Hugo Marti
Das Kirchlein zu den sieben Wundern
Hugo Marti

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61 Das Lied des Bruders Peregrinus

62 An einem kalten Herbstabend waren die Mönche im großen Saal beisammen; sie schritten hin und her, rieben sich die Hände und hauchten darein, und vor dem breiten Kamin kniete einer und schichtete Reisig und Klötze zu einem Feuer.

Kalter Nebel hing über den Wäldern, und die Dämmerung wanderte früh durchs Tälchen nach der Stadt hinunter. Im Westen glomm der letzte Tagesschein und verhieß eine frostige Nacht.

Ein Mann schlug mit dem Stock ans hölzerne Tor und bat mit müder Stimme um Einlaß. Der Pförtner öffnete und geleitete den Fremdling ins Gebäude, wo die Brüder im Kreis um das aufblaffende Feuer standen und die starren Finger gegen die noch schwache Glut ausstreckten. Als der fremde Mann ins Gemach trat, wandten sie sich nach ihm um und betrachteten ihn schweigend, nachdem sie ihm den Gruß geboten hatten.

Nach einer Weile fragte der Prior: »Wonach steht Euer Begehr, Fremdling? Seid Ihr müde und hungrig, so rastet hier. Die Nächte treiben Mensch und Tier unters Dach. Legt Euern Wanderstab von Euch und ruhet aus.«

63 Der Fremdling dankte und trat unter die Brüder, die ihm beim Feuer Raum gaben.

»Ihr kommt von fernher?«, fragte ihn einer.

»Viele Wochen wandere ich schon, von Stadt zu Stadt; als noch die Bäume in der ersten Blüte standen, machte ich mich vom Meere auf. Heute bin ich am Ziel.«

Die Mönche blieben stumm und betrachteten ihn verstohlen. Er saß im flackernden Schein des Feuers, hielt die Hände auf den Knien und sah in die Flammen, die knisternd in die dunkle Wölbung des Kamins emporleckten.

Alle schwiegen lange, bis das Nachtmahl aufgetragen wurde und sie sich an die langen Tische setzten. Der Fremdling nahm zuunterst Platz, er betete noch leise für sich, als die Brüder schon zugriffen und ihre Nasen über die dampfenden Schüsseln hielten.

Als nach der Mahlzeit ein geistliches Lied angestimmt wurde, sang er mit, und alle Mönche lauschten erstaunt seinem starken, wohlklingenden Gesang, der aus ihrem dumpfen Getöne emporstieg wie die schneeigen Joche und Zacken aus den schattignebligen Tälern.

64 Darauf verließen die Brüder das Gemach, und der Prior blieb allein mit dem Fremdling zurück. Die beiden Männer saßen in hohen Stühlen; von der roten Glut ging ein schwacher Schimmer auf die dunkelbraunen Wände über, und die gewölbte Decke wurde manchmal von einem sprühenden Funken erhellt. Leise schwankend standen die Schatten der beiden Männer an der Wand, und die Fenster blitzten dunkel und feucht. Langsam fiel die Glut in sich zusammen, der helle Schein auf dem Fußboden wurde kleiner, und die Schatten zerflossen zitternd in die Dunkelheit des geräumigen Saales. Die Männer saßen und sannen schweigend.

Mit leiser Stimme sprach endlich der Prior: »Eure Hände sind stark, aber unedle Arbeit taten sie nicht.«

Der Fremde hob den Kopf und sah aus stolzen Augen zum Mönch hinüber, dann erwiderte er: »Ich habe das Schwert lange geführt«, und senkte die Stirne wieder. Leise und hastig fuhr er fort: »Ich büße schwere Schuld. Vom Bildnis der lieben Frau, die in den wilden Rosen wohnt, vernahm ich 65 seltsame Wunder. Vor sie will ich meine Lasten tragen, ob sie mir helfe und mir vergebe. Denn wahrlich, Gott weiß es, – aus Liebe nur tat ich Sünde.«

