Hugo Marti
Das Haus am Haff
Hugo Marti

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49 III.

Sonnabends, im späteren Nachmittag, fuhr der letzte Wagen ein; sechs Pferde hatten sie vorgespannt, und auf jedem Sattelroß saß ein Jungknecht. So jagten sie vom letzten Acker her, der weit draußen an der Gemarkung lag, über die Straße her, die Allee herauf, am Herrenhaus vorüber und zur Tenne hin. Die Marjells waren auf die Garben hinauf geklettert, hielten sich lachend fest und schrieen laut, als sie am Haus vorbeifuhren. Auf der breiten Treppe stand Christian von Dohm und nickte ihnen zu. Die Ernte war eingebracht.

Langsam kamen darauf die Instleute vom Feld zurück, die Einheimischen ruhig und zu zweien oder dreien voraus, hinter ihnen die Polacken, ein ganzer Schwarm, mit hastigen Bewegungen und lauten Worten. Eine Staubwolke zog mit ihnen, die lange noch zwischen den Bäumen hing und dann breit über die Stoppelfelder strich und niedersank.

Sie schritten quer über den Hof nach dem Dorf und verschwanden in den niederen Hütten. Es war wieder stille ums Herrenhaus.

50 Der Kämmerer kam aus dem Stall, ging zur Tenne hinüber, schloß das große Tor zu und schritt zum Speicher. Er trat unter die Türe und rief hinein: »Seid ihr fertig?«

Der lange Timm hängte die letzten Papierlaternen zwischen die dicken Laubgewinde und steckte noch ein paar Tannenäste, die am Boden herumlagen, in die Ritzen der Bretterwand und in die rissigen Holzpfeiler, welche die niedrige Decke stützten. Der junge Peslack, des Schmieds Sohn, rollte leere Fässer heran, stellte sie längs den Wänden auf und legte lange Bretter darüber. In jeder Ecke standen ein paar Wassereimer; den einen sprengte er sorgsam über die Dielen hin, des Staubes wegen.

»Nu, Kämmerer, gefällts dir so?«, fragte der lange Timm und trat zur Türe zurück, legte den Kopf auf die Seite und blinzelte prüfend in den grün aufgeputzten Speicher. »Heute kann man sichs nicht denken, daß sonst hier der Stellmacher hockt und Hobelspäne herumschmeißt. Fein sieht das aus. Aber die roten Laternen sind das Feinste. Dazu hat mir der junge Herr das Geld gegeben.«

Der Kämmerer nickte und wandte sich ab. Dann kam er nochmals zurück: »Timm. Du weißt, es kommen Gäste.«

51 »Ja, ja,« rief der lange Kutscher. »Ich werde sie schon einfahren hören. Drei Gespanne. Und der alte Hagelstein von Korjäten kennt ja den Stall, so oft wie der mit seinem Herrn schon hier gewesen ist.«

»Es ist nicht darum,« sagte der Kämmerer. »Wenn sie wieder fortfahren wollen –.«

Der lange Timm nickte. Dann fuhr er sich mit der Hand ins Haar. »Du willst sagen –?«

»Ihr sollt euch nicht besaufen.«

»Ich will es ihnen schon zu verstehen geben,« grinste der lange Timm.

»Du auch nicht,« rief der Kämmerer von der Türe her zurück.

»Ich? Am Wagenschlag werd ich mich wohl noch halten können! – Laß es nun gut sein, Peslack. Komm, du ziehst doch auch die Sonntagsjacke an. Hast du gesehen, wie fein sich der Kämmerer gemacht hat? Donnerschlag!« –

Beinahe miteinander fuhren die drei Wagen von den Nachbargütern her auf den Landweg nach Kampken ein. Hintereinander bogen der von Korjäten und der von Romehne unter den Bäumen hervor auf den Kiesplatz und hielten bei der Treppe still.

Zuerst sprang der junge Trenck heraus, reichte 52 der alten Gräfin die Hand und wollte dann auch dem Vater helfen. Dieser aber stieg gemächlich herunter, ohne der Hilfe zu achten. »Punkt elf Uhr fährt er vor. Verstanden?« rief er dem Kutscher nach, der kaum die Pferde ruhig halten konnte.

