Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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VII.

Auf dem Gericht stand meine Versetzung in die Abteilung der Grund- und Hypothekenbücher bevor, die selbst den strebsamen Juristen nur mit gelindem Grauen erfüllt. Dort sind die Amtsmienen noch finsterer, die Bureaugeschäfte noch bureaukratischer als sonst. Dort wird die höchste Regelmäßigkeit und die mindeste Intelligenz verlangt. – Das ward Anlaß, meine amtliche Tätigkeit wieder einmal auf ihren allgemeinen Wert hin zu prüfen, und ich stellte fest, was ich eigentlich schon wußte, daß sie völlig sinnlos sei.

Man kommt gewöhnlich zum Staatsdienst, ohne recht zu wissen, wie. Man läßt sich etwas gehen und plötzlich ist man Beamter. Man möchte studieren, aber man weiß nicht recht was. Ein Freund sagt: »Versuch's mit dem Jus. Das kannst du später überall brauchen.« Und man versucht es. Man belegt die vorgeschriebenen Vorlesungen und begnügt sich im übrigen damit, auf dem Wege der Lebenserfahrung nach innerer Reife zu ringen. Nach einigen Jahren möchte man dann gewisse Resultate sehen. Man läßt sich »einpauken« auf das Examen, besteht es und kauft sich dazu für fünfhundert 185 Mark das Doktordiplom. Nun möchte man dieses neugewonnene Recht doch auch benutzen. Man läßt sich also anstellen und bleibt schließlich dabei, weil es wohl zu spät wäre, etwas anderes zu beginnen. Diese Entwicklung von drei Viertel aller Juristen war auch die meinige gewesen, nur daß mir jetzt der letzte Grund nicht mehr einleuchten wollte. Ich sagte mir: Lieber nichts beginnen, als diese Dienste weitertreiben!

Die öffentlichen Verhandlungen mit ihren wechselnden Bildern, in denen Charakter und Milieus sich enthüllen, konnten mich bisweilen noch fesseln. Dagegen erschienen mir die eigentlichen Reize der amtlichen Stellung, als da sind: Titel, Gehalt und gesellschaftliches Renommee kaum so verlockend, als daß ich meine Unabhängigkeit noch länger darum hätte eintauschen mögen.

Ich wartete nur eine Gelegenheit besonderer Unlust ab, um mich endgültig zu entfernen. – Ein auffallend starker Aktenstoß, den mir der Richter auf mein Zimmer legte, hatte denn auch bald diese Wirkung. Ich blätterte darin mit dem frohen Bewußtsein, daß ich für meine Person ihn nicht mehr erledigen würde. Dann schob ich ihn säuberlich wieder zusammen und begann auch sogleich meinen Nachlaß zu regulieren. Nicht ohne mitleidige Rührung bedachte ich die beiden Kollegen, die mit mir das Zimmer teilten. Sie waren zufällig 186 abwesend. Ich würde sie wohl niemals wiedersehen. Dem einen, der ernst und strebsam war – er bekleidete in der Freimaurerloge bereits eine hervorragende Stellung –, dem legte ich meinen Tintenwischer hin. Der andere erhielt die halbgeleerte Kognakflasche. Meine Bücher teilte ich in zwei Hälften. Ein paar Romane, den Sueton und Bände von Voltaire nahm ich unter den Arm, die Gesetzbücher aber hinterließ ich samt den Formularen meinem Nachfolger zu beliebigen Zwecken.

Und alsbald begab ich mich nach Hause, reichte einen achttägigen Urlaub ein und in demselben Kuvert die Entlassung.

Selbstverständlich vergaß ich nicht, diesen Schritt auch vom religiösen Standpunkte aus zu betrachten. Da mußte ich mir einerseits zwar sagen, daß der Mensch bekanntlich auf Erden sei, um zu arbeiten zur Ehre Gottes und zum Wohle seiner Mitmenschen, wie auch schon bei Sirach geschrieben steht: »Gehe zur Ameise, du Fauler, siehe ihre Weise an und lerne.« Andererseits aber galt noch immer der alte Spruch: »Juristen schlechte Christen!« Lauheit und Widerstand gegen die heilige Kirche zeichneten diesen Beruf vor allem aus. Und wenn auch böse Zungen mir nachsagten, daß ich nur deshalb konvertiere, um mit Hilfe des katholischen Hofes gute Karriere zu machen, so kam es doch nur zu oft vor, daß katholische Beamte im protestantischen 187 Sachsen schwere Gewissenskonflikte leiden mußten. Ich konnte mich also sehr wohl bei meinem Entschlusse beruhigen, zumal mir der Gedanke nicht fernlag, später womöglich noch die geistliche Laufbahn einzuschlagen, was vielleicht die glänzendste Lösung für mein problematisches Leben gewesen wäre. Ich würde vielleicht keinen üblen Jesuiten abgegeben haben, jedenfalls aber einen betriebsamen und geschmeidigen Prälaten, mit Lebensklugheit und Fanatismus wohlausgerüstet. Nun, das stand, wie mein Pfarrer mir sagte, noch in Gottes Hand.

Vorläufig fühlte ich mich unendlich frei und befriedigt, daß ich mein lästiges Joch endlich abgeschüttelt hatte. Welch ein Geschenk wertvoller Zeit, gerade diese Morgenstunden, in denen ich noch Frische und Tatkraft spürte! Wie konnte ich sie, wenn ich das Herz nur auf dem rechten Flecke hatte, ausbeuten und schaffen, daß ich die totgeschlagene Zeit bald vergäße!

Leider ging dieses Gefühl zu rasch vorüber. Es gab ja nichts für mich zu tun. Bald fühlte ich mich wieder unnütz und verfiel der trostlosen Langeweile, die mich bisher nur am Nachmittag quälte, jetzt auch des Morgens. Die einzige Bequemlichkeit blieb noch, daß ich nicht, wie auf dem Amt, über das Pult gebeugt, mechanisch kritzeln mußte, sondern wenigstens auf meinem Diwan ausgestreckt, träge mit Gedanken spielen konnte.

