Hugo Marti
Das Kirchlein zu den sieben Wundern
Hugo Marti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

113 Meister Zibols Kinder

114 An einem Ostertage, zur Morgenstunde, da alles Volk in der Münsterkirche versammelt war, wurden dem Zunftmeister und Ratsherrn Jakob Zibol von seiner Ehefrau Agnes zwei Kinder geboren, ein Knabe und ein Mägdlein. Dessen freute sich Meister Zibol gar sehr, denn wenn er auch sein Weib über alle Maßen liebte und hochhielt, so war ihm doch seine Ehe manchmal traurig erschienen, wenn er bedachte, daß sein Name, der in Basel guten Klang hatte, eines Tages mit ihm selber gestorben und begraben sein sollte. Er hatte zwar solcherlei Gedanken stets im tiefsten Herzen vor seinem Weibe verborgen gehalten, aber Frau Agnes härmte sich gleich wie er und hatte manchen Gang in die Kapelle zu den wilden Rosen hinaus getan wie eine Braut und dort zur lieben Frau gebetet, sie möchte ihren Leib fruchtbar machen. Meister Jakob Zibol hielt das Mädchen, das man ihm auf die breiten Hände gelegt hatte, starr vor sich hin, sah ernst in das greinende Gesichtlein, sprach nachdenklich: »Gott gebe, daß du werdest wie deine Mutter!« und bot darauf das Kind rasch seiner Mutter zurück, da es zu weinen begann.

115 Den Knaben aber trug er zum Fenster, hob ihn hoch in den Morgensonnenschein empor und wiegte ihn hin und her, lachte und rief einmal übers andere: »Er ist mir geboren! Ich habe den Tod überwunden!« und tat ganz närrische Sprünge, sodaß eine ältere Schwester der Frau Agnes, die im Hause die Wirtschaft übernommen hatte, erschrocken auf ihn zutrat und ihm das Kind entriß und sorgsam das Fenster schloß, denn die Münsterglocken dröhnten gar mächtig ins Gemach herein. Da verließ Meister Zibol das Haus und begab sich auf seine Zunftstube, aber die Menschen, denen er begegnete, blieben stehen und drehten sich um: »Was hüpft Ihr daher, Meister Jakob, als wie ein Jüngling, der seiner Liebsten gefallen will, oder gar wie ein Knabe zum Spiel?«, und allen erzählte er: »Mir ist ein Sohn geboren, er soll Johannes heißen, Johannes Zibol!« Nach wenigen Wochen fand die Taufe statt und ward zu einem reichen Fest, an das sich alles Volk noch jahrlang erinnerte.

Als die Zeit herangebrochen war, ließ Meister Zibol den Knaben Johannes bei gelehrten Magistern und bei den Domherren 116 unterweisen in mancherlei Künsten und in der Wissenschaft, die nötig war, um fremde Hochschulen besuchen zu können.

Johannes lernte eifrig und ging in den Häusern der Domherren aus und ein, als ob er schon der ihrigen einer wäre. Er sprach mit ihnen lateinisch und griechisch, nahm teil an ihren Unterhaltungen und Redestreiten und wurde allenthalben der junge Pfaffe geheißen. Als die Gespielen seiner Jugendzeit schon in fremde Kriegsdienste zogen, saß er noch ruhig im Hause seiner Eltern; während seine Kameraden sich um schöne Jungfrauen die Köpfe blutig schlugen, nächtlicherweile in den engen Gassen der Stadt, bog sich Johannes weit aus dem Fensterchen seines Gemachs, blickte aufmerksam zu den Sternen empor, die über den Dächern und Giebeln funkelten, und suchte ihre Namen und Bahnen kennen zu lernen, denn ein zugereister Mönch hatte den Domherren und ihm mancherlei über die geheimen Kräfte der Gestirne vorgeschwatzt, hatte Heilungen getan mit Kräutern, die zu bestimmten Nachtstunden gepflückt worden waren, und ihnen seltsame Unterweisung 117 gegeben über den Zusammenhang aller Dinge ohne Unterschied und Ansehen ihres äußerlichen Wertes. Diese geheimnisvollen Lehren hatten es dem Jüngling angetan und beschäftigten seinen Verstand wie sein Gemüt gleichermaßen, also daß er immer tiefer in die Betrachtung aller Dinge versank, aber dennoch seinen Geist gänzlich von dieser Welt abwandte und dahinging wie im Traume.