Christian von Dohm stand oben auf der Treppe. »Guten Abend, guten Abend!« Er küßte der alten Gräfin die Hand. »Fein, daß du auch kommst, lieber Egon. Ich fürchtete, unser Spiel gehe zum Teufel.«

Da stieg auch schon, die eine Hand auf dem Stock, die andere am Arm der Ursula, der alte Güstrow die Stufen herauf. Er ächzte. »Sieh mal, Dohm, ich bin wirklich zu marode, um noch auszufahren, so gern ich auch immer auf dein Wasserschloß komme. Aber die da hat mirs abgezwungen.«

Ursula grüßte lachend, aber als die alte Gräfin ihr die Hand hinstreckte, drückte sie sie bloß, ohne sie zu küssen. Und zum jungen Trenck sprach sie: »Aurora langweilt sich in Ihrem Stall zu Tode. Schämen Sie sich nicht, das Tier so verkommen zu lassen?« Er lächelte: »Gnädiges Fräulein, jeder Gaul kann doch nicht die Ehre haben, von Ihnen geritten zu werden.« Sie zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Guten Abend, Frau Annemarie.«

53 Alle drängten sich um die Hausherrin, die ihnen im Flur entgegentrat. Auch Osterlohs waren unterdessen angekommen, die Eltern und Eva, ihre Jüngste. Es war ein Gewirr von Stimmen und Lachen, man legte die leichten Mäntel ab, die Frauen fuhren sich mit den spitzen Fingern in die Haare und traten dann ins Eckzimmer.

Da kam Klaus die Wendeltreppe herab, stutzte und schritt auf die Herren zu. Der junge Trenck sagte mitleidig: »Die langen Sommerferien – eklig, was? Ich begreif nicht, warum du hier bist. Du brauchst dich ja um die Schweinezucht nicht zu kümmern.« Der alte Güstrow aber schlug ihm mit dem Stock über die Schulter: »Klaus, laß ihn schwatzen. Auf Kampken saßen, seit die Mauern im Wasser stehen, die Dohms. Du wirst nicht anders sein als alle, die vor dir da waren.«

Nachdem Klaus die Damen begrüßt hatte, sagte Ursula, die abseits am Fenster stand, zu ihm: »Ich hab Sie ja schon gesehen.«

»Ja, früher wohl. Ich entsinne mich nicht recht.«

»Nein, jetzt, seit Sie wieder hier sind.«

Klaus sah erstaunt in ihre Augen. Sie lagen flackernd auf der Lauer, zwischen halbgeschlossenen, ruhigen Wimpern.

54 »Wo denn?«, fragte er.

»Sie haben meinen Badeplatz, am Walde drüben, in Gebrauch genommen. Beinahe bemerkte ich Sie nicht, das erstemal. Sie lagen braun wie ein Reptil in der Sonne auf dem Sand. Ich aber konnte weiterziehen und mir eine andere Bucht suchen.«

»Warum denn?«, lachte er und sah aufs Haff hinaus. Sie antwortete nicht. Da fügte er hinzu: »Ich kann ja an einer andern Stelle baden.« Sie wiederholte nun in seinem spöttischen Ton seine eigenen Worte: »Warum denn?« und trat zu Frau Annemarie.

Eva von Osterloh machte lachende, große Augen und wurde rot wie ein Kind, als er vor ihr stand und sie nach ihrem Bruder fragte.

»Ja, er ist noch dort. Es gefällt ihm, und Papa sagt, er soll nur noch weiter studieren. Aber zum Examen braucht er nicht zu gehen. Er übernimmt ja einmal Romehne. – Ja, ich war einen Winter lang bei ihm. Wir haben doch eine Tante dort. Ich konnte alles mitmachen, es ist ja bei den Teutonen, blaurotgold. Das war ein Leben! Wie schön habt ihrs doch!«

»Aber ich trage doch keine Farben, ich –«

55 »Die Studenten meine ich, alle. Diese Gebräuche, das Altertümliche, Eigenartige, Ehrwürdige, wie interessant ist das.«

»Finden Sie?«, fragte Klaus.

»Na, ja,« sagte sie und staunte an ihm hinauf. »Sie müssen doch auch Freude daran haben, Sie, der Sie mitten darin leben.«

»Ich glaube, ich war noch nie dabei,« lachte er und nickte, als sie ihn ungläubig aus ihren großen Augen ansah.

»Wo – mit wem leben Sie denn?«, fragte sie.

