Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Es gibt Tage, die vor allen anderen dem Gedächtnis sich freundlich einprägen, ohne daß sie große Glücksfälle mit sich brächten oder reich an Genüssen wären; aber sie entsprechen auf ein Haar dem Ideal der Lebensgestaltung, auf das man sich gerade kapriziert. Was man sich vorgenommen, wird vollendet, kein Mißklang stört, und man entdeckt, daß trotz der Milliarden widerspruchsvoller Möglichkeiten die Stunden, wie durch Zufall, sich zu einer Harmonie verbinden können. Das gibt dem Willen dann wieder einen mächtigen Elan. Man ist geneigt, das Leben beinahe feierlich zu nehmen und sich selbst für eine Persönlichkeit zu halten.

Der Tag soll Tag des Dimitri heißen, nicht nur, weil das Werk des Dimitri Teniawsky ihn krönte, sondern weil von den ersten Morgenstunden an die Stimmung jener fröhlichen Energie darüber ausgebreitet lag, die wir an Dimitri vergöttern, mit der allein man das Leben sich erobert.

Es war in der Karnevalszeit und eine Bärenkälte. Von den Maskenbällen kamen Nachtschwärmer nach 339 Haus, als ich früh die Lampen anzündete und mich auf meine Arbeit freute wie ein Schuljunge auf den Feiertag. Ja, Schularbeiten waren das freilich nicht. Da wurde kein Bakel über mir geschwungen und keine Examina winkten, für keine »Anstellung« brauchte ich mir die Ansichten obrigkeitlich abstempeln zu lassen. Nicht wie eine steife Matrone nahm ich die Wissenschaft, sondern wie ein reizvolles Mädel, mit dem man plaudert und sich vergnügt.

Zunächst zwei Stunden Völkerkunde, angenehm und rasch zu lesen; macht Appetit auf schwierigere Dinge. Darauf mein Kursus in der Anatomie, wo ich an diesem Tage zum erstenmal mit kindlichem Vergnügen die berühmte Zirbeldrüse fand, aus der noch immer einige Materialisten die gesamte Intelligenz herleiten wollen; dann ein Kolleg über experimentelle Psychologie, in angenehmer Erinnerung durch einen gelungenen Nachweis von Sinnesvikariat und endlich, wieder zu Haus, die Kulturgeschichte.

Aus der Menge aller möglichen Disziplinen, in denen ich mich noch tummelte, wuchs mir allmählich die Kulturgeschichte immer mehr ans Herz. Lag sie doch auf der verlängerten Linie meiner Erforschung des Menschen, im Grunde nichts anderes als die Lehre von den Komplikationen menschlicher Willensakte: wie die dem Menschen eigentümlichen Triebe nach Befriedigung 340 streben, wie ihnen die Natur und andere Triebe, von Individuen oder Massen, bald Beistand, bald Widerstand leisten, welche Resultate daraus entstehen und wie nun diese wieder wirksam werden . . . ein gewaltiges Spiel von Kräften, bei dessen Betrachtung unser irdisches Getriebe schon nicht mehr kleinlich erscheint. Da schützt uns keine Enttäuschung, keine Übersättigung davor, plötzlich doch wieder Partei zu ergreifen, für diese oder jene Sache uns zu erhitzen. Wir sehen die Kämpfe aus den Bänden der Historiker sich weiterspinnen bis in die lebendige Gegenwart und, ehe wir es ahnen, stehen wir selber mitten drin, vielleicht gar als Rufer im Streit.

Meine Meister waren Thomas Henry Buckle und der ihm verwandte Hippolyte Taine. Aber auch unseren Treitschke nahm ich gern zur Hand. So oft er beschränkt und traditionell erschien, so oft entzückte mich wieder seine Leidenschaft und sein Enthusiasmus für menschliche Größe. An jenem Tage las ich seine Charakteristik des Freiherrn vom Stein und seine Darstellung der Befreiungskriege, und er bekehrte mich fast zum Royalismus.

Nach Tisch hinaus in den klaren Frost, über den hartgefrorenen Schnee nach dem Walde, dessen weiße Pracht ich lange nicht mehr mit so knabenhafter Ehrfurcht bewundert hatte. Bei jedem Schritt entdeckte ich 341 an wohlbekannten Stellen neue Herrlichkeiten und suchte mir zwischen den kahlen Stämmen hindurch Motive, deren Linien ich mit den Blicken nachzeichnete, einsog, bis mir die Landschaft in Gefühl und Gedächtnis stand wie ein fertiges Bild. –

Mit Einbruch der Dämmerung ward es dann Zeit, an Alice zu denken, mit der ich mich für heute besprochen hatte. Der Empfang im Hause ihres Gatten war ihr bald nicht mehr recht geheuer gewesen; auf meine Wohnung aber wollte sie unter keiner Bedingung wieder kommen. Sie sagte, das sei jetzt etwas ganz anderes, und auch sonst stünde ihr der Aufenthalt da nicht im besten Andenken. Nur da wolle sie mich empfangen, wo sie sich ganz bei sich zu Hause fühle und wo sie, wenn ich es gar zu arg triebe, nach der Tür weisen könne.

