Hugo Marti
Das Haus am Haff
Hugo Marti

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6 I

Lautlos, voll reifender Schwüle lag die Mittagshitze des Hochsommertages über den weiten Feldern, aus deren gelben Wellen sich die hellen Mauern und das rote Dach des kleinen Bahnhofs erhoben.

Müde tickte es aus der halbgeöffneten Tür in die Stille heraus, zögerte und verstummte. Ueber dem Damme zitterte die Luft. Der Stationsgehilfe trat aus der Türe, knöpfte seinen Rock zu und schaute den Geleisen entlang, die flimmernd schnurgerade durch die Felder liefen und in weiter Ferne mit einem blauen Streifen, dem Walde, zusammenstießen. Von dort her rollte ein Zug, ratterte bremsend vor den Bahnhof, kreischte lange und stand. Der Führer lehnte sich heraus und nickte dem Stationsgehilfen zu. Dieser hob den Arm und wollte winken, da wurde eine Wagentüre aufgerissen und ein Koffer auf die oberste Treppenstufe geschoben. Erstaunt blickte der Gehilfe hinüber, riß dann seine Hand herunter und trat mit langen Schritten an den Wagen. »Guten Morgen, Herr von Dohm,« sagte er und hob den Koffer herab auf den staubigen Kies.

Klaus sprang nach. Er schritt neben dem 7 Gehilfen über den Bahnsteig. Der Zug rollte langsam davon. Es wurde wieder still.

»Sie kommen auch einmal in die Einöde heraus?«, begann der Stationsgehilfe verwundert. »Sie waren schon lange nicht mehr hier?«

»Zwei Jahre,« erwiderte Klaus von Dohm. »Als ich die Schule verließ, war ich zum letztenmal hier draußen.«

»Und seither waren Sie immer in Berlin?«

»Ja, dort und anderswo, nur nie hier.«

»Das begreif ich wohl,« lachte der Gehilfe. »In dieser Stille kann einen der Teufel holen.« Er machte ein paar Schritte auf dem Bahnsteig hin und her. Klaus sah ihm nach und zog ein wenig die Mundwinkel herab. Dann drehte er sich um und schritt nach dem freien Platz neben dem Hause. Der Stationsgehilfe kam ihm langsam nach. Beide blickten in die Straße hinaus, über deren dicken Staub die Bäume am Rande plumpen Schatten warfen.

»Warum kommt ihr Wagen wohl nicht?« fragte der Gehilfe nach einer Weile und trat in den Schatten des Bahnsteiges zurück.

»Ich habe erst heute Morgen telegraphiert, daß ich um Mittag hier sein würde.«

8 Eine Staubwolke erhob sich fern auf der Straße zwischen den Bäumen und legte sich über die Felder zur Seite. In langsamem Trab kam der Wagen herangefahren. Klaus winkte mit der Hand und schrie:

»Laß doch die Pferde mal laufen, – rascher!«

Nun bog der Wagen aus der Landstraße auf den Platz, umfuhr ihn langsam und hielt vor Klaus.

»Ei Druske, du fährst wieder? Aber so langsam. Hast du Angst um deine alten Knochen?«

Der Kutscher hob seine Mütze und grüßte: »Guten Tag, junger Herr.« Und als hörte er jetzt erst, was Klaus ihm lachend gesagt hatte, fügte er kopfschüttelnd bei: »Angst –? Jawohl, der Druske und Angst! Aber das weiß jedermann: Seit ich da oben sitze, und das ist nicht seit gestern und nicht seit letztem Herbst, geschah unsern Pferden nie etwas, nie, jawohl, und ich hab doch manche Fahrt mitgemacht, im Sommer durch die Hitze und übers Haffeis im Winter.«

»Nun fahr mal zu!«, drängte Klaus und nahm ihm gleichzeitig die Zügel aus den Händen. Die Pferde stampften und klapperten auf dem Pflaster des Platzes, zogen an und trabten die Straße hinaus.

