Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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V.

Wie ich zu dem Entschluß der Konversion gekommen bin? Ohne Begründung und doch nicht ohne Grund. Der Boden war bereitet. Einflüsse, verborgene wie offenbare, trieben ihr Spiel. Wer darf sich anmaßen, das Ergebnis all dieser Einflüsse, all der Triebe, denen man unterworfen ist, seinen Entschluß zu nennen! Wenn ich in meiner Entwicklung stöbern wollte, könnte ich vielleicht diesen oder jenen Grund aufdecken. Von Natur mit einem Heißhunger nach Klarheit, Einheit und Kraft begabt, mit kritischen und polemischen Gelüsten erblich belastet, mußte mir der protestantische Glaube schon dadurch verleidet werden, daß die Erziehung mir seine Schwächen geflissentlich verschwiegen und ihn mir anbefohlen hatte. Weil meine Voreltern sich, Gott weiß aus welchen Gründen, dafür entschieden oder entscheiden mußten, sollte ich verpflichtet sein, mich ihnen anzuschließen. Wären sie Buddhisten gewesen, müßte mir demnach Buddhas Lehre als Wahrheit gelten. Schon dieser Gemeinplatz vom angestammten Glauben genügte, mich zu Mißtrauen und Empörung zu reizen. Hierzu trat nun die 137 Sehnsucht, mich zu unterwerfen. Die hierarchischen Mächte, deren Gnadenmittel Halt und Trost gewährten, sollten wahrhaft über mich gebieten. Nicht zu denen mochte ich gehören, denen eine fremde Kirche besser behagt, als die eigene, die aber aus uneingestandener Bequemlichkeit den faktischen Übertritt für unerheblich halten. War doch die tatsächliche und rechtliche Zugehörigkeit zur katholischen Kirche gerade Bedingung und Wesen meiner Zuversicht. Denn nur der Bekenner empfängt die Gnaden. Und dann, welche Freude, endlich einmal Gedanken in Handlung umsetzen zu können! Gestalt, lebendiges Symbol zu finden für die armen, schwindsüchtigen Gedanken, die wie Proletarier zwecklos und verbittert sich herumtreiben! Ja, es bereitet eine stolze Genugtuung, Demonstration zu schaffen für Gedanken, die niedrig im Preise stehen, weil bei der Überproduktion niemand ihrer begehrt. Alles Handeln aber, selbst wenn es dürftig ausfällt, hat den Wert der Seltenheit.

Des impulsiven Handelns war ich ganz entwöhnt. Auch dem unbedeutendsten Schritte gingen Bedenken, Zweifel, Erwägungen voraus. So wurden mir wider Willen die Einzelheiten meines nichtigen Lebens zu Ereignissen aufgebauscht, die Bedeutung wahrhaft ernster Dinge dagegen herabgedrückt. Die Sehnsucht nach der religiösen Knechtschaft hatte mich immer 138 bewegt, der Entschluß aber, sie zu verwirklichen, sprang eines Tages fertig hervor, unvermutet, unwiderruflich wie eine Entladung. Und kalten Blutes tat ich die gesetzlichen Schritte.

Ich suchte meinen zuständigen Pastor auf, der mir den Austritt aus der Landeskirche zu vermitteln hatte. Es war ein kleines, bewegliches Männchen von der Sorte der sympathischen Eiferer, mit listigen Augen und jener vom übermäßigen Reden vergröberten Mundpartie, an der man den Prediger von Beruf erkennt. Er empfing mich im unvermeidlichen Kanzelton, aber immerhin verbindlich, mit biederen Manieren.

»Herr Pastor, ich habe Ihnen anzuzeigen, daß ich entschlossen bin, zur katholischen Kirche überzutreten.«

Sein ausdrucksvolles Gesicht legte sich sofort in gramvolle Falten. Er bot mir die Sofaecke an und sagte nach einer Pause:

»Wollen Sie mir, bitte, die Gründe nennen.«

Offiziell hätte ich ihm angeben können, daß die Gründe dunkel und kaum vollständig aufzuzählen seien. Da er sich indes persönlich zu interessieren schien, so suchte ich alle Schwierigkeiten zu umgehen, indem ich einfach antwortete:

»Der katholische Glaube flößt mir höhere Achtung ein. Ich möchte das mit der Konversion zum Ausdruck bringen.«

139 Höflicher konnte ich mich nicht fassen. Aber er fühlte sich doch schon ein wenig in seiner Vertreterstellung gekränkt.