Also hatte sie sich im Norden der Stadt, weit hinter der Börse, ein kleines abgelegenes Quartier gesucht und wollte auch schon Mobiliar und Miete übernehmen, wenn ich nicht entsetzt dagegen Einspruch erhoben hätte, was ihr ganz unbegreiflich vorkam. Schließlich hatte sie darauf bestanden, beide Zimmerchen nach eigenstem Geschmacke auszustatten. Auch das Hausrecht darin ließ sie sich feierlichst von mir übertragen.

Als ich etwas verspätet eintrat, saß sie, bereits in großer Unruhe mit Häkeln beschäftigt, auf dem Sofa und versuchte, eine Minute lang zu schmollen.

342 »So spät!« klagte sie. »Und Arthur hat die Rekruten schon seit einer halben Stunde!«

»Arthur hat die Rekruten« war nämlich die Parole geworden, seit unsere erste intime Zusammenkunft durch diese verschämte Mitteilung ermöglicht wurde. Und da nun Arthur seine Rekruten fast täglich hatte, so ist klar, daß der Alice viel Zeit für andere Dinge übrig blieb.

Sie las jetzt alle französischen Romane, deren sie habhaft werden konnte und hielt es für das Zeichen einer großen Dame, ihren Liebhaber zu besitzen. Ganz wie sie bei Prévost gelesen, fuhr sie in der geschlossenen Droschke, tief verschleiert, bis an die Straßenecke, um dann mit raschen Schritten in dem geheimnisvollen Hause zu verschwinden.

Sie bereitete mir stets eigenhändig den Tee, à la Dubelloy, wie ich es ihr gelehrt; denn es machte mir Spaß, mich hier als Pascha zu fühlen, wie der selige Lüttwitz bei seiner Amaryllis.

Freilich, der einst so prickelnde Duft ihrer Mädchenschaft war abgestreift. Meine Empfindungen für Alice waren nichts weniger mehr als krankhaft. Wir liebten uns normal, fast möchte ich sagen: solide. Bald hatte ich bemerkt, daß meine letzte, heftigste Leidenschaft drei Fünftel Herrschsucht, ein Fünftel gekränkte Eitelkeit und nur ein Fünftel Lust gewesen war. Nun blieb mir 343 zwar immer noch das gemeine Vergnügen, aber von tieferer Zuneigung konnte leider nicht mehr die Rede sein. Frau Leutnant von Fiedler war zu sehr Dame geworden, als daß ich sie, auch nur bezüglich eines Punktes, hätte ernst nehmen können.

Niedlich und originell blieb sie trotz alledem. Sie hatte nicht geruht, bis ich ihr ein Pianino mietete. Darauf sang sie nun lockere französische Chansons und brachte sie, da Arthur ihr Musikunterricht erteilen ließ, sehr hübsch zur Geltung. Oft verstand sie den Text nicht. Wenn sie dann die unmöglichsten Scherze harmlos herausschmetterte und ich mich auf dem Sofa vor Lachen nicht mehr halten konnte, unterbrach sie sich erschrocken und drängte mich, ich solle ihr alles anständig, aber richtig übersetzen. –

Heute konnte sie sich wieder einmal nicht genug tun in stürmischen Liebkosungen. Das stand ihr allerliebst. Besonders, wenn sie dazwischen von ihrem Arthur sprach:

»Arthur ist ein sehr lieber Mensch; das mußt du mir zugeben.«

»Gewiß! Jetzt hab' ich ihn schätzen gelernt. Er ist viel braver noch als ich.«

»Ja, das ist er wirklich. Ich liebe ihn auch. Wahrhaftig! Das ist schon die Liebe, von der man sagt: in der Ehe kommt sie nach. Die ideale Liebe ist es, die mit 344 dem Herzen. Die andere, die für dich, das ist nur die häßliche Liebe!«

»Danke!«

»Ja, pfui! pfui! möchte man ausrufen – wenn nicht das Häßlichste gerade immer das Schönste wäre.«

Lachend zauste sie mich an den Ohren und verbarg ihr Gesicht im Kissen.