Der Prior ergriff einen Haken, der neben dem Kamine lag, schürte die Glut, so daß der helle Schein auf beider Männer Antlitz fiel, und sagte leise: »Gleich diesem Feuer ist all unsere Begier, unrein und flackernd, Asche begräbt die letzte Glut, die sich selber verzehrt, und am Morgen ist nichts übrig geblieben als eine Handvoll Staub, die der Wind verweht.«

Der Fremde zog seine Augenbrauen hoch und lächelte: »Doch was mir berichtet wurde von den Wundern, die unsere liebe Frau hier getan hat, klang anders als eure weisen Worte, Herr, sonst hätte ich wohl meine Sünde nicht hieher tragen mögen.«

Da stand der Prior von seinem Sessel auf und sprach: »Euer Antlitz redet ernster denn eure Worte, Herr. Doch laßt uns eher schweigen, denn meine Vermutungen tappen durch dunkle Gänge und ihr wollt sie nicht führen.«

Ohne sich zu bewegen, antwortete der Fremde: »Ich liebe meines Bruders Weib 66 seit jener Stunde, da ich sie zuerst gesehen, und viele Jahre sind seitdem verflossen, aber keine Asche hat mir diese Glut verdeckt, und dieses Feuer hat kein Wind verwehen können.«

Der Prior sah aus großen, starren Augen auf den Fremden, der sich langsam erhob. Hoch und schwankend standen die beiden Schatten an der Wand, der des Fremden überragte um Haupteslänge den andern. Der Prior sprach dumpf: »Euer Schlaf sei gesegnet, Herr.«

Der Fremde dankte und schritt aus dem Zimmer in den kalten Flur hinaus, dann geleitete ihn ein alter Bruder in seine Kammer und schloß hinter ihm die Türe. Die Schritte verhallten im Gang und alles war still, nur der Herbstwind pochte leise an die Fenster. Der Nebel leuchtete fahl herein, und die Bäume im Klostergarten standen mit schwerem, hängendem Gezweige.

In der Frühe des folgenden Tages, als die Wälder an den Berghängen noch wie hinter blassen Schleiern verborgen waren, geleitete der Prior den Fremden auf dem Wiesenpfade nach dem Kirchlein in den wilden Rosen. Sie sprachen auf ihrem Gange 67 wenig Worte und schritten einer hinter dem andern durch das feuchte Gras.

Als der Prior die Türe des Kirchleins geöffnet hatte und beide eingetreten waren, wies er auf das Bildnis der lieben Frau und Gottesmutter und sprach: »Hier bekennet Eure Schuld und sehet zu, ob Euch geholfen werden kann!« Der Fremde trat näher und kniete vor dem Bilde nieder, während sich der Prior leise entfernte und wieder nach dem Kloster zurückschritt. Langsam flutete der Schein des nebligen Herbsttages durch die Fenster ins Kirchlein und fiel auf das Standbild, die schlanken Holzsäulen und die mattglänzende Orgel.

Der Fremde kniete lange auf den steinernen Fliesen, das Haupt tief zur Erde geneigt. Als er sich erhob, sahen seine Augen wie in weite Fernen hinaus und sein Blick kehrte langsam nach dem Bildnis zurück. Er betrachtete es und wandte sich dann seufzend ab. Nachdem er die Kirche verlassen hatte, schlug er den Pfad nach dem Walde ein und verschwand bald im Nebel.

Um die Mittagsstunde kehrte er nach dem Kloster zurück und begehrte den Prior zu 68 sprechen. Dieser nahm ihn bei der Hand, führte ihn unter die Säulenlaube und schritt mit ihm auf und nieder. »Habt Ihr Eure Schuld von Euch geworfen«, fragte er, »oder gedenket Ihr länger bei uns zu bleiben?«

Der Fremde schüttelte sein Haupt und sprach: »Wenn Ihr und die frommen Brüder mir Obdach geben wollet, so möchte ich wohl gerne hier verweilen, aber schwerlich heilet mich das wundertätige Bildnis von meiner Liebe, denn wisset, jene Frau, nach der meine Sehnsucht steht, ist meinen Augen lieblicher als dieses leblose Bildnis, wie ein Sommertag am Meere lieblicher ist als diese nebelkalte Mittagsstunde.«