»Das verstehe ich nicht,« sagte er, »weshalb höhere Achtung?«

»Aus allen dogmatischen, historischen, psychologischen Gründen. Es würde zu weit führen, dies näher zu erörtern. Für das Protokoll genügt ja meine Antwort.«

»Aber Sie werden sich doch meinen Gegengründen nicht verschließen wollen?«

»Die kenne ich bereits, Herr Pastor. Dagegen gibt es wieder katholische Repliken und gegen diese protestantische Dupliken und so weiter. Darüber könnten wir streiten bis ans Ende der theologischen Wissenschaft.«

»Wie wollen Sie sich aber eine Überzeugung bilden?«

»Pardon, Herr Pastor, das will ich nicht. Ich habe kein Vertrauen zu solch einer selbstgebildeten Überzeugung.«

»Das Vertrauen werden Sie erlangen, wenn Sie mit Gottes Hilfe redlich forschen.«

»Gottes Hilfe und redliche Forschung nimmt jede Religion für sich in Anspruch.«

»Und in der katholischen meinen Sie die Wahrheit gefunden zu haben?«

»Ich glaube an keine Wahrheit, Herr Pastor. Ich glaube nur an Befehle.«

140 »Wie wollen Sie dann an das Dogma glauben?«

»Indem ich gehorche, Herr Pastor.«

Verwundert, fast erschrocken starrte er mich an. Endlich sagte er leise:

»Sie armer Mensch!« Ein boshaftes und kluges Wort, wie man es selten von Pastoren hört.

Nun erkannte er auch, daß seine Bekehrungsversuche fruchtlos waren. Mit kalter Würde, aus der zu meinem Bedauern persönliche Gereiztheit sprach, nahm er das Protokoll fürs Konsistorium auf. Als Grund des Übertrittes gab er nun doch irrtümlich die »Überzeugung von der Wahrheit katholischen Glaubens« an. Die Begriffe steckten ihm einmal im Blut. Ich ließ es stehen, wie es da stand und unterschrieb. Was ging mich das Protokoll fürs hohe Konsistorium an!

Endlich gab mir der Herr Pastor für die einmonatliche »Prüfungszeit« noch die üblichen Wünsche mit. Sein Abschiedsgruß aber war emphatisch finster. Er schmollte wie ein Kind. Freilich war zu bedenken, daß solch ein ehrlicher Dogmatikus mit seiner »Überzeugung« allzu eng verwachsen ist, um deren Ablehnung nicht auch persönlich zu empfinden.

In den vier Wochen, die nun folgten, sammelte ich die kärglichen Überreste all der Verehrung und Zärtlichkeit, die mich einstmals für das Göttliche entflammten. Mein letztes seelisches Vermögen, eine überreizte, 141 eigensinnige Energie, stellte sich in den Dienst des Idols: mich aufzulösen für die Wiedergeburt im Glauben. Und bald ergab sich, daß meine ganze bisherige Vorstellungswelt, jede einzelne Anschauung, meine Art zu denken, zu fühlen, zu reden, von Grund aus umgestürzt werden mußte. Wonach mich verlangte, mußte ich entbehren, was mir zuwider gewesen, nun täglich pflegen. Aber gerade das war es ja, was ich ersehnte: die Verneinung des Bestehenden, vor allem in mir selbst. Das war nicht schwer für einen, dem jede Meinung gleichgültig, unmaßgeblich, zweifelhaft erschien. Lästig ward es nur dann, wenn der Geschmack dazwischenkam, der selbst den Zweifler tyrannisiert. Banalitäten, die man seit lange keines Blickes mehr gewürdigt hat, nun wieder ehrfürchtig als Weisheit hinzunehmen, Sprichwörter und gute Lehren nachzustammeln, das ist das häßlichste solch einer frommen Kur. Auch die fast vergessenen Imperative der Ethik mußte ich wieder als ewige Gesetze ehren und befolgen. Und obwohl mein Lebenswandel noch ganz erträglich war und ich selten genug mit der landesüblichen Moral in auffälligen Widerspruch geriet, kam es mir doch wie eine Farce vor, daß sie nun wieder Richtschnur werden sollte. Doch es gelang gleich allen anderen Zumutungen, die ich meiner gefügigen Psyche stellte. Die Annahme des gesamten katholischen Glaubens durch den einen Willensakt, 142 den Gehorsam, vollzog sich rasch und überwältigend. Wie der Sieger von der verlassenen Burg, so nahm der Glaubenswille Besitz von meinem leeren Herzen. Sein durchgreifender Einfluß, seine Vorstellungen und Gebote erstickten hinfort alle widerspenstigen Triebe. Ja, die Logik und der wackere Menschenverstand bäumten sich wohl zuweilen noch gegen den heiligen Mythos auf, der ihnen Wahnsinn schien. Dreieinigkeit, Erlösungswerk und Wunderglaube, Reliquien- und Heiligenkult, wie ging das alles dem wohlerzogenen Gehirn so bitter ein! Doch war mir's eine Lust, dies undankbarste der Organe mit ärgstem Widersinne zu mißhandeln. Da ward Unsinn Vernunft – was lag auch daran, wenn Unsinn sich hilfreich erwies und in der Ewigkeit das letzte Wort behielt!

