Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Am Südende der Stadt hatte Dimitri Teniawsky ein paar Räume gemietet, in denen er während der Frühstunden allerhand Korrespondenzen und Geschäfte erledigte. Nach unserer letzten Zusammenkunft bei Esther forderte er mich auf, ihm doch an Stelle meines Spazierganges gelegentlich dort guten Morgen zu sagen und den Tee mit ihm zu trinken. Denn abgesehen vom gemeinschaftlichen Mittagsmahl, sahen wir uns fast nie.

Eines Tages, es war nach sechs Uhr, stieg ich hinauf. Aber gleich das erstemal schien ich ungelegen zu kommen; auf mein Klingeln hin fixierte er mich zuvor durch das Guckloch der Flurtür und zögerte mit dem Öffnen. Endlich aber hieß er mich doch willkommen und führte mich in eine kahle Arbeitsstätte, die kaum mehr als einen roh gezimmerten Tisch, Stühle und ein Wandregal enthielt.

Ein Mann, dem Äußeren nach abgerissen und kränklich, sprang bei meinem Eintritt unter allen Zeichen der Furcht und Verlegenheit beiseite.

»Tatsächlich ein Gerichtsbeamter!« rief ihm Dimitri 160 lächelnd zu, beruhigte ihn dann aber, indem er mich als »Genossen« vorstellte. Zu mir gewendet, sagte er nur:

»Eine verbotene Existenz!«

Darauf schob er mir ein Glas hin.

»Hier hast du vorläufig einen Grog, und nun entschuldige noch zehn Minuten, bis ich unserem Freunde die Papiere geordnet habe.« Damit sah er verschiedene schmutzige Briefe durch und setzte sich endlich selbst noch an die Schreibmaschine.

»Ja, es ist, glaub' ich, das beste,« sagte er dann wieder zu dem Fremden, »wenn wir Sie sofort abschieben. Sechs Uhr fünfundvierzig geht der Schnellzug über München nach Verona. Den können Sie gerade noch benutzen . . .«

»Aber da komm' ich ja eben her!« unterbrach ihn der Fremde verzweifelt.

»Gerade deshalb! – Dort werden Sie nicht mehr gesucht. Schnell, ziehen Sie sich um, den Anzug dürfen Sie behalten –, rasieren Sie sich das Kinn und hier, wenn Sie wollen, können Sie sogar die schönen, blonden Koteletten bräunlich färben.«

Schweigend machte sich der Fremde an die Umgestaltung seiner verdächtigen Figur.

»In Verona,« fuhr Dimitri fort, »steigen Sie um nach Turin und dort werden Sie wohl wissen, wohin Sie sich zu wenden haben. Aber dann kommen Sie mir 161 nicht wieder und sagen Sie auch gefälligst Ihren Freunden, daß ich nicht das geringste mehr von ihnen hören will! Ich habe den Pariser Revers unterschrieben und bin damit alle Verpflichtungen los geworden.«

Er verschloß die Briefe zusammen in einem großen Kuvert, legte eine Banknote darauf und übergab ihm beides:

»Hier, nehmen Sie! – Wenn das Zentralkomitee will, kann es mir die Summe ersetzen; wird sie aber wohl nicht anerkennen, denke ich. – Und nun müssen wir eilen, daß wir rechtzeitig zum Bahnhof kommen. – Just, willst du uns begleiten?«

Ich war einverstanden, und wir gingen.

Der Verfolgte warf mir noch immer argwöhnische Blicke zu.

»Sind Sie wirklich Genosse?« fragte er, »Genosse von Dimitri Teniawsky?«

»Nein,« erwiderte ich, »vorläufig noch nicht . . .«

»Eigentlich doch wohl,« bemerkte Dimitri mit listigem Augenzwinkern.

»Wieso?«

»Weil ich das unverschämteste Vertrauen zu dir habe. Und das beweist für mein Gefühl die Übereinstimmung.«

Da wagte ich nicht zu widersprechen. Dimitris Meinung wollte mir fast schmeicheln. Oder sollte sie mir Ermutigung bedeuten?

162 Der Heimatlose aber, der nun von neuem seine gefährliche Wanderschaft antreten sollte, ließ noch einmal seinem Ingrimm freien Lauf.

