Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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I.

Ich hatte mein Zimmer mit Blumen geschmückt, mit Schwertlilien, mit Syringen und mit den weißen Trauben der Vanille.

Der Duft dieser welkenden Treibhausblüten war schwach und schmerzlich wie meine Liebe, die mich reizte und störte, ohne Beseligung, ohne Qual. –

Gegen Abend, diesmal genau um die versprochene Stunde, trat Alice herein zu mir und begrüßte mich mit fröhlichem Handschlag. Dann warf sie die Pelzjacke ab, die Mütze mit dem weißen Schleier und lachte mich an mit ihrer behaglichsten Lustigkeit.

Wieder fand ich sie weniger Kind, älter und voller denn vor sechs Wochen, als ich sie zum letztenmal gesehen. Immer rascher ward sie Dame, als könnte sie es nicht erwarten, jene starken Freuden zu genießen, die sie bisher nur aus meinen Worten kannte. Aber auch immer vornehmer ward sie, in den Formen maßvoll und von tadelloser Distinktion; und ich mußte eingestehen, daß dies trotz aller Gefahren meine Freude an ihrer Lieblichkeit erhöhe, gerade weil die kleinen Mädchen unserer guten Gesellschaft dadurch den 10 eigentümlichen Reiz erhalten, der sie von den Kindern der Armut und von der Halbwelt so glücklich unterscheidet.

Diese feine Grazie der Haltung, umweht von dem Dufte ihrer Mädchenschaft, hebt sie auch weit über den Schwarm der jungen Gattinnen, die weniger zart in ihren Wünschen, leichter sich gewinnen lassen. Es sind gar seltene Früchte am Baume des Lebens. Darum war ich so stolz auf Alice und lauschte voll Inbrunst auf den letzten, schwermütigen Akkord jener Sonate, die man Liebe nennt –

Nun war das erste, was Alice tat, daß sie auf meinem Diwan sich lang ausstreckte und die Hände unter dem Knoten ihrer Haare faltete. Denn so schüchtern und wohlerzogen sie auch in ihrem Beruf als höhere Tochter sich gab, in den zwei Jahren unserer Bekanntschaft hatte sie doch gelernt, sich bei mir zu Hause zu fühlen. Da sie nun doch einmal kam, warum sollte sie nicht nach dieser ärgsten Freiheit harmlosere genießen! Deshalb nahm sie auch eine meiner halmdünnen Zigaretten, deren Behandlung sie bei mir gelernt. Ich schob ihr einen Aschenbecher zu und setzte mich neben sie.

Vor uns, auf der niedrigen Etagere, gab es noch andere Genüsse für Alice: eine Flasche mit braunem Curaçao, den sie mit Chryseliuspomeranze zu mischen liebte, und Bananenbiskuits, süßer als die übertriebensten Bonbons. Davon bröckelte sie sich gelegentlich 11 unsichtbar-kleine Portionen ab und schob sie langsam zwischen ihre Zähnchen mit einer allerliebst koketten Geste. Dann bemerkte sie noch einen Teller mit großen, überzuckerten Kuchenbällen:

»Was hast du da wieder für komische Sachen?«

»Kourabièdes!« sagte ich verheißungsvoll. »Nationalgebäck der Griechen, besteht vornehmlich aus Butter und schmeckt delikat.«

»Ach nein, wie reizend!« rief sie und spreizte ihre Fingerchen weit auseinander, um den ungeschlachten Leckerbissen fest zu greifen.

Der Geschmack schuf ihr unaussprechliche Wonne.

»Ambrosia!« murmelte sie mit vollen Backen. »Ambrosia direkt vom Olymp!«

Und sie schlürfte dazu ihren Likör auf einen Zug, ihren braunen Curaçao mit der Chryseliuspomeranze.

Dann schlang sie ihre Arme um meinen Hals und küßte mich, küßte nur streifend mit festgeschlossenen Lippen, so wie kleine Mädchen eben küssen, wenn sie die Liebe noch nicht kennen.

O, wie selten sie sich dazu herbeiließ, zärtlich gegen mich zu sein. Mit Leckerbissen und Likör mußte man ihr Stimmung schaffen. Um so mehr entzückte dieser auserlesene Strahl von Leidenschaft. Der ließ wieder hoffen und bestärkte in dem Glauben, daß sie mich dennoch liebe. Denn es war deutlich darin die warme 12 Tiefe lang gezüchteter Herzlichkeit, ein hingebendes Vertrauen und dankbares Wohlbefinden. Nur ob es wirklich von Leidenschaft kam, das blieb die Frage. Ich habe niemals die Antwort darauf gefunden, niemals; auch jetzt nicht, wo eine Doktorfrage draus geworden ist.