Immer von neuem nahm ich die starren Glaubenssätze vor, sagte Ja und Amen dazu und prägte sie mir ein, blind, willig wie ein Kind, das sein gebotenes Pensum lernt, ohne daran zu deuteln und zu mäkeln. Was da für eigentümliche Dinge auch behauptet wurden, ich nahm sie unbesehen als Wahrheit an; ich lauschte auf die Lehren der erprobten Kirchenväter und richtete meinen Wandel danach ein. Versprach mir doch allein schon die Veränderung meiner schal gewordenen Sitten frische Kraft. –

Und zwischendurch fast stündlich die Gebete: bald die 143 pflichtgemäßen, wohlgefügten Litaneien der Breviere, bald ein spontanes Betteln um Kraft und Gnade, dann wieder alte Lieder und Betrachtungen, unterbrochen von Klagen und Seufzern der forcierten Reue und Ave Marias in unzähliger Menge.

Wenn nun auch diese Kasteiungen meine Natur nicht umzuwandeln vermochten, mir Kindersinn und Herzensgüte nach wie vor verloren blieben, so erwies ich mich doch als eifriger Christ den strengsten Anforderungen gewachsen. Die letzten Beziehungen, die mich mit der verbotenen Weltlust noch verknüpften, wurden abgebrochen, Sündiges gemieden, selbst der lockere Verkehrston gründlicher Reinigung unterworfen. Aussprüche und Scherze, soweit sie geistigen Wert besaßen, verstießen meistens gegen irgendeine Vorschrift. Am besten war's daher, mir jeden eigenen Gedanken abzugewöhnen und eine Verdumpfung zu züchten, die wenigstens erlaubt und, wenn sie sich mit Andacht paarte, Gott wohlgefällig war.

So empfahl es sich, die wenigen Freunde noch mehr zu meiden, oder wenn ich doch mit ihnen zusammentraf, in mir den alten Adam streng zu überwachen. Sehr zustatten kam mir das letzte Erlebnis mit Alice, die mich so bitter enttäuschte, daß ich mich schon ernüchtert glaubte. Sie hatte nichts wieder von sich hören lassen. Bisweilen litt ich darunter, aber der krasse Umschwung 144 meines Innenlebens drängte die Erinnerung an sie zurück. Ich kannte mich zu gut, um nicht zu wissen, daß ich ihrer noch sehr bedurfte. Diese gefährlichen Kämpfe sollten jedoch jetzt vermieden werden. Später erst würde sich die sittliche Kraft einstellen, auch hierin zu überwinden.