»Nun, mein Herr Gerichtsbeamter,« rief er mich flüsternd an, »vielleicht sehen wir uns schon heute abend wieder, wenn Ihre Gendarmen mich eingefangen haben. Dann werden Sie mich doch wohl verhören und einsperren lassen. Aber das sage ich Ihnen jetzt schon: ich bin unschuldig gewesen bis zu dem Tage, wo die Hetze losging. Nur weil mein Name mit auf der Liste gestanden hat, haben sie mir den Prozeß machen wollen. Und wie ich davongegangen bin, haben sie meine Frau ins Arbeitshaus gesteckt, und meine Kinder haben sie weggebracht, irgendwohin, daß ich sie nicht wiederfinden soll. Dann haben sie mich durch alle Länder gehetzt, ausgewiesen und eingesperrt und wieder ausgewiesen. Nichts haben sie mir nachweisen können. Nur weil sie sich nicht sicher fühlen, dichten sie einem schon das allerschlimmste an. Und das sollen sie nun haben, wenn sie's nicht besser wollen, die Schufte! Für mich ist jetzt doch nichts mehr zu verlieren. Jetzt wart' ich nur auf die beste Gelegenheit, dann kratz' ich ab mit meinem Luderleben. Aber nicht allein! Darauf könnt ihr euch verlassen. Nicht allein! Wenn's so weit ist, dann muß noch jemand mit! So jemand von hohem Stande, der's verdient und dem wir's alle wünschen!«

163 »Schweigen Sie!« unterbrach ihn Dimitri. »Das sind alles törichte Gedanken, die uns nichts angehen. Was Sie tun, ist Ihre Sache; aber bilden Sie sich nicht ein, daß Sie unserer Sache damit helfen. Hitzköpfe können wir nicht brauchen. Die gehen am besten ihren Weg allein.«

»Wir sind schon noch genug für uns.«

»Um so schlimmer!« erwiderte Dimitri.

Schweigend setzten wir darauf unseren Weg fort, bis wir am Bahnhof waren.

Unser Schützling wurde nach einem Abteil zweiter Klasse gebracht, benahm sich dort sehr unbefangen und korrekt und machte ganz den Eindruck eines wohlsituierten Fabrikanten, der zur Erholung nach dem Süden reist.

Wiederholt drückte er noch Dimitri fast zärtlich beide Hände und sagte leise:

»Teniawsky, ich danke Ihnen. Sie können sich auf mich verlassen, in allen Dingen.«

Dann lüftete er höflich gegen mich den Hut und fuhr mit dem Zuge davon. –

Wir kehrten zurück nach dem Arbeitszimmer.

»So trifft man also diese Freunde wieder,« bemerkte kopfschüttelnd Dimitri. »Ich hab' mir's auch nicht anders vorgestellt.«

»Eine Terroristenfreundschaft?«

164 »Jawohl, von den schlimmsten Tagen meiner Kinderkrankheit her.«

»Scheint dir aber doch nahe gestanden zu haben.«

»Wie man's nimmt. Ich verdank' ihm wenigstens meine beste Erfahrung. Er hatte nämlich . . . er ist da mit einer Episode verknüpft, mit einer törichten Episode, von der ich eigentlich ungern rede. Wer mich nicht recht versteht, hört Motive heraus, die gar nicht drin liegen, oder nimmt die Geschichte zu ernst und findet sie dann abgeschmackt. – Übrigens, da du den Mann nun einmal kennst . . . zu den Beschränkten will ich dich auch nicht rechnen . . . Die Sache war also folgende:

»Vor zehn Jahren lebte ich als Studio hier in Leipzig. –Meine tollste Zeit! Von den Eindrücken, die überall im Ausland mich überfallen hatten, war ich noch völlig verzaubert und übermütig wie ein Betrunkener. All die heißen Köpfe, zu denen es mich hinzog, nahmen mich mit Enthusiasmus auf und wollten schon den künftigen Führer in mir sehen. Dabei gelang mir die Wiederherstellung der alten Beziehungen zwischen Moskau und Paris überraschend leicht. In Zürich gewann ich die tüchtigsten Frauen für unsere Sache: kurz, ich fühlte mich bereits als Mann der Taten. In Leipzig aber stieß ich mit einem Male auf die Frage: Was nun? – Ich war hergekommen, die bekannten Juristen und Volkswirtschaftler zu hören. Aber einmal wurden auch 165 hier die umständlichen Herren nie mit ihrem Thema fertig, andererseits hatte ich die Theorien gründlich satt und ging nur zuweilen noch repetendo ins Kolleg. Aller Wissensdrang war zum Teufel. Ein Ziel wollte ich endlich sehen und es womöglich im Sturmschritt nehmen. Welches Ziel? – Zerstörung! – Gut, aber was zerstören? – Alles! – Gut, aber mit welchen Mitteln? – Hier saß ich fest. – Zerstört man die Gesellschaft mit leeren Konspirationen, mit Zentralkomitees und Verbindungen, mit Protestmeetings und Straßenumzügen? Diese leeren Demonstrationen hatten mit einer Propaganda der Tat nicht das mindeste zu tun. Ich verlangte nach mehr; aber ebensowenig wie den Genossen fiel mir eine Unternehmung ein, die uns dem Ziele auch nur einen Schritt hätte näher bringen können. Ich durchforschte die Geschichte der Revolutionen, ich las Bakunin und Most, ohne etwas anderes zu entdecken, als daß wir den Regierungen immer noch machtlos gegenüberstünden. Und darum warf ich endlich allen Bücherkram beiseite, steckte das Grübeln und Konstruieren wütend auf und stürzte mich zunächst mal wieder in den Trubel der feineren und roheren Genüsse. Dazu muß ich indes bemerken, daß der eigentlichen Sinnlichkeit schon damals keine hervorragende Rolle zufiel. Ich nahm zwar das Gute, wo ich es fand, trieb auch gelegentlich verfängliche Scherze 166 mit den jungen Frauen der Patrizierclique, in der ich viel verkehrte, aber keine dieser Nebenempfindungen vermochte mich ganz auszufüllen, geschweige denn die Lebenslüste zu befriedigen, die schlimmer als Sinnlichkeit in mir kochten. Ja, mein ganzer Organismus lag wie in Flammen. Jetzt, wo die Reflexion endlich Ruhe genoß, wurden die Triebe lebendig; alles, was ich rings erlebte oder woran ich zufällig mich erinnerte, setzte sich sofort in glühendes Empfinden um, und dies Empfinden war meiner ganzen Erfahrung und Lebensrichtung nach der Haß. Das, was ich zerstören wollte, fing ich recht eigentlich jetzt erst zu hassen an. Die Zustände im Klassenstaate, in der Gesellschaft wie im öffentlichen Leben, die ich tausendmal wahrgenommen, gebucht und verarbeitet hatte, begann ich jetzt erst plastisch, gleichsam in Fleisch und Blut, mir vorzustellen und meine Sinne davon zu berauschen, bis mir die Leidenschaft das Blut zu Kopfe trieb und mir die roten Funken vor den Augen flimmerten. Dieses Gefühl, das blind und brutal wie der Jähzorn war, pflegte ich mit Entzücken und freute mich daran, wie es täglich wuchs. Zuweilen setzte es aus, um dann mit doppelter Gewalt zurückzukehren, und konnte mich, wenn ich in rechter Stimmung Abgründe der bourgeoisen Widerwärtigkeit erblickte, mit wahrer Satyriasis erfüllen. Wer immer zum Jähzorn neigt, der kennt auch das herrliche, 167 befreiende Gefühl, das einem aufsteigt in dem Augenblick, wo man alle Rücksichten von sich wirft, damit nur die Bestie Persönlichkeit Raum gewinnt. Nun war mein Haß nichts anderes als chronisch gewordener Jähzorn, und dementsprechend blieb auch seine Wonne dauerndes Lustgefühl. So froh, so stolz, so überglücklich habe ich seitdem nie wieder hassen können. Ich ging wie im Taumel umher, ohne Blick für die Einzelheiten des Lebens, meinen ausgelassenen Zorn immer nur aufs Ganze gerichtet, auf den Inbegriff unserer Kultur. Daher waren mir auch die Gegner als Individuen gleichgültig, ja, ich hatte sie im geselligen Verkehr zuzeiten gern, oder sie rührten mich auch in ihrer unverschuldeten Gemeinheit. Ich behandelte sie freundlich, ließ mich auf ihre kleinen Sorgen ein, hielt es nicht der Mühe wert, sie aufklären oder bessern zu wollen. Sie waren offenbar auch alle mit mir einverstanden, luden mich zu ihren Festen ein, die Damen schwatzten mich an, die Herren pokulierten mit mir und erzählten mir ihre Zoten. Ich war für sie der bekannte exzentrische Russe, im übrigen aber ein ganz fideler Kavalier. Von meinem Vorleben und meinen Anschauungen, von meiner bedrohlichen Gemütsverfassung hatten sie selbstverständlich keine Ahnung, zumal auch den Behörden nichts Nachteiliges darüber bekannt geworden war. Mit den Genossen war der Verkehr so ziemlich eingeschlafen. 168 Versammlungen, die selten stattfanden und dann belanglos waren, besuchte ich nicht. Nur von zwei oder drei vernünftigen Männern ließ ich mich gelegentlich in meiner Wohnung treffen. Zu ihnen gehörte auch Kettler, unser Schützling von vorhin. Er war damals Werkführer in einer Fabrik ätherischer Öle, besaß außerdem eine recht annehmbare Kopf- und Herzensbildung. Diese Leute hingen durchweg am Kommunismus, ein Idol, das ich übrigens damals schon überwunden hatte. –