Weit taten sich die Felder auf, von ferne bog sich 9 der Wald allmählich an die Straße heran. Dann jäh, wie ein Vorhang weggerissen, wich er wieder zurück. Da lag Kampken, das Herrenhaus halb verborgen in hohen, dunkeln Bäumen, zu beiden Seiten des Birkenweges die niedrigen Bauernhütten, daneben und dahinter graublau, schimmernd und mit dem Himmel verfließend das Haff.

Klaus übergab dem alten Druske die Zügel. Sie fuhren langsamer, in tiefen, sandigen Geleisen. Da und dort tat sich eine Hüttentüre auf, ein Mann trat auf die Schwelle und grüßte herüber. Mädchen und junge Frauen, farbige Tücher über dem Kopf, kamen vom Hofe her; sie gingen leicht in die Kniee, als der Wagen an ihnen vorüberfuhr, blieben stehen und drehten sich um. Eine sagte: »Das ist der junge Herr, – wie groß er geworden ist.« Dann stapften sie den Hütten zu.

Vor der Stellmacherei ließ Klaus halten und rief laut: »He, Meister Peslack!«

Die niedere Tür wurde aufgestoßen, und der Stellmacher trat in das Gestrüpp seines Gärtchens heraus. »Ah, der junge Herr,« grüßte er lachend und legte seine Arme auf den wackeligen Zaun.

»Wie stehts, Meister, ist mein Boot in Ordnung?« fragte ihn Klaus.

10 »Das Boot? Jeden Frühling hab ichs ans Wasser hinabgezogen und ausgebessert, ich wußte ja nicht, ob der junge Herr wieder mal käme, und weil das doch immer des jungen Herrn einzige Beschäftigung war, all die Tage lang auf dem Haff draußen zu liegen, da dachte ich mir, ich wollt es mal lieber gut in Ordnung halten. Aber der junge Herr kam so lange nicht, und im Herbst hab ichs wieder heraufgezogen, kein Mensch hats angerührt. Jetzt liegt es drunten im Sand.«

»Gut, Meister; ich denke, es wird nun wieder oft genug ins Wasser kommen. Fahr zu, Druske.«

Der Stellmacher lachte dem Wagen nach und trat ins Haus zurück. Tief mußte er auf der Schwelle Kopf und Nacken beugen. Hinter sich warf er die Türe ins Schloß. Es klang weithin durch das mittagstille Dorf.

Der Wagen fuhr durch den knirschenden Sand unter den alten Bäumen des Parkes, vorbei am Weiher, der voll großblättriger Wasserpflanzen still im Dunkel lag und in den breite Aeste ihre Zweigspitzen tauchten. Ehe Druske aus dem Schatten auf den sonnenbeschienenen Platz vor dem Hause lenkte, sprang Klaus vom Wagen, eilte zwischen den Baumstämmen hindurch und 11 in einem Sprung die drei Stufen hinan, die auf der andern Seite des langen, niederen Gebäudes in die Küche führten.

Die beiden Mädchen, die laut mit dem Geschirr rasselten, während sie ein Lied sangen, erschraken, hielten jäh inne und drehten sich nach ihm um, als sein Schatten durch die offene Türe fiel.

»Singt weiter, Marjells, singt weiter,« drängte er. »Wollt ihr mir den Spaß verderben?«

Das ältere Mädchen knixte und bot ihm den Gruß, das jüngere, das noch kein halbes Jahr in der Wirtschaft war, starrte ihn reglos an.

»Nun, so singt doch!«, wiederholte er. »Ich tanze am Erntefest nicht mit dir, Lisbeth, wenn die Tante euretwegen mich hat kommen hören. Singt, singt weiter!«

Die beiden Marjells lachten, Lisbeth versuchte wieder anzustimmen, aber das Lied blieb stecken.

Klaus eilte weiter, von Gemach zu Gemach. Die Türen von einem Zimmer zum andern standen weit offen, und Klaus erblickte im letzten von ferne Frau Annemarie, die sich leicht aufs Gesimse stützte und zum Fenster hinaus auf den sonnenhellen Kiesplatz schaute. Er sprang lautlos von einem Teppich zum andern, huschte an den Fenstern 12 vorüber, durch die das Haff die Sonnenstrahlen hereinspiegelte, und trat behutsam auf die letzte Schwelle, die unter seinem Fuß leise eine Tonleiter ächzte. Da wandte sich auch schon die Frau am Fenster um, sagte lächelnd: »Da ist er ja, mein Junge,« und trat langsam auf ihn zu.