Einsame Spaziergänge traten jetzt an Stelle meiner Morgenträumereien. Ich wollte den Naturgenuß lernen, der ja auch von der Geistlichkeit als wohltätig und läuternd empfohlen wird. Man soll »die Größe Gottes in der Natur bewundern«, »den Schöpfer in seinen Werken loben«. Den Satz, daß jedes Ding einen persönlichen und bewußten Urheber haben müsse, daß also der Schöpfer aus dieser Natur zu folgern sei, diesen Satz als selbstverständliche Wahrheit hinzunehmen, ward mir sauer, aber schließlich brachte ich auch ihn kopfschüttelnd unter. Nicht weniger strengte mich die geforderte Bewunderung an. Hier tat ich mir wieder einmal ehrlich leid. Denn mit dieser Art von Übersättigung verkümmert bereits die Fähigkeit, überhaupt noch zu empfinden. Wer sich der Freude am Künstlichen und Künstlerischen maßlos ergibt, wird bald der Natur, selbst wenn er möchte, nichts mehr abgewinnen. So sehr Böcklinsche Schluchten mich entzückten, am Wege gefunden, würden sie mir kaum aufgefallen sein. Die Vorstellung allein, daß sie natürlich wären, hätte meine 145 Teilnahme ertötet. Nur bizarre Kleinigkeiten konnten mich noch fesseln, das Zittern der Gräser oder eine verkrüppelte Blüte. Auch auf die Laute horchte ich gern, die niemand nachzubilden versteht, auf das Rauschen der Bäume und das Vogelgezwitscher. Meine Gedanken stockten dabei, und das tat mir wohl. Wenn ich dann heimwärts ging, prüfte ich mich auf religiösen Zuwachs. Doch war die Ausbeute niemals groß. Nur konnte ich, wenn ich jetzt mich fragte: »wozu arbeitest du auf dem Gericht?« getrost antworten: »zu Gottes Ehre«.

Einmal, in den ersten Tagen des April, trieb es mich, Esther wieder aufzusuchen. Bei ihr war es immer so traulich und feiertagsfroh, daß man aufatmete von Schwierigkeiten und gesündere Hoffnungen schöpfte. Wer vor sich selber flüchtete, wußte sich dort willkommen; wer sich verabscheute, empfing dort Liebe. Dort wurden Rätsel gelöst, Auswege beraten; arme Herzen wurden dort gespeist mit Geduld und Treue und zärtlichem Verstehen. Es konnte wohl nicht Sünde sein, diese Gemeinschaft weiterhin zu pflegen. Kannten mich doch die Ungläubigen zu gut, um mich meinen frommen Entschließungen abwendig zu machen.

Als ich eintrat, sah ich Esther inmitten einer Schar von Kindern am Boden sitzen. Auf dem Schoße hatte sie eine Mappe mit Holzschnittbildern, die sie herumzeigte 146 und erklärte. Knaben und Mädchen beugten sich eifrig darüber, einige blätterten selbständig in illustrierten Werken, andere spielten mit Baukästen oder formten Figuren aus Ton oder nahmen auch nur an den Gesprächen und Scherzen teil, die Esther unermüdlich anregte und leitete. Es wurde viel gelacht, aber auch viel gestritten und erzählt. Dabei schienen sich alle prächtig zu vertragen; ja, die jüngsten und die ärmlichen mit abgeschabten Röckchen wurden von ihren Kameraden mit besonderer Freundlichkeit ausgezeichnet. Sie lagen in der Mitte, wurden geliebkost und ehrfürchtig bedient. Ich erinnerte mich, dies drollige Bild hier schon einmal erlebt zu haben: es waren Esthers Dissidentenkinder.

Zusammen mit Doktor Tönnies, der in einer anderen Ecke des Zimmers vor Schülern und Schülerinnen leidenschaftlich agierte, hatte Esther ein paar Stunden wöchentlich festgesetzt, in denen sie Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren zum unentgeltlichen Unterricht bei sich aufnahm. Die Idee stammte von Dimitri Teniawsky. Er hatte Adressen von Eltern, die bereit dazu waren, angegeben. Er schlug auch Plan und Ziel des Unterrichts vor und beschaffte das erforderliche Material.

Die Kinder kamen regelmäßig und pünktlich. Denn ihr Aufenthalt in Esthers behaglichem Heim glich so gar nicht der Schule, in der sie geplagt und gescholten 147 wurden. Hier klangen alle Lehren wie munteres Gespräch. Hier gab es Bilder, die sie still betrachten, und Musik, der sie nur träumend zuzuhören brauchten. Gehen und liegen durften sie, wie sie wollten. Wenn man sie ansprach, so war es kein Befehl, sondern ein Entgegenkommen, aus dem sie die persönliche Teilnahme wohl zu erkennen wußten. Am meisten aber wurden sie von der Lehre selbst gefesselt, von der leichten und doch eindringlichen Art des Vortrags. Da waren die Lehrer eins mit ihrer Rede, ganz durchdrungen von Wert und Wirkung jedes Satzes. All ihr Dichten und Trachten, die Liebe und der Groll, die Zuversicht, die diese beiden versonnenen Menschen lange in sich reifen ließen, schäumte nun hervor in heißen, überzeugten Worten.