»Nun kam also der Abend, mit dem mein Erlebnis beginnt. Es war im Gewandhauskonzert, dem vorletzten des Winters. Eingeladen von einer bekannten Familie, saß ich in deren Loge, vor mir die Mama mit den Töchtern vom Hause in ihren neuen Wiener Toiletten, neben mir der behäbige Vater, ein Generalkonsul oder dergleichen. Der alte Kapellmeister Reinecke dirigierte in schläfrigem Tempo irgend etwas von Mendelssohn, der damals wieder einmal Mode war. – Die Musik fing ausnahmsweise an mich zu langweilen. Bald entging mir Takt auf Takt, ich verlor den Faden und gab es schließlich auf, zu folgen. Meine Augen gingen nun in dem glänzenden Saal spazieren und musterten das Publikum, das sich so elegant und selbstbewußt dort zusammenfindet. Aber je länger ich mir die Leutchen betrachtete, um so lebendiger wurde 169 mein Denkprozeß, bis er sich angelegentlichst mit ihnen beschäftigte. Endlich bedachte ich sie nicht allein, ich empfand sie sogar. Meinen innersten Vorgängen wurden sie unheimlich nahegerückt. Diese bekannten Typen bekamen urplötzlich einen universalen Sinn für mich; sie traten zu meiner Weltanschauung in reale Beziehung, das heißt ich erkannte, daß sie ja der Gegenstand meines erbittertsten Hasses waren, sie allein. Diese satten, phlegmatischen Männer mit den materiellen Gesichtern, mit ihrem plumpen Klassenbewußtsein und ihrer unausrottbaren Borniertheit, diese aufgeputzten, geistig zurückgebliebenen Weiber, die nur leben, um sich zu spreizen und zu beklatschen und ihre Töchter zur eigenen Eitelkeit heranzuziehen: das waren sie ja, denen ich nachspürte mit meiner geheimen Wut! In ihnen wurde alles Erbärmliche der Zeit tatsächlich Fleisch und Blut; sie waren das Gefäß von jenem widerwärtigen zähen Brei, den sie sittliche Ordnung nennen. Schöner konnte ich sie ja gar nicht wieder beisammen haben als hier, wo sie die Musik zum Vorwand nehmen, um sich zu begaffen und »Bildung« zu zeigen. Sie saßen kerzengerade auf ihren rotsamtnen Polstern, eifrig bedacht, sich nur ja keine Blöße zu geben, aber ihre Gesichter waren stumpf und leer; sie gaben sich den Anschein, als wären sie ganz Ohr; wer sie dann aber reden hörte, der erkannte, daß auch die Musik, die 170 einzige Kunst, die sie doch für vornehm halten, keinen Weg zu ihren Schädeln fand. Außer ein paar Kritikern und Konservatoristen, den einzigen, die es auch nicht verschmähen, gelegentlich über Musik zu lesen, waren gleichwohl Herren wie Damen samt der klavierspielenden Meute der Töchter ihres Kennertums sicher und froh. –Mir aber wurde heiß und heißer zumute. Wie wenn aus einer körperlichen Konstitution unversehens sich eine Krise entwickelt, so fühlte ich, daß mein latenter Ingrimm jetzt an die Oberfläche trat und schon wie Rachsucht sich gebärdete. Und auch die Wollust, die stets den Haß begleitet hatte, fand ich wieder, nur daß sie sich hier als Wollust der Vernichtung deutlich enthüllte. Unser altes Kennwort: »Écrasez le bourgeois!« klang mir fortwährend wie eine Lockung in den Ohren, berauschte mich wie ein Schlachtruf und entzündete, während ich mich ohne Widerstand dem hingab, die echte bestialische Blutbegier. – Ja, ich wollte mir ein Fest geben mit der Vernichtung dieser schädlichen Figuren, ein herrliches, blutiges Fest, hier an der Stelle, wo sie mich empörten. Keine Gelegenheit war günstiger, den großen Schlag zu führen. Hier waren sie beisammen, gleichsam der Typus aller Bourgeoisie, das Symbol der sozialen Erbärmlichkeit. Eine Bewegung meiner Hand und ein gewichtiges Urteil würde wieder einmal vollzogen sein, ich würde 171 die Tat haben, nach der ich begehrte, und die Welt ein Schauspiel, an das sie lange denken sollte. – Zunächst war es freilich nur ein Spiel, das ich mit dem Gedanken trieb. Die Vorstellung des Wurfes, der Explosion und deren Wirkung ließ mich vor Lust und Kraftgefühl erschauern. Immer wieder rief ich sie hervor, drehte und wendete sie wie einen bestechenden Gegenstand, dessen Formen man ganz auskosten möchte, und bemerkte gar nicht, wie aus der Lust der Wille kam und aus dem Willen endlich der Entschluß. – Als ich mich dann nach Hause begab, war ich bereits so weit, die Ausführung des Planes auf alle Möglichkeiten hin zu prüfen. Nur fehlte mir dabei natürlich noch jede Selbstbeherrschung. Meine Gedanken, Wünsche und Befürchtungen zuckten wirr und verwirrend hin und her. In maßloser Aufregung rannte ich verkehrte Wege, zitterte und war in Schweiß gebadet, wie es einem so geht, wenn man die Entscheidung über Tod und Leben heraufbeschwören will. Die Nacht über blieb ich schlaflos, angekleidet vor meinem Schreibtisch und wühlte fieberhaft in unseren »Berichten über Erfolge und Mißerfolge der Propaganda«. Das war eine nüchterne, eingehende Statistik aller politischen Attentate aus den letzten dreißig Jahren, von einem Enqueteausschuß im Auftrage des Londoner Zentralkomitees abgefaßt. Nicht allein