»Na so – mit Malern und Geigern und was sich etwa da zusammenfindet.«

»Ach –,« sagte sie langsam. Und ihre Augen lagen voll Frage und starrem Erstaunen auf ihm. »Das muß auch –. Mit rechten Künstlern also?«

Klaus lachte. »Sie halten sich alle dafür.«

Eva schüttelte langsam den Kopf hin und her und rief dann in das Stimmengewirr der Frauen hinein: »Mama, hörst du –?« Aber ihre Worte wurden von der schallenden Stimme der alten Gräfin übertönt, und da fuhr ihr auch schon ein anderer Gedanke durch den Kopf. Sie runzelte die Stirne und hob die Brauen: »Ist das auch wahr, daß Sie letzthin die Nacht über draußen 56 gewesen sind?« Sie legte den Kopf nach der Seite des Fensters hin, durch das man die Wellen des Haffs leise rauschen hörte.

Er lachte: »Auch das ist wahr, ich bekenne es. Wer sagte es Ihnen?«

»Die Frau von Agilla, die Fische verkaufen kommt.«

»Stina?«

»Ja, sie erzählte es überall herum. Sie redet manchmal wirres Zeug, darum wollte ihr Mama nicht glauben. Ich sagte gleich, es könne vielleicht doch wahr sein. Siehst du, Mama!« schrie sie laut zu den Frauen hin. »Hörst du jetzt?« Die alte Gräfin hielt mitten im Satz inne, ihre Hand halb erhoben, wandte den Kopf herum und sah Eva an. Es wurde plötzlich ganz still. Eva wurde rot bis unter die Haare und sagte: »Hörst du, Mama, er hat ja gesagt.«

Die alte Gräfin lachte laut und tief auf: »Gott sei Dank, hat er das!«

Frau von Osterloh schüttelte den Kopf und seufzte: »Eva –!« Das Mädchen aber starrte seine Mutter an, fuhr dann vom Stuhle auf und legte seine Wange an die Schulter der alten Dame.

»Nun, Mädel –!«, lachte diese und streichelte ihr die 57 Hand. Eva hob ihren Kopf, trat ans Fenster und sah hinaus. Ihre großen Kinderaugen weinten.

Ursula betrachtete sie von weitem, lächelte spöttisch und sah darauf Klaus an. Er fühlte ihren Blick und gab ihn ruhig zurück. Dann ging er zu den Herren.

Der alte Güstrow schüttelte seinen Kopf hin und her. »Sie ist nicht so, wie ihr sagt, – nein, sie hat etwas in sich. So schlampig ist sie jedenfalls nicht, wie die andern.«

Alle lachten. »Nein, bewahre –! das nicht.«

Der junge Trenck zwinkerte Klaus zu und flüsterte: »Seine Tochter –. Der Romehner hat einen neuen Skandal ausgeschnüffelt und bangt, seine unschuldige Eva möchte angesteckt werden. Das sind ja solche Krankheiten, die hier in der Einöde gedeihen.«

Der alte Güstrow zuckte die Achseln: »Was kann ich machen? Ich laß sie halt. Sie ist mal so. An jedem Baum ist ein Aestlein krumm. Wer war die dort?«, und er zeigte mit dem Stock auf das Bildnis der schönen Frau an der Wand.

Christian von Dohm nickte: »Als sie hier hauste, war es auch nicht so still im Wasserschloß wie heute.«

58 Klaus sah ihn flüchtig an. Er fühlte, daß er rot wurde, und ärgerte sich darüber. Und dann blickte er nach der Türe hin, als wollte er wissen, ob sies gehört habe, die kranke Frau, die so still durch die Zimmer ging.

Aber Güstrow polterte weiter: »Und bei dir, lieber Graf, aus welchen sonderbaren Backsteinen ist dein Kamin gebaut? Waren es nicht einmal Kerkermauern, hinter denen ein Ahn lag?«

Der Graf hob sich stramm empor und sagte ruhig: »Er schlief dort seine Liebe aus, und da es ein tiefer Rausch war, schlief er bis in den Tod hinein. Solche Amouren paßten dem alten Fritz schlecht in seinen Kram.«

Güstrow wandte sich nun Osterloh zu, aber hier verschlug ihm die Stimme. Er stieß den Stock zu Boden und sagte knurrend: »Ihr sitzt nicht seit Jahrhunderten schon auf Romehne, wie wir andern. Der Teufel weiß, wo es in eurer Familie mal gehapert hat oder hapern wird.«

»Nicht bei Eva!«, flüsterte der junge Trenck Klaus ins Ohr und lachte leise. »Dem, der mit dieser eine Sünde begeht, vermach ich einmal Korjäten!«

Klaus lachte, aber sein Gesicht war verzerrt und leblos, eine grinsende Maske, hinter der er lachte: 59 Bin ich eigentlich zimperlich geworden? Und ein paar Bilder von ausgelassenen Nächten in Berlin fuhren ihm durch die Erinnerung, aber überall sah er Doris, die jede Tollheit auf starken, kühlen Händen hoch über allem Schmutz gehalten hatte.