Ein paar Jungens, die mich von früher her kannten, sprangen mir entgegen und begrüßten mich mit vergnügtem Geschrei. Esther streckte mir von ihrem bequemen Sitze aus die Hand entgegen und wies auf den Lehnstuhl an der Wand. Tönnies nickte nur zerstreut mit dem Kopfe. Er war tief in der Weltgeschichte drin, die er, wie ich bald herausbekam, als eine Entwicklung vom Despotismus der Massen zur Freiheit des Einzelnen behandelte.

»Nun, was ist denn Freiheit?« rief ich einem der älteren Jungens zu.

148 »Wenn die anderen mich nicht zwingen können, dann bin ich frei.«

»Die anderen sind aber immer stärker als du?«

»Nein, wenn ich mich mit Genossen verbinde, die klug und mutig sind, ziehen sich die anderen schon zurück.«

»Wer sollen die anderen eigentlich sein?«

»Die mich zu irgend etwas zwingen wollen, das sind eben immer die anderen.«

»Wenn du nun aber jemand etwas versprochen hast, zum Beispiel: eine Arbeit zu übernehmen, dann muß er oder eine Behörde dich doch dazu zwingen dürfen?«

»Natürlich; aber wenn ich etwas verspreche, zwinge ich mich schon selbst.«

Tönnies wurde aufmerksam und rief den Knaben zu sich.

»Von dem dort,« sprach er, auf mich deutend, »darfst du dich nicht irremachen lassen. Das ist ein lieber Kerl, aber er hat immer unrecht.«

»Ist das wahr?« fragte mich treuherzig der Junge.

»Kann schon sein,« gab ich zur Antwort.

»Oh, warum?«

»Weil er mehr tot als lebendig ist,« sagte Tönnies und nahm seinen Vortrag wieder auf.

Mehrere Kinder blickten sich nach mir um, als ob es sie interessierte, einen Sterbenden zu sehen. Ein 149 Zwillingspaar kam auf mich zu. Das Mädchen flüsterte ihrem Bruder etwas ins Ohr. Der sah mich mit großen traurigen Augen lange an und sagte endlich:

»Wirst du gesund werden, armer Just?«

»Ja, später vielleicht, wenn ihr groß geworden seid.« Mir waren von diesem Kindermitleid die Tränen nahe. Ich legte den Arm um den Knaben, das Schwesterchen nahm ich auf meinen Schoß und plauderte mit ihnen über das, was sie werden wollten.

Esther und Tönnies hatten es ihnen angetan mit ihrer Kunst. Sie wollten dasselbe wirken, er als Lehrer, sie als Lehrerin. Alle Kinder sollten ganz vernarrt in sie sein. Viel wissen, meinten sie, sei nicht so nötig, aber alles, was sie wüßten, das sollten die Kinder auch erfahren. »Vor allem müssen sie tapfer und lustig bleiben, sagte der Knabe; »die Faulheit möcht' ich austreiben können und die Feigheit!« »Und ganz von selber muß alles gelingen,« fügte das Mädchen hinzu, »ohne daß sie merken, was ihnen geschieht.«

Und ich bestätigte:

»Ja, Kinder, ja, so muß es werden!«

Doch im stillen empfand ich schmerzlich lächelnden Widerspruch. Mir bangte vor der Zukunft dieser Kleinen, vor den Enttäuschungen, den Verfolgungen, die sie erleiden mußten, wenn sie den edelsten Besitz behaupten wollten. Während ich mit ihren zarten 150 Händen, mit den blonden Locken spielte, erblickte ich, der Seher aller Finsternisse, den Mann im Gefängnis und das Weib betrogen, das Schicksal derer, die freiheitsdurstig und voll Vertrauen sind. – – – – – – –

Nach beendigtem Unterricht rief Esther ihren Bruder herbei. Mit raschen, sicheren Schritten kam er daher und sang sich ein Liedchen zu lustiger Melodie:

»Der Winter mit seiner Not
ist nun vergangen,
wunderbar hangen
die Blumen rot . . .«

Ihm nach flog ein zahmer Kardinal, setzte sich auf seine Schulter und pfiff. Gottfried sah frischer aus denn je. Seine Augen blickten klar und munter. Am Fenster ließ er sich nieder und betrachtete durch die Scheiben aufmerksam zwei Katzen, die draußen, auf dem keimenden Rasen, miteinander spielten.

