E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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29.

»Du wirst dich hier erkälten, Vater,« sagte ich, und ergriff seine Hand – sie glühte wie eine Kohle; ach, und wie brannten die Augen in den tiefen Höhlen!

»Erkälten? ... Es ist wonnig hier – mir ist so wohl, als sei mir ein kühler Umschlag auf das Gehirn gelegt worden.«

»Aber es ist schon spät« – versetzte ich zögernd – »und ein klein wenig ordnen mußt du deinen Anzug doch ... Du hast wohl vergessen, daß die Prinzessin heute kommt, um das große Glashaus auch einmal in Gasbeleuchtung zu sehen?«

»Ach mein Gott, was soll ich im Glashause?« rief er ungeduldig. »Wollt ihr mich verrückt machen mit den vielen Lichtern und dem Blumenbrodem, der mir stets die Gehirnnerven angreift? ... Nichts, nichts! – Was geht mich die Prinzessin an, was der Herzog!«

Mit seiner heftigen Armbewegung stieß er unversehens eine reizende kleine Statue von ihrem Postament – seltsam – er, der sonst die Antiken nur mit zärtlich schmeichelnder Hand berührte, er wandte kaum den Kopf nach dem angerichteten Schaden hin und ließ die mißhandelte Göttergestalt achtlos liegen.

Tief erschrocken suchte ich ihn zu beruhigen. »Ganz wie du willst, Vater,« sagte ich. »Ich werde sogleich in das Vorderhaus schicken und für uns beide absagen lassen –«

»Nein, nein, du gehst auf jeden Fall, Lorchen!« unterbrach er mich milder. »Ich wünsche es um der Prinzessin willen, die dich lieb hat, und möchte auch gern heute abend allein sein.«

Er trat wieder in die Bibliothek und machte sich an seinem Schreibtische zu schaffen. Ich schloß die Thüren, schürte das Feuer im Ofen und arrangierte den Theetisch; dann ging ich beklommenen Herzens hinunter und machte Toilette, das heißt, ich nahm zum erstenmale wieder die Perlen meiner Großmutter aus der Schachtel und schlang die lange Schnur durch meine Locken. In fast märchenhaftem Glanze, aber auch weit auffallender und anspruchsvoller als am Halse, lagen die feucht und bläulich schimmernden Tropfen schwer in dem dunklen Haar – und das wollte ich eben; wer wußte, wann die Prinzessin einmal wieder in das Claudiushaus kam! ...

Es war spät geworden, als ich endlich über die Brücke nach dem Glashause schritt. Einen Augenblick blieb ich geblendet stehen. Leise überrieselten mich die letzten Flocken der droben sich lichtenden und zerstäubenden Wolken; unter meinen Schritten kreischte der gefrorene fußtiefe Schnee, und wohin ich sah, streckten sich mir die starren, weißen Gespensterarme der schneebeladenen Bäume und Büsche entgegen – und dort breiteten sich prächtig gefiederte Palmenwipfel in stolzer Grazie über die Farren- und Kakteenwildnis und den grünen Federduft kleiner freigelassener Rasenflächen, und dazwischen sprang und troff in silbernen Strähnen die Kaskade. In dem Lichtbade der verborgenen Gasflammen zerfloß das Grün in tausendfache Nüancen, vom phosphoreszierenden Maigrün an bis zum düstern Tannendunkel herab – das Glashaus lag inmitten des mattdämmernden Schneefeldes, wie eine Smaragdrosette auf weißem Samt.

»Ah, guten Abend, meine Kleine!« rief die Prinzessin, als ich auf sie zuschritt. Sie saß inmitten der Farrengruppe, auf derselben Stelle, wo ich eines Abends von meiner Großmutter erzählt hatte. Herr Claudius stand etwas seitwärts hinter ihrem Stuhle und sprach mit ihr, während ihr Gefolge und die Geschwister in zwanglosen Gruppen zu beiden Seiten Platz genommen hatten. »Heideprinzeßchen, wie nixenhaft kommen Sie daher!« scherzte sie. »Sollte man nicht meinen, die Kaskade hier habe Sie plötzlich emporgehoben? ... Kind, Sie wissen wirklich nicht, was für einen kostbaren Schatz Sie da so harmlos und ungezwungen in Ihren prächtig wilden Locken tragen!«

»Ja, Hoheit, ich weiß es – die Perlen sind der letzte Rest eines großen Reichtums,« versetzte ich und suchte mit Gewalt meiner Stimme einen ruhig sonoren Klang zu geben. »Meine arme Großmutter sagte, als sie mir auf ihren Wunsch um den Hals gelegt wurden, daß sie viel Familienglück gesehen hätten, daß sie aber auch mit geflohen seien vor dem Scheiterhaufen und anderen Martern, welche die christliche Unduldsamkeit über die Juden verhängt hat – denn meine liebe Großmutter war eine Jüdin, Hoheit, eine geborene Jakobsohn aus Hannover.«