Der Prior entsetzte sich ob diesen Worten und redete dem Fremden zu, seine sündhaften Gedanken auszutreiben, aber dieser fuhr ruhig fort:

»Vielleicht geschieht auch an mir ein Wunder; derweilen will ich als der geringste der Brüder leben und euch zum Gesang die Orgel spielen, denn diese Kunst ist mir bekannt und selber hab ich schon manches Lied gesetzt.«

Also kleidete sich der Fremde in eine dunkle Kutte, gürtete sich mit einem Strick und zog 69 an seine Füße ein paar Sandalen, und der Prior nannte ihn Bruder Peregrinus, weil er aus der Fremde hergewandert war und seinen Namen und Stand verschwieg. Und er lebte in strenger Einsamkeit, mied die andern Brüder und wanderte oft in den Wäldern und auf den Bergen umher.

Aber die Tage wurden kälter, die Schatten deckten das Tälchen, und nur in das Kirchlein sprühte manchmal noch ein blasser Sonnenregen, der zitternd durch den Nebel sickerte und die buntfarbigen Fensterscheiben leise glühen ließ.

Bruder Peregrinus brachte oft ganze Tage im Kirchlein zu, über die wenigen Tasten der Orgel gebeugt; ein blinder Knabe zog ihm das Seil des Blasebalgs, und wenn ihn der Bruder fragte: »Wirst du nicht müde?«, so schüttelte er den Kopf und sagte: »Spielt weiter! Ich vermeine wahrhaftig zu sehen, wenn ich Eurer Weise zuhören darf.« Fragte ihn dann der Bruder: »Was siehest du denn?«, so antwortete er sinnend: »Ich sehe eine Stadt, eine Stadt am Meere gebaut, und diese Stadt liegt still und leer, nur eine Seele wohnt darin, die sieht auf das Meer 70 hinaus, – aber verzeiht, ehrwürdiger Bruder, wenn ich es nicht besser sagen kann.« Dann setzte sich der Fremde wieder auf das Bänklein, griff mit den Fingern in die Tasten, und der blinde Knabe zog das Seil und lauschte den Tönen, die das Kirchlein erfüllten und draußen im Nebel verhallten.

Der Prior und die Mönche taten manches Gebet zur lieben Frau in den Rosen, sie möchte den Bruder Peregrinus von der sündhaften Liebe erlösen, die ihm den Sinn gefangen hielt, also daß er wie in schwerer Knechtschaft stöhnen mußte und seines Lebens nicht froh wurde, daß vielmehr sein Leib von Tag zu Tag kränker, sein Antlitz blaß und sein Auge wie von flackerndem Feuer erfüllt war, – aber all ihr Beten blieb unerhört, die Sehnsucht hielt ihn in schweren Ketten, seine Liebe konnte nicht sterben.

Der Spätherbst ging klar und warm übers Land, wie ein Wanderer mit lachenden Augen; in der Sonne glühten die roten und gelben Wälder und standen wie eine Schar von Bannerträgern über den schattigen Wiesen des Tälchens. Da wanderte der Fremde weit umher, und an den Abenden, wenn die 71 Sonne in den Fenstern des Kirchleins funkelte, saß er auf dem hölzernen Bänklein vor der kleinen, mattschimmernden Orgel, und die Mönche, die im Klostergarten umherwandelten, hoben die Köpfe, sahen einander an und sagten nachdenklich: »Unsereines betet den ganzen Tag, aber Bruder Peregrinus tut andere Buße; ihn soll wohl sein Orgelspiel von der Sünde erlösen.«