Tönnies fragte, ob ich nicht mit Gottfried tauschen möchte. Unbedenklich antwortete ich: »Ja!«

»Er ist so immer noch besser,« sprach er »als fromm!«

»Das darf ich Ihnen jetzt nicht mehr zugeben, Tönnies. Gott schenkt seinen Frieden so oder so.«

»Gottfrieds Frieden ist nicht Gottes Frieden,« scherzte Tönnies mit einer sehr traurigen Miene.

»Gottfried ist Gott!« rief der Geisteskranke dazwischen und lachte. »Und du bist Gott,« sprach er zum Kardinal, »gelt, du bist Gott?« Der Vogel sprang auf seinen 151 Finger, schlug mit den roten Flügeln und pfiff. »Ihr seid Gott,« rief der Geisteskranke uns zu, »alles ist Gott!« Und sein Gelächter wollte kein Ende nehmen.

»Ja, du hast recht, mein Junge,« beruhigte ihn Esther, uns aber bat sie, nur leise zu reden von solchen Dingen. »Übrigens,« fügte sie hinzu, »am besten gar nicht von dem, was doch keiner vom anderen versteht. Vielleicht ist solche Selbsterniedrigung der beste Weg zu neuen Kräften.«

Tönnies schüttelte unmutig seinen schweren Lockenkopf:

»Nein, wem einmal vom Priester die Flügel beschnitten worden sind, dem wachsen sie im ganzen Leben nicht wieder. Entschuldigen Sie, Just, aber aus Ihnen hätte was werden können, wenn Sie hundert Jahre früher zur Welt gekommen wären.«

»Dann wäre ich romantischer Dichter oder Jakobiner geworden. Ist das was Schöneres?«

»Keineswegs. Aber an Ihre Sache hätten Sie geglaubt und wären Ihres Lebens froh geworden. Ich bin doch gewiß ein Mann, der an die Wand gedrückt wird wie nur irgendeiner, aber von meinem relativen Werte bin ich felsenfest überzeugt. Ich glaube sogar, daß ich für die Zeit, die nun nächstens anbricht, absolut notwendig bin.«

»Sagen Sie, Esther,« fragte ich, »bricht sie wirklich an, die Zeit?«

152 Da nahm sie meine beiden Hände und umklammerte sie wie beschwörend. Ihre schönen, finsteren Augen flammten auf in begeisterter Zuversicht:

»Ja und tausendmal ja! Glauben Sie, glauben Sie doch nur daran! Warten Sie eine kleine Weile noch und Sie werden die Zeit mit Händen greifen – Ihre Zeit!«

Einen Augenblick war mir, als müßte ich mich von ihr bezwingen lassen. Dann aber sprach ich mit dem alten Zweiflerlächeln:

»Ich glaube an Gott!«

Sie stieß meine Hände von sich. Um dieser Bewegung willen begann ich sie zu lieben.

Teuer und wert war sie mir stets gewesen; um sie sinnlich zu betrachten, nahm ich sie viel zu ernst; was mir jetzt aufstieg, war vielmehr der Wunsch jener engen, geistigen Vereinigung, die auch der Gipfel innigster Freundschaft ist, bei der man sich sehnt, die eigene Seele ganz dahinzugeben, die andere dafür ganz in sich aufzunehmen, sich psychisch aufzusaugen zu gegenseitigem höchsten Gewinn. Ewig sollte Esther meine Hände halten, den Segen ihres Gemüts in mich überströmen, von mir aber innewerden, daß auch in meinem Wesen noch Kräfte verborgen lägen, keimfähig und tatenschwanger, die einst lebendig werden könnten, vereint mit den ihrigen und zu ihrer Genugtuung. Das deutete 153 auf eine neue Art von Liebe, daß Blut und Nerven hier unbeteiligt waren und doch eine leidenschaftliche Hoffnung mich bewegte, die Wärme ausstrahlte und ermutigend schimmerte wie ein Leuchtfeuer im Nebel. –

Dimitri Teniawsky steckte den Kopf zur Tür herein:

»Der Schulinspektor!« meldete er sich mit Persiflage an. Dann schob er den langen Körper hinterdrein und begrüßte jeden einzelnen umständlich und ausdrucksvoll. Man sah ihn schon nicht mehr anders als in der vergnügt betriebsamen Laune, mit der der Geschäftsmann zur Weihnachtszeit schmunzelt: ›Mein Weizen blüht!‹

Er bedauerte, die Kinder nicht mehr angetroffen zu haben, mit denen er gern plauderte, um sich persönlich von ihren Fortschritten zu überzeugen, vor allem auch zu hören, wie sie sprächen; denn er hielt darauf, daß alle gewandt und fließend reden lernten und schon frühzeitig Dialektik übten, die er als Grundlage jeder Agitation betrachtete.

