Hugo Marti
Das Haus am Haff
Hugo Marti

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129 VI.

Bei der Waldbucht ließ Klaus die Pferde etwas langsamer gehen. Sie stampften durch den knirschenden Schnee, bald durch hohe Wehen, in denen sie tief versanken, bald über krachendes Frosteis, das der Wind kahl gefegt hatte. Weit zog sich die Spur der beiden Schlittenkufen zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal streiften die Köpfe der Pferde einen tief heruntergebogenen Tannenzweig, und eine zerstäubte Schneewolke rieselte den beiden Frauen in die Gesichter. Doris lachte mit ihrer dunkeln Stimme, und Frau Annemarie rieb sich die Wange am Pelzkragen. Aber auch ihre stillen Augen liefen lachend über die Wunder des verschneiten Forstes.

Klaus spähte zwischen den Baumstämmen hinaus auf das Eis. Plötzlich zog er den linken Zügel an, die Pferde gehorchten erstaunt, rissen den Schlitten auf die niedere Uferböschung hinauf und glitten mit vorgestreckten Beinen durch den angewehten Schneewall aufs Eis hinunter. Zaudernd taten sie ein paar Schritte, hart klangen die Hufe und splitterten knirschend die glatte Fläche. Das Eis war dunkel gefleckt und voll seltsamer 130 Zeichnungen. Die Rosse rissen ängstlich an der Deichsel und warfen die Köpfe empor. Klaus hielt die Zügel ruhig fest, und die beiden Frauen beugten sich lautlos zu seinen Seiten nach vorne, mit ihren Blicken den tänzelnden Hufen der Pferde folgend.

Diese griffen nun mächtig aus, schlugen ihre gespitzten Hufe hämmernd ein und rissen den Schlitten surrend vom Ufer weg. Klaus schnalzte mit der Zunge und ließ die Zügel lockerer.

»Schön, schön,« sagte Doris aufatmend. »Siehst du, wie gut, daß wir dich zu dieser Fahrt überreden konnten.«

Annemarie nickte. Sie schaute langsam um sich; zu beiden Seiten floh der Wald zurück wie der Schatten einer Wolke, und das Eis wurde groß und dehnte sich weit aus. Dunkle Bänder, von milchhellen Stickereien durchwirkt, spulten sich neben dem sausenden Schlitten ab, umkreisten ihn und legten sich unter seine leis hüpfenden Kufen; dann klang das Surren noch kälter und verglitt plötzlich wieder im knisternden, pulverigen Schnee, der leicht auf dem Eise klebte. Ferne stand im dumpf verstreuten Licht des Nachmittags eine zackige, schimmernde Linie; sie lief quer über die 131 grauhelle Fläche und bog sich zu den roten Häusern von Tawe hinüber, die matt glühend, wie frierende Lichter, im Schnee des Ufers standen.

Klaus hielt auf den Eiswall zu. Die Schlittenspur lief gerade zum dunkeln Waldsaum zurück. Bald stand dieser nur noch wie eine niedere Mauer in der Ferne, ringsum schimmerte fahl das Eis, von aufgestemmten Hügelketten und wirr zusammengeschobenen Schollenhaufen unterbrochen.

Plötzlich riß Klaus die Pferde herum, der Schlitten rutschte ein wenig seitwärts und stand still. Eine Rinne lief dunkel, nur leicht verharscht, durch das Eis.

Klaus folgte ihr mit den Blicken und sagte dann: »Wir könnten wohl hinüberfahren –.«

Er sah die beiden Frauen an. Annemarie schaute die schmale Rinne, auf der brüchiges Eis lag, prüfend an, und Doris rief: »Also, dann weiter!« Sie nickte Klaus zu. »Wagst du es?«

Er stieg aus dem Schlitten und trat zu den Köpfen der Pferde. Mit einem weiten Schritt überbrückte er die Rinne; die Ränder der Schollen hielten fest.

»Man kann zu Fuß hinübergehn; die Pferde führe ich später nach.«

132 »Ach!«, lachte Doris. »Ich kenne dich nicht mehr. Ich steige nicht aus.«

Klaus warf rasch seine Pelzjacke aufs Eis jenseits der Rinne, kehrte zum Schlitten zurück, hob wortlos Frau Annemarie auf seine Arme und trug sie mit einem leichten Sprung über die dunkle Spalte; drüben stellt er sie auf die Jacke, schlug diese dicht um ihre Füße und trat wieder zu den Pferden. Er griff in die Zügel, führte die Tiere vor die Rinne, stellte sich quer darüber hin und riß mit einem Ruck das Gespann nach vorne. Doris hielt mit beiden Händen die Seitenlehnen des Schlittens und lachte auf, als das dünne Eis in der Rinne dumpf dröhnte. Und Klaus hob Frau Annemarie wieder in die warmen Felldecken hinein; sie legte ihre Hand leise gegen seine Schulter, fast abwehrend. Er sprang auf seinen Sitz, die Pferde zogen an. Wie ein dunkler Fleck auf dem Eise, neben der Rinne, lag die vergessene Pelzjacke, und in ihrem dichten Geflock zeichneten sich die Spuren von zwei kleinen Füßen ab. Leise strich der Wind darüber, schnupperte daran herum und spielte mit den Haaren.

Die grauen Mauern von Kampken stiegen langsam übers Eis empor, mit den entlaubten, weitästigen 133 Bäumen zur Seite, die wie zartes, verschlungenes Gewebe vor dem verglimmenden Himmel sich aufreckten.

»Es sieht doch aus wie eine rechte Trutzburg, mit seinen dicken Mauern,« sagte Doris.

