Hugo Marti
Das Haus am Haff
Hugo Marti

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II.

Als Klaus um die vierte Nachmittagsstunde mit heißem und verschlafenem Kopf aus seiner Giebelstube herunterstieg, begegnete er Christian von Dohm, der im Flur die Zeitungen des vorigen Tages durchsah; der Postbote hatte sie soeben abgegeben und saß nun in der Küche, wo er seine staubtrockene Kehle erfrischte.

»Gehst du nach den Feldern hinaus?«, fragte Klaus. Christian nickte, legte die Zeitungen hin und folgte.

31 »Ich fahre nach Agilla hinüber, zum Jeschkeit. Ich komme abends nicht zurück. Willst du es Annemarie sagen?«

Sie schritten durch den Park nach den Ställen, die still in der Nachmittagssonne lagen; die breiten Scheunentore standen weit offen, gelbe Halme lagen davor zwischen den Steinen des gepflasterten Hofs und wiesen die Spur der einfahrenden Garbenlasten. Grell flutete das Licht von den hohen, hellen Mauern zurück und blendete die Augen; aus einem der dunkeln, aufgerissenen Tore klangen, wie von ferneher, Männerstimmen und Lachen.

Christian trat hinzu, und sein Schatten fiel auf die Tenne. Das Lachen verstummte plötzlich. Ein Scharwerker räusperte sich und sagte: »Wir warten auf die nächste Fuhre.« Christian nickte nur und sah den Gebäuden entlang nach den Feldern hinaus; quer lief, von zwei Baumreihen geführt, die Straße.

»Zwei Knechte genügen hier. Raus mit den andern aufs Feld!« rief er dann in die Dunkelheit hinein.

Nach einer Weile gingen, eine hinter der andern, drei Marjells geduckt an ihm vorbei, die weißen Kopftücher über die Stirn herabgezogen, und ihnen folgte ein Bursche, der an der Mütze rückte. 32 Sie schlichen der Mauer entlang und bogen um die Ecke. Später sah man die weißen Tücher auf der Landstraße. »Wer ist noch drinnen?«, rief Christian.

»Aschmoneit und ich, der junge Timm,« kam eine Stimme zurück.

Christian schritt weiter. Von der Straße her bog in scharfem Trab, vier Gäule vorgespannt, eine Garbenfuhre in den Feldweg ein und ratterte auf den Hof zu; ein Kerl in ziegelroter Jacke hockte auf dem hintern Sattelroß und trieb die Pferde schreiend mit der kurzen Geißel an. Glühend hatte sich das Sonnenlicht in die Garben eingeflochten und eingenistet, und wie eine Feuerlohe fuhr der Wagen zum dunkeln Tor hinein auf die Tenne, die dumpf von Gestampf der Rosse dröhnte.

Hinter den Gebäuden bog Klaus ab und ging über die Weide, an einem mageren Schimmel vorbei, nach dem Walde hinüber, der blau und dunkel wie eine Mauer hinter den Feldern stand. Mit heißem Atem fuhr die Glut aus dem hohen Korn, das langsam hin und her schwankte, und legte sich Klaus um den Kopf. Dumpfe Gesänge brausten in seinen Ohren.

Im Walde war es still. Ein schmaler Pfad glitt 33 durchs Unterholz, über wiegendes Moos und glucksenden Sumpf, neben einem Graben voll dunkelschwarzen, stehenden Wassers dahin. Das Gesträuch wurde dichter, die Zweige schlossen sich eng zusammen. Klaus mußte sich bücken. Der Pfad schlug einen Bogen und lief dann wieder geradeaus. Plötzlich trat das Gestrüpp zurück, zwischen hohen Stämmen schimmerte stahlgrau der Saum des Haffs herein. Nach kurzer Zeit schritt Klaus auf dem trockenen Sande dahin. Er spähte über das flimmernde Wasser hin, an der Waldspitze vorbei, die in weitem Bogen ins Haff vorstieß. Fern erkannte er den gelben Strandwall von Agilla und die roten Dächer, die da und dort über ihn herausragten. Dann wandte er sich um. Auch hier drang das Land weit ins Haff vor, und an der äußersten Spitze, die Grundmauern vom Wasser bespühlt, trotzte das Herrenhaus von Kampken. Die alten Wände stiegen grau empor bis unter das niedere, braune Dach. Breit und wuchtig, im Rücken die hohen, weitgipfligen Bäume des Parks, stirnte das alte Schloß in die Flut hinaus. Das kleine, weiße Mäuerchen längs dem Strande schimmerte unter den tief herniederhängenden, dunkeln Aesten der Allee.