Klaus stampfte auf die Schwelle: »Pfui, wie häßlich, daß sie mich verraten hat. Ich wäre dir um den Hals gefallen, Tante Annemarie!«, und er hob die Arme. Er stutzte aber, ließ sie wieder sinken, beugte seinen Kopf tief über die Hand der Frau und küßte sie.

»Wie groß du geworden bist, Klaus,« begann Frau Annemarie und trat zurück. »Man muß ordentlich hinaufblicken, wenn man dir noch durch die Augen ins Herz sehen will.«

»Und du, – wie jung du eigentlich noch bist,« brach er staunend aus. »Ich hatte dich doch viel älter in meiner Erinnerung behalten.« Er stockte plötzlich. Dann fragte er: »Geht es dir wieder gut?«

Sie lächelte: »Wenn ich so jung aussehe, kann mir wohl nicht viel fehlen.«

Er nickte und schien nicht auf ihre Worte zu hören. Sie schritt langsam, auf ein schwarzes Stöckchen gestützt, an ihm vorüber ins Speisezimmer. »Komm,« sagte sie.

Da wandte er sich und ging neben ihr her, durch die großen Räume mit den gewölbten Decken und den kleinen Fenstern in den dicken Mauern. Plötzlich legte er seine Hand leise auf ihren Arm; sie blieben beide stehen.

»Lausche,« flüsterte er. Gleichmäßig klatschten die Wellen des Haffs an die Hausmauer unter den Fenstern, rauschten zurück und rollten von neuem heran, stetig und eintönig.

»Das ists, warum ich endlich doch wieder hierher kommen mußte,« fuhr Klaus mit leiser Stimme fort. »Das hörte ich die langen Jahre hindurch immer, und dieses stille Lied machte meine Tage in der lauten Stadt reich und traurig.«

Frau Annemarie sagte nur: »Ich möchte es auch nicht mehr missen«, und schritt weiter. Klaus folgte ihr lauschend.

 

Die Sonne sank langsam und tauchte ins Meer der glühenden Kornfelder hinab. Es wurde Abend, aber noch blieb es still auf dem Hofe, noch kehrten die Instleute, die Knechte, Polacken und Marjells nicht von den Feldern heim. Und auch im 14 Herrenhause regte sich nichts; weit offen standen die Fenster nach dem Haffe hin, und ohne Ruhe schlugen die Wellen an die Mauer, etwas stärker und rascher zu dieser Stunde als zur Mittagszeit, aber kein Laut war in den Gemächern zu hören, kein Schritt knarrte auf den Holzdielen.

Klaus lag in seiner Giebelstube unter dem Fenster. Er sah durch das höchste Gezweig der Bäume hinaus aufs Haff, blickte den rotbraunen, dunkelgrünen und weißen Segeln nach, die sich langsam nah und fern vom Strande lösten und in die graublaue Dämmerung hinausglitten, und folgte ihren Bewegungen, wie sie sich näherten, nebeneinander her liefen und dann wieder sich trennten, sich verloren in den dunstigen Schatten des hereinbrechenden Sommerabends.

Es war so still, – er meinte, das Knattern der Segel am Mast hören zu müssen. Ein leiser Wind strich vom Haff her, die Blätter schwankten auf und nieder, ohne zu rascheln.

Schritte im Kies unter dem Giebelfenster, – Klaus sah durch die belaubten Zweige, die an die Hausmauer streiften, wie Frau Annemarie die wenigen Stufen hinabschritt und in die dunkle Allee trat. Er zauderte eine kurze Weile, dann rief 15 er: »Ich komme auch, – wenn du gestattest.« Bei den letzten Worten war er schon auf dem halbdunkeln Flur, sprang in großen Sätzen die Wendeltreppe hinunter und trat aus dem Haus. Frau Annemarie hatte sich umgewandt und erwartete ihn. »Was tatest du nur den ganzen Nachmittag?«, fragte sie im Weiterschreiten und stützte sich leicht auf seinen Arm.