Er bemerkte in seinen jagenden Gedanken kaum, daß der Kämmerer unter der Tür erschienen war und Christian von Dohm zugerufen hatte: »Wenn der gnädige Herr kommen wollte –, die Leute warten.«

Darauf schritt der Hausherr zu den Frauen, sagte etwas und kam zurück. Sie gingen alle in den sinkenden Abend hinaus und zum Speicher hinüber.

Auf dem Wege rief Frau Annemarie Klaus zu: »Man erwartet natürlich, daß du als Sohn des Hauses deine Pflicht erfüllst!«

Klaus nickte lachend. »Sicher. Welche ist die Jüngste?«

»Ich glaube, des Schmieds Marjell, die in der Küche hilft.«

Der Lärm verstummte hastig, als die Herrschaft in den Speicher trat. Die Männer nahmen die Mützen von den Köpfen, die Frauen knixten tief. Und wer auf den Bänken an den Wänden gesessen hatte, erhob sich rasch.

60 Zunächst bei der Türe standen die alteingesessenen Instleute, dann die einheimischen Knechte und Mägde, und an der Gegenwand des Speichers drängten sich die Polacken und hoben sich auf die Zehenspitzen, um die Eintretenden zu sehen.

Eine flachshaarige Marjell trat scheu heran und reichte mit tiefgesenktem Kopf den kunstvoll geflochtenen Aehrenkranz mit dem leuchtenden Mohn und den dunkeln Kornblumen darin: »Nimm, gnädiger Herr.«

Christian gab ihn seiner Frau, sagte ein paar Worte von guter Ernte und treuem Arbeiten und nickte dann zur Ecke hinüber, wo einer an seiner Trompete herumfingerte und ein anderer leise an den Saiten der Geige zupfte.

Die beiden Musikanten hoben ihre Instrumente und blinzelten sich an. Wie ein Ruck ging es durch die Menschen den Wänden entlang, die Marjells streckten die Hälse, und einer der Polacken fing an, mit den Händen im Takt zu klatschen. Die andern pufften ihn in die Rippen und zischten: »Still!«

Eine Weile spielte die Musik, da drängte sich der Kämmerer langsam, den Hut in der linken Hand, aus der Schar der Instleute heraus und trat vor 61 Frau Annemarie. Er verbeugte sich tief. Sie lächelte und sagte: »Danke.« Da er ihre Absage nicht begriff und vor ihr stehen blieb, legte sie, immer lachend, ihren Arm in den seinen und schritt langsam mit ihm einmal in der Runde herum. Alle blickten auf die junge, kranke Frau und den Kämmerer, der breitspurig und ein wenig gebückt an ihrer Seite dahin ging und den Hut schwenkte. Als sie wieder bei der Türe ankamen, stotterte er: »Nein, die gnädige Frau kann ja nicht tanzen –.«

Frau Annemarie lächelte und dankte ihm nickend.

Klaus sah spähend die Reihen auf und ab, den Wänden entlang; wo zwei und drei hintereinander standen, schaute er genauer hin. Die Marjells kicherten und wandten die Köpfe weg, die Knechte suchten mit ihren Augen auch herum und rieten, wen er sich holen werde. Da reckte er den Kopf ein wenig auf, nickte und ging quer durch den Speicher auf die andere Seite, wo die Mägde standen; sie machten ihm Platz, und er verschwand eine Weile hinter ihnen. Dann kam er zurück und zog des Schmieds Marjell am Arm mit sich hervor. Sie sträubte sich und drehte den Kopf zurück, und alle lachten auf. Als er sie leise in seinen Arm nahm, legte sie gehorsam und scheu die Hand auf seine 62 Schulter und trat beim nächsten Takt mit dem Fuße vor und tanzte artig los.