34 Klaus lachte vor sich hin: »Sagte ich gestern Abend nicht, man sollte etwas Leben hier herausbringen? Hier heraus? Was für ein Unsinn –.« Und er schüttelte den Kopf, als er weiter ging.

Im innersten Winkel der Waldbucht lag sein Boot, mit dem trockenen Kiel auf dem Strand. Mit der Achsel stemmte sich Klaus gegen den Rand, ließ sich bis an die Kniee in den Sand herab und schob ruckweise das Boot vor sich her. Knirschend gab es nach und glitt ins Wasser. Dann sprang er hinein, legte die Ruder aus und stieß ab. Mit ruhigen Schlägen trieb er es durch die flachen Wellen, und langsam sank die Waldmauer zurück.

Weit draußen drehte er bei und umfuhr die Landspitze; das Boot hielt gegen die roten Dächer des Fischerdorfes zu, weiter und weiter zurück fiel das graue Herrenhaus von Kampken, und plötzlich schob sich der Wald davor.

Der Strand wurde kahl und flach, da und dort griffen Windmühlenflügel starr in die unbewegte Luft hinauf, und ferne standen klein und wirr die Häuser des Städtchens. Weit ins Land hinein schob sich eine Bucht dem breiten, ruhigen Fluß entgegen. Seine Strömung trieb das Boot um ein kleines ab, Klaus hielt aber fest auf die roten 35 Dächer über dem gelben Strandwall zu. Er kam ihnen näher und näher und sah schon deutlich die Fischerkähne, die in weiten Abständen am Ufer lagen. Schlaff hingen die Segel an den Masten, Menschen gingen am Strand von den Hütten zu den Booten, schleppten Netze heran und trugen sie über die schwanken Holzstege auf die Kähne.

Einer neben dem andern schauten die niederen Giebel über den Wall, blau oder grün bemalt, mit weißen und roten Streifen am Dach und geschnitzten Roßköpfen über dem First. Klaus ruderte zur ersten Hütte. Ein Mann kam eben über den Damm und stieg zum Kahn hinab. Er blieb stehen und sah aufs Wasser. Dann rief er in den Kahn hinein: »Kennst du das Boot dort draußen, Hinrich?«

Ein Kopf hob sich über die Bordwand. »Der Fischmeister ist das nicht.« Der Kopf tauchte wieder hinab, und der Alte ging weiter. Auf dem Brettersteg blieb er nochmals stehen; Klaus hielt nun gerade auf ihn zu, um zur Seite des Fischerkahns anzulegen.

»Halloh, Jeschkeit, ist noch Platz für mich?«, schrie Klaus hinüber.

Der Alte warf sein Netz in den Kahn, der Kopf 36 seines Sohnes erschien wieder über dem Bordrand, und eine junge Frau kam von der Hütte her über den Damm gelaufen. Da stieß auch schon Klaus mit seinem Boot an den Steg, band die Kette fest und schwang sich aufs Brett.

»Ein Platz wird immer sein,« lachte der Alte und spuckte neben der Brücke ins Wasser. »Ich dacht mir doch, so rudert kein Fischer. Fährt er wahrhaftig mit, junger Herr?«

Klaus sprang in den Kahn. »Natürlich.« Er stieg über die Netze und Taue und gab Hinrich die Hand. Dann sah er ihm ins Gesicht. »Wo ist dein Auge hingekommen?«, fragte er bestürzt.

Hinrich zuckte nur mit den Achseln und stieß den Kopf nach dem Haff hin.

Der alte Jeschkeit sagte ruhig: »Ein Segeltau, im Sturm, hats ihm herausgeschlagen.« Dann stieg er wieder auf den Damm.