»Nichts, nichts!«, lachte er. »Ich habe ja so viel Zeit vor mir; es eilt gar nicht, etwas zu beginnen. Alles hier draußen scheint behutsamer, leiser und langsamer zu gehen. Hörst du das Lied? Eine Frau im Dorfe singt. Wie gelassen, wie ruhig –.«

Sie lauschten den schweren Tönen, die von ferne durch den Garten zogen. »Manchmal scheint es einem sogar,« sprach Frau Annemarie, »als hätte uns die Zeit überhaupt vergessen. Sie kommt so zaudernd durch die dunkeln Wälder heraus zu uns an den Strand. Und der Tod –, wie lange steht er still, bis er in diese einsamen Häuser tritt.« Klaus neigte den Kopf hin und her: »Aber draußen, auf dem Haff, da springt er einem doch manchmal gar rasch an den Nacken.« Er blickte zwischen den Stämmen hindurch aufs Wasser hinaus, wo die letzten Segel kaum noch zu erkennen waren.

16 Unter den tief herabhängenden Aesten der alten Bäume war es beinahe schon ganz dunkel. Wie ein großes Tor in die verglühende Tageshelle hinaus wölbten sich die Zweige am Ende der Allee. Im Halbkreis schloß dort ein weißes Steinmäuerchen den Garten ab. Dahinter lag das Haff.

»Wo ist Onkel Christian eigentlich?«, fragte Klaus plötzlich. »Da bin ich schon einen halben Tag hier draußen und habe den Hausherrn noch nicht gesehen.«

»Er ist in Königsberg und kommt wohl morgen wieder zurück. Er weiß noch nicht, daß du hier bist. Du hast uns so unerwartet überfallen. Das war lieb von dir.«

»Ich habe ja selber auch erst gestern den Entschluß gefaßt, gestern Mittag, als ich durch den Tiergarten nach Hause ging. Gestern war ich also noch in Berlin? – Wie weit zurück liegt mir das alles heute Abend schon, nach ein paar Stunden, in denen ich bloß der Stille zugehört habe.«

Sie standen unter den letzten Bäumen. Frau Annemarie setzte sich auf das Mäuerchen und sah weit hinaus über die Wellen. Klaus streifte mit seinen Blicken ihr Antlitz. An ihrem Munde fiel ihm etwas auf, er wußte nicht, was es war. Sinnend 17 betrachtete er sie. Annemarie wandte ihm plötzlich die Augen zu. Er zuckte, suchte nach einem Satz und sagte, ohne Klarheit über das, was er dachte: »Daß du meine Tante bist, ist so seltsam.« Die Worte ärgerten ihn, noch während er sie aussprach. Und er wollte von ihrer Krankheit zu reden beginnen. Aber es widerstrebte ihm.

Frau Annemarie wandte ihren Kopf wieder weg und sagte nebenhin: »Nenn mich doch bei meinem Namen, wenn du lieber magst. So viel älter als du bin ich ja auch nicht.«

Klaus starrte sie an, dann sprach er rasch, halblaut, mehr zu sich selber: »Es ist wahr, – du bist ja Doris Freundin gewesen.«

Frau Annemarie stieß mit ihrer rechten Hand ein paar Steinchen von der Mauer in die Wellen hinab und antwortete nicht. Klaus zog die Brauen zusammen und biß mit den Zähnen auf die Unterlippe, während seine Augen den Fingern Frau Annemaries folgten. Dann sprach er hastig, wie gegen seinen Willen gezwungen, und doch schien es ihm unmöglich, seine Rede irgendwo abzubrechen:

»Ja, Doris läßt dich grüßen; fast hätte ichs vergessen. Es geht ihr gut; sie arbeitet viel, man sah 18 sie selten. Ich war gestern noch rasch bei ihr, um ihr zu sagen, ich führe heraus. Sie will im Herbst auch nach Danzig zurückkehren. Ja, sie ließ dich grüßen. Das Einzige, siehst du, was ich dir mitbrachte, habe ich beinahe vergessen abzugeben.«

Frau Annemarie lächelte und kratzte wieder ein Steinchen aus der Mauerritze. Sie erwiderte: »Es freut mich gleichwohl noch!« Dann erhob sie sich und zog die Schultern leicht zusammen. »Es wird kühl,« sagte sie und trat in das Dunkel unter die Bäume.