An einem solchen Herbsttage, da die Schatten schon lang waren und die Sonne schräg auf den moosigen Waldboden und die bunten Wipfel leuchtete, schritt der Fremde auf der Höhe des Berges dahin und sah weit über die große Stadt Basel und den Rheinstrom ins flache Land hinaus. Der Strom funkelte und die Münstertürme standen klar in der Luft und auf den Mauern blitzte es ab und zu wie von Speeren. Des Fremden Gedanken aber zogen mit dem schimmernden Strom in die Ferne, an den lichten Gehölzen, den sonnigen Rebbergen vorüber, unter den braunen Brücken und hohen Häusern der trotzigen Städte hindurch, ins flache, weite Land hinaus, wo hinter den großen, dunkeln Wäldern das Meer rauschte. Und seine 72 Augen sahen ein Bild, das war tief in seinem Herzen gemalt mit zitternden, blassen Farben, wie auf einem reglosen Waldsee des Himmels Wolken, die segelnden, ziehenden Schiffe, gemalt sind. Er sah eine Frau, die saß unter einem breitästigen Baum und neigte ihr Haupt lächelnd über ein Kind und flüsterte leise Worte zu ihm; die Halme der weiten Wiese wogten hin und her und der Wind strich leise durch sie wie zarte Finger über silberne Saiten, ferne gleich einer dunkeln Mauer ragte der Tannenwald mit braunroten Stämmen und flatternden Zweigen; und das Sonnenlicht tropfte schwer durch die Wipfel des Baumes und fiel auf Nacken und Schultern der Frau, und das Kind griff mit beiden Händen nach dem goldenen Geschmeide in ihren blonden Haaren und jauchzte leise, wenn seine Finger mit dem zitternden Lichtstreifen spielten.

So lange sah der Fremde auf dieses flimmernde Bild, bis ihm die Augen schmerzten und er sie mit der Hand bedecken mußte. Aber seine Seele begann zu singen und redete in allem Weinen und Schluchzen klingende Worte und reihte sie zu einem 73 Liede. Und als es Nacht war, stieg er ins Tal und trat heiteren Angesichtes unter die Brüder.

Am selben Abend beteten die Mönche besonders inbrünstig um die Erlösung ihres sündigen Bruders Peregrinus, dieser beschrieb aber in seiner Zelle mit hohen, verzierten Buchstaben ein breites Pergamentblatt und setzte zu jedem Wort einen Ton und seltsame Zeichen und stand oftmals von seinem Werke auf und ging im Gemach umher, unstet und mit leuchtenden Augen.

Am andern Morgen schritt er mit dem blinden Knaben nach dem Kirchlein in den wilden Rosen, setzte sich auf das geschnitzte Bänklein, stellte das beschriebene Blatt vor die Orgelpfeifen und begann zu spielen. Und der kleine Raum war von den Tönen erfüllt wie von dem Duft einer blühenden Wiese und eines Lindenbaums, in dem die Bienen summen. Der blinde Knabe sagte leise: »So spieltet Ihr noch nie, ehrwürdiger Bruder. Das Lied muß wohl gar heilig sein.« Der Fremde lächelte und erwiderte: »Du hast es gesagt, und frömmer kann ich nicht beten.« Da fragte der Knabe: »Wollt 74 Ihr mich nicht das Lied auch lehren, damit ich mich bei seinen Worten der süßen Weise erinnern mag?« Der Bruder schwieg eine Weile, dann sprach er: »Lausche, ob du es im Sinne bewahrest. – Maria, sie wieget in weichem Arm ihr Kind. Es flüstert ihr leise der weitgereiste Wind, es singen die Vögelein alle, die Blumen in der Au: Maria, du schönste, Maria, du holdeste Frau.«

Der Knabe hatte den Kopf gesenkt und hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Ich habe noch nie eine holde Frau gesehen, aber ich vernehme es wohl, wie die Blumen von ihrer Schönheit singen und wie die Vögel ihr zum Preise jubilieren. Und es muß sicherlich die heilige Gottesmutter sein, die ihr Kindlein in den Händen hält und der Euer Lied lobsinget. Das wird ihr aber gar wohl gefallen, und sie wird Euch dafür froh und glücklich machen.«

Da legte der Mönch sein Haupt auf den Arm und schluchzte leise. Er spielte keinen Ton mehr, schickte den Knaben von sich und kehrte später allein nach dem Kloster zurück.