Diesem stillen Leben gleichsam zum Trotze gedieh sein junger Körper herrlich, wurde stark und blieb biegsam, und seine hellblonden Locken fielen wie ein goldener Schein auf das schwarze Gewand hernieder. Und oftmals bestaunten ihn die Gespielinnen seiner Schwester Agnes, wenn sie beisammen im Kreise saßen, und schwiegen jäh mitten in ihren Erzählungen, wenn er eintrat, – er aber merkte es nicht.

Eines Tages berief ihn Meister Zibol zu sich und verkündigte ihm, daß er nun Abschied nehmen und in die Fremde ziehen müsse, wenn er seine Jahre gebrauchen und etwas lernen wolle. Das gefiel Johannes wohl, denn sein Herz hing nicht an der Heimat noch an einem Menschen, sondern seine 118 Begierde stand einzig nach der Wissenschaft um die geheimen Kräfte und Mächte im Weltall. Er packte seine Habseligkeiten in ein Bündelchen zusammen, das er in einem gelben Garn auf dem Rücken trug, und machte sich auf, um so bald als möglich den fremden Mönch zu erreichen und sich ihm anzuschließen. Seine Eltern und Agnes, die Schwester, gaben ihm eine Strecke weit vors Stadttor das Geleite; der Vater nannte ihm manchen Namen von Kaufleuten in den südlichen Städten, von Baumeistern in den Landen am Rhein und von anderen Männern, die er kennengelernt hatte und denen er wohl zutrauen konnte, daß sie ihre sorgsame Hand über seinen Sohn hielten, wenn es nötig wäre. Frau Agnes, die Mutter, küßte ihn oftmals, denn sie billigte die Wanderschaft ihres Sohnes nicht und hatte anderes mit ihm vorgehabt. Die Schwester aber bat ihn, er möchte ihr viele bunte Tücher und seltenen Schmuck mitbringen, denn sie war der Schönsten eine geworden und liebte es, zierlich angetan und bestaunt zu sein.

Also zog Johannes in die Ferne, durchwanderte viele Länder, hielt sich in allen 119 Städten, wo Gelehrsamkeit und hohe Wissenschaft gepflegt wurden, längere Zeit auf und traf in einem wälschen Kloster den fremden Mönch wieder, der schon in Basel sein Lehrer gewesen war und ihn damals zum eifrigen Forschen in den Sternen und ihren geheimnisvollen Kräften angehalten hatte. Diesem Mönch, der ein unstetes Leben führte, schloß sich Johannes an, denn bei ihm hoffte er das zu finden, wonach er in tiefster Seele strebte. Der Mönch gab sich den Anschein und genoß auch allenthalben an den hohen Schulen des Rufs, als ob er um Dinge wüßte, die den andern Menschen zeitlebens verborgen blieben. In seiner Nähe lernte Johannes der vielen Kräuter Kräfte kennen, er wußte sie bald zum Wohl und Weh der Menschen zu gebrauchen, er begann unter seiner Anleitung dem Gestein Gold und Silber zu entziehen und las auch fernerhin fleißig in den Sternen. Wo sich Johannes und sein Meister hinwandten, strömte ihnen viel Volk zu, und die beiden taten manche Heilung an Kranken und Bresthaften, brauten Tränklein gegen Viehseuchen und strichen Salben für Jugendkraft und Leibesschöne, 120 aber im geheimen war es Johannes doch nur darum zu tun, jener tiefsten Kräfte kundig zu werden, die den Menschen mit allen Dingen verknüpfen, gleichwie in einem kunstvoll gewirkten Teppich ein und derselbe Faden durch eines Menschen Antlitz und durch das Geäst des Baumes und durch die Strahlen der Sonne gewoben ist. Der Mönch sprach von diesen Kräften, als ob er sie schon oft mit seiner feinen Goldwage gemessen und im Tiegel den edlen Metallen beigeschmolzen hätte, und machte Johannes immer gieriger darnach, sie kennenzulernen, indem er die Enthüllung des Geheimnisses stets hinausschob. Johannes folgte ihm getreulich nach, des endlichen Lohnes sicher, und sah sich in allen Ländern um, vergaß der Heimat und ließ die Eltern ohne Nachrichten, obwohl er in mancher Stadt hätte Kaufleute finden können, die des Jahres einmal in Basel vorbeikamen und Meister Jakob Zibol kannten.