Klaus lachte: »Ich habe Lust, noch zu baden. Wann ist das Abendbrot?«

»In einer halben Stunde,« antwortete sie und schritt die Allee zurück. Klaus blickte ihr nach, wie sie langsam durch das Dunkel ging und wie ihre weiße Gestalt immer tiefer in den Schatten verschwand. Er dachte unaufhörlich und sagte leise immerfort den gleichen Satz: »Sie ist doch sehr krank, sie ist doch sehr krank.« Dann drehte er sich um.

Der Wind kam stärker vom Haff her, die Zweige rauschten manchmal auf und die Wellen spritzten höher an den Steinen empor. Klaus lachte vor sich hin und sprach: »Doris!«

19 Hastig zog er seine Kleider aus, warf sie zur Erde in den Sand und stieg auf das Mäuerchen. Eine Weile stand die nackte Gestalt bewegungslos in der Dämmerung, unter den letzten Zweigen der dunklen Bäume, vor dem blassen Abendhimmel, dann sank sie ein wenig in die Kniee, straffte sich hochauf und sprang weit hinaus in die Wellen.

 

Frau Annemarie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich; der Diener trat heran, legte seine linke Hand auf die hohe Lehne, zog den Stuhl weg und reichte der Frau ihren dünnen, schwarzen Stock.

Christian von Dohm führte das Weinglas in großem Bogen vom Munde weg und stellte es neben den Teller hin, schlug mit den flachen Händen auf die Tischkante und stand langsam auf. Gleichzeitig erhob sich Klaus. Sie schritten hinter Frau Annemarie her durch die offene Tür ins Nebengemach.

Die Sonne lag in schrägen Strahlen und mit den warmgoldenen Lichtern des späten Sommerabends auf den hochlehnigen Holzsesseln und über den dunkeln Bildern an der Wand. Aus einem braunen, rissigen Rahmen heraus glühte ein roter Gewandfetzen, in dessen Falten eine schwere, goldene Ringkette versank, daraus stieg ein schmaler Hals empor, 20 der weiß und durchsichtig leuchtete, während das Antlitz mit den hochgebundenen Haaren darüber im Schatten lag.

Klaus blieb stehen und drehte den Kopf nach dem Bilde. »Als ich ein Junge war, – bei meinem ersten Besuche wohl, vor zehn Jahren, – erzähltest du mir die Geschichte dieser Frau. Erinnerst du dich?« Frau Annemarie nickte. »Ich hatte sie damals selber soeben gehört und dachte in den ersten Tagen, als ich dieses Haus bewohnte, nur an die arme Frau.«

Christian sah von dem Briefe auf, den er am Fenster las, trat heran und sagte lächelnd: »Sie war sicherlich schön. Ihr Mann, mein Urgroßvater, muß aber ein gestrenger Herr gewesen sein. Er ließ nicht mit sich spassen. Fort mit ihr, aus Hof und Heim, als er ein einziges Mal den jungen Fant bei ihr traf. Man war ohne Erbarmen bei uns, zu jenen Zeiten. Wer weiß, ob sie überhaupt schuldig war.«

Er trat wieder zum Fenster zurück und las seinen Brief. Klaus betrachtete das Bild, bis plötzlich die Sonne davon weggeglitten war und die glühenden Farben lautlos erloschen. Da wandte er sich ab und schritt ins Rauchzimmer.

21 Christian folgte ihm, steckte sich auch eine Zigarre an und legte sich in einen tiefen Sessel zurück.

»Da bist du wieder mal bei uns. Du verzeihst, daß ich gestern bei deiner Ankunft nicht hier war.«

»Aber bitte!«

»Ja, ich mußte rasch nach Königsberg fahren. Eine Besprechung wegen der Fohlen.« Er sah in den Rauch, klopfte mit dem Finger die Asche ab und sagte: »Was treibst du eigentlich immer, Junge?« Klaus sah ihn an und zog die Brauen in die Höhe.