Das Weib war näher getreten und stand mit verschränkten Armen beim Steg. Es trug eine rote Jacke und einen blauen Rock, schwarze Haare strähnten ihm ins Gesicht herab.

Hinrich knüpfte Steine am Netzrand fest. Er murmelte neben seiner Tonpfeife vorbei: »Sie ist meine Frau. Ich habe doch die Stina genommen.«

37 Klaus sah mit kurzem Blick zum Ufer hinüber. Das Weib starrte ihn aus großen Augen an; ihre Lippen waren rot und halboffen.

»Ist Stina nicht Jans Schwester?«

Hinrich nickte.

»Fährt Jan nicht mehr mit euch? Er wollte doch das Geschäft mit dir teilen.«

Hinrich strammte eine Schnur und stand dann auf. »Jan ist draußen geblieben,« sagte er ruhig und stieß wieder mit dem Kopf nach dem Haff hin.

Der Alte kam mit einem neuen Netz über den Steg. Er hörte die letzten Worte und fügte bei: »In jener Nacht, als ihm das Auge ausgeschlagen wurde. Es war Sturm. Von Tawe sind sieben Kähne nicht mehr heimgekommen. Bei uns blieb nur Jan. Hinrich kam am nächsten Tage allein im Boot zurück, mit einem Auge.«

Drüben stieß schon ein Kahn vom Strande ab. Einer schrie etwas herüber. Hinrich rief: »Ja ja,« trat auf den Steg und redete leise und heftig auf sein Weib ein. Es wandte sich ab, schritt langsam den Damm hinauf und jenseits zur Hütte hinunter, ohne sich umzusehen. Der Alte hob rasch eine Hand an die Stirn und nickte Klaus zu. Dann stieß er die Stange neben dem Bordrand ins Wasser 38 hinab, Hinrich zog die Kette ein, und der Kahn glitt vom Ufer weg. Eine Strecke weit ruderten sie stehend, dann band Hinrich das kleine Segel fest, und ein schwacher Wind stemmte sich lässig darein.

Allenthalben am Strand waren die Kähne abgestoßen und furchten durchs Wasser hinaus. Einige trieben mit Ruderschlägen voraus, andere kreuzten langsam hin und her und suchten den Wind. Der Strand sank zurück, über dem Damm stieg das flache, weite Land empor. Das Herrenhaus von Kampken trat wieder hinter der Landspitze hervor, die weißen Häuser und die Windmühlen von Juwendt tauchten über dem Strandwall auf, und weit oben, in der Abendsonne, glühten die Hütten von Nemonien, die bis unters Dach rot getüncht waren; man konnte sie von ferne erkennen. Uebers Haff herüber, als blasser, langgezogener Strich zwischen dem blauen Himmel und dem stahlgrauen Wasser, schimmerten die Dünen der Nehrung.

Hinrich hißte das große Segel, beugte sich über die Bordwand und spritzte mit der Schöpfschaufel Wasser in die Leinwand hinauf. Da wurde das Segel dunkelgrün, fast schwarz.

39 »Es ist noch ziemlich neu,« sagte Klaus und schaute am Mast hinauf. Hinrich lehnte sich ans Steuer und rückte es zeitweilig hin und her. Er antwortete. »Ja, Stina hat es genäht. Das alte flog mir damals weg.«

»Stina näht die schönsten Wimpel,« fügte Jeschkeit hinzu und nahm die Pfeife aus dem Mund. »In Nemonien haben sie kein schöneres als meines.« Er sah zu dem rotweißen Tuch hinauf, das mit seinen Fransen und der Holzschnitzerei darüber an der Mastspitze im Winde flatterte. Dann hockte er sich nieder und knüpfte die Netzenden zusammen.

Es wurde Abend. Die Sonne sank hinter die Dünen. Aber der Himmel blieb hell, nur über dem Land stiegen dämmerige Schatten auf. Sie krochen aus den tiefen Wäldern heraus und gingen mit schleppenden Gewändern über die Weiden und Felder. Gelb und schwach flackerte schon das Blinkfeuer von Nemonien durch den Dunst, der sich aus dem sonnenheißen Lande hob und alles verschleierte.