In der folgenden Nacht fiel der erste Schnee, der Himmel blieb grau und der Tag 75 war dunkel. Um die Abendstunde schritt der Fremde nach dem Kirchlein, um das vergessene Pergamentblatt zu holen. Die Dämmerung stand schon vor dem Walde, kein Aestlein in den Rosenbüschen regte sich und keine Fußspur war in dem Schnee zu sehen. Als der Mönch mit der Hand den Schnee vom Türschloß des Kirchleins herunterfegte und öffnen wollte, klang das Glöcklein über dem Dache leise an und ein zitternder Ton schwebte durch den dämmerigen, stillen Winterabend. Der Mönch erschrak, denn es war kein Wind wach, und er legte sein Ohr an die Kirchentüre und lauschte. Da hörte er deutlich ein helles Lachen, und eine Stimme sprach in verweisendem Ton: »Nicht das Glockenseil, sondern den Blasebalg sollst du doch ziehen!«, und ein Schritt eilte über den steinernen Boden dahin und ein Gewand rauschte leise. Dem Mönche wuchs der Unmut, und als nun gar ein Orgelton laut ward, knackte er den Riegel aus dem Schloß, öffnete die Türe weit und trat auf die Schwelle. Seine Augen vermochten zwar in dem dunkeln Raume nicht viel mehr als die schimmernden Orgelpfeifen zu unterscheiden, 76 aber er hörte ein hastiges Rauschen von Gewändern und ein Trippeln von Füßen, dann war es still und nur die Luft wich seufzend aus dem Blasebalg.

Der Mönch trat ein, schritt durch das Kirchlein und sah nun zwei Mägde, die vor dem Bildnis der lieben Frau und Gottesmutter knieten und Herbstzeitlosen ihr zu Füßen legten. Als sie den Bruder Peregrinus hörten, erhoben sie sich und grüßten ihn voll Ehrfurcht. Er fragte mit harter Stimme: »Was treibt ihr hier?« Sie aber erwiderten: »Wir kommen von der andern Seite des Berges und bringen die letzten Blumen her, um sie vor das Bild zu legen.« Der Mönch sprach: »Nun machet euch aber auf nach Hause, ehe euch die Nacht überrascht, denn der Schnee bedeckt Weg und Steg und der Himmel ist finster.« Da schritten die beiden Mägdlein Hand in Hand zur Türe, schlüpften dort mit ihren schlanken Füßen in zierliche Holzschuhe und stapften durch den Schnee davon.

Der Mönch trat nun zur Orgel, suchte auf dem hölzernen Bänklein und zwischen den Pfeifen nach seinem Pergamentblatt, auf 77 dem das Lied geschrieben war, fand es aber nicht und kehrte verwundert zur Türe zurück. Er spähte nach den Mägden, konnte sie aber nirgends mehr erblicken, und der Schnee vor der Schwelle und um das Kirchlein herum lag so frisch und so locker wie vorher und nur seine eigenen, breiten Fußspuren waren darin zu sehen.

Dies alles und seine sündhafte Liebe bewegten ihn so heftig, daß er an Leib und Gemüt erkrankte und die Brüder ihn pflegen mußten. Auch plagte ihn ein heißes Fieber, das auf dem abendlichen Gang durch den Schnee über ihn gekommen war, und seine Sinne wurden matt zum Tode. Also lag er während langen Wochen, und an den sonnigen Halden schmolz schon der Schnee vor der Frühlingssonne hinweg, – da wich eines Tages die Müdigkeit von ihm, und er begehrte den blinden Knaben zu sprechen.

Die Mönche taten nach seinem Willen, riefen den Knaben her und schickten ihn zum Bruder Peregrinus. Dieser ergriff ihn bei den Händen und der Knabe sprach: »Seid Ihr noch immer krank? Wenn Ihr doch einmal wieder möchtet auf der Orgel spielen, 78 denn ich meine wahrlich, Ihr müßtet auf der Stelle gesund werden, sobald Ihr das schöne Lied wieder hört.«

Da fragte ihn der Bruder mit schwacher, bebender Stimme: »Kennst du es noch, das Lied? So sag es mir.«

Und der Knabe hob an und sagte das Lied, wie es ihn der Bruder einst gelehrt hatte. Dieser aber lauschte und sah im Geiste wieder die Frau unter dem breitästigen Baum in der flimmernden Wiese.

