Hugo Marti
Das Kirchlein zu den sieben Wundern
Hugo Marti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5 Anselm der Bildhauer

6 Das erste Wunder ist geschehen zur Zeit, da Basel schon weit in allen Landen bekannt war seines großen Handels und reichen Bürgerstandes wegen. Tätiges Leben hastete in den engen, winkligen Gassen; in den dunkeln, hochgiebligen Häusern häuften sich Schätze aus dem wundersamen Osten und fruchtbaren Süden und wurden vertauscht und vermarktet gegen die Reichtümer der nördlichen Länder; in den Zunfthäusern beriet eine freie und selbstbewußte Bürgerschaft über das Gedeihen und Fortkommen ihrer Stadt; um den stillen Münsterplatz herum hausten die Domherren und der Bischof, und emsige Gelehrsamkeit war daheim in den Häusern hoch über dem Rhein, von denen der Blick in die dunkeln Schwarzwaldberge hinüber geht.

Damals lebte in Basel ein Maler, der weit in der Welt herumgekommen und an manchem Fürstenhof wohl empfangen und geschätzt war, der aber von seinen ehrsamen Mitbürgern wegen seines absonderlichen und anstößigen Lebenswandels nur mit Kopfschütteln und manchem heimlich gesprochenen bösen Wort in ihren Mauern geduldet wurde. 7 Er hieß Anselm und wurde in seiner Vaterstadt der wilde Maler genannt, anderorts aber, besonders in Frankreich und England, wo er lange Zeit geweilt hatte, der Frauenfreund.

Diesen Namen verdankte er seiner Kunst, die er beinahe ausschließlich darauf verwendete, schöne Frauen zu zeichnen und zu malen, edle, anmutige Gestalten in dunkel leuchtenden und reichverzierten Gewändern, mit blassen Gesichtern und seltsam beschatteten Augen, die wie von Durst oder Trunkenheit zu funkeln schienen.

Schon manche Frau hatte nach Anselm geschickt und ihn zu sich beschieden, um ihr Abbild von seiner Hand zu bestellen, und in manchem Waffensaal, in mancher Burghalle hingen Werke seiner Kunst. Doch vermochte ihn diese Fähigkeit, um die ihn so viele andere Menschen beneideten, nicht glücklich und ruhig zu machen; sie schien vielmehr in ihm als loderndes Feuer zu brennen und ihn, wie Hunde ein edles Tier, durch Städte und Länder zu jagen, so daß er jeder Seßhaftigkeit ausweichen mußte und oft schon die Aufforderung fürstlicher Gönner, sich auf Jahre oder 8 Monde bei ihnen als Gast niederzulassen, abgewiesen hatte.

Nach seiner Vaterstadt kehrte er hin und wieder zurück, wenn ihn sein Weg in ihre Nähe führte, und hier verweilte er noch verhältnismäßig lange. Er besaß ein Haus an dem Gäßlein, das zum Münsterplatz emporklimmt, und bewohnte es allein, füllte die Gemächer mit seinen Gemälden, fremdländischen Stoffen und seltsamem Schmucke an und lud sich oft durchreisende Herren mit ihrem Gefolge, zu andern Zeiten aber auch fröhliche Gesellen und liederliches Weibsvolk zu Gast.

Empfanden es nun die Bürger schon als Schmach und Zurücksetzung, wenn die fremden Herren bei dem wilden Maler anstatt auf ihren Zunftstuben zu Gaste saßen, so floß ihnen erst recht die Galle ins Blut, wenn sie hörten, wie alle Armen und Elenden der Stadt die Freigebigkeit und die Wohltaten Anselms priesen, – denn der Maler versäumte nie, wenn er selber mit den liederlichen Weibern und den ausgelassenen Gesellen tafelte und zechte, im großen Hausflur reichbesetzte Freitische aufzuschlagen, zu denen 9 jedermann geladen war, den Hunger und Not hertrieb, also daß sein Name in aller Leute Mund war und, je nachdem die Kehle ihn als Fluch oder als Dank formte, den beiden großen Parteien in der Stadt hätte zum Feldzeichen und zur Parole dienen können.