188 Nun wäre dies die beste Gelegenheit gewesen, der Vollendung meines inneren Menschen nachzugehen, mich mit Gebet und Andacht auf die heilige Handlung vorzubereiten. Das unternahm ich denn auch, jedoch nur selten noch aus rechtem Bedürfnis. Ich fand den Kreis frommer Empfindungen doch etwas eng und irrte darin unruhig hin und her wie das Wild im Käfig. Selbst mit Hilfe der besten Breviere war es mir unmöglich, neue Vorstellungen oder Ausdrücke zu finden. Alles wiederholte sich und stumpfte sich ab. Und wenn ich betete um Gnade oder um den Frieden, so entschlüpften mir oft blasphemische Nebengedanken. Bisweilen glaubte ich gar die Stimme Gottes zu hören, der mir ärgerlich zurief, ich sollte ihn doch endlich einmal in Frieden lassen mit meinen Klagen; was ich verdiente, würde ich schon kriegen. Dann erhob ich mich resigniert, wischte mir die bestaubten Knie ab und suchte Zerstreuung.

Unter meinen Büchern gab es ja noch manches Interessante, Sätze, die mich verblüfften, Bilder, vor denen es sich gut träumen ließ. Es konnte nichts schaden, so nebenbei daraus zu lernen. Oder ich lief ins Freie und schlenderte die Straßen der Stadt entlang. Die Menschen hatten merkwürdige Gesichter. Aus ihren Kleidern sprachen die Schicksale. In den Schauläden lagen schöne Waren. Es ließ sich mancherlei dabei denken. 189 Und doch wie traurig war das alles anzusehen! Wie gespensterhaft das Getriebe, wie eintönig, weil ohne Widerhall in meinem Herzen!

Kein Wunder, daß aus solchen Stimmungen noch Ärgeres erwuchs: eine Erhitzung der Phantasie, wie sie einzutreten pflegt, wenn die Kräfte der Reflexion erschlaffen. Was anderen Leuten die normale Sinnlichkeit, das war für mich nur ein Komplex lüsterner Vorstellungen, die mit dem Körper kaum mehr in Beziehung standen. Doch kreisten sie seit Jahren immer nur um das eine Bild, um die Gestalt der Geliebten, der Alice. Die Erinnerung an unsere Spiele überkam mich in diesen Tagen schlimmster Öde heftig und verlockend. Ich lebte sie wieder mit all ihren zärtlichen Episoden durch und sehnte mich nach Wiederholung mit neuen Verfeinerungen. Die Liebe, die mir aus Furcht vor dem Verlust entstanden war, flackerte, wenn ich nur daran dachte, heller auf. Immer lauter rief sie, immer gebieterischer nach der Wiedervereinigung . . .

Zunächst: Sicherheit! Wissen, ob es überhaupt noch möglich, oder ob unser Zwiespalt neulich Katastrophe gewesen war!

Deshalb schrieb ich folgendes Billett, halb ehrlich, halb verlogen:

Liebste Alice, bald drei Monate und noch kein Lebenszeichen von Dir! Oder trägst Du mir gar den 190 Gewandhausball nach? Denke daran, daß gerade die besten Freunde bei solchen Völkerfesten sich verwandelt gegenübertreten und einander mißverstehen. Ich war ein ungeschickter Liebhaber, und Du – jedenfalls nicht meine kluge Freundin. Wir werden beide sehr gut tun, den abscheulichen Abend sobald als möglich zu vergessen, und am leichtesten wird uns das an der Stelle gelingen, wo wir uns immer verstanden und liebgehabt haben. Ich bin sehr einsam jetzt und über vieles traurig, vielleicht nur, weil die Sehnsucht nach Dir mich krank und elend macht. Komm' zu mir, mein einziges, süßes Lieb! Komm' zu mir, wenn ich nicht glauben soll, daß alles aus ist. Komm'! Morgen, fünf Uhr, um Deine Zeit, erwarte ich Dich; ich habe Dich lieber denn je.

Dein Just.

Kaum war der Brief im Kasten, als auch schon jene fürchterliche Unruhe mich überfiel, die all meine Liebeserwartungen zu verfolgen pflegte. Es war die Furcht vor Niederlagen, die mir selbst den Kampf der Geschlechter verleidete. Am liebsten hätte ich noch einmal geschrieben und einen späteren Termin bestimmt, um nur vorher noch Antwort zu erhalten. Doch hätte ich dann wieder vor dem ablehnenden Bescheid gezittert.

Die Nacht war qualvoll, durchsetzt mit fieberhaften Träumen, die mir seltsame Abenteuer mit Alice, 191 Beschimpfungen von ihrer Hand, Torturen und masochistische Wollust vorspiegelten. Dann wieder erschien sie als kindliche Novize in weißer Kutte mit Kruzifix und Schleier. Mein fetter Priester führte, faunisch lächelnd, sie mir selber zu und sprach, daß die geschlechtslosen Lüste, die selbst Gott und der Klerus nicht kenne, gern gestattet seien. Denn Sünde setze ein Verbot voraus . . . Mein Hirn zermarterte sich in Deutungen, bis es unter neuen Gesichten erbebte.

Der Morgen, der mich erlöste, war sonnig und voller Frühlingsduft. Doch es gelang mir nicht, von ihm mich sorglos stimmen zu lassen. Vielmehr litt ich unter dem Widerspruch zwischen der lenzlichen Heiterkeit und meiner schwächlichen Depression. Ja, ich verstand, weshalb gerade im Monat Mai sich so viel Überdrüssige zum Selbstmord treiben lassen.

Niemals noch hatte das Warten auf eine Geliebte mich so entnervt. Schon lange vor der festgesetzten Stunde meinte ich, daß Zeichen ihrer Ankunft oder ihres Ausbleibens eintreten müßten. Vielleicht würde sie doch früher kommen oder noch Zeit finden, mir abzuschreiben.