Zuletzt zog Johannes mit dem ruhelosen Mönch nach der Stadt Paris, wo dieser an der berühmten hohen Schule zu lehren und neue Anhänger unter den jungen Leuten zu gewinnen gedachte. Wirklich schloß sich 121 ihnen dort eine große Zahl fahrender Schüler an, die des Meisters Handfertigkeit und geheimnisvolle Kunst bald abgeschaut hatten und sie tüchtig verwerteten, zu mannigfachem Trug und Blendwerk des gemeinen Volkes. Johannes aber erkannte hier das falsche Spiel, das der Mönch mit ihm getrieben hatte; er wandte sich von ihm ab, trauerte über die lange Zeit, die er an Hirngespinste und Gaukeleien verloren hatte, und begann gering von aller Wissenschaft zu denken und höhnisch darüber zu spotten.

In dieser Zeit, da er wie ein wehrloser Krieger ohne Panzerhemd und Zweihänder, aber mit tiefen Wunden in der Brust dastand, überfiel ihn die Liebe zu einem schönen Mädchen, und zwar so heftig und grausam, als wollte sie sich für seine verlorene Jugend an seinen ersten Mannesjahren rächen. Er ward im Innersten aufgewühlt wie ein Fluß beim Sturm, der Mauern einreißt und Dämme zerbricht, und er ging lange Zeit wie durch ein Feuermeer. Sein Stolz murrte wider diese Schmach, aber Johannes demütigte sich und sah die Liebe an als eine sühnende Strafe für seine frühere 122 Vermessenheit und trug sie geduldig. Als ihr Dienst ihm leichter wurde und er seine Wissenschaft gerne dahingab um Genuß und Liebesseligkeit, ergriff die Pest das Mädchen, führte es aus dem Reigentanze hinweg und zwang es zum bittern Tode. Umsonst braute Johannes aus duftenden Kräutern und leuchtenden Blumen die heilkräftigsten Tränklein, – seine Kunst, die in hundert ähnlichen Fällen geholfen hatte, versagte hier und konnte ihm das Liebste nicht retten.

Er lag selber lange Zeit krank darnieder, in fremder Stadt von fremden Händen teilnahmslos gepflegt, und als er sich wieder erhob, war sein junger Körper schwach, zerfallen und siech, sein Antlitz verwildert und häßlich und seine Augen wie erloschen. Mühselig machte er sich auf und wanderte wieder der Heimat zu, als ein Bettler durch die Lande ziehend und mit heiserer Stimme den Weg nach dem Rheinstrom und der Stadt Basel erfragend.

An einem kalten Herbsttage, da es schon früh dämmerte und graue Wolken in langen Zügen über die bewaldeten Berge krochen, zog Johannes durch das Spalentor in die 123 Stadt und schritt, auf einen Stock gestützt, nach dem Hause des Meisters Jakob Zibol. Wenigen Menschen begegnete er, und alle wichen ihm aus, als sie seine sieche Gestalt sahen. Niemand erkannte ihn wieder.

Als er vor dem grauen Hause des Meisters Zibol stand und nach dem spitzen Giebel hinaufsah, hörte er eine liebliche Stimme, die ein trauriges Lied sang. Da fiel es ihm ein, daß er mit leeren Händen zurückkehrte und nicht einmal einen Fetzen buntes Tuch für seine Schwester Agnes bei sich trage, und sein Herz wurde schwer. Er griff mit zitternder Hand nach dem blinkenden Klopfer an der Türe, hob ihn empor und ließ ihn niederfallen, daß es durch den Hausflur dröhnte.