»Nicht als ob ich dich ausfragen wollte,« fuhr der andere lachend fort. »Es geht mich ja nichts an, – soweit –,« fügte er nach einer Weile hinzu.

Klaus sagte gleichgültig: »Du weißt ja, ich studiere Jus. Vater wollte es so, er sagte es ja dir selbst vor seinem Tode.«

»Ja, damals sagte er es. Er selber hat es damit weit gebracht. Er war der Aeltere, aber er verzichtete gern auf Kampken. Er paßte nicht mehr hierher, als er von der Hochschule zurückkam. Es ist doch ein zu stilles Leben hier draußen.«

Klaus sagte nach einer Weile: »Es kommt darauf an, was einer herauszuhören vermag.«

Christian sah ihn belustigt an: »Zum Ferienaufenthalt ganz gut, gewiß, – aber jahrelang, 22 jahrelang –. Du, hör mal, laß den Jochem doch Wein bringen – oder Porter. Es liegen noch ein paar Flaschen unten.«

Klaus ging ins Eßzimmer hinüber, wo Jochem das Silbergeschirr von der Tafel nahm. Als er zurückkam, blieb er eine Weile bei Frau Annemarie stehen. Sie saß in der Nische am Fenster und blickte übers Haff. Ihre Hände lagen auf dem breiten Gesimse.

»Dort fährt der Jeschkeit; das ist sein Segel, das dunkelgrüne,« sagte sie und wies übers Wasser hin. »Du weißt doch noch, wer Jeschkeit ist?«

»Ja,« erwiderte Klaus. »Morgen gehe ich zu ihm. Ich will wieder mit ihm fahren.«

Sie sah ihn von der Seite an und fragte lachend: »Was denken wohl die Leute, wozu du hergekommen bist?«

»Was gehts sie an? Und was kümmerts mich?« Und er lachte auch. Pfeifend ging er ins Rauchzimmer zurück.

Christian hatte zwei Gläser gefüllt. »Du bringst ein wenig Leben ins Haus,« rief er Klaus zu. Nachdem sie getrunken hatten, fragte er mit gedämpfter Stimme: »Wie fandest du sie?« und zwinkerte nach Frau Annemaries Zimmer hinüber.

23 »Ganz gut,« antwortete Klaus. »Und viel jünger als ich mich ihrer erinnerte.«

»Jünger? Seltsam. Sie ist doch immer krank.«

Klaus sah ihm in die grauen Augen, die etwas schläfrig aus dem hohen, schlaffen Gesicht blickten.

»Ist sie denn nicht ganz geheilt?«, fragte er.

»Da ist nichts zu heilen,« versetzte der andere und schüttelte langsam den Kopf. Dann fügte er hinzu, indem er das Glas hob: »Du siehst, ich bin wahrlich nicht zu beneiden.«

Klaus warf den Kopf mit einem Ruck zurück. Er lachte nicht, aber er zog lautlos die Mundwinkel etwas herab. Christian bemerkte es nicht, er sah auf den Teppich nieder.

»Es ist auch ein Leben, Teufel noch einmal,« murmelte er seufzend. »Und ich lasse sie natürlich nichts merken, – was kann sie dafür, daß sie krank ist? Aber ihr selber gehts auch nahe, – diese Stille im Haus, kein Junge, kein Lachen. Früher warst du noch etwa hier, in den Ferien, ab und zu Sonntags, als du in Königsberg lebtest. Seither ists tot.«

»Ich bin ja wieder da,« warf Klaus ein.

»Wie lange! Du wirst es bald satt kriegen, Junge. 24 Du bist an ein anderes Leben gewöhnt. Erzähl ein wenig, wie ihrs in Berlin treibt. Toll, was?«

Klaus zuckte mit den Achseln. Christian beugte sich nach vorne, goß in die Gläser ein und blinzelte ihn aufmunternd an. »Raus mit der Rede! Wir leben hier ja doch bloß von dem, was uns das Leben manchmal so zuträgt, – vorwirft!«

Frau Annemarie trat auf die Schwelle und schritt über den Teppich an den Tisch heran. »Man muß wohl allmählich an die Vorbereitungen zum Erntefest denken?,« fragte sie.