Ort und Zeit, Objekt und Material der Ausführung waren 172 dabei berücksichtigt, sondern auch die psychische Anlage und Entwicklung des Täters unterlagen genauer, teilweise anatomischer Untersuchung. Auf jeden einzelnen Abschnitt folgte eine Zusammenstellung der Resultate. An diesem Maßstab prüfte ich nun meinen Plan und fand mit bebender Freude, daß er, wenn ich nur besonnen zu Werke ging, gelingen müsse, sogar unter Rettung des eigenen Lebens. – Die nächsten Tage waren ausgefüllt von diesem einzigen Gedanken. Ich war bereits meiner Sache völlig sicher, aber immer von neuem ging ich die feinsten Einzelheiten durch, berechnete und erwog alle Lagen und etwaige Störungen. Von Furcht und Ingrimm war nichts mehr zu spüren, selbst die fanatische Erregung war verflogen; statt dessen erfüllte mich ein sonniger, begeisterter Übermut, der sich am liebsten zu Indianertänzen mit Kriegsgeheul gesteigert hätte. Nur wegen des Materials, auf dessen Beschaffung ich mich nicht verstand, mußte ich mich noch mit einem Genossen in Verbindung setzen und wählte als den geeignetsten dazu den Werkführer Kettler, der mir als unternehmungslustig bekannt war. Anfangs starrte er mich bloß ungläubig an, dann aber, als er merkte, daß die Sache ernst gemeint war, geriet er plötzlich in Feuer und Flamme und erklärte seine volle Bereitschaft, zumal er nach der ganzen Anlage des Planes für sich selbst nur wenig zu befürchten hatte. 173 Mit Chemikalien, die sich leicht aus seiner Fabrik entwenden ließen, wollte er mir eine sogenannte Bomba verde herstellen, von der ihm bereits früher kleine Modelle gelungen waren. Sie wurde in Kugelform mit einer Hülle von leichter Pappe gebildet. Die Explosion bereitete sich, ähnlich den Schüttelbomben, durch den Wurf schon vor und erfolgte bei jeglichem Aufschlag. Die Wirkung erstreckte sich auf das Neunzigfache der Peripherie, konnte also, da wir einen Durchmesser von zehn Zentimetern festsetzten, schon eine ziemliche Verwüstung anrichten. Später kamen wir noch überein, lieber zwei kleine als eine große anzufertigen, damit nicht bloß die Herrschaften im Parkett, sondern auch die Logeninhaber, denen es besonders zu gönnen war, etwas abbekämen. Als Arbeitsstätte bot ich Kettler hier diese Zimmer an – sie dienten schon damals unseren Zwecken –, er meinte indes, in seiner eigenen Wohnung sicherer zu sein. – Die Sache sollte sich dann folgendermaßen abwickeln: am Donnerstag würde ich wieder als Gast in der Loge meines getreuen Generalkonsuls dem Konzert von Anfang an beiwohnen. Nach Schluß der großen Pause aber, wenn die Symphonie begann, würde ich das Haus verlassen und draußen, in der Dunkelheit, auf Kettler stoßen. Er würde mir die Dinger, unter einem seidenen Damentuch verhüllt, übergeben und sich davonmachen. Ich 174 würde, etwas verspätet, die Loge mit dem Tuche in der Hand, betreten und im geeigneten Moment beide Bomben gleichzeitig werfen. Wenn ich nicht Unglück hatte, mußte mir bei der Verwirrung des Publikums die Flucht durch das Treppenhaus gelingen. Binnen einer Minute würde ich in einem bestimmten Torweg der Harkortstraße verschwunden sein und von dort aus zunächst Kettlers Wohnung, dann verkleidet und mit entstellter Maske noch den Berliner Schnellzug erreichen. – Die nächsten Tage verliefen mir wie ein langer, etwas sentimentaler Traum. Ohne anderes zu tun, als mich planlos herumzutreiben, genoß ich doch den Sinn des Lebens noch einmal in seligen Zügen. Die wunderbaren, brutalen Kräfte, mit denen es uns ausgestattet hat, flößten mir Bewunderung für die Natur und für den Menschen ein, der doch immer frei ist, wenn er sich nur den Mut zur Tat erhält. Am meisten aber beglückte mich der Stolz auf meinen unerhörten Vorsatz, daß ich es wagte, die tollkühnste der Ideen, die Idee der grundsätzlichen Zerstörung zum Ereignis zu gestalten. Was die rabiatesten Köpfe sich nicht getrauten, das wollte ich vollenden wie ein Spiel. Da begann ich die Welt noch einmal von Herzen zu lieben, dieses freundliche Jammertal, das so reiche Gelegenheit zur Entfaltung bietet; und sogar die kleinen, dummen Bürger, die, selbst wenn sie wütend sind, den 175 Missetäter heimlich bestaunen, die schloß ich gerührt und beinahe zärtlich an meine Brust; sie konnten ja nichts dafür, daß sie so kläglich waren und zu nichts anderem gut, als in die Luft gesprengt zu werden. – In diesen Tagen hörte ich auf, Pessimist zu sein; es wurde mir klar, daß Weltanschauungen nur relativen Wert haben je nach dem Temperament und den Erlebnissen des Menschen. Die Vorstellung, daß ich vielleicht doch in kurzem ein toter Mann sein könne, wäre mir früher bald peinlich, bald erlösend gewesen, jetzt berührte sie mich kaum, ich dachte nicht einmal daran, die üblichen letzten Vorkehrungen zu treffen. Vor der Befriedigung des heftigsten meiner Instinkte verloren alle anderen Interessen, verlor ich selber meinen Wert.