»Konntest du mich das nicht eher wissen lassen?« fragte ich.

»Ach – du bist selber schuld an allem gewesen.«

»Ich?«

»Na ja, du weißt schon . . .! – Unbegreiflich!«

»Aber auf dem Rennen, Alice . . .? Da hab' ich doch so gebeten. Wenn du ahntest, wie mir damals zumute war!«

»Erlaube 'mal, Liebster! Drei Tage vor meiner Verlobung, und dann im Brautstand . . .? Das wäre ja noch schöner gewesen.«

»Ach ja – noch schöner!« –

Pause. – Zärtlichkeiten. – Mit ihren aufgelösten Haaren sucht sie mich zu erdrosseln.

Dann ganz leise:

»Just, du hältst mich gewiß für sehr verdorben?«

»Ziemlich.«

»Hältst du mich auch für sehr kokett?«

»Nein, Schatz; Gott sei dank, nein.«

345 »Gegen alle übrigen Herren benehme ich mich doch durchaus korrekt?«

»Durchaus. – Wie eine Heilige.«

»Nicht wahr, keine der Regimentsdamen traut mir so etwas zu? – Siehst du – und doch . . .! Und gleich zu Beginn einer jungen, glücklichen Ehe! – Wenn ich nur wüßte, womit du mir's angetan hast!«

»Ja, das würde mich selber riesig interessieren. Schwer genug war's doch.«

»Ich glaube, die alte Freundschaft hat alles noch gemacht. Wenn man sich so genau kennt . . . da hilft das bißchen Schüchternheit nicht viel.«

»Hoffentlich sind auch noch andere Vorzüge mit im Spiele.«

Sie dachte ernstlich darüber nach, kam aber nicht zu Ende und meinte endlich nur, die Bilder und die Gedichte, mit denen ich ihr anfangs imponierte, die könne sie jetzt ganz leicht entbehren . . .

Auf dem Heimweg war ich gut gelaunt. Aber ich verhehlte mir nicht, daß eine Geliebte von der Art der Frau Alice von Fiedler bald ihren Wert verliert.

Sie war ja etwas klüger, etwas lebendiger und graziöser als die übrigen Weiber ihrer Gesellschaftsklasse. Doch hatte ich auch diese Reize nun bald nach allen Richtungen hin ausgekostet. Sie selbst würde des gefährlichen Spieles bald überdrüssig werden und, 346 zumal bei ehelichem Nachwuchs, mit ihrem Arthur sich bescheiden. So würden wir – das sah ich damals schon voraus – in aller Freundschaft auf den Pfad der Tugend zurückkehren und am Kamin von den Tagen junger Liebe plaudern . . .

* * *

Von Dimitri Teniawsky ist dieser Abend beschlossen worden. Mit der unschuldigen Kindermiene, die er immer aufsetzt, wenn er Verbrechen plant, hat er es sich bei mir bequem gemacht, hat Wein und Zigaretten verlangt und dann im leichtesten Plaudertone über seine Herzensangelegenheiten mit mir geredet.

Ich habe aufgezeichnet, was davon in der Erinnerung sich mir eingrub, weil es vielleicht in nicht allzu langer Zeit auch die weiteren Kreise unfreiwillig interessieren wird.

Dimitri sagte:

»Wir haben etwas zustande gebracht. – Endlich! – Unsere großen Worte, das ewige Reden und Konspirieren, sind doch nicht umsonst gewesen. Wir brauchen uns nicht mehr darum zu schämen. Denn nun haben wir wieder die lebendige Propaganda. – Weißt du noch, Just, wie ich dir im Frühjahr auf ein Vergnügen den Mund wässerig machte. Nun sind wir so weit, und dabei hoffe ich noch, daß es dir bei deiner jetzigen 347 Verfassung mehr als Vergnügen bedeuten wird: Genugtuung, Freude, vielleicht gar Stoff zur Begeisterung!

Noch eins vorausgeschickt: Wir brauchen dein Schweigen nicht. Wir brauchen niemandes Schweigen. Was ich dir jetzt erzähle, darfst du meinetwegen in aller Welt verbreiten. Daß dus in verständiger Weise tun wirst, dazu kenne ich dich gut genug. Denn ohne Vertrauen würde ich dir überhaupt damit nicht kommen. Und dann habe ich auch bemerkt, daß du uns im Grunde deines Herzens schon längst verfallen bist.