Sie sah in mir einen gar lieben Freund, etwas wie einen romantischen Sänger, der mit schmeichelnden Tönen von der Freude des Lebens singt, mitten in einem großen dämmrigen Theater, wo lauter fragende Kinderaugen nach dem Vorhang blicken. Der Sänger erzählt viel Schönes von dem, was dahinter vorgeht. Die kleinen Fräuleins zappeln vor Ungeduld und finden die Melodie des Sängers wundersüß. Bis mit einemmal der Vorhang auseinandergezogen und die ganze Pracht vor ihnen sichtbar wird. Dabei fragt es sich nur, ob der Sänger des Prologs mit auf die Bühne treten wird und weitersingen in dem großen Konzert.

Ja, das fragte sich oft für mich, und doch wollte ich selbst nicht derjenige sein, der das Spiel beginnt. Denn es ist doch ein grobes Spiel, was da vor sich geht, und schlechte Schauspieler nehmen daran teil.

O, ein viel höherer Ehrgeiz, Genius der Knospen zu sein, das erste lockende Tageslicht, das sie zum Blühen bringt. Später duften sie dann für jeden, der geschickt ist und ihnen imponiert. Und das ist wahrlich nicht 13 schwer vor jungen Damen! Nein, sie nur neben mir zu wissen, in der Gewalt meines Spieles, unter dem Einfluß meiner Kräfte! Ihre Schönheit schlürfen mit Augen, die feucht von Liebe sind, die weiße Haut mit zitternden Fingern streichen und mit den Lippen jene geheime Stätten suchen, wo das heiße Blut ganz nahe quillt und klopft, unten am Hals und an den Schläfen hinter dem Gekräusel ihres blonden Haares!

Und dann vor allem unaufhaltsam von ihr träumen, ihre Seele ganz umklammern mit der Einbildung, ihre Seele ganz entkleiden und sie vor der meinen niederstrecken auf den goldgewirkten Teppich meiner Sehnsucht; eine Seele, die sich windet in der Scham vor ihren Wünschen, die lächelnd zu mir aufsieht und sich dann versteckt, die hofft und jauchzt und klagt, wie langsam doch das Glück den Wartenden entgegenkommt.

Da verschwindet das Körperliche ganz, samt dem banalsten der Instinkte, an dem Tier und Mensch sich ergötzen.

So liebte ich Alice zu jeder Stunde, ob sie nun bei mir in meinem Zimmer war oder nur als Bild in meinen Träumen.

Was sie da plauderte, hätte ich leicht entbehren können.

Da erzählte sie mir von dem Damenkaffee, aus dem sie eben kam. Sie gab Dokumente, die mir für Alice selbst zwar gleichgültig, aber für die Welt, die ich so gern 14 betrachtete, doch nicht ganz wertlos waren. Denn es ist bekanntlich schwer für einen Mann, die Damenkaffees in Person zu untersuchen.

»Also die Frau Meyer war da? – Aber welche Frau Meyer denn?«

»Die Reichsgerichtsrätin natürlich.«

»Natürlich, die Reichsgerichtsrätin. Das ist gewiß eine nette Frau.«

»Ja, also denke dir, Just, Frau Meyer sagte, du ständest in schlechtem Rufe.«

»Entsetzlich! Woher weiß sie das denn?«

»Sie hatte es von deiner Tante, der Hofrätin.«

»Ja, wenn sie's von der Tante hat, dann freilich . . . aber was brachte sie für Einzelheiten?«

»Man hätte dich mit einer ›Person‹ gesehen?«

»Mit einer – ›Person‹? Mein Gott, ich kenne viele ›Personen‹!«

»Mit einer weiblichen natürlich.«

»Und so etwas Schändliches konntest du von mir glauben?«

»Na, weißt du, Just . . .!«

»Ja, Lieb, man hat doch gelegentlich Geschäfte. Heute mit der Waschfrau, morgen mit der Zahnärztin, mit der Masseuse oder mit sonst einer ›Person‹, die man gerade mal zur – Toilette braucht. Aber weiter – was steht noch auf meinem Sündenregister?«

15 »Weiter: die freien Anschauungen, und daß du dich gar nicht mehr in Gesellschaft sehen läßt.«

»Du meinst, das gehört zusammen?«

»Sie erzählten es zusammen.«

»Die guten Tanten, wenn sie nur wüßten, wie despotisch unfrei meine Anschauungen sind, die Coiffüren würden ihnen zu Berge steigen. Aber die jungen Mädchen, was sagen die, wenn ihre künftigen Ehegatten so vernichtet werden?«

»Die sitzen artig daneben und hören zu und denken sich ihr Teil.«

»Verstehen sie denn alles?«

»Na, so verdorben wie ich sind sie natürlich nicht. Dazu fehlt ihnen eben ein . . .«

»Ein . . .«

»So ein verdorbener Mensch zum Freund wie du.«

Das sagte sie wirklich ganz geschmeichelt und preßte meine Brust dabei so heftig, wie es ihre schwache Kraft erlaubte.