Aus den Taschen seiner Joppe zog er nun allerhand Manuskripte hervor; wie sich schließlich herausstellte, einen verbesserten Lehrplan und den Entwurf seines sozialen Katechismus.

»Wenn's euch recht ist,« sagte er, »beraten wir die Sachen gleich mal durch, und zwar zunächst das Heftchen mit der ›Gesellschaftslehre‹, dann den Abriß von 154 den ›geltenden Rechten‹, den ich, wie ihr sehen werdet, ganz ausreichend popularisiert habe, den Lehrplan endlich zuletzt. – Mit den Sozis bin ich über die Abänderungen endlich noch einig geworden. Natürlich wollten sie durchaus ein paar ihrer altruistischen Redensarten drin haben, womöglich Konstruktionen von Marx, Verstaatlichungswünsche und dergleichen. Das ist nun glücklich alles noch weggeblieben. – In einer Beziehung aber sind wir uns sehr lebhaft entgegengekommen. Darum möchte ich euch nun zugleich im Namen der Herren dringend bitten: der Unterricht soll scharf polemisch geführt werden! Die Kinder sollen keinen Augenblick vergessen, daß die Anschauungen, in die wir sie einführen, grundsätzlich verschieden und unversöhnlich sind mit denen, für die man sie in der öffentlichen Schule dressieren will. Und ferner: die Überzeugung von der Unmöglichkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung muß nicht nur ihren Intellekt ganz ausfüllen, sondern auch so stark als möglich Empfindungssache werden, das heißt also Begeisterung und andererseits Haß. Wenn die Jungens dann ins Gymnasium kommen und die Mädchen in ihr Lyzeum, dringt gewöhnlich so viel Fremdartiges auf sie ein – gelegentlich sind dort auch geschicktere Lehrer vorhanden –, daß ihre Widerstandskraft schon vollkommen entwickelt sein muß. Einer oder der andere wird ohnehin umfallen. 155 – Was nun die kurzgefaßte Rechtslehre anlangt, so muß selbstverständlich vor der geringsten Übertretung der nun einmal geltenden Strafgesetze gewarnt werden. Die Lücken sind da jedem klügeren Kinde so offensichtlich, daß die Umgehung an der richtigen Stelle sich von selbst ergibt. –«

Die einzelnen Abschnitte wurden darauf durchgesprochen. Wir saßen bei dieser fanatisierenden Arbeit bis spät in die Nacht.

All meine guten Vorsätze vergaß ich darüber. Erst auf dem Heimwege kam es mir so vor, als ob ich in diesen Stunden gegen manches Gebot meiner christlichen Ethik verstoßen hätte.

* * *

Vier Wochen nach meiner Abmeldung beim protestantischen Geistlichen stand ich im Arbeitszimmer des katholischen, um mich für dessen Glauben anzumelden. Eine ziemliche Weile mußte ich warten, was heiligem Enthusiasmus bekanntermaßen nie zuträglich ist. Die Umgebung, in der ich mich sah, tat das übrige, mich zu ernüchtern. Ein fader Geruch von Schweinefleisch mit Sauerkraut erfüllte Korridor und Stuben. Von der Küche her drang Tellergeklirr und das Keifen einer Magd. Das Arbeitszimmer selbst hatte viel von einem Bureau: Register standen an den Wänden, Fahrpläne und Verordnungsblätter lagen umher, auf dem 156 Schreibtisch breitete sich eine riesige Steuerliste aus. Stahlstiche, die Szenen aus dem Neuen Testament darstellten, und ein geschnitztes Kruzifix konnten den amtlichen Charakter des Ganzen nicht verwischen.

Endlich erschien der Herr Pfarrer, eine Grütznersche Gestalt, wohlbeleibt, jovial, mit rotem Apoplektikergesicht. Offenbar hatte ich ihn im Mittagsschlaf gestört; denn er strich sich noch die Haare aus der Stirn, blinzelte mit den Äuglein und unterdrückte ein Gähnen.