Die Stimme schwieg mitten im Liede, dann beugte sich eine Gestalt aus dem Fenster heraus, und ehe Johannes ein Wort rufen konnte, eilte ein leichter Schritt die Treppe herunter und über den Flur. Eine hastige Hand rüttelte am schweren Schloß, riß einen Riegel zurück und öffnete die dicke, eisenbeschlagene Türe.

Johannes erblickte seine Schwester Agnes, die schlank und leicht vorgebeugt auf der 124 Schwelle stand. Der Flur war von einem trüben Licht erhellt, das in einer kleinen Ampel brannte und heftig im Winde flackerte. Johannes trat näher und blickte dem Mädchen ins Antlitz. Dabei fiel das Licht auf seine schwache Gestalt, auf die hohlen Wangen und in die stumpfen Augen, und als er seine zitternden Hände flehend und zum Gruße emporhob, wich die Jungfrau scheu zurück, starrte ihn ängstlich an und zog die Türe zu; durch den Spalt aber fragte sie bange: »Was wollt Ihr an dieser Türe?«

Da stöhnte Johannes tief und sagte leise: »Agnes, kennst du mich nicht?«

Das Mädchen schrie auf und eilte davon, rannte ins Gemach und fiel vor der Mutter nieder; da schluchzte es und barg sein schönes Gesicht in ihrem Schoß. Die alte Frau erhob sich und fragte Agnes nach dem Grunde dieser Angst, aber das Mädchen konnte vor Weinen nicht sprechen. Die Mutter verließ das Gemach, trat auf den Flur und schritt zur Haustüre. Ihr Haar schimmerte bleich im Lichte der Ampel und sie ging gebeugt. Als sie den Mann vor der Schwelle erblickte, sagte sie sanft:

125 »Wie ist doch mein Kind so ängstlich, daß es vor Euch erschrak. Tretet ein und ruhet Euch aus, ehe Ihr weiter wandert. Und wenn Euch hungert, so will ich Euch Brot holen und eine Kanne Wein herbeitragen. Denn wisset, mein Sohn irret wohl auch einsam in fremden Landen umher und hungert vielleicht oder ist gar tot, – sonst hätte er uns ja einmal Kunde gegeben. Lebt er aber, so mögen ihm gute Hände tun, wie ich Euch tue.«

Johannes trat ein, die alte Frau schloß die schwere Türe hinter ihm und eilte geschäftig hinweg. Nach einer Weile kehrte sie wieder mit Brot und Wein und bot beides dem Manne dar. Johannes dankte, aß und trank und schaute derweilen um sich, auf das hölzerne Treppengeländer und die geschnitzten Türbalken, auf denen zu lesen stand: »Ich, Jakobus Zibol, habe dies Haus meinem Eheweib Agnes gebauet, mit Gottes Segen und Beistand«, und auf den Seitenpfosten waren die Namen der Kinder Johannes und Agnes eingeschnitten. Dies alles besah Johannes und erkannte jeden Winkel, jede Faser im Holz und jeden Nagel im Gebälk. Er fragte auch neugierig: »Euer Sohn ist 126 wohl einer von den reichen Krämern, die in ferne Länder ziehen, oder was trieb ihn in die Fremde hinaus?«

Frau Agnes schüttelte den Kopf und sprach: »Ach nein, nicht Krämer ist mein Sohn geworden, sondern ihm stand der vermessene Sinn darnach, zu erkennen, was nur Gott allein weiß. Mein Mann ließ ihn ziehen und gedachte es wohl zu machen, ich aber fürchtete immer Schlimmes.«

Johannes konnte kaum an sich halten und fragte: »Habt Ihr nie von Eurem Sohne vernommen, wie es ihm geht und was er treibt?«