»Ahnen sie denn nichts?«

»Was du auch denkst! Das wäre ja noch schöner! Nicht das geringste, nicht das leiseste!«

Ja, ich glaube, darauf war Alice stolz. Das gab ihr einen mächtigen Anreiz für unsre Zusammenkünfte, daß sie so wundernett heimlich und verboten waren. Das 16 ersetzte viel von der Lust der ersten Sünde und war doch auch nicht ungefährlich.

»Wenn ihr nun so aus eurem Damenkaffee kommt,« frage ich sie, »wie wirst du da deine Freundinnen eigentlich los?«

»Nun, ich behaupte zum Beispiel, daß ich noch auf einen Sprung nach Tante Amalie sehen müßte. Ist sie zu Haus, so bleib' ich ein paar Minuten bei ihr; ist sie ausgegangen, um so besser! Du glaubst ja nicht, wie leicht es ist, die Freundinnen und auch mein gutes Mamachen zu düpieren.«

»Aber der Papa?«

»Wenn der zurück ist vom Geschäft, so spielt er seinen Whist und ist schon froh, wenn er sich nicht um uns zu kümmern braucht.«

»Ob die lieben Eltern wohl wissen, daß du in gefährlichem Alter stehst?«

»Wieso meinst du?« fragte Alice betroffen und etwas beleidigt.

»Sie müßten doch wissen, daß die jungen Damen zwischen sechzehn und achtzehn öfters kleine Racker sind.«

»Du, das verbitt' ich mir,« rief sie lachend. »Freu' dich, daß ich noch komme. Übrigens sind meine Eltern viel zu brave Leute, als daß sie etwas denken könnten, was nicht anständig ist. Sie haben auch keine Ahnung, 17 daß solch artiges Kind wie ich einen tollen Einfall haben kann.«

»Mehr als ein toller Einfall ist es also nicht?«

»Kaum!«

»Wie schön, daß es Einfälle gibt, die jahrelang dauern!«

»Ich war eben noch ein Kind.«

»Und jetzt?«

»Hab' ich mich dran gewöhnt.«

Dies harte Wort bekam ich in der letzten Zeit manchmal von ihr zu hören. Sie sprach es immer leichtfertig aus, streifte mich dabei mit schmunzelndem Spott, als ob sie mich zu etwas reizen wollte, und blies, da ich niemals darauf antwortete, mit einem kurzen, ärgerlichen Atemstoß den Zigarettenrauch zur Decke.

Vielleicht hatte sie ursprünglich im Scherz gesprochen. Später aber schien es Wahrheit zu werden und prägte sich mir als eine Drohung ein. Ich glaubte an diese Drohung und begann zu fürchten. Die Furcht aber ließ meine schwachschimmernde Liebe heller flackern, so daß sie zuweilen dem Medusenhaupt der Leidenschaft glich.

Ich saß von Alice abgewandt und suchte das zu bekämpfen. Ich mußte den Kopf in die Hände stützen; so schwer lasteten Vorstellungen einer nahen Katastrophe auf meinem Denken.

Da trat sie leise hinter mich und kraute mein Haar. 18 Mit der Nagelspitze ihres Zeigefingers strich sie ganz leise über meine Haut dahin, endlos verschlungene Wege, die durch das Haar nach dem Halse führten, am Saum der Ohrmuschel entlang, über die Stirn von Schläfe zu Schläfe; eine gern gewohnte Liebkosung, die durch Reflex in den Nerven des Rückgrats den Körper zu süßem Schauern bringt. Weil es zudem noch komisch war, so fand ich meine Laune wieder und ließ das leidig-lose Mädchen auf meinen Knien reiten.

Sie zog mir die Schlüssel aus der Tasche und schloß die Fächer des Schreibtisches auf, um in den Briefschaften, die zahlreich zu Paketen aufgestapelt lagen, zu wühlen und zu lesen.