Von zwei Uhr an lag ich auf dem Diwan, trank und rauchte. In kurzen Zwischenräumen stürzte ich ans Fenster, um mit den Augen die Straßenecke zu verschlingen, an der sie einzubiegen pflegte. Dann wieder 192 versank ich in dumpfen, erhitzenden Halbschlaf, aus dem ich mit pochendem Herzen emporfuhr, wenn die Klingel im Korridor ertönte und Überraschungen versprach. Dabei blieb ich mir wohl bewußt, daß die Quelle dieser Leiden weniger Sehnsucht als der Schauder davor war, daß man mich noch enttäuschen und in ohnmächtige Erbitterung stürzen könnte.

Mit dem Schlage fünf Uhr sprang plötzlich meine überreizte Spannung in eine verzweifelte Müdigkeit um. Ich gab es auf, die Geliebte wiederzusehen. Es war vorüber! – Alles war aus! – Und ich legte mich nieder, lang auf den Rücken ausgestreckt, wie zum Sterben, die Decke zog ich mir über den fröstelnden Körper . . .

Wenige Augenblicke danach vernahm ich im Traum Alices Stimme. Ich erwachte, und leibhaftig stand sie vor mir.

Ganz verwirrt sprang ich auf. Vor Freude halb von Sinnen umschlang ich sie und küßte ihr Mund und Augen. Sie stand geduldig wie ein Opferlamm, ohne sich zu rühren. Nur um die Lippen zuckte ein eigentümlich nachsichtiges Lächeln, das mich bald ernüchterte. Es lag etwas Altkluges darin, eine pedantische Würde, wie sie von Ehrenfräuleins zur Schau getragen wird. Dazu stimmte auch die steife Haltung und der etwas verwunderte Blick.

»Genug! genug!« rief sie, nachdem ich sie losgelassen 193 hatte. »Wir wollen doch vernünftig sein. Da, setz' dich ruhig hin.«

»Alice! Bist du nicht lustig heute? Bedenke, nach solch einer kritischen Zeit!«

»Beinahe wär' ich überhaupt nicht gekommen.«

»Wie?« rief ich erschrocken. Schon dämmerte mir wieder eine trübe Ahnung.

»Doch schließlich tatest du mir leid. Ich mochte dich nicht vergebens warten lassen . . . wenn es auch keinen Sinn hat . . .«

»Alice, zunächst erlaube mir . . . willst du denn nicht ablegen?«

Mein Entzücken hatte sich merklich abgekühlt. Ich sah bereits eine jener Auseinandersetzungen voraus, die unter Verliebten so häufig sind, mir aber stets nur immer verstockten Widerwillen erregten.

»Nein, danke,« sagte sie. »Ich bleibe lieber so. Nachher hab' ich noch etwas vor, einen ›sauren Mops‹.« Diese merkwürdige Bezeichnung brachte sie fast geschäftlich heraus.

»Was ist denn das für ein Ungetüm?«

»Na, weißt du das nicht? – Eine kleine Abendgesellschaft, bei der bloß kalter Aufschnitt mit Bier gereicht wird. Zuweilen darf man hinterher auch tanzen.«

»Hm! – à propos tanzen, trägst du mir wirklich den Gewandhausball noch nach?«

194 »O, Gott bewahre, glaube doch das nicht! Ich war damals etwas nervös, das will ich dir gern zugeben. Obgleich . . . ganz richtig hast du dich auch nicht benommen.«

»Gewiß, Lieb. Dann also vergessen und vergeben!« Ich reichte ihr die Hand, die sie zögernd nahm. Dem Versöhnungskusse dagegen wich sie aus.

»Ja, hast du denn sonst noch etwas auf dem Herzen?« fragte ich mit schlecht unterdrückter Ungeduld. Von Ziererei, deren Grund ich nicht verstand, ward meine Zärtlichkeit gewöhnlich weggeblasen.

Mit einem langen, traurigen Blicke, der mich nun wieder rührte, antwortete sie:

»Es ist mir nur aufgefallen, wie verschieden wir sind.«

»Um so besser! das wußten wir ja längst.«

»Nein, erst in der letzten Zeit ist das so geworden, daß wir uns eigentlich nichts mehr angehen. Du spottest über alles, was mir Vergnügen macht. Du siehst überhaupt nicht ein, daß das nun einmal so ist, mit den Gesellschaften und den Herren und so weiter . . .«

»Ach, du, das sind so Scherze; das hab' ich nicht weiter ernst gemeint!«

Sie zuckte die Achseln. Eine schwüle Pause trat ein, die zu unterbrechen ich mich nicht bemüßigt fand.

Kleine Ärgernisse, wie dieser Dialog, der nur zu Weiterungen führen konnte, setzten meiner 195 empfindlichen Leidenschaft sofort einen Dämpfer auf. Sonst wird wohl Liebe durch Widerstände um so heftiger entflammt; anders bei mir, der ich vor jedweder Überwindung müde zurückschrak. Verbittert und verstimmt hing ich dann meinem Unheil nach, anstatt zu retten, was noch zu retten war.

Alice hörte auf, mich zu lieben; das glaubte ich nun deutlich zu erkennen. Mit vagen Einbildungen wollte sie das vor mir entschuldigen. In ihren Kreisen lernte sie jetzt auch andere Herren kennen, die selbstverständlich mehr nach ihrem Geschmacke waren; ganz abgesehen davon, daß sie der Abwechslung bedurfte. Das hätte ich mir früher sagen und lieber gleich selbst mit ihr brechen sollen. Dann wäre die Entwöhnung leicht vonstatten gegangen. So aber hatte ich zum Schaden noch den Schimpf. Ich wurde nicht unglücklich davon, wohl aber krank am Herzen und todesmatt. Und wie ich es auf die Dauer ertragen würde, das war eine neue, schwere Angst. –

Endlich markierte Alice ein leichtes Gähnen und sagte:

»Es wird langweilig bei dir.«

»Ja, warum kommst du denn noch?« rief ich gereizt.

»Warum?« sie riß mit gut gespieltem Erstaunen weit die Augen auf. »Warum? Ja, weil du darum gebettelt hast! Aus reiner Barmherzigkeit!«

196 Ich lachte laut und wütend. Als erlaube sie sich eine unerhörte Insubordination. Sofort gewann ich gegenüber diesem Kinde, das ich mir herangezogen und zurecht verdorben hatte, die Stellung gleichgültiger Überlegenheit.