»Sie haben sich der Stille des Landes nicht verschließen können,« erwiderte Annemarie lächelnd. »Sie drang durch alle Fenster ein, seit Jahrhunderten; sie liegt breit in den Sälen und weht durch die dunkeln Gänge.«

»Wie ein Gift,« lachte Doris. »Es ist zu traurig hier.«

Sie fuhren vom Eis aufs Land hinauf, die Pferde gingen langsamer im Schnee und bogen vor die Treppe; schnaubend standen sie still. –

Als Klaus aus seiner Giebelstube herunterkam, sah er Doris in der Fensternische des Eckzimmers. Sie hatte sich halb auf das Gesimse gesetzt und blickte durch die leicht matten Scheiben in den herabdämmernden Abend hinaus. Als sie seine Schritte auf den Holzdielen hörte, wandte sie langsam den Kopf.

»Wo ist Annemarie?«, fragte er und sah sich um.

»Sie ist müde von der Fahrt und ruht sich aus.«

Er hörte in ihrer starken Stimme einen leise 134 spottenden Ton mitklingen und sagte: »Es war ja auch das erstemal, daß sie wieder ausfuhr.«

Doris nickte und legte ihren Arm um seinen Nacken. Er stand aufrecht, die Hand aufs Fensterbrett gestützt, und sah an ihr vorbei. Leise zog ihn ihr Arm näher, er fühlte das kräftige Gelenk und die kühlen Finger. Er hob seine Hand und löste sich rasch aus der Fessel.

Doris ließ den Arm heruntersinken. Sie wandte sich nicht weg, aber ihre Lippen preßten sich um ein weniges enger zusammen.

Er griff nach ihrer Hand. »Sei mir nicht böse.«

Sie lachte. »Aber morgen oder übermorgen fahren wir zusammen Schlittschuh? Ich habe ja nichts von dir, Junge.«

»Ja, morgen oder übermorgen,« sagte er gleichgültig.

»Und dann reisen wir bald zurück, wie?«

Er sah sie groß an. Sie sprang nun vom Gesimse herunter, stellte sich vor ihm hin und sagte heftig: »Ich bin doch gekommen, um dich zu holen, Klaus. Hier sollst du nicht bleiben. Wie anders warst du früher. Das geht nun alles verloren. Komm mit, bald, bald.«

Er schüttelte leise den Kopf. »Ich komme nicht.«

135 Sie faßte ihn an den Schultern und bog ihr Antlitz nahe zu ihm hin. Er sagte, indem seine Augen auswichen: »Ich muß erst hier zu Ende kommen, es ist etwas noch nicht klar. Das Land, glaub ich, – nein, ich könnte jetzt nicht reisen.«

»Hör mal,« begann sie ruhig, »das sind nun Dummheiten. Schön ist es hier, wahrlich, aber daß du deine ganze Kraft und Energie an diese Schönheit vergeuden sollst, will mir nicht in den Sinn. Ich erlaube es nicht. Du bist ein Kind! Klaus, Klaus –.«

Er sah sie fragend an.

»Liebst du mich noch?«

Er machte eine unwillige Bewegung mit den Schultern, auf denen ihre Hände lagen, und sagte gequält: »Wie kannst du so fragen –.«

Sie wiederholte: »Liebst du mich noch?«

Er raffte sich aus seiner Müdigkeit auf und hob sogar ein wenig die Hand. »Alles, was du an mir getan hast, du Gute, Liebe, kann ich das vergessen? Du hast mir soviel Glück geschenkt –.«

Während er sprach, durch die leeren Worte in ihm erweckt, trat das Vergangene vor seine Seele und erhellte sie. Wie ein glühender Farbenstrom floß es vor seinen Augen, er empfand plötzlich die Nähe 136 ihres reichen Körpers, atmete dessen Duft ein und sah ihren Mund, auf dem noch die letzte Frage lag. Jäh warf er die Arme um sie, wühlte seine Finger in ihre aufrollenden Haare und bog ihren Leib weit zurück. Sie lachte.

Als sie an den Flügel trat und eine kurze, aufjubelnde Akkordfolge spielte, die er früher immer von ihr zu hören begehrt hatte, verließ er still das Zimmer und stieg in die Giebelstube hinauf. Er warf sich aufs Bett, zerrissen und wie von Peitschen geschlagen.

Von unten klang die kurze Melodie zu ihm herauf; nicht enden wollte ihr Jauchzen, ihr unbändiger Schrei, – da schlug er die Arme um den Kopf, und es ward still.

So lag er lange. Sein Blut ebbte zurück und verrollte.

»Ich habe Annemarie auf meinen Armen getragen,« sagte er leise vor sich hin, in die Dunkelheit des Zimmers. Und nun lachte er: »Die Jacke liegt noch draußen.«

Er trat ans Fenster; es war eine helle Nacht. Er hob leise die Schlittschuhe aus der Holztruhe; sie warfen blitzende Strahlen um sich und lagen kühl in seinen Fingern, die sie heiß und gierig umschlossen.

137 Er öffnete die Türe, trat hinaus, schloß sie lautlos hinter sich zu und schritt die knarrende Wendeltreppe hinunter. Auf jedem Tritt blieb er stehen und lauschte. Aus dem einen Zimmer klangen Stimmen: Christian sprach in seiner knappen, entschlossenen Art, die er angenommen hatte, seit Doris in Kampken weilte. Im Speisesaal wurde der Tisch gedeckt, die Bestecke klirrten silberhell.

Eine Türe wurde aufgetan, ein leiser Gang klang auf dem Flur, ein Schritt zauderte, und dann wurde eine Klinke niedergedrückt. Christian sagte eben laut: »Ich fühle mich wieder ganz jung,« – und Doris unterbrach ihn: »Ach Annemarie, – ausgeruht?« Die Türe schloß sich.

In zwei Sprüngen setzte Klaus über den Flur, trat aus dem Haus und hörte den gefrorenen Schnee unter seinen Schuhen knirschen.

Er ging an den Strand, kniete nieder und schnallte sich die scharfgeschliffenen, blinkenden Eisen an. Sie saßen fest und klirrten leise, als er losfuhr. In langen, leichtgebogenen Zügen entfernte er sich vom Ufer; die Hände lässig in die Hüften gestemmt, bog er den Oberkörper wiegend hin und her.