Hinrich steuerte den Kahn langsam an die Seite eines andern, der quer durch die Wellen schnitt. Als sie Wand an Wand fuhren, rissen sie die Segel aus dem Wind und blieben still liegen. Sie 40 verknüpften von hüben und drüben die Netze miteinander.

»Fertig,« sagte Jeschkeit, trat ans Segel und schlug es herum. Hinrich stemmte das Steuer zur Seite, die beiden Boote schossen auseinander, und die Netze glitten langsam über die Bordwand.

»Gute Nacht,« schrien die von drüben; »gute Nacht,« rief der alte Jeschkeit. Verhallend kam eine Stimme durch die spritzenden, klatschenden Wellen: »Hinrich, wem ist die Nacht länger, dir oder Stina?« Und ein Lachen verlor sich.

Der am Steuer rührte sich nicht. Seine Faust lag um den Holzgriff und drückte ihn zur Seite. Sein Auge maß den Abstand, der sich breiter und breiter zwischen die Boote schob. Das Netz glitt und glitt; Jeschkeit half, wo es stocken wollte.

Dann hob er eine Diele aus dem Kielboden, holte ein paar Scheite vom Bug herbei und fachte über der Backsteinplatte Feuer an. Der Himmel erlosch langsam. Die Kähne glitten wie Schatten durch die Dämmerung, ihre Segel standen dunkel vor dem Himmel. Eine rote Glut lohte flackernd am Mast empor und bestrahlte Jeschkeits verwittertes Gesicht. Hinrich blieb im Schatten, Klaus rückte an die Flamme. Ueber ihm knatterte das Segel.

41 »Sie höhnen ihn noch immer,« sagte der Alte und nickte mit dem Kopf zu Hinrich hinüber.

Klaus lachte: »Sie neiden ihm Stina. Wer war hübscher auf und ab am ganzen Strand?« Der Alte kniff die Augen zusammen und öffnete langsam den Mund, aber Klaus rief nach dem Steuer hin: »Du liefst ihr schon nach, als ich noch hier draußen war.«

Hinrich sprach ruhig durchs Dunkel zurück: »Als du weg warst, wollte ich nichts mehr von ihr wissen. Sie betrog mich.«

Klaus blickte in die Flamme, die vom Winde hin und her getrieben wurde. Der Alte murrte: »Wer kann da die Wahrheit wissen?«

»Ich weiß sie,« rief Hinrich, und heftiger stieß seine Stimme durch die Nacht. »Warst du nicht dabei, an jenem Abend, als sie wieder einmal zum Strand herabkam, in ihrem blauen Rock und dem farbigen Kopftuch: Wie geht es dir immer, Hinrich? Und ich, ohne von den Netzen aufzusehen: Wohin gehst du denn immer, du Stina? Weg lief sie da, ohne ein Wort. Sie hat mich betrogen.«

Er schwieg plötzlich. Der Alte sagte ruhig: »Eine schöne Marjell, – da ist nichts zu machen.« Hinrich antwortete nicht mehr. Er saß auf dem Bootsrand 42 und kaute an einer Brotrinde. Von Zeit zu Zeit griff er ans Steuerruder.

Der alte Jeschkeit aber begann wieder halblaut zu Klaus: »Sie sagen, er habe mit Jan Händel gehabt, wegen dessen Schwester. Aber Jan zankte auch mit ihr; wenn Hinrich sie nahm, war Jan sein Schwager. Dann kam die Sturmnacht. Vorher hatte Hinrich laut – alle hörten es – Schlechtes von der Marjell gesagt. Jan und er sprachen tagelang kein Wort miteinander. Sie waren allein im Boot. Am andern Tage kam er so wieder, ohne Auge und ohne Jan. Die Leute redeten viel darum, aber es war erlogen. Kann einem ein Segeltau kein Auge ausschlagen? Und auch vierzehn Männer von Tawe hat ja das Haff in jener Nacht gefressen. Als die Leute nicht schwiegen, sagte Hinrich: Ich will sie doch nehmen. Aber die Stina war schon damals wirr im Kopf. Sie hatte niemand als ihren Bruder Jan gehabt.«

Er klopfte die Pfeife an der Bordwand aus und legte sich neben dem Feuer nieder. Die Flamme sank langsam in sich zusammen.