Da hielt es die Polacken nicht mehr länger still; sie fingen an, sich in den Hüften zu wiegen, nahmen sich bei den Händen und sprangen in den Kreis. Christian von Dohm verbeugte sich vor der alten Gräfin. »Warum nicht?« lachte sie und schritt mit ihm nach vorne. Der junge Trenck führte Ursula heran, der Graf aber trat zu Eva: »Sie müssen mit meinen alten Beinen Vorlieb nehmen; einmal tanzte ich besser!« Er machte die Schritte zierlich genau und führte das Mädchen einmal durch den dichten Trubel hindurch.

In das taktförmige Schleifen hinein krähte schrill die Trompete, die Geige aber machte neckische Sprünge und rutschte immer, wenn sie mit der Melodie zu Ende kommen sollte, lachend eine Tonleiter zurück und hub von vorne an. Und der Staub stieg von der Holzdiele zur niederen Decke hinauf.

Nach einer Viertelstunde kehrten Herrschaft und Gäste ins Haus zurück und setzten sich im Speisesaal zu Tisch. Die Fenster aufs Haff standen offen, und die Kerzen des runden Leuchters warfen ihre Strahlen in die graue, abendliche Dämmerung 63 hinaus. Die Stimmen schwirrten hin und her über die lange, funkelnde Tafel, und die gewölbte Decke gab hallend das Lachen zurück. Der alte Güstrow schlug klingend an sein Glas, erhob sich ächzend und trank Frau Annemarie zu. Alle rückten mit den Sesseln und traten zu ihr. Dann klapperten wieder Messer und Gabeln auf den Tellern, und das Lachen wurde lauter.

»Sind denn auch Mädchen bei diesen – Künstlern, wo Sie verkehren?« fragte Eva und beugte ihren Kopf über den Teller.

»Aber natürlich,« lachte Klaus. Doch er stockte, da er an Doris dachte. – »Wie meinen Sie?«

»Ich finde das seltsam. Mädchen – wie sind sie denn?«

»Gott –!«, begann Klaus und zuckte die Achseln. »Wie sollen sie sein? Wie überall!« Er lachte leise vor sich hin und dachte wieder an Doris. Und er fühlte Mitleid mit Evas Kinderaugen, die ihn staunend, fast ängstlich von der Seite her streiften.

Ursula, die zwischen ihm und dem jungen Trenck saß, beugte den Kopf ein wenig zu ihm herüber und sagte mit leiser, stahlharter Stimme: »Unsinn. Mädchen sind nie wie überall.« Als Klaus erstaunt 64 das Gesicht nach ihr drehte, nickte sie schon wieder zu den Worten des jungen Trenck und sagte ernsthaft: »Gewiß, auf diese Art kann man es immerhin versuchen. Ich verspreche mir zwar nicht viel davon.«

Klaus sann verwirrt über Ursulas Worte nach und hörte nicht, was Eva sprach. Und er konnte seine Gedanken nicht mehr zurückreißen; wie wildgewordene Rosse stürmten sie von Erinnerung zu Erinnerung. In den letzten Tagen hatte er weniger mehr an Doris gedacht; das Land mit seiner Weite und seinen stillen Worten hatte alle lauten Stimmen in ihm gedämpft, wie eine weiche, kühle Hand über eine unruhige Stirne gleitet und sie zum Schlafen bringt. Nun aber, in der lauten Gesellschaft, unter den Menschen, die ihm alle so gleichgültig waren und die neugierig, ahnungslos an seinem Geheimnis herumtasteten, brach mit allem Glanz die vergangene Zeit wieder hervor und erfüllte ihn mit Unruhe und leisem Trotz gegen seine Umgebung.

Er gab Eva einsilbige Antworten, die immer daneben trafen, und spottete über ihre schwärmerischen Schilderungen des Farbenstudentenlebens. Hin und wieder empfand er das lästige Gefühl, 65 Ursula höre ihrer Unterhaltung heimlich zu, und dann dachte er sich, wie sie nun wohl den Mund herabziehe und nun die lauernden Augen flackern und lachen lasse.