»So geh', woher du gekommen bist,« sagte ich ruhig. »Wenn du glaubst, mich entbehren zu können, so geh'! du und deine Gesellschaft, ihr seid einander wert!«

Ganz erschrocken starrte sie mich an und verzog das Mäulchen wie zum Weinen. Da ich sah, daß ich mit diesem Ton das Richtige getroffen, fuhr ich in meiner schwermütigen Entrüstung fort:

»Wenn du mir freundlich sagtest: ›Just, ich mag dich nicht mehr; wir müssen uns trennen!‹ Gut! das würde mich schwer genug ankommen, aber schließlich könnte ich es verstehen. Aber kindlich und unwürdig finde ich es, wenn du dich mit schnippischen Redensarten so gewissermaßen davon drücken willst, nur aus Scham, einzugestehen, daß du Gesellschaftsdämchen wirst.«

»Nein, Just, ach, bitte, nein,« rief sie unter Tränen. »Das ist es nicht! Ich verstehe dich nur nicht. Ich verstehe nicht, was du eigentlich mit mir vorhast. Immer habe ich dir nachgegeben und bin gekommen, wann du wolltest. Aber immer sonderbarer bist du geworden, so ganz anders als natürliche Menschen, daß ich beinah anfange, mich vor dir zu fürchten.«

197 »Aber, Alice, du kleiner Narr, bloß weil ich anders bin als deine Tänzer?«

»Nun, warum bist du so? – Warum wirst du katholisch? Warum gehst du heraus aus deiner Karriere?«

»Ach, liebstes Kindel, das sind Dinge, die ich dir beim besten Willen nicht klarmachen kann. Beruhige dich, es geht schon alles mit rechten Dingen zu. Und lieb behalten können wir uns trotz alledem.«

»Unheimlich bleibt es aber doch . . . das ist – ja es klingt dumm –, aber es ist mir alles wie ein Zeichen, daß du – daß du – gefährlich wirst.«

Ich wollte in lautes Gelächter ausbrechen. Doch es blieb mir in der Kehle stecken unter der aufdämmernden Erkenntnis von einer wundersamen Wandlung, die mein kleines Mädchen ahnte.

»Dir bin ich doch noch nicht gefährlich geworden,« scherzte ich, indem ich sie absichtlich mißverstand. Ihr Gesicht wurde rot und wandte sich ab.

»Ich wollte dir also nur mitteilen,« sprach sie endlich mit Anstrengung, »daß ich nicht mehr zu dir kommen kann. Niemals mehr.«

Das klang nicht bös, wohl aber wie ein vorbedachter Entschluß. Ich gab es auf, mich dagegen zu sträuben. Mochte es denn sein! Augenblicklich suggerierte ich mir, daß ich die Sache längst schon satt gehabt und, wenn ich 198 wollte, bald wohl Ersatz dafür finden werde. Ich war daher gefaßt und fragte ohne Groll:

»Etwas ist die Gesellschaft doch mit im Spiele, nicht wahr? Gib es nur zu!«

»Ja, sieh, Just, was soll ich denn anders tun, als mich an die Leute halten, zu denen ich einmal gehöre? Du freilich, hast die ganze Welt vor dir. Du kannst werden, was du willst, und brauchst dich niemand zu fügen. Aber ich! So ein armes, eingesperrtes Mädel, ich muß mit dem vorliebnehmen, was mir die Eltern schenken. Und da ist eben unsere Geselligkeit schon ein ganz besonderes Vergnügen. Da sieht man doch mal andere Menschen. Die Herren sind nett und schwatzen einem was vor. Da kann man lachen und sich zerstreuen. Denn am nächsten Morgen ist alles schon wieder öde. – Und dann noch eins – eigentlich die Hauptsache – das darfst du mir nicht übelnehmen, Just –, man möchte doch auch – doch auch – nicht sitzenbleiben. Wenn sich nun wirklich jemand findet, der einen mag, dann ist man mit einmal aus der ganzen traurigen Wirtschaft heraus. Dann weiß man doch, wozu man da ist. So als verheiratete Frau, das ist doch was anderes! Da hat man seine Freiheit, spielt eine Rolle und kann sein Leben endlich einmal genießen – Nun, und die Geschichten, sowie mit dir, die müssen eben dann aufhören. Und wenn einmal, dann doch am besten sogleich!«

199 Ach, sie hatte ja recht, tausendmal recht! – Nur über eines wollte ich noch Klarheit haben: irgendein Vorgang, den sie verschwieg, schien zu diesem traurigen Bekenntnis den Anstoß gegeben zu haben.

»Scheint jemand dahinterzustecken,« sagte ich, »vielleicht so ein Urbild edler Männlichkeit, an das du dein Herz verloren hast. – Na, frisch heraus! Liebst du ihn – rein und innig?«

»Nein, Jucku, nein, ich kann dir schwören . . .«

»Ach was, natürlich ist's ein Mann. In der Verstellungskunst hast du noch wenig von mir gelernt. Also, ehrlich! ›Interessierst‹ du dich für ihn?«

Sie machte keinen Versuch mehr, mich zu täuschen.

»Na, also!« rief ich jovial. »Du interessierst dich für ihn, aber du liebst ihn nicht. Nicht wahr, so ist es doch? – Damit kann ich ja noch ganz zufrieden sein. Und wie stellt er sich denn zu dir?«

»Just, laß das!« bat sie ganz verschüchtert. »Bitte laß! Nicht jetzt . . . später – ja, später will ich dir davon erzählen.«

»Später? – Ich denke, wir müssen uns trennen?«

»Nur zu dir kommen kann ich nicht mehr, das meinte ich.«

»Ja, aber ich versteh' nicht recht . . .«

»Nun, bei uns zum Beispiel . . . du könntest doch wieder einmal eine Karte bei uns abwerfen.«

200 Ich strich mir bedenklich den Bart. Diese Veranständigung unserer Beziehungen kam mir etwas komisch vor. Aber Alice redete mir zu. Auch den schlechten Eindruck, den ich auf dem Gewandhausball zuletzt noch auf Mama gemacht, den habe sie verwischt, indem sie alle Schuld auf sich genommen. Mama sei versöhnt und heiße mich wieder willkommen. So willigte ich denn ein. Zum mindesten konnte ich auf diese Weise meine abenteuernde Alice im Auge behalten.