Obwohl ihn also die Bürger weidlich verabscheuten und haßten, wagten sie es dennoch nicht, ihn etwa aus der Stadt zu weisen oder sonstwie gegen ihn aufzutreten; sie fürchteten nämlich nicht nur seinen großen Anhang unter dem niedern Volk, sondern sie scheuten auch die Domherren und die gelehrten Pfaffen am Münsterplatz, mit welchen allen er gut Freund war, wie denn auch, nach dem Zeugnis der Späher und Horcher, manche Kutte sich zu den tollen Gelagen, die der Frauenfreund gab, schleichen sollte.

Anselm hatte auch einmal, da er wieder längere Zeit in Basel hauste, für die Chorstühle der geistlichen Herren im Münster eine kunstreiche Zierschnitzerei verfertigt. Als nun am Feiertag, zur gewohnten Predigtstunde, die Pfaffen ihre Plätze eingenommen hatten, erhob sich aus ihren Reihen ein Kichern und 10 Lachen, und alles Volk sah erstaunt auf die schütternden Bäuchlein und wackelnden Kapuzen der ehrwürdigen Herren, die sonst immer so still und versunken in den hohen, dunkeln Stühlen zu erblicken gewesen waren. Es hatte aber der wilde Maler auf ihre Armlehnen und ihnen zu Häupten einen bunten Zug närrischer Gestalten, Menschen, Tiere und Fabelwesen angebracht; mit viel Witz und scharfem Geist verspottete er darin die Schwächen und Eitelkeiten des menschlichen Geschlechtes und ließ sie alle in immer neuen Darstellungen und Deutungen vorüberziehen, so daß die geistlichen Herren über diesem beschaulichen Vergnügen die Predigt und den Gottesdienst und das Schläfchen vergaßen und sich der Betrachtung und dem Lachen ganz und gar hingaben.

Von seinen Reisen brachte Anselm immer große Summen Geldes zurück, sodaß ihn seine Lebensführung, so üppig und verschwenderisch sie auch war, nicht in Schulden stürzen konnte. Es nistete sich aber um ihn herum eine leichtsinnige Kumpanei in Basel ein, die sich auf seine Kosten ihr Leben fröhlich und sorglos machte und den Bürgern 11 auf alle Weise Anlaß zu Aerger und Erbitterung gab. Besonders waren es zwei junge, hübsche Weiber, die ihm aus dem Wälschland nachgefolgt waren und die er immer und immer wieder malte, so sehr gefielen sie seinen Augen; diese heizten manchem kühlen Bürger so tüchtig unter dem Herzen ein und warfen, durch ihre höhnische Sprödigkeit, so manche Handvoll Kohle auf die rote Glut, daß Anselm ernstlich daran dachte, die Stadt wieder zu verlassen, denn alte Ratsherren, reiche Gewürzkrämer, Lederhändler und Kürschner, alle bestürmten ihn in seinem Haus und forderten ihn auf, ihre Ehegesponse zu malen, spähten dabei nach den fremdländischen Weibern aus und hofften auf günstige Gelegenheiten, während der wilde Maler in ihren eigenen Häusern zu arbeiten hätte.

Da ereignete sich eines Tages, als Anselm mit einigen durchziehenden Kriegsgesellen zechte, daß ihm gemeldet wurde, eine Frau sei vor seinem Hause abgestiegen und wünsche ihn zu sprechen. Er befahl, sie herein zu führen, und wunderte sich sehr, wer es sein möchte, – wurde ja doch sein Haus von 12 ehrbaren Frauen gemieden. Er blieb auch lässig auf seinem teppichbedeckten Sessel liegen und fuhr in seiner Rede weiter, wo er unterbrochen worden war, und sofort tönte wieder das helle Lachen der Weiber und hallten die heiseren Rufe der Gesellen durch das Gemach.

Da stieß eine Hand die Türe auf, eine Frau trat auf die Schwelle und blickte lächelnd über die Tischgesellschaft nach dem wilden Anselm. Dieser erhob sich, näherte sich langsam der Frau unter der Türe und begrüßte sie auf edle Art, wie er es an den Höfen gesehen und gelernt hatte. Dann führte er sie an der Hand in einen Nebenraum, den er gewöhnlich zum Malen benützte, und trug ihr einen schweren, geschnitzten Holzstuhl herbei. Die Frau setzte sich, und Anselm stand mit gesenktem Haupt vor ihr, denn er bereute, ihren Augen das Schauspiel der ausgelassenen Tischgesellschaft in seinem Haus gegeben zu haben.