Dann flüsterte er: »Willst du mit mir ins Kirchlein gehen, da doch die Sonne so warm scheint und die Wege vom Schnee schon frei sind?«

Der Knabe lächelte und nickte, der Bruder aber legte den Arm um seinen Nacken und lehnte sich auf ihn, denn sein Körper war noch schwach vom Fieber, und also gingen sie aus dem Kloster, ohne daß sie jemand sah, und auf dem Weglein dahin, langsam Schritt um Schritt, und der Bruder labte seine Augen an den dunkelbraunen Aeckern, in deren Furchen noch Schnee lag, und an den sonnigen Halden vor den feuchten, tiefen Wäldern. Die wilden Rosenbüsche vor dem 79 Kirchlein hatten schon zarte Blattknospen, und der Bruder führte des Knaben zitternde Hände behutsam über die Schwellungen an den Zweigen und fragte: »Spürst du den Frühling?« Der Knabe lächelte und sagte kein Wort.

Als sie miteinander zur Türe traten, hob der Knabe den Kopf und blieb stehen. »Hört Ihr nichts?«, fragte er. »Mir ist, als erklinge die Orgel.«

Leise öffnete der Mönch, und beide schritten auf den Fußspitzen ins Kirchlein. Helle Sonnenstreifen lagen auf dem Boden, und in den Fenstern brannten die farbigen Scheiben, und die Säulen stiegen schlank zur weißen Wölbung empor. Vor der Orgel aber, die matt aus der dunkeln Nische schimmerte, saß eine Frau; ihre weißen, schmalen Hände lagen auf den Tasten, ihr Kopf war leicht zurückgelehnt, und braungoldenes Haar ringelte sich über dem Nacken; an die Orgelpfeifen war das Pergamentblatt gelehnt, und die Frau sang mit zarter, lieblicher Stimme das Lied, und zwei Mägdlein standen dabei und zogen lachend am Seil des Blasebalgs, im Takte des Gesangs die Hände hebend und senkend.

80 Es war aber ein Sonnengoldfaden durch das Kirchlein gewoben, der zitterte vom Fenster her und streifte das blaue Gewand der singenden Frau und lag warm auf ihrem Nacken, huschte durch die braunen Haare und schlang sich um alle Orgelpfeifen wie ein blitzendes, gewirktes Band.

Und der Mönch verwunderte sich im tiefsten Herzen, wie vielstimmig und zart die Orgel tönte, so daß die Säulen zu zittern schienen, und wie jauchzend und stolz sich das Lied aus der Tiefe erhob und schwebte, mit dem Sonnengoldfaden und den Farbenspielen der Fenster um die Wette wie in einem leichtfüßigen, kunstvoll verschlungenen Reigen.

Der Knabe flüsterte: »Ich schaue alles, ich schaue die Orgel und die wunderschöne Frau davor, die so freudig Euer Lied singt, und die bunten Farben und die Pfeifen, – wie sie schimmernd nebeneinanderstehen im braunen Holzrahmen!« Der Mönch aber kniete nieder, und noch einmal durchlohte ihn seine sehnsüchtige Liebe nach der fernen Frau, die er zuletzt unter dem breitästigen Baume in der flimmernden Wiese gesehen hatte, ehe er von ihr wandern mußte, und er rief laut 81 mit den Worten des Liedes in die brausenden Orgeltöne hinein: »Maria, du schöne, du holdeste Frau!« Dann verstummte sein wildes Herz und gab ihm endlich Ruhe.

Als der Gesang verhallte, eilte der Knabe ins Kloster zurück und erzählte, was er geschaut hatte. Die Mönche machten sich auf, traten in das Kirchlein und fanden den toten Bruder Peregrinus; die Orgel stand schimmernd und verschwiegen wie immer, das Bild der heiligen Gottesmutter leuchtete im bunten Licht, kein Mensch war zu sehen, aber das Pergamentblatt lag zusammengerollt und von einem Goldfaden umschlungen auf dem hölzernen Bänklein.

Der Prior nahm es zu sich und sprach: »Wir wollen dieses Lied einüben und an den hohen Festtagen singen, denn es muß eine gar fromme Weise sein, daß unserm Bruder Peregrinus darob solche Gnade geschehen ist.« Und also taten sie.


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