»Am Donnerstag abend suchte ich vor dem Konzert Kettler noch einmal auf, um mich zu vergewissern, ob auch alles bereit sie. Ich fand ihn etwas bleich und aufgeregt, aber von großem Tatendurst beseelt. Er spielte, wie er das gern tut, den Bramarbas, indem er unser Unternehmen als das Werk einer finsteren Rache feierte. Die Geschosse lagen, bereits sorgfältig eingehüllt, in einem Handkorb, unscheinbare braune Bälle, durch zwei Haken vorläufig miteinander verbunden.«

»»Also pünktlich ein viertel neun Uhr am seitlichen Ausgang!«« rief ich ihm noch zu.

»»Jawohl, pünktlich. Also, auf Wiedersehen!««

176 Damit trennten wir uns.

»Im Gewandhaus nahm ich meinen gewohnten Platz ein, den letzten Stuhl der Loge. – Und wieder sah ich dasselbe Bild wie vor acht Tagen, steife, geputzte Herrschaften mit stumpfen Gesichtern. Mir kam es vor, als säße ich noch vom vorigen Male hier, als wäre diese Karikatur der Vornehmheit das unvergängliche Konterfei unserer Kultur, und nur ein gütiges Geschick drückte mir eben erst die Waffe in die Hand, ein wenig davon auszukratzen. Wieder stieg die Empörung auf und der Abscheu vor dieser Verkrüppelung menschlichen Wesens. Aber schon folgte auf die Brunst des Hasses unmittelbare Befriedigung. Das Schauspiel, das ich mir binnen einer Stunde geben wollte, spielte bereits mit grellen Effekten in meiner Phantasie. Jede Bewegung sah ich plastisch vor mir: wie ich mit heimlichem Griff die beiden Kugeln unter dem Tuche voneinander löste, wie ich sie dann in beide Hände nahm und schleuderte, beide zugleich nach den Verhaßten! Und ich hörte den betäubenden Knall und das Geschrei, das Wimmern und Stöhnen und empfand das heroische Entzücken, getötet zu haben, was des Lebens nicht würdig war. Dabei konnte ich mich einer steigenden Nervosität, die naturgemäß auftrat, nicht erwehren. Es war die gewöhnliche physische Beklemmung, der nun einmal jedes Lebewesen unterworfen ist, wenn es 177 sich in Gefahr begibt. Sie bewirkte körperliches Unbehagen, ohne jedoch meinen göttlichen Rausch zu stören. Die Orchesterstücke und das darauffolgende Klavierspiel irgendeines Solisten zogen sich hin wie eine Ewigkeit. Endlich die Pause, die ich noch gedankenlos plaudernd im Foyer verbringe. Dann nach dem Glockenzeichen steige ich die breite Treppe abwärts, nehme an der Garderobe meinen Hut und gehe hinaus an die verabredete Stelle. – Ich blicke mich um, nach rechts, nach links: Kettler ist nicht gekommen! Ich warte noch fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. – Kettler bleibt aus. Mein erster Gedanke, daß er Dummheiten gemacht hat und verhaftet worden ist. Ich stürze nach seiner Wohnung. Sie ist verschlossen, und niemand öffnet. Dann eile ich zurück nach dem Gewandhaus und blicke mich noch einmal nach ihm um. Vergebens! Jetzt erst erfaßt mich eine trostlose Verzweiflung, ein Gefühl von Scham und lächerlicher Erniedrigung, daß ich mich hätte prügeln mögen wie einen ungeschickten Buben. Was nun auch geschehen sein mochte, ob