Die Schlittschuhe glitten singend über das Eis, 138 sprangen über die schwarzen Risse und knirschten in den Furchen, die der Wind aufgeworfen hatte. Das Ufer war in der Nacht versunken, kaum ein Licht blitzte von Kampken und weiter oben von den Fischerdörfern herüber. Das Eis lag mattweiß, von schwarzen Bändern und Fäden durchzogen, weit um ihn, und er las kaum an den Sternen, über welche hin blasse Wolken wischten, ungefähr die Richtung ab.

Er achtete lange nicht darauf, daß er im Surren und Singen der Schlittschuhe ohne Ruhe die kurze Melodie hörte, die ihm Doris gespielt hatte. Als er es merkte, hielt er inne, lauschte weit um sich und fuhr langsamer. Ferne krachte es unter dem Eis, dumpf und lang verhallend.

»Ich höre die Stille nicht mehr,« sagte er vor sich hin. »Dieses Lied gehört nicht hierher.« Und wieder erklangen in ihm, gegen seinen Willen, die aufstürmenden Akkorde. Jäh wollte er sie zudecken, zerriß sie durch andere Klänge, stieß sie voll Verachtung weg. Langsam breitete er die Arme aus, als griff er nach einer Hand, und flehte: »Sprich du wieder, Land!« Und die Stille durchrann ihn abermals mit fernhallendem Glockenläuten.

Ein dunkler Fleck, wie ein Loch, das Fischer durchs 139 Eis gehauen haben, wuchs zwanzig Schritte vor ihm aus der schimmernden Fläche. In drei langen Zügen war er davor, beugte sich nieder und lachte auf. Und alsbald senkte er sich in die Kniee und legte seinen Mund und sein ganzes Gesicht in die schmalen Fußspuren, die er noch im Pelze erkannte. Und er flüsterte: »Annemarie.« Aber bei diesem Wort und diesem Klang wich die Stille nicht scheu zurück, sondern durchrauschte ihn nur stärker und ruhiger. –

Auf dem Damme von Agilla stand, mit der hohlen Hand am Ohr, die irre Stina. Sie hörte ein Surren und Knacken auf dem Eis und sah einen Schatten heranfliegen. Da rief sie laut: »Jan!« und noch einmal, lauter: »Jan, bist du gekommen?«

Klaus aber kroch, indem er sich auf den Händen über die Eisschollen emporriß, auf den Damm und fragte: »Seid ihr alle noch wach?«

Sie wich vor ihm zurück und murmelte: »Ach, es ist nicht Jan.« Sie wollte durch die Tür schlüpfen.

»Ich bin müde,« sagte Klaus, »und will morgen weiter, übers Eis nach Nemonien und Gilge hinauf. Du kennst mich, Stina. Laß mich in die Küche, damit ich mich ein paar Stunden hinlege.«

140 Sie stieß die Türe auf, und beide traten ein. Auf dem Herde glomm Glut, von der Asche fast ganz verschüttet. Klaus legte sich auf die Bank, schob sich die Pelzjacke unters Genick, rückte ein paarmal hin und her und schlief in der warmen, dumpfen Luft sofort ein.

Stina stand im Dunkel bei der Türe und betrachtete ihn. Seine langen Beine hingen unten über die Bank herab, die blitzenden Schlittschuhe berührten beinahe den steinernen Boden und tropften leise. Auch sein rechter Arm hing schwer herab, und über den Handrücken lief eine Strähne Blut, die sickernd gerann. Stina starrte ihn an, sah, wie er die Lippen zu einem Wort bewegte, beugte sich vor, um es zu erlauschen, und ging dann wieder zur Tür hinaus.

Sie stapfte alle Nächte lang den Damm hinauf und hinunter und lauschte aufs Haff hinaus, und nur am Tage legte sie sich zum Schlafe hin.

Am andern Morgen – kaum hatte die Sonne das Eis von den letzten Schatten blank gefegt – kletterte Klaus über die Schollen den Damm hinunter und zog seine langen Bogen über die blitzende Weite. Kalt stand die Luft um ihn, hieb ihm mit Fäusten über Wangen und Ohren und drückte sich seinem 141 Lauf entgegen. Es war so klar, daß man über dem Eis, nach der Nehrung hin, die aufgetürmten Wälle wie eine schartige Messerklinge vor dem seidenblauen Himmel stehen sah. Weit draußen erblickte Klaus einen Fischerschlitten und eine Stange, die daneben ins Eis gerammt war; über den Damm herüber aber funkelten die roten und bunten Hütten mit kerzengeraden Rauchfahnen, und starr, wie eingefroren, reckten sich die Flügel der Windmühle.

Klaus fuhr den ganzen Morgen, und die Sonne stand hoch über ihm; er mußte die Pelzjacke ausziehen und sie am Rücken festbinden. Um die Mittagsstunde hielt er wieder auf die Küste zu, die wie ein dunkler Strich hinter dem blendenden Eise lag; langsam sanken die überschneiten, welligen Dünen der Nehrung mit ihren breiten Schatten zurück. Zwischen den Häusern von Gilge fuhr er dahin, den breiten Strom hinauf, der seine Wasser im Herbst zu beiden Seiten weit über Wiesen und Gärten hinausgetrieben hatte, sodaß nun alles, um die Mauern der Hütten herum und tief in den Forst hinein, unter dickem Eise lag.

Die Türen standen allenthalben weit offen und ließen die Sonnenstrahlen in die dunkeln Gelasse ein, die Menschen aber gingen in Holzschuhen 142 von Haus zu Haus, hatten Tische und Bänke aufs Eis hinausgetragen und weilten, an die roten Mauern gelehnt, in der Wärme.