Klaus trat in die Dunkelheit. »Laß mir das Steuer, Hinrich.«

»Warum? Ich habs festgebunden.«

43 »Dann kannst du dich hinlegen.«

Hinrich lachte. Nach einer Weile: »Hat er dirs erzählt, wegen Stina?«

»Ja.«

»Er allein glaubt mir, daß es so zugegangen ist. Von den Leuten keiner. Auch Stina nicht.«

»Aber sie hat dich doch genommen, nachher –.«

Hinrich lachte wieder kurz auf: »Das –! Um mich täglich nach dem toten Jan zu fragen!«

Sie schwiegen lange. Uebers Wasser blinkte das Licht von Nemonien. Der Strand war weit weg in der Dunkelheit versunken. Die Wellen spritzten an der Bordwand herauf, und unter dem Kielboden gluckste es. Die Glut strahlte schwach über ein Tau und Jeschkeits rissige Hände, die er im Schlaf der Wärme entgegen hielt.

Von Zeit zu Zeit trat Hinrich ans Segel und holte es langsam ein. Dann setzte er sich wieder zum Steuer und starrte vor sich hin in die Dunkelheit.

Die Wellen glitten an der Bordwand vorbei und hoben das Boot und ließen es sinken. Es war wie das Lied eines ruhigen Atems.

Plötzlich fuhr Klaus empor. Hinrich hatte ihm eine Jacke über die Beine geworfen. »Du schläfst schon lange,« lachte er. »Es ist kalt geworden.«

44 Klaus sah in die Sterne hinauf und zog die Beine an den Körper. Die Wellen pochten heftiger ans Boot. Er sah noch, wie Hinrich sich wieder am Segel zu schaffen machte. Ein Fetzen riß sich aus seiner Hand los, flatterte hochauf und fiel schlaff zurück. Hinrich packte ihn und band ihn fest. Als er ans Ruder zurücktrat, murmelte Klaus im Halbschlaf: »So schlug es dir ins Auge.« Hinrich beugte sich ein wenig vor und fragte: »Was sagst du?« Der andere schlief. Da verstand er aus dem Klang, der ihm noch im Ohre war, was Klaus gesagt hatte, und seine Lippen zogen sich herab. »Ja,« knirschte er leise, »aber Jan ließ es absichtlich fahren.«

Klaus stöhnte im Schlaf und drehte sich auf die Seite. Der Wind rüttelte kalt an den Tauen und bog das Segel. Hinrich saß, die Ellbogen auf den Knieen, das Gesicht in den hohlen Händen.

Um die dritte Morgenstunde, als der Wind heftiger am Segel zerrte, stieg im Osten die erste Helle schwach übers Wasser empor. Jauchzend biß sich der Wind in die Taue ein, die Wellen sprangen auf und stießen mit ihren Leibern an die Bootswand. Sie spritzten über und rieselten an den Planken herunter.

45 Hinrich schritt auf und ab und schlug die Arme um den Leib. Das fahle Licht glomm weiter am Himmel hinauf, und trieb die Dunkelheit mit gezückten Schwertern vor sich her. Nebelfetzen ritten auf den schaumigen Wellen. Da fuhr der Wind zwischen sie und riß eine weite Bresche hinein. Hinrich sah durch sie hindurch den andern Kahn. Er legte die beiden Hände um den Mund und rief hallend: »Hahoi!« Der Nebel verschluckte die Töne. Aber von drüben kam Antwort zurück, und ein Segel fuhr am Mast hinauf.

Klaus regte sich und stand mit knackenden Gliedern auf. Jeschkeit kauerte an der Bordwand und steckte seine Pfeife an. Eine Welle spritzte herein und klatschte ihm in den Nacken. Er rührte sich nicht, und nach einer Weile stieg ein Räuchlein empor. »Guten Morgen,« sagte er und beugte sich über das Netz hinaus.