Darauf tat sie sich viel zugute, daß sie mir alle Geheimnisse meines Lebens abgelauscht hatte. Geschäfts- und auch Familienbriefe ließen sie natürlich kalt; aber Liebesbriefe, die ich mit Schulfreunden und später mit gutherzigen Mädchen gewechselt hatte, bereiteten ihr große Freude. Ich las über ihre Schulter hinweg nicht ungern mit und hielt Parade ab über diese holden Jugendeseleien.

Schließlich fand sie die steilen Züge ihrer eigenen Handschrift. Nur drei Briefe waren es, die einzigen, die sie mir geschrieben, aus jenen schönsten Wochen, die uns zusammengeführt und sie verleitet hatten, es mit mir zu versuchen.

19 »Die sollten wir mal wieder lesen,« meinte sie. »Da steht gewiß viel Unsinn drin.«

Ich nahm die kleinen, hellblauen Bogen mit scheuer Rührung aus der Hand, die sie beschrieben hatte, und faltete die Blätter auseinander.

»Willst du hören,« fragte ich, »wie lieb du damals zu mir gewesen bist?«

»Warum nicht!« meinte sie, »ich kann mich kaum noch dran erinnern.« Das war eine Neckerei nicht ohne leichten Anflug von Melancholie.

Ich nahm den ersten Brief und las ihn vor, während Alice mit verträumten Blicken lauschte.

Leipzig, Carl-Tauchnitz-Straße, den 8. 1. 95.

Mein lieber Freund!

Es geht nun doch nicht, so lang ich mir auch alles überlege! Ich kann es wirklich nicht riskieren. Wenn jemand mich an Ihrer Türe klingeln sähe, wenn es Papa erführe, das wäre doch entsetzlich und unser ganzer schöner Freundschaftsplan zerstört. Natürlich würde man die schlimmsten Sachen denken und noch dazu ganz ohne Grund. Glauben Sie nicht etwa, daß ich mich vor Ihnen fürchte! Nachdem ich zweimal mit Ihnen den Kotillon getanzt und neulich auf der Hochzeit zehn Stunden als Brautjungfer neben Ihnen gesessen habe, kenne ich Sie doch gut genug. Niemand hat weniger 20 Talent zum Courschneiden und Verlieben als Sie, und dann ist ja unsre ernste, feierliche Freundschaft der beste Schutz gegen törichte Gedanken. Also wirklich nur wegen der Gefahr im allgemeinen! Damit Sie mich aber nicht zu den übrigen Gänschen rechnen – was ich um alles in der Welt nicht möchte –, so will ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen: Kommen Sie am Sonnabend mittag ins Museum, hinauf in die Lampe-Stiftung, wo ich Sie erwarten werde. Dort läßt sich niemals jemand blicken, so daß wir völlig ungestört sind. Außerdem haben wir ja gar nichts Schlimmes vor, sondern wollen über ernste Dinge reden, über das Leben und über die Welt, über die herrlich interessante Welt, von der ich so gern alles mögliche aus Ihrem Munde hören möchte. Denn Sie wissen wohl noch, daß Sie mir versprochen haben, genau und einzeln zu erzählen, wie es überall zugeht. Nun werden Sie aber wieder sagen, daß mein Vorschlag auch nichts weiter ist als solch ein Rendezvous, wie es die Dienstmädchen mit ihren Schätzen am Hoftor haben. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß dieser Gedanke mir noch schrecklicher als Ihnen wäre. So kann man es aber doch nicht auffassen; denn die Dienstmädchen gehen nicht ins Museum, und mein »Schatz« sind Sie noch lange nicht, werden es auch niemals werden. Einen sogenannten Schatz werde ich überhaupt niemals haben. 21 Antworten Sie mir, bitte, recht bald, damit ich weiß, woran ich bin, und vergessen Sie nicht, die Adresse von Ihrer Wirtschafterin schreiben zu lassen, damit es Damenhandschrift ist.

Mit herzlichem Gruß

        Ihre
Freundin Alice.

Das war die ganze Alice von vor zwei Jahren, die sechzehnjährige Freundin eines jungen Blagueurs, der sie ernst zu nehmen schien. Jetzt aber hatte sie längst verlernt, an ihn zu glauben. Alles war anders gekommen als sie gehofft, so gar nicht feierlich, vielmehr locker und leicht, grotesk wie eine commedia dell'arte. Und vielleicht stieg schon der Nachtischekel in ihrem Herzen auf.

Doch schien dieses Kramen in verwelkten Empfindungen ihr nicht minder Sensationen zu bereiten als mir, der sie damals anders, fröhlicher geliebt.