»Gewiß, Beste,« antwortete Christian und erhob sich schwerfällig aus der Tiefe seines Sessels. »Sonnabend in acht Tagen werden wir wohl soweit sein.«

Frau Annemarie zauderte eine Weile, dann sagte sie: »Könnte man nicht die Trencks dazu herbitten und die Osterlohs von Romehne? Sie waren lange nicht hier.«

Christian schritt auf sie zu, legte ihr beide Hände ums Haupt und küßte sie. »Was du stets für ausgezeichnete Gedanken hast, Liebste. So wollen wirs machen: Trencks und Osterlohs, – vielleicht noch die Güstrows, was meinst du dazu?«

Frau Annemarie zog ihren Kopf aus seinen Händen und sagte einfach: »Vielleicht auch die Güstrows.«

25 Christian lachte zu Klaus hinüber: »Weißt du, Ursula von Güstrow ist wieder zu Hause. Du erinnerst dich wohl an sie, – es ist die mit dem blonden Haar, die lange, die so ausgezeichnet reitet.«

»Ich glaube, ich erinnere mich. Aber lief sie nicht weg, einmal? Ich hörte jemand davon erzählen.«

»Ja, diese, – sie hat wieder Frieden geschlossen mit dem Alten; es war eine seltsame Geschichte. Niemand weiß eigentlich recht, wie es zugegangen ist. Seit sie wieder zu Hause wohnt, ist alle zwei Wochen irgend was los auf Pareyken. Der Alte gibt klein bei und findet auch Gefallen daran.«

»Willst du's ihnen sagen,« fragte Frau Annemarie, »oder soll ich schreiben?«

»Ich reite mal vorbei, – oder du, Klaus, kannst es besorgen. Du mußt ja doch grüßen gehn. Sie werden Augen machen, dich wieder zu sehen. Ursula wird dich zum Reiten bestellen.«

Klaus murrte: »Wenn ich will –«

»Gute Nacht,« sprach Frau Annemarie. Christian küßte sie nochmals auf die Stirn; sie ließ es still geschehen, dann streckte sie Klaus die Hand hin und schritt langsam aus dem Zimmer.

Als die Türe sich hinter ihr geschlossen hatte, blieb es eine Weile still. Christian zündete sich eine neue 26 Zigarre an und schob Klaus die Schachtel hin: »Die wird dir gefallen.«

Klaus griff in den Kasten, hielt erstaunt inne und sah Christian fragend an.

»Sie legt Feuer, wo sie kann.«

»Du sprichst von Ursula,« lachte Klaus.

»Ja, ja.« Und er lachte auch, laut und stoßweise. Klaus verstummte sofort. Christian schüttelte noch ein paarmal seinen Kopf, starrte vor sich hin und lehnte sich dann seufzend zurück. »Wenn wieder etwas Leben hier in diese dicken Mauern käme –! Wir wollen es versuchen. Du bist ja nun hier, Klaus, – wer weiß? Annemarie liebt es nicht, aber eigentlich wäre es nur gut für sie. Sie schläft mir leise ein in dieser Stille. Ich kann ja stets zur Stadt fahren oder dahin und dorthin, wenn ichs nicht mehr aushalte. Anne kommt nie mit; die Nachbarn sinds schon so gewohnt, daß ich ohne sie erscheine: Da kommt der Witwer!«

Klaus zog die Brauen zusammen und blickte Christian scharf an. Das Wort stand lange hartnäckig in der Dämmerung, die dunkler und dunkler aus allen Ecken des Gemaches trat und das letzte Licht zum schmalen Fenster hinausdrängte. Fahl schimmerte das Haff herein.

27 Christian hob eine Flasche gegen den dumpfen Schein, murmelte etwas und stellte sie hart wieder hin. Dann goß er aus einer andern die Gläser voll. In der Dunkelheit stießen sie an, tranken und legten sich wieder weit in die Sessel zurück.