»Willst du jetzt das Steuer halten?«, fragte Hinrich und gab Klaus das Holz in die Hand. »Immer fest und nicht loslassen, es geht gegen die Wellen an.«

Klaus stemmte sich dagegen, die beiden andern knieten an der Bordwand nieder, beugten sich hinaus, griffen mit den Armen in die Wellen und 46 hoben die Netze mit dem zappelnden Fang herein. Die beiden Boote hielten spitz aufeinander zu. Als sie wieder Seite an Seite lagen, lösten die Männer die Netze voneinander und sahen berechnend auf die Fische nieder, die in den Maschen hingen und sich zuckend auf dem Boden herumschlugen.

»Guter Fang,« lachte einer von drüben. Jeschkeit nickte und holte flache Körbe herbei. Dann kauerte er neben dem Netzbündel nieder, griff einen Fisch nach dem andern, zog ihn aus den Schnüren und schlug ihn, wenn er noch zappelte, gegen die Bordwand. Die Körbe füllten sich.

Hinrich steuerte unterdessen das Boot im Bogen herum, setzte die Segel anders und kreuzte dem Strande zu. Glutig stand die Sonne über den Wellen. Die Küste lag noch dunkel in der Ferne. Das Blinkfeuer war erloschen. Allerorten schimmerten die Segel über den schaumigen Wellenkämmen auf.

Der alte Jeschkeit holte aus dem Verschlag eine Flasche, schuppte ein paar Zander glatt und schnitt sie zu Brocken in eine Schüssel; er goß Essig zu, streute Salz hinein und reichte das Gericht, nachdem er selber davon gegessen hatte, an Klaus weiter. 47 Dieser schluckte ein paar Brocken hinunter, – da lachte Hinrich und bot ihm die Flasche: »Nimm einen Korn, so gehts besser.« Er selber führte die Schüssel an den Mund und schwenkte sie ein paarmal durchs Wasser, als sie leer war. Dann aßen sie Brot und stopften die Pfeifen.

Stina stand wieder auf dem Damm. Von weit draußen schon sahen die Fischer ihre dunkle Gestalt vor dem morgenblassen Himmel. Sie war groß und trug immer ihre rote Jacke. Der Wind wühlte in ihrem Haar. Jeschkeit und Hinrich trugen die Fischkörbe an den Strand; sie schritten mit kargem Gruß an ihr vorbei. Klaus trat zu ihr und bot ihr die Hand. Sie starrte ihn an mit Augen, die langsam durch verschüttete Erinnerungen auf ihn zu kamen.

»Kennst du mich, Stina?«, fragte er.

»Du bist Klaus. Wo bliebst du so lange?«

»Ich war weg, weit weg.« Er wies mit der Hand übers Land in die Ferne. Sie wandte sich um, sah weithin und nickte.

»Nicht dort?«, fragte sie dann hastig und reckte den Arm nach der Waldbucht hin, wo Kampken lag. Er schüttelte den Kopf. »Nicht dort?«, fragte sie nochmals, leiser. Und dann flüsterte sie: »Lebt 48 sie noch, die junge Frau? Auch sie schaut übers Haff hinaus; ich sehe sie immer, wenn ich mit dem Boot vorbeifahre, um Fische in Kampken zu verkaufen. Sie schaut übers Haff. Wen erwartet sie?«

»Niemand!«, erwiderte Klaus. »Sie hört wohl den Wellen zu.«

Stina runzelte die Brauen und starrte in die Flut. Sie legte ihren Finger auf den Mund und flüsterte, indem sie Klaus am Arm faßte: »Ja, die Wellen, die können wohl viel sagen – dem, der sie hört. Ich höre sie, Tag und Nacht.«

Hinrich trat aus der Hütte, über den Schultern eine Holztrage, an der zwei volle Fischkörbe hingen. Er stapfte in großen Holzschuhen über den Damm und sagte unwirsch: »Was schwatzt sie wieder? Wenn sie nur schwatzen kann. Ist der Kaffe heiß?«

Stina wich zurück und ging in einem Bogen um ihn herum, der Hüttentüre zu. Dort wandte sie sich zurück, sah ihn flehend an und fragte leise: »Hast du Jan zurückgebracht?« Dann glitt sie hinein.

Hinrich lachte auf und schlurfte weiter. Seine Schultern beugten sich unter der Last der Holztrage. »Kommst du mit zum Fischhändler?«, rief er zurück, aber der Wind riß ihm die Worte vom Mund weg und verwehte sie.


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