Er sah Eva kopfschüttelnd an: »Sie leben ja ganz in dem, was für Sie nicht mehr ist. In dem lauten Treiben des vergangenen Winters. Sagt Ihnen denn dieses Land hier, diese unendlich versunkene Stille, diese grenzenlose Weite gar nichts? Kommt das alles nicht auf gegen Ballgeflunker und Kränzchengeklatsch?«

Sie schlug die langen Wimpern nieder und sagte leise, wie ein gescholtenes Kind: »Ja ja, es ist ja sicher wunderschön, – ich bin ja doch auch hier zu Hause –.«

Er sah sie gedankenlos an, wieder überfluteten ihn Erinnerungen. Ursulas Stimme riß ihn heraus. Sie sagte spöttelnd: »Es kommt doch wohl darauf an, wo das Herz ist. Ich meine, das sei ganz einfach und klar, nicht? Und das Herz kann eben, bei uns dummen Mädchen, manchmal in einem Kränzchen hängen bleiben. Und wer reißt es los, wenns nicht von selber locker wird?«

Klaus biß sich auf die Lippe. Wie konnte ich auch vorhin den Unsinn sagen?, dachte er und fragte 66 Ursula ärgerlich: »Sie meinen nun wohl, ich sei ein Schulmeister?«

»Gar nicht,« sagte sie ruhig und zog die Brauen hinauf. »Gar nicht, – warum auch? Vielleicht haben Sie so etwas nur noch nie erlebt – oder wissen nicht genau, daß es so ist.«

Er sah sie mißtrauisch an, aber ihre Augen verrieten nichts. Nur als er sich wegwandte, flackerte es wieder spöttisch darin.

Nach dem Essen schritten sie alle in Frau Annemaries Zimmer, wo die dunkelbraunen Möbel standen. Die Herren tranken ihren Kaffee und traten ungeduldig von einem Fuß auf den andern, während sie mit den Damen sprachen. Nur Osterloh hatte sich neben die Gräfin gesetzt und unterhielt sie über einen Krankenpflegerinnenkurs, der im Kreise abgehalten werden sollte.

»Ja, Eva hat ihn schon besucht. Ich halte darauf, daß meine Töchter beschäftigt sind. Gerade wir auf dem Lande, ohne die Zerstreuungen der Stadt, sind darauf angewiesen, eine Betätigung zu haben, jeder und jede von uns, – meine ich.«

Er sprach leise und mit schwebenden Handbewegungen und sah von einer Dame zur andern. Und alle nickten ihm zu, nur in Frau Annemaries 67 Augen stand eine starre, gleichgültige Leere und dahinter, kaum kenntlich, die leis spottende Frage: Krankenpflegerinnenkurs? Ursula aber hörte gelangweilt dem jungen Trenck zu und sah aufs dunkle Haff hinaus. Nur als Osterloh mit stärkerer Betonung gesagt hatte: »Wir auf dem Lande –,« fuhr ihr Blick jäh herum und glitt voll Geringschätzung an seinem runden Kopf und seinem niederen Körper herunter und blieb eine Weile auf seinen breiten, kurzen Fingern liegen. Dann kehrte er zurück, fiel über Trencks glattes, hohes Gesicht und ging wieder in die späte Dämmerung hinaus, die über dem Haff lauerte.

Der alte Güstrow sagte laut, und es klang wie ein Signal: »Ich muß mich aber setzen gehn; solange kann ich nicht stehen bleiben.« Und er stapfte am Stock ins Rauchzimmer hinüber. Ihm folgte der alte Graf wortlos. Christian von Dohm sah sich im Zimmer um, und da Osterloh noch immer von der Notwendigkeit einer Betätigung, besonders hier auf dem stillen, einsamen Lande, sprach, schritt er leise wie ein Schatten durch die Tür und schloß sie hinter sich.

Ursula sagte kurz zum jungen Trenck: »Gehen Sie, man erwartet Sie zum Skat.« Er warf den Kopf 68 ein wenig zurück: »O, es eilt doch nicht.« Aber sie schritt schon an ihm vorbei und trat in den Kreis der Damen. Ehe sie sich gesetzt hatte, war er im Rauchzimmer verschwunden. Sie blickte Osterloh an, als höre sie ihm zu, lauschte aber noch eine Weile auf die Stimmen, die aus dem Nebenraume herüberhallten, dachte bei sich: Klaus ist am klügsten gewesen und ausgekniffen, und mischte sich dann auch ins Gespräch ein, mit ihren knappen und spöttischen Sätzen, auf die Osterloh nur achselzuckend antwortete.