Als ich ihm den Zweck meines Besuches nannte, blickte er mich verwundert und etwas mißtrauisch von der Seite an. Die Verwunderung stieg, als er vernahm, daß ich »aus Überzeugung« übertreten wolle. Der Entlassungsschein sei noch nicht eingetroffen, meinte er zweifelnd. Ich beruhigte ihn: er müsse in diesen Tagen eintreffen. Meinen endgültigen Entschluß hätte ich bereits gestern dem protestantischen Pfarrer mitgeteilt. Nun fand er sich allmählich in die Situation und fragte, ob ich etwa in meiner Familie auf Widerstand stoßen würde oder sonst von irgendeiner Seite Schwierigkeiten zu erwarten seien. – »Nein, auf keiner Seite.« Eltern und Geschwister besäße ich nicht mehr. – »So, so; das ist gut, das ist gut,« meinte er befriedigt und ließ sich nunmehr auf die geschäftlichen Einzelheiten ein.

»Ja, da müssen wir wohl den Unterricht vornehmen,« sagte er, indem er sich nachdenklich die Nase rieb.

157 Die Vorbereitungsstunden wurden also festgelegt, jeden Abend von acht bis neun Uhr. Dabei glaubte er, in sechs Wochen voraussichtlich fertig zu werden. Anzuschaffen seien der »kleine Katechismus Romanus« und ein »Lehrbuch der katholischen Religion für die Gymnasien in Bayern«.

Darauf sah er nach der Uhr, entschuldigte sich, weil er notwendig hinüber müsse nach der Schule, und hoffte mich abends acht Uhr wiederzusehen. Indem er noch eilig murmelte, der Herr möge meinen Eingang segnen, oder dergleichen, entließ er mich unter wohlwollendem Händedruck.

So wurde denn der Unterricht in der vorgeschriebenen Zeit abgewickelt wie ein apologetisches Praktikum. In weiser Selbstbeschränkung unterließ es mein Pfarrer, mir Empfindungen zu suggerieren, er beschränkte sich vielmehr darauf, an der Hand jener leichtfaßlichen Lehrbücher mir die Glaubenssätze vorzutragen und sich zu erkundigen, ob mir etwas unklar geblieben wäre, worauf ich die Einwendungen der Philosophen und Naturforscher brachte, die er dann wiederum mit den bekannten Repliken zu entkräften suchte. Hierauf schwieg ich, und wir gingen zum nächsten Paragraphen über.

Beim besten Willen konnte ich jedoch nicht dazu gelangen, die Argumente der Theologen stichhaltiger zu finden; sie erschienen mir im Gegenteil häufig wie 158 Ausflüchte, schwächlich oder gar absurd. Gleichwohl prägte ich den Stoff meinem widerwilligen Gedächtnis ein. Kam es doch jetzt nur darauf an, zu glauben, nicht zu verstehen. Auch bemerkte ich, daß hartnäckige Einwände meinen Pfarrer nervös machten. Zwar wußte er auf alles seine Antwort, aber bei komplizierten Gedankengängen kamen doch mitunter kleine logische Fehler vor; der Schweiß brach ihm dann aus, und überdies ging Zeit damit verloren.

Diese Vorbereitung auf den heiligen Glaubenseid und die Sakramente beeinflußte daher meinen eigentlichen religiösen Zustand nur wenig. Derselbe wurde keineswegs dadurch gefördert, sondern schien sich eher zu vergröbern; er wurde bequemer und näherte sich bereits der Gewohnheit. Dies schloß indes nicht aus, daß Zweifel mich überfielen und Regungen irdischer Gesundheit mich von der Askese abzulenken suchten.

Allmählich stellte sich heraus, daß meine Liebe zu Gott um so inniger war, je mehr ich mich meiner Feigheit und Erbärmlichkeit ergab, daß dagegen Augenblicke kamen, in denen ich meinen Glauben widerwärtig finden und hassen konnte. In eben diesen Augenblicken wollte es mir scheinen, als ob es doch noch edle, lebenswerte Güter gäbe, Güter und Herrlichkeiten von dieser Welt . . . . . Solche Vermutungen konnten mich in meiner Sehnsucht nach Frieden fast irremachen. 159

 


 


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