Frau Agnes erwiderte: »Seit langer Zeit ist uns kein Wort über ihn zugekommen, aber wir wußten, daß er heimgekehrt wäre, wenn seine Kunst ihm Segen gebracht hätte, denn er war ein gutes Kind, nur allzu hochmütig und verschlossen. Nun aber ist mein Mann vor Gram gestorben, denn er liebte seinen einzigen Sohn über alles, und ich bete täglich zu Gott, daß mein Kind auch tot sei; ehe denn daß es darben müßte oder gar in seinem vermessenen Wahn weiterhin verharrte, wollte ich erfahren, daß es mir genommen worden ist.«

127 Johannes erschrak heftig, aber verriet sich nicht, sondern fragte zum dritten: »Wie mag wohl Euer Sohn gestaltet sein? – auf daß ichs Euch sage, wenn ich ihn etwa auf meiner Wanderschaft irgendwo angetroffen habe.«

Die alte Frau sah an ihm vorbei, als spähe sie in die Ferne und erblicke dort das Bild ihres Sohnes; nach einer Weile sagte sie: »So wie Ihr klein und siech seid, ist er groß und stark; so wie Eure Augen blöde starren, leuchten die seinen heller denn die Sonne am Morgen; so wie Ihr heiser redet und hustet, klingt seine Stimme klar und voll, gleich einem geschliffenen Glase, – anders kann ich ihn nicht sehen, wenn ich seiner gedenke. Ihr erblicktet meine Tochter, – er war unter den Jünglingen so schön wie sie unter den Mädchen lieblich ist.«

Da dankte Johannes nochmals für Brot und Wein und verließ das Haus; und Frau Agnes kehrte ins Gemach zurück und fragte das Mädchen: »Was hat dich also erschreckt, daß du weintest und dein Haupt verbargst?«, aber Agnes, die Tochter, gab keine Antwort, sondern blieb von Tag an stumm.

128 Johannes schritt langsam durch die engen Straßen, erst zum Münster hinauf und zu den Häusern der Domherren, wo er in früheren Jahren so oft ein- und ausgegangen war, dann zur Stadtmauer zurück, wo er im Gebüsch der Holunderbäume, die davor wuchsen, eine halb zerfallene Hütte fand; dort kroch er hinein und legte sich nieder, denn er war müde vom langen Wandern.

Am andern Tag kehrte er in die Straßen der Stadt zurück und bettelte, wie er das schon seit langer Zeit getan, die vorübergehenden Menschen um Almosen an. Er stellte sich neben die andern Bettler auf der Rheinbrücke oder lagerte sich vor der großen Türe des Münsters, wenn die reichen Kaufleute mit ihren stolzen Frauen zum Gottesdienst schritten. Da lag er dann mitten unter den andern Siechen und Aussätzigen und ernährte sich wie sie von den milden Gaben, die ihm gereicht wurden.

An den schönen Tagen aber streifte er in den Wäldern und auf den Hügeln vor den Stadtmauern umher, suchte mancherlei Kräuter und Wurzeln und übte seine alte Kunst an den Bresthaften, mit denen er nun 129 zusammen lebte. Er heilte manche Krankheit und linderte viel Leiden, so daß ihn die Siechen der ganzen Stadt aufsuchten und jeder ihn bat, sein Uebel zu vertreiben. So wurde sein Name bekannt unter dem niedern, armen Volk, und zu seiner Hütte unter den Holunderbäumen kamen die Menschen und trugen zu ihm ihre Gebrechen wie zu einem frommen Manne, dem die göttliche Kraft der Heilung eigen ist. Aber auch die Tiere hatten Zutrauen zu ihm; scheue Vögel setzten sich auf seine Hände und flogen ihm auf die Schultern; wenn er durch die Straßen der Stadt ging, flatterten die Tauben um seinen Kopf, und zwei große, schneeweiße Windhunde, die ein reicher Ritter bei seiner Durchreise in Basel zurückgelassen hatte, wichen nicht mehr von seiner Seite, sondern begleiteten ihn auf allen Gängen, seit er eines Tages dem einen die gebrochene Pfote verbunden und dem andern eine Wunde ausgewaschen und geheilt hatte.