Also kurz gesagt: Das Werk der Zerstörung ist im Gange! Geeignete Kräfte haben sich zusammengetan, eine Rotte guter Europäer, Vertreter fast aller Nationen und haben dauernde Beziehungen unter einander hergestellt. Wohlgemerkt: es ist kein Verein, keine Partei, kein organisierter Bund. Wer es mit Händen fassen will, greift in die Luft. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Übereinstimmung, allerdings von Männern, die aufs Haar wissen, was sie wollen und über ihre Taktik in ununterbrochener Beratung stehen.

Die Ziele haben in der Luft gelegen, schon seit Jahrzehnten, und die besten Köpfe haben ihnen instinktiv schon nachgestrebt. Aber der bewußte Angriff, dessen Waffen jetzt vertausendfacht werden, das Gefühl der Solidarität im Umsturz, das Bewußtsein 348 zugleich im Dienste einer erfolgreichen Sache tätig zu sein, das ist das Neue in der Bewegung.

Das Programm ist möglichst allgemein gefaßt. Es lautet einfach: Quieta movere! Umsturz des Bestehenden! Radikale Auflösung der herrschenden Sitten, Lebensanschauungen und Gewalten! Lebenswert bleibt allein das Unzerstörbare: die Kraft des menschlichen Geistes und die Schätze seiner Empirie. Ich glaube, daß dieser Boden fruchtbar genug ist, um nach der Sintflut neue Keime hervorzubringen.

Gekämpft wird nicht mit den plumpen, unwirksamen Keulenschlägen der Terroristen, sondern mit der gesetzlich unverbotenen Waffe der intellektuellen Agitation. Die Berücksichtigung der in jedem Staatswesen geltenden Strafgesetze ist wesentliche Grundlage unseres Übereinkommens, das man demnach, wenn das Kind durchaus einen Namen haben soll, etwa als einen »Klub vom intellektuellen Umsturz« bezeichnen könnte.

Die einzige Maßregel, unser Werk zu stören, wäre die, uns einzusperren. Solange wir dazu keine Gelegenheit geben, sind wir allmächtig. Wir haben uns deshalb auch wohl gehütet, uns als Klub zu konstituieren. Es gibt in unserem deutschen Kriminalrecht zwei Paragraphen, die vor allen anderen zu beachten sind. Der eine verbietet die Teilnahme an einer Verbindung, in welcher gegen bekannte oder unbekannte Obere 349 Gehorsam versprochen wird, der andere die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken es gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu entkräften. Wir haben uns danach gerichtet. Es gibt keine Obere, es gibt keinen Gehorsam. Es geht sogar noch besser ohne beides. Gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Kontrolle und besonders der Ehrgeiz und kriegerische Instinkt jedes einzelnen sind sicherste Garantie. Wir brauchen nicht den Ballast von Statuten, Versammlungen und Finanzen. Alle Tätigkeit liegt allein in dem persönlichen Ehrenamt der Agitation auf eigene Faust. An Stelle des Vorstandes gibt es nur eine unbestimmte Anzahl von Vertrauensmännern, die zusammentreten, um zwanglos die leitenden Grundsätze zu beraten. Einige unter ihnen haben sich erboten, eben darüber größere Denkschriften auszuarbeiten, die mit etwaigen Abänderungen und Erweiterungen an die einzelnen Freunde versendet werden.

Es gibt auch keine Mitglieder. Es gibt nur Freunde der Sache, dem Namen und den Fähigkeiten nach bekannt. Sie können abtrünnig werden, wenn sie wollen. In der Regel wird das gleichgültig bleiben. Sollte sich ausnahmsweise einer feindselig zu uns stellen, so gibt es schon Mittel, ihn unschädlich zu machen.

Wir haben unter den Freunden Angehörige beiderlei 350 Geschlechts, aller Berufsstände und Gesellschaftsklassen. Ohne ein bestimmtes Maurerzeichen erkennen wir uns nach den ersten Sätzen, die wir miteinander wechseln, sofort an unseren Anschauungen. Dann lächeln wir uns verständnisvoll an wie die alten Auguren.

Politisch haben wir es nicht nötig geschlossen vorzugehen. Denn Freunde gibt es in allen Parteien; vorzugsweise natürlich bei den radikalen. Fast alle Führer der Sozialdemokratie stehen zu uns, ebenso die meisten Fortschrittler; sogar unter den Konservativen haben sich ein paar gefunden.