ich getäuscht worden war oder entdeckt oder auch nur verlassen, gleichviel: vor mir selber war ich jetzt nichts weiter als einer von den vielen Schwachköpfen, die es versucht und nicht vollendet haben. – Und da ich nun doch nichts weiter zu tun hatte, warum sollte ich nicht wieder hineingehen, mir das Konzert zu 178 Ende anzuhören und dann, wie sich's gehörte, mich bei den gütigen Wirten bedanken? Das tat ich denn auch, und wie zum Hohne empfing mich der Chor mit dem Triumphgesang der neunten Symphonie: »Freude, schöner Götterfunken . . .!« – Die Herrschaften aber saßen wieder vor mir, so selbstzufrieden und sicher, als könne überhaupt kein Tor ihren Untergang beschließen.

»Dann ging ich nach Hause in einer Verfassung, die man als ganz gewöhnlichen Katzenjammer bezeichnen könnte, wenn nicht allmählich eine tiefere Erkenntnis daraus erwachsen wäre. Zunächst zwar raste ich noch gegen mich selbst und gegen den Lumpen, der mich im Stich gelassen hatte. Die Nacht über heulte ich wie ein abgestraftes Kind. Als aber der helle Morgen vor den Fenstern stand, nahm ich meine Sinne zusammen und begann einen langen Denkprozeß, der viel, viel später erst seine Früchte trug. Vor allem zog ich durch meine bluttriefende Doktrin einen dicken Strich und verwies Temperament, Instinkt und Triebe in den alleräußersten Winkel meines Herzens. So ward ich zusehends vernünftiger und schon nach ein paar Tagen gründlich abgekühlt. Von Kettler vernahm ich vorläufig nichts. Nur durch Zufall traf ihn noch einmal auf der Straße. Da entschuldigte er sich unter großer Verlegenheit: ›bei Anfeuchtung der Bomben wären sie ihm ins Wasser gefallen‹. So oder ähnlich lautete der Vorwand für 179 seine ganz erklärliche Angst. Ja, wer weiß, ob ich selbst den Wurf noch gewagt hätte! Denn der letzte, entscheidende Augenblick ist bekanntlich immer der schwierigste. Darum schied ich auch von dem braven Kettler verständnisvoll lächelnd und ohne Groll.«

Damit schloß Dimitri seine Erzählung. Sehr zufrieden lächelte er mich an und trank dann mit Behagen seinen kalten Tee.

»Nun,« fragte er nach einer Weile, »meinst du nicht auch, daß so etwas genügt, die Propaganda der Gewalt einem zu verleiden?«

»Das schon!« erwiderte ich ihm. »Nur verstehe ich nicht, daß du die Unsicherheit dieses Menschen bei deinen feinen Kombinationen nicht mit in Betracht gezogen hast.«

»Aber du neunmal nüchterner Verstandesmensch, das ist es ja gerade, daß ich in aller Leidenschaft den raffinierten Verschwörer spielen wollte und mich dabei im Einmaleins der Menschenkenntnis sofort verrechnete. Das ist eben der faule Punkt dieser Gewalttheorie, daß sie ohne Raserei und wütende Instinkte gar nicht denkbar ist und doch zugleich eben daran scheitert. Weder auf Freunde noch auf sich selber kann man sich da verlassen. Die Stimmung ändert sich – und die Bombe fällt ins Wasser.«

»Ihr habt aber auch Exempel von recht kaltblütigen 180 Halunken, Kommunisten etwa, die aus politischen Erwägungen handeln.«