Klaus schlug einen Bogen von der Mitte des Stromes nach einem breiten Hause zu, glitt um den Gartenzaun herum, der halb aus dem Eise hervorragte, und stolperte mit seinen Schlittschuhen über die Schwelle auf die hölzernen Dielen. Es roch nach Fisch und Branntwein, und Klaus bestellte sich sein Mahl. Der Wirt erzählte, daß am frühen Morgen ein Wagen mit Bier und Mehl, vier Rosse davor, quer übers Haff nach der Nehrung aufgebrochen sei; Burschen und Marjells seien mitgezogen und hätten zum Klang einer Fiedel weit draußen, mitten über den Wassern, getanzt; aber alle Saiten seien in der Kälte gerissen und das Eis habe zu murren und zu ächzen begonnen. »Im Frühjahr wird dann das Haff uns zum Tanze aufspielen!«, und er schüttelte den Kopf.

Nach einer Stunde Rast fuhr Klaus weiter, zwischen Wäldern hindurch, wo der Fluß glatt und ohne Windgekräusel eingefroren war; die Schlittschuhe surrten über das milchfahle Eis, ohne Spuren zu hinterlassen. Zu beiden Seiten aber dehnte sich lautlos, dunkel und hoch der Forst.

143 Und als die Sonne rasch niedersank, fuhr er über die Wiesen von Nemonien; da hoben sich manchmal höckerige Erdschollen, mit dürrem Gras bestanden, aus dem Eis hervor, und eine lange Reihe von dornigen Büschen reckte sich mit magerem Gezweig empor. Dahinter zerrann, in roten Bächen verblutend, die Sonne und färbte das Haffeis, daß es wie Feuer glomm.

Klaus schlug sich durch die Dornen und holte mit seinen langen Beinen weit aus, als er das offene Eis gewonnen hatte. Mit der Dämmerung aber ward es kalt, und plötzlich erlosch die weite Fläche. Zwischen den Tannenspitzen schaukelte ein Stern. Der Lichtschein von Kampken wies den Weg.

Klaus kehrte durch die Küche ins Haus zurück. Als er behutsam die Wendeltreppe emporstieg und unter dem dunkeln Estrichgebälk nach seiner Giebelstube hin tappte, hörte er Musik. Erstaunt blieb er stehen und lauschte.

»Das ist nicht Annemarie,« sagte er leise. Und einen Augenblick lang fragte er sich, wer wohl spielte. Dann erinnerte er sich.

Er legte sich in den Kleidern aufs Bett. Die Töne drangen wirr, in wilden, ungebändigten Jagden, zu ihm herauf.

144 Er biß sich auf die Lippen, und schüttelte den Kopf. Er dachte an Doris starke Hand, die nicht müde und beinahe durchsichtig auf dem Fensterbrett liegen konnte, stundenlang. –

Die Türe wurde geöffnet, Klaus fuhr halb vom Bett empor und fragte: »Wer ist da?«

Frau Annemarie stellte einen Kerzenleuchter auf den Tisch und sagte: »Ich hörte deinen Schritt. Hast du dich endlich wieder nach Kampken heim gefunden?«

Er sprang vom Bett herunter und zeigte auf die Schlittschuhe, die blitzend am Ofen hingen.

Frau Annemarie sagte leise: »Auch in Doris Zimmer sah ich solche funkeln.«

Klaus zog die Augenbrauen zusammen. »Kannst du diese Musik hier draußen hören? Es ist eine fremde, häßliche Sprache.«

Sie hob leicht die Hand. »Wenn du wüßtest, wie weh du Doris tust.«

Er zuckte die Achseln. »Ist es meine Schuld? – Ich kann nicht anders. Etwas ist stärker geworden, als meine Liebe zu Doris war.«

Frau Annemarie trat zum Fenster. »Wir sind zu schwach diesem Lande gegenüber.« Und rasch wandte sie sich um: »Du mußt reisen.«

145 Er senkte langsam den Kopf und schwieg. Frau Annemarie ging still hinaus und ließ ihn allein.

 

Es kam ein Morgen, neblig und feucht, da erstickte der harte Frost und hob seine unbarmherzigen Hände von der Erde und den erstarrten Wassern. Und um die Mittagsstunde brach ein lauer Wind auf, fuhr über die weiten Felder, peitschte krachend die Wipfel der Forste und schwang sich heulend vom Damm hinaus aufs Haffeis. Die Wolken jagten angstvoll dahin.

»Wir werden es zwingen!«, schrie Doris und drehte den Kopf zurück. Ihre Schlittschuhe furchten durchs weiche Eis; schräg hinter ihr, den Körper gegen den Wind gebeugt, fuhr Klaus.

Sie sprang über eine Rinne, die sich schwarz und mit zerbröckelten Kanten vor ihr auftat. »Achtung!«, rief sie zurück und sauste weiter. Sie ließ die Spitzen ihres leichten Mantels hinter sich flattern und schnellte in weiten Stößen dahin.

Der Damm von Agilla schob sich näher heran. Ein Schlitten kam vom Ufer her; die Hufe des kleinen Pferdes klapperten knirschend im weichen 146 Eis. Zwei Männer kauerten auf dem Holzgestell und trieben mit Rufen und Peitschenknallen an.

Klaus schrie hinüber: »Hahoi!«

Einer der Männer richtete sich auf und wies dann mit dem Peitschenstiel in die graue Dämmerung, die dick übers Haffeis heraufquoll.

»Die Nacht wird wild,« schrie Klaus.

Hinrich Jeschkeit lachte: »Heut fang ich was! Das ist unser Wetter.« Und der Schlitten klapperte weiter übers graue, aufspritzende Eis und verschwand im Nebel.

Nahe am Damm sickerte schon das Wasser durch die Ritzen herauf. Der Wind trieb es in langen Ringen übers Eis dahin und stampfte die Schollen mürbe. Und durch das Heulen erklang dumpf das unwillige Pochen und Stemmen der Wellen, die aufwachten.

Doris trug die Schlittschuhe an einem schmalen Riemen und schritt auf den Dammweg der Waldbucht entgegen. Ihre große Gestalt stand dunkel und hoch vor den jagenden, grauen Wolken und kämpfte mit dem Wind, der ihr in die Haare sprang und den Mantel emporwarf, als wollte er ihren Leib umarmen. Klaus holte sie ein, als sie beide in den Windschatten der Waldbucht traten.