Die Frau aber sprach mit sanfter Stimme den Wunsch aus, von ihm, dem berühmten Maler, ihr Bildnis schaffen zu lassen, und sie versprach, jeden zweiten Tag ihn 13 aufzusuchen, wenn es ihm so gefalle. Er willigte ein und verwunderte sich noch mehr, daß eine ehrbare, junge Frau ein zweites Mal sein Haus betreten wolle. Er bemerkte kaum, wie ihm die Gestalt zunickte und dann leicht und leise zur Türe hinaus verschwand, so tief versunken in seine aufgewühlten Gedanken stand er da, – griff dann plötzlich in die leere Luft um sich, eilte hinüber ins andere Gemach und hörte noch, wie das Getrappel von Rosseshufen durch die enge Gasse davon klapperte und dann verhallte im werktäglichen Lärm der Straßen.

Die Zechgesellen und Weiber kehrten von den Fenstern, durch die sie dem davonreitenden Zuge nachgesehen hatten, an den Tisch zurück, befragten Anselm neugierig um Auskunft und ließen sich unter Scherz und Gelächter wieder auf den Sesseln nieder. Da Anselm mit Antworten kargte und stumm vor sich hinbrütete, fingen sie an sich zu streiten, weil der eine der Kriegsgesellen behauptete, er hätte auf dem Zaumzeug das Wappen derer von Dorneck erblickt, der andere aber hoch und heilig schwor, er kenne die Frau, es sei die Wartenbergerin, so wie 14 die sitze keine zu Roß. Die beiden Gesellen erhitzten sich darob und hoben schon die Humpen gegeneinander zum Wurf, die andern mischten sich auch ein und traten den Streitenden zur Seite, als plötzlich der wilde Anselm auf und dazwischen fuhr und seine Gäste wegjagte und sich für die nächsten Wochen alle Besuche verbat. Lärmend zog die Rotte das enge Gäßlein hinunter und überließ den Maler seinen trüben Gedanken, die er nun anstatt der ausgelassenen Schreier an der unordentlichen, verwüsteten Tafel zu Gast hatte.

Die fremdländischen Weiber, die noch in seinem Haus nisteten, schickte er am andern Tage, ehe die Frau erschien, ebenfalls weg und so jedesmal an den Tagen, da er die Unbekannte malte; als sie aber argwöhnisch zu trotzen anfingen und in losen Worten von der Frau schwatzten, füllte er ihnen die gierigen Hände mit Gold und schloß ihnen seine Türe für immer.

Ganz einsam und zurückgezogen lebte er nun in seinen Räumen, unablässig arbeitend an dem Gemälde der unbekannten Frau. Jeden zweiten Tag ritt sie mit ihrem 15 Gefolge vor sein Haus am Gäßchen, stieg ab, übergab ihr Pferd einem Begleiter und schickte den Troß in eine benachbarte Herberge mit der Weisung, wann sie abgeholt zu werden wünsche. Allein und unbegleitet trat sie in Anselms Haus, schritt in sein Arbeitsgemach, begrüßte ihn, der schon vor ihrem Bilde stand, und setzte sich in den Lehnstuhl, umflossen vom hellen Lichte, das durch ein niederes, breites Fenster flutete.

Während Anselm emsig, mit leuchtenden Augen, an dem Gemälde arbeitete, sprach sie manches ernste und besonnene Wort mit ihm, ließ sich auch von seinen Reisen in fremden Ländern und von Menschen aller Art erzählen und brachte mit der Zeit in seine verwilderte Seele ein wenig Ordnung und Ruhe. So oft sie aber zu sehen begehrte, was er schon an ihrem Bild geschaffen habe, bat er sie um Geduld, bis das Werk vollendet sei, denn er fürchtete, sie möchte ihm durch irgendein Wort des Lobes oder des Tadels den Mut zu der Aufgabe nehmen, die ihm schon so von einemmal zum andern immer schwerer vorkam und deren endliche Lösung ihm oft vermessen und unmöglich schien.

16 Eines Tages stand er wieder vor dem Bild und war gerade damit beschäftigt, über die blauen Augen jenen leisen, zarten Schleier zu breiten, indem er die Lider müde und doch lauernd den klaren Blick beschatten ließ; er spielte mit den Farben, so meisterlich wie nur ein klarer Sommerabend, der langsam ein Licht ums andere löscht, um die hereinbrechende Nacht desto geheimnisvoller leuchten zu lassen, da trat er jäh von dem Bilde zurück, besah es starr und wandte sich dann weg. Ihm war, als sei ein Schleier auch zwischen ihm und dem Bilde niedergefallen, ein Schleier, der ihn von seinem Werke trenne und es ihm fremd und hassenswert mache.