Ich hatte die letzten Worte scharfmarkierend mit lauter Stimme gesprochen und sah dabei zu Herrn Claudius auf ... Was kümmerte es mich, daß sich Herr von Wismar verlegen räusperte und scheu nach der Prinzessin hinschielte, während Fräulein von Wildenspring eine triumphierende Geste machte, als wolle sie sagen: »Habe ich nicht recht gehabt, als meine hochadlige Nase das bürgerliche Element in diesem Geschöpfe witterte?« – Was lag mir daran, daß der schöne Tankred grimmig seinen feinen Lippenbart drehte und mit einer verächtlichen Wendung seines Kopfes Charlotten einige Worte zuflüsterte? – Sah ich doch das jubelnde Aufschrecken in Herrn Claudius' Gesicht – meinte ich doch, er wolle seine Hände zu mir herüberstrecken und mich aus der erbärmlichen Gesellschaft an sein starkes, stolzes Herz ziehen, weil ich die falsche Scham überwunden, weil ich mutig die Verachtung der aristokratischen Kaste auf mich nahm, um seine Achtung wieder zu gewinnen!

»Ach, sieh da, das ist ja eine sehr pikante Entdeckung!« rief die Prinzessin heiter und völlig unbefangen. »Nun weiß ich doch auch, wie mein Liebling zu diesem echt orientalischen Profil kommt! ... Ja, ja, solch ein schwarzlockiges Mädchen mit quecksilbernen Füßen mag es wohl auch gewesen sein, das dem Herodes den Kopf des Johannes abgeschmeichelt hat! ... Wenn Sie wieder zu mir kommen, dann will ich mehr über die interessante Großmutter wissen – hören Sie, mein Kind?« Sie zog mir die Perlenschnur tiefer in die Stirn und ließ dann die Finger sanft durch mein loses Haar gleiten. »Ich habe sie herzlich lieb, diese kleine Rebekka mit dem reinen Kindessinn und dem harmlos plaudernden Mund!« setzte sei mit herzlicher Innigkeit hinzu und küßte mich.

Ach, diesmal war meine Plauderei durchaus keine harmlose gewesen, das wußte er, dessen Blick nicht mehr von mir wich, am besten! ...

Die Prinzessin zog mich auf ein Bänkchen zu ihren Füßen, und da blieb ich schweigend und zuhörend sitzen, bis Fräulein Fliedner kam und meldete, daß im Vorderhause alles bereit sei. Die fürstliche Frau hatte sich eine Tasse Thee »im alten interessanten Hause« ausgebeten – eines rheumatischen Leidens wegen mochte sie sich nicht allzulange in der feuchten, dunstigen Atmosphäre des Warmhauses aufhalten! Sie hüllte sich in ihren Pelz, ergriff Herrn Claudius' Arm und schritt der vermummten, lebhaft plaudernden Gesellschaft voraus durch den beschneiten Garten. Es bedurfte der begleitenden Laternenträger nicht – die Wolken am Himmel waren zerstoben, durch das dürre Geäst der Pappelwand floß es hell herein und warf groteske silberne Lichter auf die Schneefläche – der Mond ging auf.

Ich lief noch einmal über die Brücke zurück und sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Vorhänge waren nicht zugezogen; auf dem Schreibtisch meines Vaters brannte das ruhige Licht der Lampe und drüben in der entgegengesetzten dunklen Ecke des weiten Saales in der Nähe des Ofens, wo der Tisch mit dem Abendbrot stand, spielte ein leichter, bläulicher Schein auf und ab – es war die Spiritusflamme unter der Theemaschine. Das sah gemütlich aus. Zum Ueberfluß schlüpfte ich noch in das Haus, die Treppe hinauf und horchte an der Thüre. Es war still drinnen; mein Vater schrieb jedenfalls. Völlig beruhigt ging ich nach dem Vorderhause.

Heute mochten sich wohl die alten Hausgeister der Firma Claudius scheu und grimmig in die dunkelsten Ecken verkriechen – das war ja ein Lichterglanz, wie ihn einst die wohledlen Kaufherren sicher nicht einmal bei der Taufe eines künftigen Chefs sich erlaubt hatten!

»Was ist mir denn das, Fräulein Fliedner? Der Herr kann ja heute gar nicht genug Licht kriegen!« brummte der alte Erdmann verwundert und lehnte eben eine Leiter an die Wand des oberen Korridors, als ich die Treppe herauf kam. »Muß ich doch gar auch noch die großen Lampen aus den Geschäftslokalen hier herauf hängen!«

»Lassen Sie das doch, Erdmann,« meinte die alte Dame, die aus dem ersten Salon trat – eine wahre Lichtflut quoll mit ihr heraus. »Ich bin glücklich, daß es endlich einmal hell wird im alten Claudiushause.« Mit einem feinen, schelmischen Lächeln fuhr sie mir über das Haar und eilte in die Hausflur hinab.