Als aber die Domherren und Pfaffen der Stadt von seinen wunderbaren Heilungen vernahmen und das viele Volk sahen, das ihm zuströmte und anhing, verleumdeten 130 sie ihn, und der hohe Rat verbot ihm, fürderhin die Stadt zu betreten, und drohte ihm Kerker und Strang an.

Johannes aber trug dies mit Freuden, denn er hatte nun auf gar seltsame Weise und ohne Bücher und gelehrte Unterhaltungen die Kraft gefunden, durch die ein Mensch mit dem andern verbunden ist und nicht nur die Menschen unter sich, sondern alle Wesen, die entstehen, leben und wieder vergehen, also daß er das erkannte, wonach er vor Jahren ausgezogen war und was ihn alle hohen Schulen und auch der listige Mönch nicht hatten lehren können.

Es geschah nur manchmal, daß sein Herz traurig wurde und der Vögel gar nicht achtete, die auf seiner Hand nach Futter suchten und ihm in die Ohren pfiffen, – und das war, wenn er an schönen Tagen seine Schwester Agnes aus dem Stadttor schreiten und nach den waldigen Höhen hinüber wandern sah; er wußte, daß sie dann das Kirchlein in den wilden Rosen aufsuchte und ihr stummes Gebet vor die liebe Frau und Gottesmutter brachte, und tief darnieder drückte ihn zu solchen Zeiten die Schuld, die 131 er seinen Eltern und dem schönen Kinde gegenüber trug.

Da geschah es, zur Zeit des Vorfrühlings, als die Aecker wunderbar braun lagen und die Haselbüsche schon zu grünen begannen, daß Johannes des öftern eine junge Frau sah, die vom Lande her auf der breiten Straße nach der Stadt zog und im Tore verschwand. Sie ging langsam daher und trug ihr Haupt geneigt; ihr Gewand war das einer edlen Jungfrau, und ihr Schritt vornehm und gelassen. Sie kam ohne Geleite daher, blieb oftmals am Wege stehen und brach die ersten Weidenkätzchen vom Strauch. Am Abend verließ sie die Stadt wieder und wanderte nach den Hügeln hinüber, wo schon die Nacht leise aus den Wäldern trat.

Johannes betrachtete sie wohl, wenn sie nicht allzuferne an seiner Hütte vorüberschritt, und ihm schien es, als trüge die edle Jungfrau einen geheimen Schmerz, denn sie neigte den Nacken wie jemand, der unter einer Last seufzt. Und dennoch traf ihn manchmal aus ihren großen Augen ein so klarer Blick, daß er lächelnd zu sich selber sprach: »Diese ist 132 nicht von deiner Kundschaft, Johannes; heile du die Aermsten, denn sie bedürfen der Pflege am meisten.« Und mit um so größerem Eifer diente er allen Kranken und Siechen, die er fand oder die ihn aufsuchten, und vergaß darob für kurze Zeit den gebeugten Nacken und die strahlenden Augen der Jungfrau.

Da ging der Ostertag ins Land, im ersten, zarten Wäldergrün und mit den frühesten Blumen geschmückt. Noch stand die Sonne nicht hoch am Himmel, als Johannes sich an seinem Stocke zum Stadttor hinschleppte und dort sich lagerte, begleitet von seinen lieben Hunden, denn er dachte, viel Volk möchte im Laufe des Tages hier vorübergehen und ihm manche Gabe reichen, die er dann für seine armen und siechen Freunde würde wohl gebrauchen können.

Da sah er seine Schwester Agnes, die durchs Tor kam und eilenden Schrittes nach dem Tale zu wanderte, wo das Kirchlein in den wilden Rosen stand. Sie bemerkte Johannes nicht, denn sie blickte zur Erde nieder. Ihm aber stiegen die Tränen in die Augen, denn er bedachte, wie wenig seine 133 Kunst, die so viele Menschen heilte, ihm selber je und je hatte nützen können; wie sie vielmehr seinen Vater getötet und seine Mutter traurig und bitter gemacht hatte, wie sie weder die Liebste damals retten noch der Schwester jetzt wieder die liebliche Rede schenken konnte.