Seine Kunst, sein meisterliches Farbenspiel, von dem vielleicht zur selben Stunde mancher schöne Frauenmund in den Landen umher sprach und sich im Loben nicht genug tun konnte, das kam ihm nun alles um keinen lumpigen Deut besser vor als das verächtliche Treiben und Hantieren der Gaukler, die zu den Zeiten der großen Märkte in der Stadt an irgendeiner Straßenecke ihre Possen trieben, auch so meisterliche Spiele 17 wie Schwerter fressen und Feuer speien, und vor denen sich das Volk drängte und stieß und jeder das Maul aufriß vor Staunen und die Augen verdrehte vor Bewunderung. Solchermaßen dachte Anselm von seiner gepriesenen Kunst und lachte höhnisch.

Einen langen Tag verharrte er in bitterem Schmerz und lautloser Klage, wanderte ruhelos durch die Zimmer seines Hauses und kehrte immer wieder vor das Bildnis zurück. Wie in einem Fiebertraum durchwachte er die schwüle Sommernacht; als er stöhnend das schwere Fenster aufriß und nach den Sternen blickte, die hoch über den spitzgiebligen Dächern und den beiden schlanken Münstertürmen funkelten, erschreckte ihn ein Geräusch wie von schleifenden, trippelnden Füßen, von rauschenden, schleppenden Gewändern, und ihm war, als nahe sich durch das gewundene Gäßlein herauf ein Zug aller Frauen, die er gemalt hatte, und hundert Augen brannten, gierig und dennoch stumm anklagend, weiße Arme und zuckende Finger reckten sich nach ihm, und wie ein Strom von bebend drohenden Fäusten flutete es aus dem Dunkel herauf. Krachend schmiß er das 18 Fenster zu, daß aus dem Blei klirrend das Glas sprang und auf den Pflastersteinen zerschellte.

Als der Morgen langsam über den Dachfirsten dämmerte und eine ferne Glocke zitternd zu rufen begann, stieg vor Anselms wirren, traumbetörten Augen, wie ein Turm aus den Nebeln des Rheins, wenn die Herbstsonne durchbricht, das reine Bild der unbekannten Frau empor, mit leisen, edlen Bewegungen, den Kopf zierlich geneigt, als trüge sie auf den zartgebauten Schultern eine unsichtbare Last, und die Augen voll strahlender Güte, klar, warm und lächelnd, wie am ersten Tag, da sie sein Haus betreten und er sie beschämt an der Hand von der lärmenden Schmauserei hinweggeführt hatte.

Da schritt Anselm ruhig, aber abgewandten Hauptes, vor das Gemälde, riß es herunter und warf die Fetzen in eine Zimmerecke. Aus den Hölzern, die in verschiedener Art und mannigfacher Größe an den Wänden herumstanden, wählte er ein untadliges, fehlerloses Stück, schliff seine Messer und rüstete sein sonstiges Schnitzereigerät und begann den Block zu bearbeiten. Ohne 19 auszuruhen werkte er, solange die Sonne das Zimmer erhellte, und abends standen schon die rohen, noch eckigen Umrisse einer schlanken, weiblichen Gestalt vor ihm, seltsam aufragend im Dämmerlicht aus dem Gewühl der Späne und abgesplitterten Holzstücke, in denen er selber auf wunden Knieen lag.

Und also verbrachte er alle folgenden Tage in rastloser Arbeit, unermüdlich schnitzend und meißelnd, sodaß ihm oftmals Abends die Finger bluteten; er genoß kaum die spärliche, einfache Speise, die er sich in der Dämmerzeit einkaufte, und wurde scheu und floh die Menschen, aber nicht im Haß sich vor ihnen verschließend, sondern mit den Gedanken eines, der Wichtigeres kennt als die Geschäfte der Welt. Seine Gestalt, die früher schon recht behäbig und beinahe schlaff ausgesehen hatte, wurde wieder sehnig und straff, sein Antlitz hart und innere Kräfte spiegelnd, und seine Augen blickten von Tag zu Tag leuchtender und klarer. Er merkte es auch gar nicht, daß die fremde Frau nie mehr kam, ja er sehnte sich nicht nach ihr, so rein und deutlich stand ihr ungetrübtes Bild vor seiner Seele, vom Morgen an, da er zu 20 seinem Werk sich rüstete, bis in die stille Nacht hinein, da er müde auf das Lager fiel, und noch durch seine Träume ging sie, leis und lächelnd.