Unser eigentliches Feld wird das Kulturleben der breiten Volksmassen bleiben, also insbesondere der gesellige Verkehr, Wissenschaft, Kunst und Literatur, das Erziehungswesen, die öffentlichen Vergnügungen. Auf allen diesen Gebieten wird nach einem wohlerwogenen System der Angriff auf die bestehende Gesellschaftsordnung eröffnet. Alles einzelne ist in Denkschriften geregelt. Vorläufig zur Orientierung nur folgendes:

Es wird eine Presse für uns geschaffen. Teils werden Zeitungen, Zeitschriften, Broschürenverlage neu gegründet. Zu diesen gehört unter anderen auch die »Atlantis«; teils haben sich bereits bestehende und von Freunden geleitete uns zur Verfügung gestellt. Ich kann dir versichern, daß Organe darunter sind, denen 351 du es nicht zutraust: Bismarckblätter, Familienzeitschriften, objektive literarische Monatshefte.

Nun, alles dies trifft sich in dem eingestandenen oder auch uneingestandenen Bestreben, zu wühlen, zu unterminieren, Unzufriedenheit zu erregen, überhaupt: Schaden zu stiften. Bekanntlich hat unsere Ausdrucksweise und Dialektik in den letzten fünfzig Jahren eine derartige Gewandtheit erlangt, daß wir die gefährlichsten Gedanken in der unverfänglichsten Form auszudrücken vermögen. Mit dem Brustton der Überzeugung können wir zum Beispiel einen Monarchen derart preisen, daß der Zuhörer unsere Verachtung und unseren Hohn empfindet, ohne sich klar darüber zu werden. Die Suggestion aber hat stattgefunden und wird ihre Schuldigkeit tun. Ebenso werden wir, indem wir Mißstände wohlwollend bedauern oder gar verteidigen, dadurch den Schleier vollends erst herunterreißen. Diese Kunststücke machen unsere Presse so unüberwindlich und werden nun auch unserer persönlichen Rede mächtigen Einfluß verleihen.

Auf diese Weise werden wir in harmlosen geselligen Gesprächen Kinder gegen die Eltern, Untertanen gegen die Obrigkeit, Gläubige gegen den Klerus aufstacheln. Die Herzen einer erregten Jugend werden uns zufliegen; denn das Ideal der Schrankenlosigkeit zeigt ihnen niemand deutlicher als wir. Das Proletariat 352 werden wir mit dem Haß gegen das Kapital, den Adel mit dem Abscheu vor der bürgerlichen Niedrigkeit gewinnen. Für jeden Schwachkopf halten wir den rechten Köder bereit, bis endlich auch die verbohrte Bourgeoisie an sich selber irre wird und damit ihren letzten Halt verliert.

Gegen siebzig Vertreter aus allen deutschen Provinzen haben neulich in Berlin miteinander verhandelt. Und ich habe den Nachweis erhalten, daß jeder dieser siebzig wieder mindestens hundert Freunde an der Hand hat, die grundsätzlich zu uns stehen. Und es wird nicht zu hoch gegriffen sein, wenn wir annehmen, daß binnen drei Jahren die Zahl der ausgesprochenen und tatkräftigen Freunde sich verzehnfacht hat. Darunter haben wir einflußreiche Beamte, hervorragende Gelehrte, Dichter und Künstler, Rechtsanwälte und Journalisten und, was besonders wichtig ist, viele Lehrer.

Wir werden also regelmäßige Berichte über die schwachen Seiten der Staats- und Kommunalverwaltung bekommen, in unserem Sinne abgefaßte populäre Schriften werden erscheinen, die Geselligkeit der betreffenden Berufskreise wird infiziert, die Schuljugend durch geschickte Darstellung im Unterricht zu den destruktiven Überzeugungen vorbereitet werden.

Nun meine Mission an dich persönlich, lieber Just! Die Studien, die du betreibst, besitzen Seltenheitswert. 353 Und unsere Sache vor allem muß sich die Analyse der menschlichen Triebe und Handlungen zunutze machen. Wir brauchen nicht nur die Gewandtheit in den Umgangsformen und der geselligen Dialektik; wir brauchen daneben als sehr wesentliche Grundlage auch theoretische Untersuchungen, nach denen dann die Freunde ihre Instruktion erhalten. Ebenso wichtig sind uns historische Spezialstudien, also etwa über Ursachen und Veranlassungen der Aufstände und Revolutionen, über die Defensive der Massen, über den Einfluß der Enzyklopädisten u. dgl. mehr.

Ich bin heute nicht gekommen, um dich zu Entschlüssen zu drängen. Ich stelle dir ganz unverbindlich zur Erwägung, ob du Lust hast, dich uns anzuschließen, und ob du, abgesehen von der geselligen Agitation, die jeder übernimmt, zwar nicht die Studien selbst, wohl aber deren Resultate in den Dienst unserer Sache stellen willst . . .«

So hat an jenem Abend Dimitri zu mir geplaudert.

Meine Antwort war das Lächeln der Auguren.

 

Ende.

 


 << zurück