Solcherlei Gedanken bewegten ihn, sodaß er es gar nicht bemerkte, wie die fremde, edle Frau dahergekommen war und nun leise neben ihm vorbeigehen wollte. Erst als ihr Schatten auf seine Hände fiel, ward er der Gestalt inne; er blickte flehend zu ihr empor und bat demütig um ein Almosen. Sie warf ihm ein kleines Veilchen zu, das sie in der Hand getragen hatte, und sagte mit sanfter Stimme: »Kann ich Euch helfen, armer Mann? Kommt mit mir, ich werde Euch in meinem Hause, das hinter jenen Hügeln steht, Wohnung geben bis an Euer Lebensende.«

Johannes lächelte und erwiderte: »Es sei ferne von mir, solche Wohltat anzunehmen. Ich lebe hier recht gut und bin zufrieden, wenn ich meinen armen, kranken Freunden helfen kann. Euer Veilchen ist der frühesten 134 eines; sie sind gar heilkräftig, wenn man sie den Aussätzigen mit jungem Tee und Rosenblättern zusammen auf die Schwären legt. Habt also Dank, edle Frau!«

Dabei sah er so munter der Jungfrau in die Augen, als ob er selber stark und gesund und ohne Sorgen wäre. Als sich aber die Fremde langsam zum Gehen wandte und ihren Nacken wieder beugte, überkam ihn das Mitleid, und er rief ihr nach: »So Ihr mich nicht verlachen wollt, – sagt, warum tragt Ihr Euer schönes Antlitz so geneigt, als läge eine Last auf Euren zarten Schultern?«

Die Jungfrau errötete und sprach kein Wort. Er aber fuhr fort: »Seht, edle Frau, vielleicht vermöchte ich nun Euch zu helfen, wenn Ihr mir Vertrauen gewähren wolltet!«, und er lachte ein wenig über seine eigene Rede.

Da stieg in der Jungfrau braune Augen ein flackerndes Flämmlein, sie lächelte fein und voller Schalkheit und sprach leise: »Wer weiß, vielleicht! Denn schauet her und wägts in Eurer Hand, wie schwer mein Haar auf meinem Nacken lastet.«

Darauf erhob sich Johannes an seinem Stock und trat hinzu. In seiner Einfalt, die 135 demütig allen Menschen dienen wollte, schob er seine Hand unter die Flechten und Locken der Jungfrau. »Laßt es mich Euch tragen helfen«, bat er, »auf daß Ihr Eure Stirn erheben und einmal lachend um Euch blicken könnt an diesem schönen Ostertage, da alle Welt sich freuen soll an ihrer eigenen, strahlenden Schönheit.«

Und also zogen die beiden durchs dunkle Tor in die Stadt hinein und schritten durch die engen Gassen, über den Marktplatz, hinauf zum Münster. Sie redeten miteinander und blickten in die Fenster der Häuser, zu den steinernen Bildwerken empor und lasen die weisen Sprüche, die über den Türen gemalt waren. Ganz langsam gingen sie dahin, Johannes auf seinen Stock gestützt und die edle Jungfrau aufrecht neben ihm; bald aber lehnte er seinen Arm, der leise zitterte, sanft auf ihren weißen Nacken, und sie ließ es geschehen und bog ihr Haupt noch mehr zurück.

Als sie auf den Münsterplatz traten, begannen die Glocken aller Kirchen mächtig zu dröhnen, die Klänge rauschten wie eine breite Welle über den hellen Platz und brandeten 136 hoch an den Häusern empor und verzitterten in die Lüfte hinaus. Der Boden schien leise zu beben, als wecke ihn das Osterglockenlied aus langem, starrem Schlafe.

Die beiden roten Türme stiegen wie edelgezierte Altarkerzen in den blauen Himmel hinauf, vom Sonnenlicht umflossen und in die herbe Frühlingsluft getaucht, als sollten sie auch bald schwellende Knospen treiben wie die Bäume zu ihren Füßen.