Zum Abschied gestattete sie mir noch einen langen, andächtig auskostenden Kuß, den sie mit Selbstaufopferung erwiderte. Sie sagte, es wäre der letzte unserer Liebe.

Und in der Tat erstarb in diesem Kusse jene Blüte meiner Leidenschaften, die ich früher – etwas schief – als die rein ästhetische bezeichnete. – – – – – –


Es war mir ein eigener Reiz, die Chronik meiner Liebeskämpfe in der Erinnerung von neuem zu durchleben.

Wie tritt doch die Lust schon in frühester Kindheit mit zarten Katzenpfötchen auf und zeigt bald unter Spielen die bedrohlichen Krallen! Und wie entspringt aus den ersten keuschen Phantasien die Sehnsucht nach Herzensverständnis, Hingabe und Vereinigung! Da keimt schon in allen Gefühlen der spätere Mensch; Umstände, 201 die Befriedigung befördern oder Entbehrung ihm aufzwingen, werden dem Unwissenden seine Bahnen weisen und ihn oft zum Asketen und oft zum Wüstling machen. Die Pädagogen wollen davon nichts hören, weil sie es für unschicklich halten. Lieber unterschätzen sie die Tücken des Geschlechts bei sich und anderen. Oder auch die Verkümmerung des natürlichsten Triebes gelingt ihnen und rächt sich späterhin.

Von Anfang an war mein Liebesleben in einen schroffen Dualismus gespalten. Deutlich war eine psychologische und eine physiologische Seite zu erkennen, die nur in seltenen Augenblicken zusammenfielen, teilweise könnte ich sie etwa der platonischen und der sinnlichen Liebe vergleichen, die man ja neuerdings als »psycho-physiologisch« vermengen will. Mögen sie nun identisch sein oder nicht, jedenfalls haben sie in doppelter Erscheinung meine Schicksale bestimmt. –

Noch sehe ich immer, in jedem Zuge vertraut, drei blondlockige Kinderköpfchen, Spielgenossen aus meinem vierten oder fünften Lebensjahre. Es waren zwei Knaben und ein kleines Mädchen. Immerzu beschäftigten sie meine Gedanken. Der jüngere war mein täglicher Kamerad. Neben ihm saß ich traulich im Gartengesträuch. Mit keinem Menschen mochte ich lieber plaudern als mit ihm, weil ich keinen höher verehrte. Ich war überglücklich, wenn ich ihn nur sah, und 202 ängstigte mich vor seinem Abschied. Einst, als er gefallen war und weinte, floß mein Herz über von einem seligen Mitgefühl. Nicht genug konnte ich mir tun im Trösten und Liebkosen; so prickelnd war mir diese vereinigte Erregung.

Den anderen, der laut und übermütig war, immer aufgelegt zu tollen Streichen, den fürchtete ich, aber ich wünschte oft heimlich, mich an ihn drängen und ihn mit den Armen fest umschlingen zu dürfen. Alles, was geheimnisvoll und schön und gruselig erschien, weil es verboten war, das verknüpfte ich mit seinem bestechenden Wesen. Viele neue und merkwürdige Dinge, meinte ich, müsse er kennen und würde sie mir erzählen, wenn ich nur klüger wäre. Seine Hand hielt ich gern lange in der meinigen, rieb und drückte die Finger, wie im Scherz, obwohl es mich dabei heiß überrieselte. Oft auch, wenn ich im Bade wohlig mit dem lauen Wasser plätscherte, dachte ich, daß es schön sein müsse, ihn neben mir zu haben.

Ganz unerreichbar kam mir das kleine Mädchen vor, das ich am krummen Arme führen sollte, weil es meine Dame sei und ich sein Kavalier. Auch sie reizte meine Neugier. Aber sie war zu verschieden von allen Kindern, so unvergleichlich süß und niedlich, daß meine Phantasie ihr gar nicht nahezukommen wagte. Immer trippelten wir stumm nebeneinander her und 203 betrachteten uns nur verstohlen mit großen scheuen Augen. Doch ich wußte bestimmt, später würde ich erfahren, was es mit ihr für eine Bewandtnis habe, und ich freute mich darauf unsinnig.

Dann kam die Schule mit einer Menge neuer Gesichter, unter denen ich bald die sympathischen und die widrigen schied. Mit vielen freundete ich mich an, die angenehm und unterhaltsam waren. Ich wurde vertraut mit ihnen; doch, wenn sie mir aus den Augen entschwanden, fehlten sie mir nicht. Andere dagegen, die ich nur selten traf, fesselten mich mit dem ersten Wort. Wenn sie klug oder kränklich waren, oder wenn man Merkwürdiges von ihnen erzählte, so wünschte ich, ihnen ganz nahezustehen, damit sie mir alles sagen und auch alles von mir erfahren sollten und wir ein Herz und eine Seele würden. Einen schlanken, verzärtelten Rumänen, der immer mit gesenktem Kopfe ging und oft vor Heimweh aus der Schule lief, den liebte ich, ohne je ein Wort mit ihm gesprochen zu haben. Aber ich wagte nicht, ihn anzureden, bis er eines Tages verschwunden war. Da härmte ich mich um ihn und bildete mir noch lange ein, daß ich um ein großes Glück betrogen worden sei.