»Die sind sehr in der Minderzahl. Nimm doch die Attentate durch. Meist sind es Werke der Rachsucht oder einer pathologischen Blutgier, die an Sadismus grenzt. In dieser Beziehung kann man es beinahe mit Lombroso halten. Oder auch unterdrückte, oft sogar verschüchterte Naturen wollen sich durchaus zur Geltung bringen, indem sie der Gesellschaft ihre imaginäre Macht aufdrängen. All das sind abnorme Einzelerscheinungen, die man unmöglich zum vernünftigen System, etwa des »Anarchismus« zusammenfassen könnte. Die paar kaltblütigen Fanatiker aber, diese ›Terroristen‹ im ursprünglichen Sinne, die mit ihren zufälligen Gewaltstreichen wirklich ein Gesamtinteresse zu verfolgen glauben, indem sie von der Gesellschaft deren Umwandlung erpressen wollen, handeln nicht weniger planlos und können auf die Wirkung dieser Propaganda ebensowenig vertrauen. Im Gegenteil, meist wecken sie nur die Reaktion, die man doch vernünftigerweise lieber einschläfern sollte.«

»Dich also rechnest du zur Klasse der Pathologischen?«

»Damals! – Gewiß! Vielleicht spukte in mir die alte Tartarengrausamkeit, durch Verkehr und Bildungsgang noch überreizt. Solch ein Erlebnis ist dann die gute Kur, die einen zur Räson, zur Genesung 181 bringt. Man kommt auf soziale Instinkte zurück und fühlt wieder sicheren Boden.«

»Oho! Das klingt ja bald nach ›Volkswohl‹ oder ›reinem Menschentum‹?«

»Ob ich unwissentlich dazu beitrage, schert mich vorläufig wenig. Jedenfalls macht es mir Freude, so zu sein, wie ich jetzt bin. Und kunstvoll zu zerstören, so zu zerstören, daß überall zugleich die Fugen krachen – nicht bloß ein paar unschuldige Schelme bluten – das ist eine Lust, das nenne ich die eigene Kraft vertausendfachen; und je mehr die Welt davon profitiert, um so größer die Wirkung!«

Es reizte mich immer, Dimitri, wenn er in seinen Enthusiasmus geriet, zu necken:

»Du bist reif für die sozialdemokratische Fraktion; ich glaube, du könntest in dem »Vorwärts« einwandfreie Leitartikel schreiben.«

Belustigt blickte er mich an:

»Na, du verstehst schon, wie ich über diese Frage denke. Ich bin Kapitalist und habe keine Veranlassung, mich zur Arbeiterpartei zu schlagen. Auch an den heiligen Marx und an das Dogma von den verstaatlichten Produktionsmitteln würde ich nicht glauben können. – Aber im Ernst gesprochen: die Sozialisten werden es mir noch danken, daß ich meine eigenen Wege gehe. Im Werke der Zerstörung sind wir einig. Und das erscheint

182 schon manchem Führer vorläufig als das Wesentliche.«

»Du meinst die Wandlung zur Reformpartei?«

»Reform? – Das wollen wir doch nicht hoffen. Nein, die Parole ›Umsturz‹ geben sie vorläufig nicht her. Gerade damit wirken sie ja weit über das Proletariat hinaus. Nur meine ich, daß ihre Stärke, ihre Zukunft viel weniger in ihrer anfechtbaren Nationalökonomik als in der Kritik des Bestehenden, in ihrer machtvollen Aggressive liegt. – – Und wenn man diese Aggressive nun verstärkte . . .«

Er hielt inne, zögernd, wie vor dem Verrate eines schönen Traumes, über den man spotten könnte. Seine Augen starrten indes leuchtend an mir vorüber.

Neugierig forschte ich:

»Wodurch verstärkte? – durch Waffengewalt?«

»Nicht doch! Nur durch die Zahl der Unzufriedenen . . .! Wenn man die Wahlkartelle zur Basis nähme . . . ein großes Oppositionskartell über das ganze Reich . . .! Nein, unterbrich mich nicht – ich weiß es, der Gedanke ist bereits in manchem Kopfe; und das sind nicht die Dümmsten, die darüber brüten. – Waffenstillstand auf der ganzen linken Hälfte und dann gemeinsam vorwärts gegen den gemeinsamen Feind!«

»Bürger und Proletarier Hand in Hand?«

»Vorläufig gegen das Regime!«

183 »Dimitri, du bist doch ein Schwärmer. Das ist also deine tägliche Arbeit?«

»O, nein! Nur eins von den Zielen. Meine Arbeit beschäftigt sich zurzeit mit einer Organisation, die dir noch viel Vergnügen machen wird.« 184

 


 


 << zurück weiter >>