147 Da war es mit einem Schlage ruhig um sie; die Wangen und Hände brannten, und der Schritt ging müde. Doris blieb stehen und blickte über das Eis hinaus. Schon glaubte sie, in der dunkelnden Ferne die weißen, schaumigen Kämme der Wellen zu sehen, wie sie prasselnd die Schollen vor sich herstießen –.

»Nun muß es klar werden zwischen dir und mir,« sagte sie, als Klaus neben sie getreten war. »Du kennst mich lange genug, daß du weißt, ob ich betteln kann.«

Ein Windstoß brach über ihnen ein paar Aeste herunter und beugte die Tannen tief.

»Nein, betteln –. Du bist zu stark dazu,« sagte er und sah ihr offen in die Augen. »Du hast gegeben, immer geschenkt wie ein unendlich reicher Schatz. Laß mich, – was hast du an mir?«

Sie schüttelte den Kopf. »Deine Worte kränken, ohne zu wollen. Mir lag an dir, – hätte ich sonst dies alles getan?«

Er ließ den Kopf sinken und schloß müde die Augen. Da sagte sie weich: »Wer hat dich so beraubt? Wer hat all deine Kraft aus dir gesogen und deinen Trotz, und dich so arm gemacht? Dein Leib, der einmal nicht stark genug war, den Uebermut deines Willens zu erfüllen, steht nun da wie die ragenden 148 Mauern eines ausgebrannten Hauses. Was ist über dich gegangen?«

Er zuckte leise die Achseln, griff dann plötzlich nach ihren Händen und legte seinen Kopf darein. Sie spannte ihre kalten Finger um seine pochenden Schläfen.

»Eine Liebe war es nicht«, sagte sie lächelnd. »Die zerbricht den Menschen nicht.«

»So redest du,« flüsterte er, »du –.«

»Dann kenne ich die Liebe nicht,« sagte sie hart und lockerte ihre Finger.

Er hob sein Haupt. »Wer will behaupten: ich kenne sie? – Als ich dich liebte, sprach ich wie du. Da war ich voll Lachen und Kraft. Alles war Licht oder Schatten. Nun ist die Dämmerung um mich, die frühen, langen Abende, die hellen Nächte und die schlafenden Tage. Ich kann dir nicht sagen, was es ist; aber es hat alle Macht über mich.«

Doris hörte ihm still zu. Er sprach zögernd und erschrak über jedes eigne Wort, gleich als risse ein fremder Mensch tief Vergrabenes ans Licht heraus, hart und kalt und ohne Gnade.

Als er schwieg und weit in die Schatten der hereinbrechenden Nacht blickte, sagte Doris leise: »Ich muß dich lassen, wo du stehst.«

149 »Ich wußte es,« erwiderte er und lachte ein wenig. »Sagte ich nicht: was hast du an mir –?«

Sie streckte plötzlich die Arme nach ihm aus, er aber stieß sie leise zurück. »Laß, – ich würde dich beleidigen.«

Da trat sie in den Schatten des Waldes und entwich.

Klaus stand unschlüssig und ging dann langsam am Strande hin. Es begann warm, in peitschenden Güssen, zu regnen, und die Wolken flatterten tief über dem Forst. –

Doris trat ins Haus, holte tief Atem und steckte sich die Haare fest, die der Wind aufgewühlt hatte. Sie legte sich die kalte Hand auf die Stirne, lauschte eine Weile in die flüsternde Stille, hörte, wie sich der Sturm wuchtig gegen die Scheiben stemmte, und ging dann ruhig zu Frau Annemarie.

Sie saß in der Fensternische, in ihrem hochlehnigen Stuhl. Sie wandte den Kopf und sprach: »Diesen Sturm schickt der Frühling vor sich her.«

Doris trat neben sie und legte die Hand auf ihre Schulter. Als spürte Frau Annemarie ein leises Zittern und hörte das jagende Blut, hob sie plötzlich das Antlitz empor und schrak zusammen. Doris aber sprach: »Ich muß reisen.«

150 Da stand Frau Annemarie langsam auf, griff nach Doris Händen und sagte nur: »Du Arme.«

Doris entzog ihr die eiskalten Finger, trat zwei Schritte ins dunkle Zimmer zurück und erwiderte hart: »Klagen –? Wozu auch? Ich bin nicht von dieser Art.«

Frau Annemarie zuckte leise; sie sah die große Gestalt mit dem trotzig emporgehobenen Haupt nicht mehr; wie eine weite Ferne voll Schatten und Stille lag es zwischen ihnen, Gebärden und Worte verhüllten nur, – trugfeine Schleier, von der Einsamkeit gesponnen. Alles war ein Spiel im Dämmerschatten.

Frau Annemarie sprach sinnend, mehr zu sich: »Die Menschen leben hier draußen zu nahe und zu fern voneinander. Es ist keine Grenze da. Die Worte tönen in die Stille hinein, die einen verhallen, die andern schwingen allzu lange fort. Und zu wem das Land gesprochen hat, der krankt an großer Liebe, und eigenwillige, unbeugsame Worte sind ihm wie höhnische Schläge ins Gesicht. Denn er ist nicht mehr frei, die Stille des Landes ist ein harter Herr. Das vergiß nicht, wenn du Klaus jetzt verlässest.«

151 »Ich verstehe es nicht,« sagte Doris leise, aber hart. »Glückliche,« flüsterte Frau Annemarie und verließ das Zimmer.

Und Doris stand in der Dunkelheit, die Hände geballt, die Lippen fest zusammengepreßt, aber in ihrer Kehle würgte ein Schluchzen und ihre trotzigen Augen schmerzten brennend. Ihre große, starke Gestalt bebte, und die Stille schlich fremd und scheu um sie und wußte sie nicht mit linder Hand zu trösten.