In dieser Zeit, wo die erste strenge Denkarbeit mich in Anspruch nahm, hielten sich die verbotenen Begierden zurück. Da lag das junge Raubtier fortwährend 204 auf der Lauer; es wuchs mit meinen körperlichen Kräften und erschreckte mich zuweilen durch seltsame Bewegungen. Damit hatten die zärtlichen Empfindungen für fremde Eigenart nicht das mindeste zu tun. Wohl war es die echte, die drängende, begehrende Liebe, die mich bald zu dem, bald zu jenem Gefährten trieb, aber das starre Naturgesetz der Fortpflanzung konnte diese zwecklosen Reizungen nur verdammen, die ihren Mitteln zwar verwandt, aber gerade deshalb um so gefährlicher waren. Irgendein Wohlgefallen an gleichaltrigen Mädchen konnte jetzt ja nicht erwachen, da der gesellige Brauch uns voneinander absperrte. Ich wußte nichts von ihnen, sah sie kaum; wenn sie mir auf der Straße entgegenkamen, so interessierten sie mich nicht anders als ausdruckslose Puppen.

Bei meinen Freunden aber lernte ich bald Formen und Feinheiten ihrer Natur unterscheiden und schätzen. Ich suchte Wege zu ihrem Herzen. Wenn ich sie für mich gewann, so war ich voll Wonne; wenn sie mein Werben übersahen, so litt ich die Leiden des jungen Werther. Und doch kein anderes Ziel als die Vereinigung mit dem Geliebten zu ewigem Beisammensein und ihn – nur wie ein Zeichen inbrünstigster Hingebung – zu umschlingen und zu küssen. Ich ward erfinderisch in meinen Werbungen. Mit den Vertrauten, die mir ungefährlich waren, stellte ich ein 205 förmliches System von Fragen und Geständnissen auf, mit denen wir in gegenseitigen Diensten die Lieblinge uns lockten und zutrieben. Dann berichteten wir uns in stillen Winkeln die Ergebnisse: der habe gesagt, er liebe mich wieder und würde mich gern küssen, jener aber wolle nichts mit mir zu tun haben . . .

Mit zehn Jahren wurde ich in ein Pensionat gebracht. Die Ablenkungen des elterlichen Hauses fielen weg. Zwischen den Stunden der Arbeit waren die Kameraden meine einzige Gesellschaft. Ihrem Einfluß war ich gänzlich unterworfen. In jeder freien Minute durfte ich dem Geliebten nachstreifen und um ihn sein. Aber man war hier schon erfahrener, man kannte die Übung; es wurde beobachtet, geneckt und konkurriert.

Eine schwüle, verderbte Luft herrschte in dem kahlen Hause, wo Theologen uns zu spartanischer Sitte und zur Religiosität zu erziehen versuchten. Ich merkte, daß Geheimnisse und verbotene Vergnügungen gang und gäbe waren. Ich wurde gierig, daran teilzunehmen; aber niemand zog mich ins Vertrauen. Man ließ mich erraten, daß ich für viele Dinge noch zu unverständig sei. Es wurde viel geflüstert. Mit rätselhaften Gebärden und unterdrücktem Lachen wurden Erlebnisse besprochen, in deren Erinnerung den Eingeweihten die Lippen bebten und die Augen brannten. Trotz 206 Lauschens und Forschens konnte ich nicht von ferne ahnen, um was es sich handelte.

Nachdem ich bereits zwei Jahre lang es mit dem oder jenem gehalten und wenig mehr als etwas Freundschaft, vertrauliches Geplauder und stumme Gefühle genossen, dafür aber meist gebangt, fruchtlose Sehnsucht und Enttäuschung erfahren hatte, fiel mir ein Altersgenosse auf, der für hochmütig galt, mit einem Male aber in eigentümlicher Weise sich mir näherte. Er wurde Fredi genannt, war ein hübscher Junge aus altem, degeneriertem Hofadel, in allen Bubenstreichen wohlbewandert, dabei träumerisch und von sanften Formen.

Sowie ich bemerkte, daß Hoffnung vorhanden sei, ihn für mich zu gewinnen, brach in mir eine Leidenschaft aus, wie ich sie noch niemals empfunden hatte.

Wo ich in meinen Büchern Schilderungen von Liebe fand, ward ich ganz davon fortgerissen. Ich verglich sie mit meinem Zustand und mußte mir sagen, daß dies Hangen und Bangen, die Seligkeiten eines Blickes, die Höllenqualen der Trennung, die Verzweiflung über einen Streit, daß alles dies meine erste starke Liebe sei, durch nichts verschieden von der herangewachsener Menschen.

Lange noch stand ich mit Fredi auf kühlem Fuße, obwohl ich mir keine Gelegenheit entgehen ließ, mit ihm 207 zusammen zu sein. Zum Unterrichte suchte ich neben ihm Platz zu bekommen; da, wo er im Garten spielte, nahm ich teil, auf den Spaziergängen, bei denen wir in Reihe und Glied marschieren mußten und jeder sich seinen Nachbar auszuwählen hatte, fragte ich mitunter ihn, ob er mit mir gehen wollte. Immer waren meine Gedanken bei ihm; ich erwog meine Chancen und grübelte, durch welche Freundlichkeiten ich ihn an mich fesseln könnte. Und dann stellte ich mir vor, wie herrlich es sein müßte, wenn er wirklich eines Tages mit seiner feinen Stimme zu mir spräche: ›Ja, du, ich liebe dich wie toll!‹ und endlich mein Leben freudig werden und in wonnigem Einklang mit dem Geliebten alle kleinen Sorgen überwinden würde.

Inzwischen mehrten sich in meinem Körper Anzeichen großer Umwälzungen. Die fast vergessenen Begierden meiner ersten Kinderjahre tauchten wieder auf und steigerten sich zu einer Gärung, die mich bald ruhelos von einem Gefährten zum anderen jagte, bald in einsames Brüten versinken ließ. Was mit mir vorging, wußte ich nicht, aber ich ahnte, daß ein Lebensabschnitt nahe sei, der mich bedeutsame Dinge lehren werde. Und ich wartete immer mit einer ängstlichen, lüsternen Spannung. Oft hätte ich einen Freund anrufen mögen: ›O, so hilf mir doch! Du mußt es doch wissen; dich hat es sicherlich auch gequält.‹ Nur war die Scheu immer 208 noch mächtiger als meine Lust. Es kam vor, daß ich während heißer Sommernächte im Bette des Schlafsaals mein unruhiges Fleisch wirklich als ein schmeichelndes, zottiges Raubtier empfand, das verlangte, ich solle es streicheln und mit ihm spielen. Doch weil ich keinen Rat wußte, so wurde es wilder und wilder, bedrängte meinen Atem und leckte mir die Eingeweide mit glühender Zunge. Dann warf ich in meiner Not Hemd und Decken von mir und wälzte mich schlaflos hin und her, immer in der uneingestandenen Hoffnung, daß ein wissender Freund mich sehen und mir raten werde.