»Lies weiter, weiter!« drängte Alice, während sie um meine Arme die Hände faltete, und ich nahm den zweiten Bogen:

Mein liebster Freund!

Sie sind doch ein schrecklicher Quälgeist! Eigensinnig wie alle Männer. Zwar hat mich keiner Ihrer Gründe überzeugt; aber schließlich, wenn ich in die Lampe-Stiftung komme, kann es passieren, daß ich vor den 22 schwarzen Bildern vergebens auf den Undankbaren warte. Dann können Wochen vergehen, ehe wir uns wieder in irgendeiner langweiligen Abendgesellschaft treffen. – Nein, wenn Sie wüßten, wie unausstehlich es eben wieder bei uns zugeht! Nebenan übt meine Schwester Emmy, die leider Gottes musikalisch ist. An unserem nächsten Quartettabend soll sie etwas zum besten geben, die Unglückliche! Unten zankt Papa mit dem Kutscher, und Mama ist nervös, weil Papa schlechter Laune ist. Dazu Tag für Tag dieselbe steife Langeweile, mittags französische Unterhaltung mit Mademoiselle, abends das Tageblatt oder Musik! Musik mit oder ohne Gäste; oder gar ein Konzert, wozu man noch Toilette machen soll, damit die jungen Leute aus guter Familie aufmerksam werden. Da hab' ich mir meinen ersten Winter wirklich anders vorgestellt. Spreche es auch immer offen aus, Mama sagt dann, ich hätte wahrscheinlich Romane gelesen. Du lieber Gott, wann bekäme ich je so etwas in die Hand! Nein, ich bin unzufrieden von Natur. Darin hat Mademoiselle ganz recht. Papa sagt: Unzufrieden wie ein Sozialdemokrat. Je besser sie's haben, desto mehr verlangen sie. In unsrer Fabrik ist's auch nicht anders als zu Hause. Papa begreift ja nicht, was mir eigentlich fehlt: ein bißchen Herzlichkeit und Entgegenkommen und allerlei Schönes. Ja, das vor allen Dingen. Irgendwo 23 muß es doch so etwas geben. Sie sollen mir sagen, wo! Und darum bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Ihnen zu kommen, in Ihr eigenes verzaubertes Schloß, Mozartstraße Nr. 5. Aber eins bitte ich mir aus: artig sein und mich nicht ängstigen! Unter dieser Bedingung im Vertrauen gesagt, freu' ich mich riesig darauf.

Mit vielen herzlichen Grüßen

Ihre        
Freundin Alice.

In diesem Briefe erkannte ich damals zuerst eine Spur von jenem auserlesenen Ton, aus dem die Welt sich ihre großen Kurtisanen oder auch die ungetreuen Frauen prägt. –

Letzter Brief, ein paar Monate später, also lautend:

Mein einzig lieber Just!

Vor drei Wochen kann ich unmöglich wiederkommen. Am Bußtag aber bin ich zufällig mit dem Kirchgang an der Reihe, so daß mir der Vormittag von 9–12 Uhr zur Verfügung steht. Erst hatte ich gehofft, den Familienkaffee schwänzen zu können; doch der ist verschoben worden. Auch im Wilhelmi-Konzert muß ich notgedrungen sitzen, da Großmama ihren Platz in der Nähe hat und meine Abwesenheit bemerken würde. Also Bußtag früh um 9 Uhr! Bequem ist die Zeit ja nicht. Aber es geht nun einmal nicht anders. Inzwischen 24 kannst Du tüchtig arbeiten oder auch neue Bilder und Gedichte für mich suchen. Wirklich, Du hast Talent, so etwas vorzuführen. Die komischsten Sachen bekommen da ein ganz anständig ernstes Gesicht. Besonders freue ich mich auf die Fortsetzung Deiner Beichte. Die ist ja zum Wälzen! Denke nicht, daß ich Dir davon etwas erlassen werde. Nachdem Du alles von mir haarklein erfahren hast, kann ich dasselbe auch von Dir verlangen, zumal ich doch viel weniger eifersüchtig bin als Du. Über die Frage, ob ich Dich liebe, habe ich wiederholt ernstlich nachgedacht, bin mir aber immer noch nicht klar darüber. Ganz im Anfang war ich ja ziemlich toll auf Dich. Aber Du hast so eine gewisse Art, einem das rasch abzugewöhnen. Manchmal träume ich von Dir Tag und Nacht, und dann habe ich Dich wieder ganz vergessen. Entweder bist Du viel zu lieb zu mir, so lieb, daß ich es nicht begreifen kann oder – ein ganzer Hallunke! Ich glaube fast das letztere. Aber heiraten wollen wir uns ja nicht. Folglich ist mir Dein Charakter ziemlich egal, wenn wir uns nur in den paar Stunden gut vertragen, wo wir gemütlich beieinander sitzen. Und das waren bis jetzt wenigstens entzückende Stunden, ohne Dir schmeicheln zu wollen. Leb' wohl, liebster Jucku, und sei tausendmal gegrüßt und –

von

Deiner treuen Alice.