Plötzlich, eben als Christian etwas sagen wollte, hastete Klaus hervor: »Ja, du hast recht, es sollte etwas Leben herein. Euer Wasserschloß ist ja ein Grab geworden. Um Annemaries willen sollte man etwas versuchen, meine ich.« Und nach einer Weile, langsamer und leiser: »Wie, wenn du deiner Frau jemand zu Besuch bätest?«

Ein langer, flackernder Lichtschein schwankte zur Türe herein, Schatten flogen die Wände hinauf, und das Fenster wurde ganz dunkel. Das Mädchen trug eine Lampe herein, stellte sie auf den Tisch zwischen die Gläser und Flaschen und ging still wieder davon.

»Wen –?«, fragte Christian.

»Eine ihrer Freundinnen vielleicht, –was weiß ich!«

»Sie werden sich hüten, sich in dieser Einsamkeit zu begraben,« lachte Christian vor sich hin.

Klaus hob die Schultern: »Man würde anfragen.«

Wieder schwiegen sie eine Weile, Klaus biß sich auf die Lippen und stieß zuletzt hervor, indem er 28 forschend nach Christian hinsah: »Ich sprach zum Beispiel in Berlin oft mit Doris Körte.«

»Doris Körte –?«, fragte Christian gedehnt.

»Ja, aus Danzig. Du kennst sie doch, Annemaries Freundin, – sie malt.«

»Sie lebt in Berlin?«, fragte Christian und hob seine Augen. Klaus wich ihnen aus. »Ja,« sagte er.

Da begann Christian leise in sich hinein zu lachen. Klaus sah ihn geärgert an. »Was ist da zu lachen?«, sagte er unwirsch und trank sein Glas in einem langen Zuge leer.

Als er es hinstellte und aufsah, erblickte er, wie von ferne durch einen kreisenden Nebel, die grauen Augen, die ihn aus dem schlaffen Gesicht beobachteten. Da schlug er die Faust auf den Tisch und rief: »Von Berlin soll ich dir erzählen, sagst du? Warum nicht!«

Und er erzählte. Müde hörte ihm Christian zu. Manchmal lachte er laut auf, wenn Klaus mit seiner klingenden und doch harten Stimme von waghalsigen Abenteuern und ausgelassenen Torheiten berichtete. Dann und wann unterbrach er ihn, schlug die flachen Hände auf seine Schenkel und rief: »Künstlerleichtsinn!« oder: »Ja, so lebt 29 ihr Studenten!«, mit der Zeit aber wurde er still, atmete ruhig und ließ den Kopf auf die Brust herunter sinken.

Die laue Sommernacht flutete in Wellen zum offenen Fenster herein. Das Haff klatschte an die Mauern. Im Hause war es still. Die Lampe flackerte zeitweilig auf, und dann sank ihr Licht wieder zusammen; an der Decke zitterte ein runder, heller Fleck, ringsum drängten sich die Schatten.

Klaus erzählte und hörte selber seinen Worten zu, als kämen sie aus der Ferne irgendwoher. Er hatte sein Glas noch ein paarmal gefüllt und ausgetrunken und begleitete seine Rede mit matten, immer gleichen Handbewegungen. Zuletzt wiederholte er dreimal den Satz: »Eigentlich war in Berlin gar nichts mehr los, und wenn nicht Doris dort gewesen wäre, hätte mich kein Teufel in diesem langweiligen Nest zurückgehalten; das kannst du mir glauben,« – da fuhr Christian aus seinem Sessel auf, blickte über den Tisch, erhob sich und trat zu Klaus. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte gähnend: »Wir wollen jetzt schlafen gehn. Gute Nacht. Du hast mich vortrefflich unterhalten.«

Klaus schritt hinaus und stapfte schwer die 30 Wendeltreppe empor. Jede Stufe kreischte und sang unter seinen Füßen. Als er sich polternd über den dunkeln Flur nach dem Giebelzimmer hintastete, fuhr ihm durch eine offene Dachlucke der frische Haffwind in Gesicht und Haare. Da sagte er laut vor sich hin: »Pfui Teufel –,« stieß seine Türe auf und schlug sie wieder hinter sich ins Schloß, daß es durch das nachtstille Haus hallte.

Vor dem Fenster aber schwankten die Aeste der Bäume auf und ab wie winkende, dunkle Hände und pochten und streiften rauschend am Gesimse. Und das Haff warf stärkere Wellen gegen die Mauer des Hauses.


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