Der Verkehr mit Fredi nahm langsam, aber stetig zu an Wärme und Innigkeit. Bald wurden wir vollständig unzertrennlich. Mit Entzücken konnte ich beobachten, daß er in meiner Gegenwart die anderen vergaß. Er entdeckte eine neue Art fortwährenden unauffälligen Beisammenseins, indem er aufregende Räuber- und Liebesgeschichten mit mir zusammen las. Dann saßen wir, eng umschlungen, beieinander und vermengten die Reizungen des Buches mit denen unserer Liebe. Auf den Spazierwegen wurden wir fast regelmäßige Nachbarn. An freien Nachmittagen plauderten wir in versteckten Lauben stundenlang, bis die Schulglocke uns zur Abendandacht rief. Auch über die tieferen, allgemeinen Fragen des Lebens, über die Geheimnisse der 209 Religion und der letzten Zwecke, die Knaben sonst aus seltsamer Scham nicht gern berühren, legten wir Bekenntnisse ab, scheu und ernst, in kindlicher Sentimentalität. Nur das Geheimnis unseres eigenen Leibes blieb unausgesprochen, obwohl wir uns die Neugier gegenseitig von den Augen lasen.

Endlich einmal, nach solch einer Stunde der Vertraulichkeit, faßte ich abends im dunkeln Mut, zog den Liebsten zu mir heran und küßte ihn auf den Mund. Und er, als ob ich einen Bann damit gelöst, wühlte sich mit den Händen in mein Haar und erwiderte meine Küsse leidenschaftlicher, als ich es geträumt.

Wieder blieben wir monatelang auf diesem Stadium der heftigen Zärtlichkeiten, der Beteuerungen ewiger Freundschaft und Liebe, bis er eine jener leisen Plaudereien, die man im Schlafsaal nach dem Verlöschen der Lichter zu halten pflegte, benutzte und mich, der ich an seinem Bette saß, unter stürmischen Liebkosungen und unverständlichem Flüstern zu sich niederbog, die Decke über mich schlug und mich an sich preßte, daß mir die Sinne vergingen.

So entschleierte sich mir das Mysterium der Liebe in seinen äußersten Verzückungen, überraschend und überwältigend, wie die Natur es gewollt. Und nur den hirnverbrannten Sitten der Erziehung, die sich auf Kinderherzen nicht verstehen wollen, habe ich es zu 210 danken, wenn ich die Zwecke der Natur aufs frevelhafteste verletzte.

Meine Beziehungen zu Fredi trugen nun das Gepräge glückseliger Flitterwochen. Immer besser lebten wir uns ineinander ein. Täglich verlangten und versicherten wir unsere Treue. Kleine Eifersüchteleien dienten nur dazu, diese Treue zu erhalten. Da unsere Bildungsstufe und unsere Interessen die gleichen waren, so konnten wir auch geistig ganz ineinander aufgehen und die Harmonie mit einem gewissen Idealismus pflegen. Hier also fand einmal die seltene Vereinigung meiner sinnlichen und platonischen Lüste statt.

Ein unerwünschtes Ende bereitete dem der Übergang zum Gymnasium, der uns in verschiedene Städte verschlug, so daß wir nichts Klügeres tun konnten, als einander sobald als möglich zu vergessen.

Wiederum bezog ich ein Alumnat, was meinem Vater als das standesgemäßeste, meiner Mutter als das bequemste erschien.

Hier hatte sich unter Vermittlung des Pennalismus ein wahres Haremssystem herausgebildet, nach welchem die jüngeren Schüler ihren »Senioren« in Sachen der Liebe stummen Gehorsam leisteten, dafür aber auch durch Freundschaften untereinander sich zu entschädigen wußten. Leicht genug fand ich mich in den lebenslustigen Ton und vergeudete aus dem Vollen die 211 Schätze meiner beginnenden Reife, als ein Leichtfuß, der die Jugend je rascher desto besser genießen will. Freilich fehlte es auch nicht an Bitternissen, an Eifersucht, Intrigen und Enttäuschungen, wie sie das Liebesleben mit sich bringt. Ich mußte oft unter Qualen verzichten, mich in schlaflosen Nächten mit Beschimpfungen abfinden, oder sie in erbitterten Szenen ausfechten. Es gab Haß und Verfolgung, Seufzer und Tränen, all den bittersüßen Aufwand, mit dem draußen in der Welt Mann und Weib ihre Leidenschaften spielen lassen.

Gern hätte ich mir wohl die Zeit auch mit Mädchen vertrieben, nach denen mein natürlicher Instinkt doch endlich verlangte. Aber sie blieben versteckt in der Häuslichkeit oder in ihren Instituten, wo sie sich ihrerseits untereinander vergnügten. Nur in die Tanzstunde wurden sie von den Müttern ausgeführt, natürlich auch dort vor begehrlichen Blicken streng bewacht.

Ein Weg zum Weibe freilich stand uns offen. Den gingen wir – man kann sagen – noch zu unserem Heile.

In einem schmierigen Schlupfwinkel eroberte ich mir unter dem Johlen bezechter Kumpane das Weib und war gerade noch gesund genug, die abscheuliche Kur auch fortzusetzen, die mich nun allmählich von den holden Jugendeseleien zu den schon etwas resignierten Männergewohnheiten hinüberführte.