25 Sie schien auf diesen letzten Brief besonders stolz zu sein. Denn sie lachte vergnügt und unbefangen.

Mir war er anders in Erinnerung. Damals freilich fand ich alles reizend originell an ihr. Jetzt erschrak ich fast vor diesem klugen Kinde, das mit der Zeit immer noch älter und klüger ward. –

War mir eigentlich ihre Seele jemals etwas wert gewesen? – Doch wohl nicht. Aber deren Zukunft und Entwicklung! – Weil ich sie umzuwerten hoffte. – Wäre das damals schon zu spät gewesen? oder zu leichtfertig begonnen? oder ich selber doch zu schwach? – Gleichviel, der Scherz war nunmehr zum Problem geworden, das Spiel zum Kampf. Und dieser Kampf um Liebe störte mich.

Es wurde dämmrig. Zwar hatte die Sonne noch reichlich Zeit zum Untergang. Meine Fenster aber, die nach Norden lagen, waren fast verdeckt von den schweren grauen Vorhängen und ließen nur ein kleines Dreieck Licht ins Zimmer. Bei mir ward es stets eine Stunde früher Abend als bei anderen Leuten.

Ich verschloß die Briefe wieder im Kasten. Alice folgte ihnen mit nachdenklichen Blicken und wartete wohl auf ein Wort der Anerkennung für die hübschen Sachen, die sie da geschrieben. Ich wußte ihr nichts zu sagen. Denn von der Dissonanz, die in mir nachhallte, mußte sie verschont bleiben. Alles, was uns trennte, 26 lag ja an mir. Zum mindesten hätte ich lernen sollen, ihr Wesen hinzunehmen, wie es nun einmal war.

Daß ein Gefühl von Kälte auf sie überströmte, konnte ich nicht verhindern. Still glitt sie von meinen Knien.

Als ich mich umwandte, lehnte sie in einem der Fauteuils und blickte vor sich nieder.

»Mach' es doch vollends dunkel«, bat sie mich sehr sanft und freundlich. »Dieses ewige Zwielicht stimmt uns nur trübe.«

Ich zog die Stores vor die Scheiben und konnte ihre Gestalt nur im Umriß noch erkennen. Dann trat ich zu ihr und setzte mich neben sie auf das Polster der Lehne.

Sie reichte mir die Hand. Wann hätte ich die nicht gern gestreichelt und geküßt! Mir schien sie das Symbol der Schönheit ihres ganzen Leibes. So schmiegsam geformt mit den zerbrechlichen Gelenken und der dünnen, elfenbeinweißen Haut: so mochte sie wohl glauben lassen, daß Körper und Gebaren das bessere Teil an der Geliebten wären.

Einzig diese Ahnung unbekannter Herrlichkeiten war Wesen meiner Liebe.

Hätte ich den Schleier von dem SaïsbildeSiehe Schillers Gedicht: "Das verschleierte Bild von Sais". lüften wollen, ich hätte mich nur um eine Sehnsucht ärmer gemacht, wahrscheinlich um meine letzte.

Denn die Sehnsucht ist doch alles, tausendmal mehr 27 als der Genuß, der vorüberrauscht und mit Ernüchterung sich rächt.

Meine Sehnsucht aber kannte als letzten Ausdruck immer noch den Kuß. O, wie ich an jenem Abend das schwache Kind da neben mir noch küßte! Meinen Arm schob ich ihr zwischen Hals und Lehne und lag mit meinen Lippen auf den ihren, als ob wir einander ganz gehörten. Matt und willenlos war sie, wie eine, die am Weg verschmachtet. Nur ihre Augen leuchteten mir in seltsam krankem Glanze.

Dann schien ihr etwas einzufallen und ihr Denken zu beschäftigen.

Leise entzog sie mir die Lippen und legte den Kopf neben meine Stirn, Schläfe an Schläfe.

»Ich will dir etwas sagen, Just,« sprach sie flüsternd; »damals, als ich die Briefe schrieb, habe ich dich lieber gehabt, als du glaubst.«

Ich schwieg zwischen Angst und Spannung; denn solche Worte können vieles vorbereiten.