Indessen wuchs ihr Standbild wunderbar aus dem Holze heraus, immer feiner und zarter gerieten die Formen des schlanken Körpers, die Linien des Gewandes, die Züge des Hauptes und der Hände. Und eines Tages, da er mit scharfen Messern noch da und dort verbessert hatte, trat er vom Werk zurück und besah es.

Schon fiel späte Nachmittagssonne durchs breite Fenster, das braunrote Holz glühte, als ob Blut in ihm fließe, und dunkle Schatten spielten darauf. Und da stand das Bildnis der fremden, unbekannten Frau: am Körper floß das Gewand herunter, knapp anliegend über den Brüsten und breit von den Hüften bis über die Füße fallend, weite Aermel umschlossen die Arme bis zu den zarten Knöcheln, die Hände aber hielten eine Blume in losen Fingern und schienen spielend die Blütenblätter zu zählen; wie eine wohlgewachsene Lilie stiegen Hals und Haupt aus dem Gewand empor, das schmale Antlitz 21 war leicht gesenkt, und während die Augen das Spiel der Hände besahen, schien das Ohr, das kaum unter den lose gebundenen Flechten zu erblicken war, einer Bitte zu lauschen, der schon vom lächelnden Mund Erfüllung gewährt war.

Lange verharrte Anselm vor dem Bilde, und Tränen stiegen ihm in die Augen, dann verließ er das Haus, um durch die nahende Nacht zu streifen. Die Seele war ihm übervoll von Jubel und Dank, Lieder gingen vor ihm her und trugen den Schwung seiner Schritte in ihren Weisen, und wo er Menschen begegnete, grüßte er sie und sprach mit ihnen von ihrer Freude und tröstete sie in ihrem Schmerz. Von der Höhe der Münsterpfalz schleuderte er die Werkzeuge, die seine Hände an dem Standbild gebraucht hatten, in den Rhein hinunter, denn zu keinem andern Werke mehr wollte er sie zwingen.

Am folgenden Morgen, noch ehe sich die Nebel von den Wassern hoben und als die letzte Nachtwache von den Stadtmauern und Toren zurückkam, erhob sich Anselm, lud das Bildnis der unbekannten Frau auf seine 22 Schulter, verließ das Haus, schritt im ersten Dämmerlicht durch die leeren Gassen und machte sich auf nach den bewaldeten Bergen, die noch dunkel, aber scharf vom grauen Himmel sich abhebend, dalagen. Es war, als zöge sich hinter den Heerscharen der Nacht die letzte, stumme Nachhut eben in ihre Täler und Schluchten zurück.

Lange wanderte er ohne zu rasten, obwohl ihn das Bildnis schwer zu Boden drückte. Er blickte auch kaum von der Erde auf, sondern setzte gleichmäßig Schritt vor Schritt wie einer, der sein Ziel kennt. Er betrat, nachdem er eine Weile gestiegen war, ein schmales, von waldigen Höhen umschlossenes Tälchen und blieb aufatmend stehen, während er das Bild behutsam neben sich ins feuchte Gras legte. Eben schwirrten die ersten Sonnenstrahlen über den Bergkamm her und rieselten wie sprühendes Gold ins Geäst der Buchen und durch das Gestrüpp und Moos und entzündeten auf jedem Halm Tauperlen in glühenden Farben.