Mit dem späten, letzten Zuge fuhr sie nach Königsberg; Klaus war noch nicht nach Hause zurückgekehrt und Christian von Dohm auf dem Vorwerk. Nur Frau Annemarie geleitete sie still bis unter die Türe und sah dem Wagen nach, an den hölzernen Pfosten gelehnt, um dem Winde standzuhalten, der fauchend in den Flur hereinsprang.

Klaus aber wanderte zu dieser Stunde ziellos durch die Nacht. Im Walde brüllte der Sturm, und der breite Fluß hatte schon das Eis gesprengt und schob es in großen Schollen langsam, ächzend vor sich her. Das Haffeis aber stemmte sich noch dagegen.

Klaus schnallte sich wieder die Schlittschuhe an die Füße und fuhr in einem großen Bogen quer über 152 die Bucht nach dem Damm von Agilla hinüber. Unter ihm schwankte das Eis auf und nieder, die Rinnen klafften breiter und ließen gurgelnde Wasser heraufquellen.

Als er sich dem Strande näherte, hörte er laute Stimmen. Lichter flackerten in trüben Laternen den Damm auf und ab, wurden manchmal hoch emporgehalten und versanken dann wieder hinter flatternden Röcken und dürren Strandbüschen.

Er schritt über den Damm, den Lichtern entgegen. Eine Frauenstimme kreischte: »Wieviele sind draußen?«

»Vierzehn von den unsern sind ausgefahren,« schrie ein alter Fischer. »Sechs sind heimgekehrt.«

»Hinrich nicht, Hinrich kommt nicht wieder,« gellte die Stimme der irren Stina. Und ein Licht fuhr winkend hin und her.

»Schickt sie ins Haus!«, brüllte der alte Fischer. »Was ist jetzt schon zu heulen? Bis zum Morgen hält das Eis noch fest; sie können weiter oben, bei Tawe, einfahren, wenn es hier reißt. Der Wind treibt die Schollen dort hinauf.«

»Hinrich kommt nicht mehr,« wimmerte sie. »Jan hat ihn geholt.« Und sie winkte mit der Laterne.

Klaus trat zu ihnen. Alle horchten in das Stampfen 153 und Heulen hinaus, als müßten sie von ferneher das Klappern der Hufe und das Knirschen der Schlittenkufen vernehmen. Ihre Blicke bohrten sich in die dicke, regendurchpeitschte Finsternis, in welche die Lichter stumpfe Löcher schlugen.

Zwei junge Fischer stapften herzu. »Wer ist noch nicht da?«, fragten sie den Alten.

»Lepehne mit seinem Jungen, Bonell mit dem Knecht, Radzuweit die Brüder, und Jeschkeit, der Alte mit dem Einäugigen.«

»Wir haben keinen von ihnen gesehen,« sagten sie dumpf, »weder draußen noch jetzt auf der Heimfahrt. Es brach vor uns auf, plötzlich; wir hatten kaum Zeit, die Netze auf den Schlitten zu werfen und das Pferd zu wenden.«

»Der Wind stößt nach Tawe hinauf,« wiederholte der Alte. »Bald wird es auch hier brechen.«

Die Frauen standen um die irre Stina herum. Sie hatten die Röcke über den Kopf geschlagen und gingen gebückt gegen den Wind. Stina wimmerte und kreischte; grell fiel das Licht auf ihre rote Jacke, die schwarzen Haarsträhnen hingen ihr naß und wirr ins Gesicht.

Sie erblickte Klaus, starrte ihn an und sagte höhnisch: »Heute Nacht bist du nicht mit ihnen!«

154 »Nein,« erwiderte er, trat auf sie zu, packte sie am Arm und führte sie vom Damm herunter in die Hütte. Gehorsam wie ein Kind ging sie neben ihm und stöhnte leise.

Am halberloschenen Herdfeuer wandte sie sich plötzlich um, bog sich gegen Klaus und flüsterte, den Finger auf den Lippen: »Das war eine andere, mit der du heute draußen übers Haff fuhrst? Ist die Frau im Schlosse drüben tot?«

Klaus drehte ihr den Rücken zu und ging zur Türe hinaus, die er laut hinter sich ins Schloß zog.

Knallend spaltete sich das Eis. Lange, gerade Rinnen taten sich auf, die Ränder barsten auseinander und schoben sich wieder knirschend zusammen. Sprudelnd und klatschend spritzte Wasser empor. Eine große Scholle brach längs dem Damme los und glitt langsam hinaus. Hochauf leckten dunkle Wellen, rollten bis auf die Höhe des Walls, wo die Fischer standen, und zerflossen schäumend über die Steine und den Sand. Und dann trieben die Eisschollen schwankend vom Ufer weg, schlugen sich aneinander und türmten sich auf, glitten wieder zurück und zersplitterten. Breiter und breiter wurde der Wasserstreifen längs dem Damm; die Wogen stürzten sich über die Schollen wie Jagdhunde auf 155 das gehetzte Wild. Alle Frauen huben an zu jammern, als sie die dunkle Flut zwischen dem Eis und dem Lande wachsen sahen. Der alte Fischer aber sagte gelassen:

»Auch die draußen wissen, wohin der Wind treibt. Sie fahren nach Tawe hinauf.« Und er schickte die Männer dem Damm entlang mit Stangen und Haken, zu sehen und zu wehren, damit nirgends die Schollen von der Flut angeworfen würden und den Wall zertrümmerten. Die Lichter schwankten durch die Dunkelheit davon. –

Um die Mauern von Kampken herum lag das Haff schon frei; das Wasser und der Wind hatten das Eis weit hinaus und gegen die Waldbucht hin getrieben. Das Ruderboot zerrte an seiner Kette und sprang unruhig auf und nieder. Klaus stand einen Augenblick vor ihm still, dann schritt er weiter und trat ins Haus hinein.

Im Flur horchte er auf. Eine Stimme war laut, und durch die Türritze fiel ein dünner Lichtstreifen. Klaus lehnte sich an die Wand und lauschte, aber unwillig trat er wieder weg und ging auf die Wendeltreppe zu. Da hallte die Stimme noch lauter, und Klaus blieb wieder stehen.