»Du hast das nicht bemerken wollen,« fuhr sie fort; »denn du hast immer nur mit mir gespielt. Nicht wahr, das hast du doch?«

Niemals noch hatte sie mich auf diese Schuld hin angeklagt. Es mußte manches in ihr vorgegangen sein, das ihr argwöhnische Gedanken weckte.

Furchtsam wie ein Ertappter suchte ich sie zu beruhigen:

28 »Alice«, sagte ich, »willst du nicht glauben, daß du mir die liebste, heiligste Freude . . .«

»Weil du sonst nichts Liebes oder Heiliges mehr kennst – sag' doch, ist es dir jemals ernst mit mir gewesen?«

»Ach, Lieb, was ist denn ernst in unseren Tagen!«

»Ja, siehst du! Ich habe das aber erwartet, und ich bildete es mir auch wirklich ein. Allmählich ist mir erst klar geworden, daß du mich – na, sagen wir, – getäuscht hast.«

Damit schob sie mich leise von sich. – Es geschah zum ersten Male und stürzte ganz plötzlich die schöne Ordnung meiner wohlgepflegten Liebe.

Ein Aufruhr, wie ich ihn von ihr am wenigsten erwartet hätte! Allerhand neue Möglichkeiten und Drohungen dahinter, die ihre häßlichen Züge tückisch noch verbargen.

Das eine ward in diesem Augenblicke klar, daß mir wieder Leidenschaft bevorstand, die peinigen konnte wie früher in meinen jungen, starken Zeiten. Ich fühlte die unbezähmbare Gier, das Weib, das sich da empören wollte, festzuhalten mit der letzten suggestiven Kraft meiner schwindenden Lebenslust. Wenn sie sich mir entwand, würde ich niemals eine andere finden. Es wäre fad und lächerlich geworden, die abgespielten Liebestänze von neuem zu beginnen.

In diesen Augenblicken ward ich krank nach der Liebe 29 meines Mädchens. Die Angst und das zitternde Warten nisteten in meinem Herzen und rissen die vernarbten Wunden alter Leidenschaften wieder auf.

Kein Groll, keine Spur von Verstimmung war zwischen uns getreten. Solch kindlich nutzlosen Widerstand gegen Dinge, die bereits vollendet sind, hatten wir uns längst schon abgewöhnt. Man spricht darüber, aber man erregt sich nicht. –

Ich zündete die Lampe an, hob aber den sonst beliebten roten Schirm weg von der Glocke. Denn helles gelbes Licht schien jetzt das passendste.

Dann nahm ich Alice gegenüber Platz und plauderte über harmlos gleichgültige Dinge, über ihre neuen Bekanntschaften und über die Bälle, die sie zu besuchen gedächte. Es kam darauf an, Spuren zu entdecken, die sie von mir wegführten zu irgendeinem neuen Reiz. Aber noch schienen äußere Eindrücke nicht auf sie gewirkt zu haben.

»Jetzt gehst du wohl ganz gern auf Bälle und Soireen?« fragte ich sie.

»Ja, daran hab' ich mich nun auch gewöhnt.«

»Und du denkst natürlich ans Heiraten?«

»Gewiß, denn je älter ich werde . . .«

»Desto mehr sinkst du im Preis. Das ist schon richtig. – Wie wär's nun, wenn ich mich selbst mit unter die Kauflustigen mengte?«

30 »Wieso und wo?«

»Nun, auf euren Gänsemärkten meine ich, auf den Bällen.«

»Da möchte ich dich sehen, dich, Just als Freiersmann!«

»Warum nicht? An die Manieren kann ich mich so leidlich noch erinnern. Man bietet eben mit. Ein Referendar aus anständiger Familie mit einer Rente ist schon ein Mädchen von fünfmalhunderttausend unter Brüdern wert.«

Alice meinte aber, zum Heiraten wäre ihr doch einer von den Leutnants lieber. Die würden besser auf den Ehemann hin erzogen. Sie wären in sich gefestigt, auch zur Ehrenhaftigkeit und zum Repräsentieren andauernd gezwungen. –

»Eine nette Ehe würde das zwischen uns geben!« meinte sie schmunzelnd und malte sich mit ihrer Phantasie heimlich ein paar Bilder aus, über die sie herzlich lachen mußte.