Da war es Anselm plötzlich, als erlausche sein Ohr das Geräusch von Rosseshuftritt. Spähend blickte er ins Tal, aber er bemerkte 23 nichts, soweit der schmale, von Gräsern überwucherte Weg zwischen Wiesen und Feldern sichtbar war. Zögernd tat er ein paar Schritte vorwärts, da erkannte er zu seiner Rechten am Wegrain einen alten Mann in bäurischem Gewand, der eine Sichel in der Hand trug und ebenfalls in die Ferne starrte, wobei er die andere Hand schützend über die blöden Augen hielt. Anselm rief ihn an und fragte, ob nicht jemand vorübergeritten sei und wohin der Pfad führe. Der Greis kam langsam auf ihn zu und gab zur Antwort, dieser Weg endige in jenem Gestrüpp von wilden Rosen, doch die Frau, die hier vorübergesprengt und dort im Dickicht verschwunden sei, kenne er nicht; die Dorneckerin, die manchmal hier jage, könne es nicht gewesen sein, denn jene schaffe sich ihren Weg mitten durch die Kornfelder, das Gefolge breit hinter ihr her und die Hunde wild voraus, während diese unbekannte Reiterin ihr weißes Roß nicht einen Schritt vom Wege abgetrieben, wohl aber im Vorbeitraben mit rascher Hand einige Aehren abgerauft habe; ihm scheine es, fügte der Alte sinnend hinzu, als sei das Korn durch die Hand, die darüber 24 gestrichen, plötzlich reif geworden, es leuchte heute wie Gold, während es gestern noch unansehnlich dagestanden habe.

Anselm lächelte und fragte ihn nach dem Aussehen der Reiterin, worauf ihm der Bauer die unbekannte Frau beschrieb, deren Abbild Anselm geschaffen und auf der Schulter hergetragen hatte. Da dankte er dem Greis, nahm lächelnd das Holzbild vom Boden auf und schritt auf dem Wege weiter, der zu den wilden Rosen führte. Als er in das Gestrüpp eindrang, neigten sich die dornigen Zweige vor ihm und seiner Last, beugten sich ausweichend zurück, also daß er wie zwischen hohen Mauern wandelte, die sich hinter ihm wieder zusammenschlossen, und daß kein Dorn sein Gewand streifte oder seine Haut ritzte oder gar das Bildnis zerkratzte.

Eine kleine Wiese, etwa zehn Schritte ins Geviert, lag mitten in der Rosenwildnis. Eine niedere Säule aus rotem Sandstein ragte aus dem Rasen empor. Anselm stutzte, als sein Auge auf dem Stein alte, geheimnisvolle Zeichen erblickte, wie sie von den römischen Kriegern, die einmal hier auf Grenzwacht gelegen hatten, ihren heidnischen 25 Opferstätten als Gebet zu ihrem wilden Schlachtengott eingemeißelt worden waren. Aber siehe da: auf der Säule lag ein Kränzlein von wilden Rosen, unverwelkt und herrlich duftend, und als Anselm staunend hinzutrat, sah er zwischen den Blüten und Dornen ein langes Haar in der Sonne schimmern, goldigbraun wie diejenigen der unbekannten Frau. Anselm lauschte in der Runde und ließ seinen Blick durch die Sträucher und über sie hinaus schweifen, aber seine Augen sahen weder die Frau noch das weiße Roß, sein Ohr hörte nicht Wort noch Hufgetrappel. Da stellte er das Standbild auf die rote Säule, drückte ihm das Rosenkränzlein auf das Haupt und kniete im Gras nieder zu stillem Gebet. Rings herum wogten leise im Wind die dichtverwachsenen Sträucher, darüber blaute der Morgenhimmel, nie ward in einem schönern Tempel aufrichtiger zur lieben, wundertätigen Frau und Gottesmutter gebetet.

Um die Mittagsstunde kehrte Anselm nach der Stadt zurück, schloß sich wieder in seinem Hause ein, bis zur Abenddämmerung, dann trug er all sein Hab und Gut zu den Krämern 26 und Juden, seine Schmucksachen, die seltsamen Perlen und den Bernstein, die silbernen Ketten und Becher zu den Goldschmieden, die bunten Teppiche und fremdländischen Seidenstoffe zu den Händlern und verkaufte alles um eine Handvoll Goldmünzen. Diese sowie das Geld, das noch in Kassen und Schreinen zu Hause verstreut lag, schmolz er während der Nacht in einem Tiegel zusammen und hämmerte daraus einen mäßig großen Reifen, den er am folgenden Tag, da das Rosenkränzlein welk geworden war, dem Bilde der lieben Frau als leuchtenden Schein um das Haupt legte.

Und seit dieser Stunde war der wilde Maler aus der Stadt verschwunden und es hat keiner der ehrbaren Bürger je erfahren, was aus ihm wurde, aber alle stimmten überein in der unverhohlenen Ahnung, daß er endgültig und verdientermaßen und elend zugrunde gegangen sei.


 << zurück weiter >>