

»Neapel.«

Vor Peters trübem Blick stand wie mit einem Zauberschlag die leuchtende Feuergarbe des Vesuv und an den Fuß des Vulkans geschmiegt die schweigenden, von Glühwürmchen übersäeten Orangenhaine von Sorrent und Castellamare. Wie oft hatte er von diesen altvertrauten Namen geträumt, wie oft war ihm zu Sinn gewesen, als ob er die vielgenannten Stätten kenne! Ach! Wenn er reisen könnte, gleich, auf der Stelle, einerlei wohin, und nie zurückkommen, nie schreiben, nie wissen lassen, wo er geblieben und was aus ihm geworden! Aber nein, er mußte nach Hause, mußte unter das väterliche Dach zurückkehren und sich in sein Bett legen.

Das konnte er nicht; er wollte nicht heimgehen; er wollte hier den Tag erwarten. Die Stimmen der Sirenen gefielen ihm. Er stand wieder auf und fing an den Damm entlang zu schreiten, wie ein Beamter, der seine Runde macht.

Hinter dem ersten näherte sich jetzt, riesengroß und geheimnisvoll, ein zweites Schiff; es war ein englisches, das von Indien zurückkehrte.

Noch mehrere sah er nacheinander aus der undurchdringlichen Finsternis auftauchen. Dann fing der Nebel an, so unerträglich naß zu werden, daß Peter doch die Richtung nach der Stadt einschlug. Er war so durchfroren, daß er in eine Matrosenkneipe trat, um ein Glas Grog hinunterzustürzen, und als die heiße, scharfe Flüssigkeit ihm Zunge und Gaumen verbrannte, fühlte er wieder ein Fünkchen Hoffnung in sich aufglimmen.

Vielleicht hatte er sich getäuscht. Er kannte sie ja lange, seine wildschweifende, unvernünftige Gedankenwelt! Ohne Zweifel, er mußte sich getäuscht haben? Er hatte wie ein Inquisitor ein Gerüste von Beweisen aufgetürmt, das es einem leicht macht, einen Unschuldigen, den man schuldig finden will, zu verdammen. Sobald er drüber geschlafen, würde er alles anders ansehen. Er ging also nach Hause, um sich zu Bett zu legen; er wollte einschlafen, und es gelang ihm.

 


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