Sie steckte mich an mit ihrem Humor; denn der Gedanke war mir allerdings, solange ich sie kannte, auch nicht ein einziges Mal gekommen. Vielleicht, wenn ich später die Fähigkeit zu lieben, ganz verloren hatte und zu erwarten stand, daß nach der Hochzeit mir die bekannte eheliche Zärtlichkeit zu Hilfe kommen würde, ja dann vielleicht . . .! Obwohl sie, wie gesagt, vom Schlag der ungetreuen Frauen war.

31 »Ich habe ernstlich Lust,« begann ich wieder, »mir einmal anzusehen, wie du dich unter deinen Herren amüsierst.«

»Komm auf den nächsten Gewandhausball,« sagte sie; »dann wirst du vielleicht verstehen, daß unsre Geselligkeit gar nicht so übel ist. – Ich weiß schon, was du sagen willst – natürlich ist es Eitelkeit, wenn ich mir dort gefalle. Aber es macht mir Spaß, eitel zu sein, und darauf kommt es doch bloß an.«

Auch hierin konnte ich ihr nicht widersprechen. Nur war es schlimm für mich, daß sie mir, dem Meister, zum Trotz die Lust daran überhaupt gewinnen konnte. Noch vor Monaten war das nicht so gewesen. Da hatte sie an meinem Hals gehangen und geschworen, nirgends sei es schön, als bei mir allein, sie wolle keine Dame werden, sie hasse alles, was dumm und bieder, und unsere gute Gesellschaft sei wirklich nichts anderes als eine Herde munterer Hammel und Gänschen.

»Wann ist Gewandhausball?« fragte ich.

»Am ersten März.«

»Dann werde ich mich von einer guten Tante dazu laden lassen.«

»O, das ist lieb von dir,« sagte sie mit aufrichtiger Freude. Es lag ihr offenbar daran, ihrer Umwelt mich wieder zuzuführen, damit sie sich deren nicht mehr zu schämen brauchte.

32 »Siehst du,« fuhr sie fort, »ich habe immer schon gewünscht, daß du den Leuten etwas entgegenkämst. So unerträglich öde sind sie wirklich nicht.«

»Nein, Lieb, du hast ganz recht. Man kann schon über sie lachen. Nur nicht zu oft denselben Witz! Beim dritten Male ist er schon verbraucht. –«

Aber, dachte ich mir, man muß dem Wilde nachsetzen, sei's auch auf fremdes Revier. Wer weiß, ob es nicht drüben bessre Weide findet und dann niemals wiederkehrt. –

Wir schieden an diesem Abend als gute Freunde. Noch war nichts für mich verloren. Nur hingen schwere graue Wolken über einer stickig gewordenen Luft.

Ich küßte Alice inbrünstiger denn je; ich hielt ihr holdes Gesichtel fest in meinen Händen, als ob es mir zum letztenmal gehörte.

Als ihre Schritte auf dem Flur verhallten, war mir sehr weh ums Herz. Sie war eine andre für mich geworden, eine von den Geliebten, um die man leidet, weil man in Ängsten um sie ringen muß. –

Die letzten Stunden des Tages las ich ein Buch von Jonas Lie. Es war die »Familie auf Gilje«, die von dem dumpfen Gleichmaß im Leben der bürgerlichen Töchter spricht. Erst im letzten Kapitel zerspringt ganz plötzlich Hoffnung und Sorge, die sie noch bewegt, zerspringt wie eine Seifenblase. Nur ein trüber Saft 33 bleibt zurück, die Enttäuschung, die bis zum Tode währt.

Das Buch hatte mich gequält auf jeder Seite; im letzten Kapitel aber brachen mir ganz unvermutet bittere Tränen aus, grundlose, törichte, aus einem Gefühl, das, wie von anderen Welten, fremd zu mir herüberkam. Längst hatte ich verlernt, über mich selbst zu klagen; und alles Elend außer mir habe ich stets nur mit den Augen des Wanderers betrachtet, der durchs Leben geht wie durch ein seltsam trauriges Narrenspiel.

So muß wohl dies Gefühl ein metaphysisches gewesen sein.

Noch immer trat die Metaphysik zwecklos und hinderlich mir in den Weg, und nicht die Weisheit des Protagoras noch das krampfhafte Lachen des Zarathustra konnte sie bannen.

Da meinte ich nun, daß ich das Leidgefühl in mir endgültig totgegrübelt hätte – dafür kommt es mir als Gespenst zurück mit neuen Schmerzen, neuen Lockungen und will mich gar noch überreden, es liege hoher Ernst in seinem kindischen Spiele.

Und ich hatte so gar keine Lust mehr, mich mit ihm herumzuschlagen. 34

 


 


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