»Nein, meine Beste, erlaube, daß ich dir 156 widerspreche. Ich halte es einfach für eine unentschuldbare Ungezogenheit. Ob er sie liebt oder nicht, spricht hier gar nicht mit. Aber unsere Gäste – unsere! meine Liebe – sollen so nicht das Haus verlassen.«

Es blieb eine Weile still, Schritte gingen hin und her. Klaus stand ruhig, mit einem spöttischen Lächeln, auf der dunkeln Treppe.

»Ich weiß, daß du ihn verteidigst und Gründe für sein Verhalten findest –.«

»Gegen wen verteidigen?«, unterbrach Frau Annemarie ruhig.

»Gegen wen! Gegen uns, gegen sie und mich. Ja, ich sage es frei heraus: ich stelle mich auf ihre Seite. Diese Schwächlichkeit ist so lächerlich. Du – du kannst ja nichts dafür, Liebste, ich weiß schon, ja –. Aber der Junge. Sie hätte etwas aus ihm machen können. Sie rüttelt auf, hast du das nicht auch empfunden?«

Wieder wurde es still, die Schritte hielten auch plötzlich inne. Aber keine Antwort erfolgte.

»Man schämt sich geradezu, vor ihr sich Blößen zu geben. Ich habe mich förmlich zusammengenommen, aufgerappelt, – wir trotten doch eigentlich hier draußen unser Leben recht jämmerlich dahin, – entschuldige schon!«

157 Er versuchte zu lachen und ging wieder auf und ab.

»Und welchen Eindruck hinterläßt ihr nun diese Abreise! Ich fahre morgen nach Königsberg hinein; ich kann das nicht auf mir sitzen lassen. Du verstehst mich, Beste?«

»Ja,« sagte sie ruhig.

Jetzt küßt er sie auf die Stirne!, dachte Klaus, sprang in drei Sätzen die letzten Stufen empor und schritt an den hohen Truhen vorbei in sein Zimmer. Dort begann er zu lachen, höhnisch und ungezügelt, warf den Oberkörper nach vorne und zurück, lachte und schüttelte den Kopf, stieß das Fenster auf und schlug lachend aufs Bett hin. Der Wind brüllte heulend herein. Er übertönte das krampfige Schluchzen, das den müden, aufgepeitschten Körper in den weißen Linnen durchschütterte, und verwehte den wieder und wieder gestöhnten Namen: »Annemarie, Annemarie –.«

 

Der Sturm war die ganze Nacht am Werk und pflügte das Haff um wie einen brachen Acker. Am Morgen legte er sich. Ein grauer Tag stieg widerwillig empor, und die Wolken schleppten sich tief wie zerrissene Gewänder über den 158 gebrochenen Bäumen des Forstes und den treibenden Eisschollen dahin. Die Luft war lau; braune Erde stieß aus der fleckigen Schneekruste hervor. Die Birken am Weg schimmerten über getauten, zitternden Wasserlachen.

Gegen Mittag fuhr Christian von Dohm nach dem Bahnhof. »Vielleicht reise ich schon mit dem Abendzuge zurück,« sagte er, als er von Frau Annemarie Abschied nahm. Klaus kam erst zum Essen von seinem Giebelzimmer herunter.

Schweigend saßen sich die Beiden gegenüber. Nach Tisch zündete sich Klaus eine Zigarrette an, folgte Frau Annemarie in ihr Zimmer und stand gleichgültig herum, strich mit der flachen Hand über den schwarzglänzenden Flügel, sah flüchtig in die Notenblätter, die auf dem Ständer aufgeschlagen waren, und wunderte sich, daß sie hier standen, bis er sich erinnerte, wer zuletzt gespielt hatte. Da nahm er sie weg und schob sie unter andere Hefte.

Im Flur rief eine Stimme. Klaus öffnete die Türe. Meister Peslack, der Stellmacher, schlüpfte aus seinen Holzschlurren und trat näher.

»Also die von Agilla sind nicht alle ans Land gekommen, junger Herr,« sagte er.

»Nicht?«, fragte Klaus gleichgültig.

159 »Jeschkeit und Lepehne sind draußen geblieben, vier Stück.«

Frau Annemarie trat hinzu. »Der Einäugige auch? die arme Stina.«

Klaus sah sie verwundert rasch von der Seite an.

»Ja, gnädige Frau, die schreit auf dem Damme draußen, daß man sie fast hier hören kann,« sprach der Stellmacher und verzog sein stoppliges Gesicht. »Junger Herr, ich wollt fragen: soll ich das Boot ganz ans Land ziehen? Der Sturm könnte es losreißen, das nächstemal.«

Klaus sagte rasch: »Es ist ja kein Sturm mehr.«

»Wer kann es wissen, heute Abend? Das ist so in dieser Jahreszeit: plötzlich, ohne daß man etwas ahnt.«

Klaus zog unruhig die Hände aus den Taschen und schüttelte den Kopf. »Hat es das Eis ausgehalten, so wird es auch die paar Wellen ertragen. Laß es liegen.«

»Nur daß der junge Herr dann nicht sagt, ich sei schuld, wenn es mal kieloben treibt, an einem Morgen.«

»Dummheiten,« sagte Klaus und wandte sich rasch weg. Der Stellmacher schlurte davon.

Frau Annemarie setzte sich in den Sessel ans Fenster 160 und sagte nach einer Weile leise: »Jetzt sind wir wieder ganz allein.«

Klaus blickte zu ihr hinüber. »Es ist doch nicht mehr so wie einst.«

Sie lächelte. »Und es wird noch ganz anders werden, bald.«

Er zog langsam die Unterlippe zwischen seine Zähne und ließ die Augen nicht von dem schwach vorgebeugten Kopf, der sich scharf von der Helle des Fensters abhob, mit dem losen Haarknoten über dem schmalen Nacken.