Klaus war indessen durch die hintere Tür, an den Mägdekammern und an der Küche vorbei, ins Freie getreten und machte ein paar Schritte im dunkeln Schatten der Mauer. Aus einem Fenster fiel roter Lampenschein in die Blätter des großen Kastanienbaums. Vom Speicher her, über den stillen, weiten Hof, kam das Hüpfen und hartnäckige Stampfen der Tanzmusik und manchmal, wenn die Töne leiser waren, ein zögerndes Schleifen. Eine kurze Weile dachte Klaus an die schwatzenden Damen und er sah die geduldigen Augen von Frau Annemarie, dann sprang er über den breiten Lichtstreifen auf den dunkeln Rasen und schritt eilig nach dem Speicher.

69 Um die Türe herum und auf der Schwelle standen ein paar Knechte. Er sah über ihre Schultern hinweg in das rötliche Licht der Papierlaternen. Die Luft war staubig und roch nach den Tannenästen, die von den Wänden und der Decke herabhingen.

Die Polacken tanzten. Lautlos sahen ihnen die Einheimischen zu. Sie tanzten, leise und schleppend zuerst, mit schlaffen Gliedern, als schliefen sie halb. Dann aber reckten sich die Mädchen, glitten in die Mitte des Raumes und drehten sich wiegend herum. Die Burschen stampften auf und umkreisten sie lauernd und lockend, rissen sie heftig an sich, hoben sie in die Arme und wirbelten davon. Mit Zuruf und Bewegung trieben sie die Musik an, sangen ihre Lieder dazu und klatschten in die Hände. Dann kam es wieder wie Ermattung über sie und dämpfte ihren Wirbel; die Mädchen glitten den Tänzern aus dem Arm und wandten sich hin und her, wiegend und schläfrig, das Haupt in den Nacken zurückgelegt, die Lieder halb geschlossen. Und wieder kreisten die Burschen um sie, die Hände vorgestreckt und mit den Sohlen ungeduldig die Diele stampfend.

»Wie warme Windstöße in einer Vorfrühlingsnacht –,« fuhr es Klaus durch den Sinn, während 70 er aus weiten Augen in das rote Licht starrte. Beim nächsten Tanze tat er mit. Die alten Frauen längs den Wänden stupften sich in die Seiten und wiesen nach ihm hin. Und wenn er in die Reihen trat, reckten sie die Hälse. »Mit allen tanzt er,« sagten sie erstaunt. »Das ist eines Scharwerkers Marjell.« »So ist unser junger Herr,« lachte Peslack, der Schmied. »Eine Polnische gar!«, entrüstete sich des Kämmerers Frau.

»Wie heißt du?«, fragte Klaus im Tanze. Sie hob ihr Gesicht lachte mit offenen Lippen und schüttelte den Kopf. Dann begriff sie, und sagte: »Maruschka.« »So, Maruschka –,« wiederholte er. Sie warf wieder ihren Kopf zurück, daß ihr farbiges Tuch auf seine Hand fiel. Er faßte es mit zwei Fingern und hielt es fest. Da lachte sie und bog sich wie eine Aehre im Winde nach hinten, über seinen Arm herab und ließ sich ein paar Schritte so von ihm tragen. Als er sie los ließ, zog sie die rote Jacke wieder herunter und das Kopftuch über die Haare hinauf, knotete es fester und strich die schwarzen Strähnen darunter. Ein Polacke trat zu ihr und ergriff sie am Handgelenk, um sie in den Tanz zu ziehen. Sie riß sich los, atmete ein paarmal tief auf und schüttelte den Kopf. Als der 71 Bursche weiterging, lachte sie Klaus zu und hob die Brauen, als wollte sie fragen: »Ists recht so?« Dann verschwand sie unter den Marjells.

Um elf Uhr zog der Kutscher von Korjäten den langen Timm vor die Tür heraus und sagte zu ihm: »Wenn er fahren will, so hilfst du mir geschwinde.« Dann gingen beide zum Herrenhaus hinüber. Der Kutscher trat in den Küchenflur, wo das Licht brannte und alles still war. Er rief: »Jochem –.« Irgendwo knackte eine Diele. Aber niemand antwortete. Da schritt er hinüber und klopfte laut an die Türe des Rauchzimmers. Die Stimmen brachen ab, jemand rief: »Herein,« und er klinkte auf.

»Gnädiger Herr, es ist angespannt.«

»Zum Teufel mit ihm. Was stört er? Sieht er denn nicht –?«

»Der gnädige Herr sagte, um elf Uhr –.«

»Hör er mal, Hagelstein. So lange ist er schon bei mir, ja, und immer ist es dieselbe Geschichte,« murrte der Graf vorwurfsvoll.

»Na ja, ich tu eben –,« und er zuckte die Achseln. Dann zog er die Türe hinter sich zu.