Weit offen standen die großen Tore, durch den tiefen dunkeln Raum leuchteten die glutfarbigen Glasgemälde in den schlanken Fenstern, brausender, vielstimmiger Orgelklang ergoß sich wie der warme, starke Duft einer blumigen Wiese durch die Pforten heraus, und ein ernster, stahlharter Gesang tauchte ab und zu aus dem Tongewühl der Glocken und der Orgel empor.

Langsam schritten die edle Frau und Johannes der dunkeln Pforte entgegen, durch die nun eine große Menge Volkes auf den Platz herausströmte. Erstaunt standen die Menschen still und ließen eine breite Gasse frei und sahen aus großen Augen auf das seltsame Paar.

137 Die Jungfrau lächelte leise, und das warme Blut rötete ihre Stirne ein wenig. Ihre schlanken Hände lagen gefaltet auf dem blaßblauen, rauschenden Gewande. Johannes ging neben ihr her und hatte noch immer seine Hand unter das lose geflochtene Haar der Jungfrau geschoben, ohne müde zu werden. Ueber seinen Arm rollten die braunen Flechten und zwischen den Fingern hindurch sickerten die lockigen Strähnen, und alles Sonnenlicht schien in diesem Haar zu glühen und zu gleißen, also daß Johannes wie unter einem reichen, dunkelgoldigen Mantel daherging, der seine ärmliche, sieche Gestalt umfloß und königlich deckte. Und zu beiden Seiten, eng an die Knie der Schreitenden geschmiegt, trotteten die schneeweißen Windhunde und reckten die roten Schnauzen in die Luft und schnupperten im Vorbeigehen an den Röcken und Samtgewändern der staunenden Menschen.

Johannes ging wie in einem Traum dahin. Alles Siechtum fiel von ihm, seine Schwäche sank an ihm herab, er wuchs und reckte sich, und alte Stärke und Gesundheit straffte seine Glieder. In seinen Augen 138 brannte jugendliche Glut, und als er unter der Kirchentüre Frau Agnes, seine Mutter, weißhaarig und gebeugt, erblickte, schritt er auf sie zu und sank vor ihr in die Knie nieder. Und alles Volk umringte sie und murmelte: »Johannes ist zurückgekehrt!«

Als er sich wieder erhob und die Männer grüßte, die sich zu ihm drängten, sah er im Kreise umher und fragte hastig: »Wo blieb die edle Frau, die mich geleitet hat?« und war sehr bestürzt, als er sie nirgends erblickte. Und eine große Sehnsucht nach ihr erfüllte ihn.

Unterdessen aber eilte seine Schwester Agnes nach der Stadt zurück und begegnete im dunkeln Tor der edlen Jungfrau. Diese fragte sie sanft: »Was treibt deine Füße, also angstvoll zu eilen?« Und siehe – Agnes öffnete die Lippen und sprach: »Ich wollte beten im Kirchlein bei den wilden Rosen, aber das Bildnis unserer lieben Frau ist verschwunden, verlassen steht das Haus.«

Die Jungfrau lächelte und fragte: »Warum begehrst du noch zu beten, da doch Johannes, dein geliebter Bruder, gesund und heil und stark, wie da er auszog, zu deiner 139 Mutter heimgekehrt ist? Geh und begrüße ihn!« Darauf trat sie aus dem Schatten des Tors in die helle Sonne hinaus und wanderte auf der Straße dahin, zwischen Wiesen und Aeckern nach den Hügeln hinüber.

Agnes aber durchlief die Gassen der Stadt, drängte sich durch den Ring der Menschen auf dem Münsterplatz und erzählte laut, was an ihr geschehen war. Und alles Volk erstaunte tief und erkannte das Wunder, das sich begeben hatte, und geleitete Johannes, seine Mutter und seine liebliche Schwester bis vor das graue Haus des Meisters Jakob Zibol.

Dort wohnte Johannes noch lange Jahre und tat manche Heilung an Siechen und Aussätzigen und starb erst in hohem Alter, und man bestattete ihn im Kreuzgang des Münsters, und alles Volk trauerte um ihn.


 << zurück weiter >>