»Du hast ja auch im Sinne, wegzugehen,« fuhr sie lächelnd fort. »Dann bleibe ich allein zurück im stillen Haus.«

»Wie weißt du, daß ich daran dächte –?«

Sie wandte ihm ihr Antlitz zu. »Der Winter ist mit diesem Sturme vorbei, – und auch in dir ist Ruhe geworden.«

Er sah sie still und groß an.

»Nicht?«, sagte sie und trat auf ihn zu. »Nicht, mein großer Junge?«

Er schüttelte leise den Kopf. Und als sie ihre Hände auf seine Schultern legte, flüsterte er tonlos: »Ich bin nur müde.«

Da ging sie zum Flügel und begann zu spielen. 161 Der Tag versank leise, ohne daß sie es sahen. Die Schatten schritten herein, und sie hörten sie nicht. Frau Annemarie spielte, und wenn ihre Finger ruhten, klang die Dämmerung im dunkelnden Zimmer, klang das alte Haus und die Stille des weiten Landes wie tiefe Glocken.

Als sich Frau Annemarie erhob, sagte Klaus in die schwingende Stille hinein: »Ich bin zu Hause.« Die kranke Frau aber hörte das Wort mit leiser Freude. Und ruhig rollten die fessellosen Wogen des Haffs an die dicken Mauern heran und pochten und pochten. –

Timm, der zum Abendzug gefahren war, kam zurück und meldete: »Der gnädige Herr war nicht da.«

Klaus beobachtete Frau Annemarie; diese aber sagte ruhig: »Danke. Guten Abend, Timm. – Gehen wir zu Tisch.«

Sie sprachen wenig, standen bald wieder auf und setzten sich beim Kamin nieder. Klaus schob ein Scheit auf die Glut, kniete auf den dicken Pelz und blies in die schwache Flamme; knisternd prasselte sie empor. Klaus bog seinen Kopf zurück und streifte dabei Frau Annemaries Knie.

Jäh wie die auflodernde Flamme warf er sich herum, vergrub sein Antlitz in ihren Schoß und umschloß 162 mit seinen starken Armen ihren Leib. Sie lehnte sich in den Sessel zurück, hob schwach ihre Hände und stemmte sie gegen seine zuckenden Schultern. Sie stöhnte leise: »Nicht, nicht –.«

Dann stützte sie sich auf die Armlehnen des Sessels, erhob sich und trat zurück. Sein Körper sank schwer nieder.

Eine Weile blieb es still, Frau Annemarie rührte sich nicht von der Stelle. Klaus richtete langsam sein Gesicht empor und sagte leise: »Verzeih.«

»Mein armer, großer Junge,« flüsterte sie und trat aus dem unruhigen Lichtkreis des Kamins in den Schatten zurück. Ihr Schritt verlor sich auf dem Teppich, und die Türe glitt dumpf ins Schloß.

Als das Scheit in rotweiße Glut auseinanderbrach und die Finsternis näher an den Kamin herankroch, erhob sich Klaus, strich sich die Haare aus der Stirn und schritt aus dem Gemach. Auf dem Flur lauschte er, öffnete dann die schwere Türe und glitt in die Nacht hinaus.

Laue, dumpfe Luft preßte sich an ihn, die Aeste sprühten, von schwachem Winde leise bewegt, kühle Tropfen auf sein Gesicht herab. Er schritt der Mauer entlang zum Strand. Die Wellen brandeten 163 stark, aber ruhig heran. Ihre schaumigen Kämme fuhren leckend über den dunkelfeuchten Sand, wie blitzende Sicheln, und verflossen in versickernden Strähnen.

Das Boot schwankte auf und nieder und riß an der Kette. Klaus löste sie, trat in den Kiel und setzte sich auf die Bank. Er legte die Ruder ein und trieb mit zwei langen Stößen vom Strand weg. Welle auf Welle drängte sich gegen die Bootswand, spritzte manchmal leicht über die Kante und glitt rauschend vorüber. Klaus hielt die Ruder breit nach beiden Seiten, das Boot stand fest.

Dann ruderte er weiter hinaus. Dunkel stiegen die Mauern des Hauses aus dem Wasser empor, ein Fenster war hell und zeichnete einen fahlen, zitternden Schein auf die Wellen. Und am Ende der Allee schimmerte das weiße Mäuerchen; kahle, knorrige Aeste hingen tief darüber herab.

Da zog Klaus die Ruder ein. Langsam drehte sich das Boot, mit jeder Welle mehr. Sie stemmten und schoben, hoben und beugten es wieder. Es lag breit vor ihnen.

Klaus bog den Kopf, streckte ihn weit vor. Wie eine dunkle Wand glitt es lautlos heran, bäumte sich auf und schien zaudernd still zu stehen. Er griff 164 mit beiden Händen um sich, und wie ein Schlag klatschte es ihm ins Antlitz.

 

Am nächsten Morgen klapperte Peslack, der Stellmacher, die Treppe zum Herrenhaus hinauf, schlüpfte aus den Holzschuhen und trat in den Flur. Dort traf er Frau Annemarie.

»Wen sucht er, Meister?«, fragte sie.

»Ich wollt nur sagen –,« und er lächelte kopfschüttelnd, »mit dem Boot hatte ich doch recht. Kieloben treibt es, nicht hundert Schritt vom Strand.«

Frau Annemarie hob beide Hände jäh zur Brust und trat einen Schritt zurück.

»Und doch war nicht einmal Sturm,« fuhr der Stellmacher gleichgültig fort. »Starke Wellen, aber fast kein Wind.«

Frau Annemarie schritt rasch die Wendeltreppe hinauf, an den hohen, dunkeln Schränken vorbei zur Türe des Giebelzimmers. Wie vom Schwindel ergriffen, lehnte sie sich eine kleine Weile lang ans Gebälk, klopfte dann laut an, lauschte, stieß die Türe langsam auf und trat ins leere Zimmer.

 
Ende.


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