Als er die Küchentreppe hinunterstieg, sagte er ruhig zum langen Timm, der aus dem Schatten 72 trat: »I wo –, solange ich schon beim Grafen bin, ist es immer dieselbe Geschichte.« Und sie gingen wieder zum Speicher hinüber.

Um Mitternacht wichen die Männer an der Türe zur Seite. Klaus bemerkte es, als er vorbeitanzte. Aber er sah nicht näher hin, und andere Paare glitten davor. Bei der nächsten Runde erblickte er Christian von Dohm auf der Schwelle und neben ihm Ursula, die Hand leicht in seinem Arm und mit spöttischen Augen herübergrüßend. In der nächsten Ecke ließ Klaus die Polnische stehen und ging den Wänden entlang zur Türe. Maruschka sah ihm überrascht nach, und ihre großen Augen wurden blank; da bemerkte sie Ursulas hohe Gestalt und trat geduckt zurück.

Christian von Dohm sagte nebenhin: »Man verabschiedet sich drüben.«

Ursula lachte: »Warum haben Sie mich nicht hierher mitgenommen? Glauben Sie, drüben war es kurzweilig? Sie haben kein Gefühl für andere Menschen.«

Christian von Dohm fragte leise: »Ja? Wollen wir?«

Ursula zog ihn rasch mit sich, Klaus blickte ihnen nach und dachte: Wie tanzt er noch gut; sonst ist er 73 so schlaff –. Er fing ein Wort auf, das irgendwo neben ihm geflüstert wurde: »Als gnädige Frau, die –? Das wäre ihm wohl recht!« Eine leise Bitterkeit stieg in Klaus empor, er biß sich auf die Lippen und ging weg.

Im Flur des Herrenhauses verabschiedete Frau Annemarie ihre Gäste: »Es war uns eine große Freude; vielen Dank!«

Osterloh rief aus dem Wagen zurück: »Man kommt auch so gerne zu Ihnen! Ihr Heim ist so reizend, so – gemütlich.« Der lange Timm schmiß den Schlag zu, und half dem alten Grafen einsteigen.

Der junge Trenck gab Klaus kurz die Hand und fragte: »Gut amüsiert auf dem Speicher? Flauer Ersatz für Berlin!«

Dann fuhr der Wagen die dunkle Allee hinunter. Der alte Güstrow stampfte auf der Treppe: »Da läßt sie mich einfach warten, mitten in der Nacht.«

Frau Annemarie lächelte ihm von der Türe aus zu: »Wir beide müssen warten, bis die andern zu uns kommen!« und hob ihr schwarzes Stöcklein empor.

Er knurrte und sah sie still und groß an. Dann zog er nochmals den Hut: »Bleiben Sie nicht hier stehen, Frau Annemarie; es ist kühl,« und 74 stieg ächzend in seinen Wagen. Sie schritt mit Klaus ins Zimmer.

Nach einer Weile kam Christian, ging einigemale an den Fenstern auf und ab und blieb am Spieltisch stehen. Als Frau Annemarie leise ins Zimmer trat, hob er den Kopf und kam auf sie zu. »Gute Nacht, meine Liebe«, sagte er und küßte sie auf die Stirne. »Du hast alles sehr geschmackvoll angeordnet, großartig –.«

Sie ging ebenso leise hinaus. Christian blieb stehen: »Klaus!«

»Ja,« sagte er gedehnt aus dem Nebenzimmer.

»Nicht wahr, Ursula ist ganz famos?«

»Famos, ja,« wiederholte Klaus und kam unter die Türe. Christian sah ihn mißtrauisch an.

»Warum hast du sie so vernachlässigt, den ganzen Abend?«

Klaus zuckte die Achseln. Er sah eine Weile vor sich hin und sagte dann plötzlich: »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Klaus schritt auf den Zehenspitzen über den Flur nach der Küche und trat hinaus. Er blickte am Haus hinaus, es war überall dunkel und still.

Vom Speicher her klang die Geige und lautes Lachen. Er schritt auf die Türe zu. Plötzlich griff 75 aus dem Schatten eine Hand nach seinem Arm. Maruschka zog ihn heftig in den Kreis der Tanzenden. Einige Lichter waren erloschen. Er lachte laut auf und schrie durch allen Staub und das Stampfen dem Geiger zu: »Hei, schlaf nur nicht ein! Rascher, rascher!«


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