212 Dabei blieb ich mir der Roheit dieser neuen Ausschweifungen stets bewußt. Sie widerten mich an, solange ich bei ruhigem Verstande war. Alle feineren Triebe sträubten sich und verlangten als Gegengewicht Genüsse, die nicht nur den guten Geschmack, sondern auch meine schwärmerischen Einklangsideale befriedigen sollten. Günstige Zufälle führten mir bald den rechten Menschen in den Weg.

Auf das Zimmer, dem ich als Senior vorstand, erhielt ich bei der halbjährigen Alumnenverteilung einen zarten, schmächtigen Knaben, der zur Klasse jener Einsamen gehörte, die von den Kameraden mißhandelt werden, weil ihre Kräfte nur nach innen tätig sind. Er sprach wenig und mit sanfter Stimme, beteiligte sich selten an lauten Spielen und Raufereien, lag dafür gern im Gras und starrte die Bäume oder den Himmel an. Darum wurde er mißachtet, gereizt und geplagt. Meist ließ er das schweigend über sich ergehen. Bisweilen aber, wenn jemand eine unbekannte Saite in ihm verletzte, schrie er plötzlich vor Schmerz und Wut laut auf und stürzte sich gegen seinen Peiniger, den er nicht aus den Fäusten ließ, ehe Blut geflossen war. Dieser kleine, unheimliche Gast ward also meinem besonderen Schutze anvertraut; wie ich später erfuhr, auf seinen ausdrücklichen Wunsch. Ich nahm ihn mit großer Freundlichkeit auf und konnte, da er sich mir mit unbegrenztem 213 Vertrauen anschloß, bald jede seiner Sonderheiten lieben, obwohl vieles in seinem verträumten Seelchen nicht zu entziffern war. Ich schloß ihn in mein Herz wie eine blinkende Kostbarkeit, die ihren Wert verliert, sobald nur ein unreiner Hauch sie streift. Sorgfältig hütete ich ihn vor meinen eigenen wie vor fremden Nachstellungen. Aus meiner Gedankenwelt sonderte ich, was mir noch edel und lebenswert erschien, und übertrug es auf den jüngeren Freund, der dankbar auf mich hörte und mir mit losgerungenen Bekenntnissen und überquellenden Gefühlen vergalt. Mein Altruismus, der damals schon fast abgestorben war, trieb hier noch eine letzte, feine Blüte: um den Geliebten zu schützen und zu rächen, scheute ich selbst vor schroffen Auseinandersetzungen und gewalttätigen Szenen – die mir von jeher ein Greuel waren – nicht zurück. Ich ließ es geschehen, daß man den Kopf schüttelte über meine Aufopferung, und bemerkte mit Freuden, daß sie wenigstens half.

Es war dies die einzige Liebe, die schmerzlos an mir vorüberging. In stiller, rührender Schönheit hat sie mir zurzeit meines ärgsten Sturms und Drangs über vieles hinweggeholfen, hat gegen verzweifelte Selbstanklagen mich verteidigt und meinen jugendlichen Weltschmerz, meine Verbitterung gelindert. Noch feiere ich in ihr meine ungetrübteste Erinnerung.

214 Auch diesmal wieder bedeutete der Abschied von der Schule Trennung. Noch auf der Universität gedachte ich oft mit wehmütiger Sehnsucht des Verlorenen. Dann aber vergaß ich ihn über den Grisetten, die das Ideal der ersten Semester sind.

Ich teilte den Ehrgeiz der Kommilitonen, eine besonders niedliche und unschuldige zu besitzen, und fühlte mich bei den ersten Eroberungen auch ganz wohl. Der Reiz der Neuheit tat seine Wirkung. Obwohl meine Genußfähigkeit bereits etwas ramponiert war, konnte mich doch das Feuer, mit dem die lustigen Dinger sich ihrer Sache widmeten, außerordentlich beglücken. Nur war ich von meinen Freunden her mit einer gewissen inneren Ebenbürtigkeit verwöhnt. Zu oft störten mich Dienstbotengesinnung und Habgier, geschmacklose Redensarten oder ungeschickte Formen. Dazu die Banalitäten, von denen jene Verhältnisse so gewöhnlich geworden sind, daß man sie eigentlich nur noch gemütvoll belächeln möchte. Ich kannte sie zur Genüge aus den subjektiven Schilderungen junger Naturalisten, so daß ich der ewig wiederkehrenden Situation, der Anknüpfungs- und Abschiedsszenen, der Mißverständnisse, Weinkrämpfe und Versöhnungen bereits überdrüssig war, ehe ich sie in der Wirklichkeit erlebte. Ich hörte auf, die kleinen Abenteuer ernst zu nehmen. Erschütterungen wegen allzugroßer Liebe oder Eifersucht kamen 215 kaum noch vor. Mein von der Schule her schon überreiztes Nervensystem konnte sich wieder erholen.

Durch den Militärdienst bei der Kavallerie geriet ich unter die Kokotten vom Rennplatz, die sich bekanntlich auf den höheren Schick verstehen. Anfangs war ich sehr mit ihnen zufrieden. Bei längerer Bekanntschaft konnte mir indes nicht entgehen, daß ihre Gesinnung noch ordinärer, ihre Manieren noch brutaler waren als die der Anfängerinnen, und ich wandte mich nunmehr den jungen Frauen der guten Gesellschaft zu.

In Badeorten und Sommerfrischen erlebte ich, nachdem ich mir die nötige Routine angeeignet, viel hübsche Episoden. Der Wert der feineren Nüancen ging mir auf. Die Reize der vornehmen Haltung, der gewählten Toilette, der dünn gefesselten Hände und des schmalen Fußes konnten mich entzücken. Geistreiches Geplauder und tadelloser Schliff rissen mich oft zu galanten Schwüren hin.

Dies war die letzte Station vor den jungen Fräuleins gewesen, deren Verehrung jetzt in Alice einen so überraschenden Höhepunkt finden sollte.

Wie die Sache nun einmal stand, war es ebenso verhängnisvoll, mich weiter dieser Liebe hinzugeben, als töricht, auf sie zu verzichten. –

Abwarten also! – Für mich der allerunerträglichste Zustand. 216

 


 


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