Dieses Lächeln trieb mir das Blut in die Wangen. Scheu ließ ich die Hand von dem Drücker der Salonthüre niedersinken – ich meinte, in diesem Augenblick könne ich mich unmöglich von den zahllosen Kerzen des Kronleuchters da drin anstrahlen lassen. Ich trat in Charlottens Zimmer. Es war leer; auf dem aufgeschlagenen Flügel brannten zwei Lampen, und aus dem Salon, wo das Bild des schönen Lothar hing, scholl das Klirren der Theetassen und lautes Sprechen herüber. Noch stand ich und überlegte, wie ich meinen Eintritt am wenigsten auffallend bewerkstelligen könne, da rauschte es durch das Nebenzimmer, und Charlotte trat in Begleitung ihres Bruders herein.

»Die Prinzessin will mich singen hören,« sagte sie zu mir und wühlte in den Noten. »Wie kommen Sie denn hierher, und wo haben Sie bis jetzt gesteckt, Kleine? –Man vermißt Sie drüben.«

»Ich war besorgt um meinen Vater und habe nach ihm gesehen – er war unwohl –«

»Unwohl!« lachte Dagobert leise auf – er saß bereits am Flügel und präludierte. »Ja, ja, ein schlimmes, ein sehr bedenkliches Unwohlsein! Ich habe vorhin im Klub diese interessante Neuigkeit erfahren – man sprach von nichts anderem, und durch die Stadt geht es im Jubel wie ein Lauffeuer, daß der Archäologieschwindel in den letzten Zügen liege ... Binnen kurzem werden wir eine andere Mode haben, Charlotte! Gott sei Dank, daß man dies griechische, römische und ägyptische Kauderwelsch nicht mehr zu radebrechen braucht – es ist einem sauer genug geworden!« Er fuhr mit beiden Händen über die Tasten und erging sich in den brillantesten Läufern, während mir der Herzschlag stockte vor Bestürzung. – »Und in dem Augenblick, wo Ihr Papa im Sattel wankt und bügellos wird, erzählen Sie auch noch mit köstlicher Naivetät, daß er schnurstracks von den Juifs abstamme – das bricht ihm vollends das Genick!«

»Ja, das war eine kleine Dummheit, nehmen Sie mir's nicht übel!« schalt Charlotte und legte ein Notenheft auf das Pult des Flügels. »Ich verlange nicht, daß Sie geradezu lügen sollen, ich thue es ja auch nicht – aber in solchen Fällen hält man sich an die Mittelstraße – man schweigt.«

Dagobert begann die Introduktion und gleich darauf schlug Charlottens mächtige Stimme gegen die Wände.

Was war geschehen? Es hatte alles so dunkel geklungen, was der schöne Tankred in nachlässig spöttischem Ton gesprochen und mit allen möglichen Läufern und Trillern auf dem Flügel begleitet hatte. Mit unsäglicher Bitterkeit sah ich nach dem Elenden hin – »Archäologieschwindel« hatte er das Wirken meines Vaters genannt, er, der sich als unterwürfiger »Famulus« an ihn herangedrängt und ihm oft genug beschwerlich gefallen war; wie manchmal hatte ich ihn über den zudringlichen, verständnislosen Störer klagen hören! ... So viel begriff ich, die Stellung meines Vaters bei Hofe war erschüttert, und nun wandte sich die feige Meute, die ihn einst umschmeichelt, kläffend gegen den Stürzenden.

Die Prinzessin war noch nie so liebevoll und gütig gegen mich gewesen, als an diesem Abend; und doch konnte ich mich augenblicklich nicht überwinden, ihr wieder nahe zu kommen. Ich schlich in den anstoßenden Salon und setzte mich in eine dunkle Ecke, während Charlotte mit schmetternder Stimme weiter sang ... Von meinem Platz aus konnte ich den Theetisch sehr gut übersehen. Die Prinzessin saß ein wenig seitwärts unter Lothars Bild, jedenfalls nicht nach ihrem Wunsche, denn ich sah, wie sie sich verstohlen bemühte, einen vollen Anblick des Porträts zu gewinnen. Ihr Nachbar zur Linken war Herr Claudius. Ein einziger Blick auf dieses edle, ruhige Gesicht besänftigte mein grollendes, geängstigtes Herz ... Welch ein Sonnenglanz lag heute auf seiner Stirn! ... Der prachtvolle Soldatenkopf mit dem Blick voll Seele über ihm, vielleicht war er schöner in den Linien, überwältigender im feurigen Ausdruck – aber was hatte ihm all sein herausfordernder Soldatenmut genützt? Den Kampf mit dem Leben hatte er doch nicht aufzunehmen vermocht – der frevelhafte Selbstzerstörer war untergegangen, während der stillgelassene Mann dort das halbentrissene Steuer mit einem kräftigen Aufraffen wieder erfaßt und sich selbst gerettet hatte ...

»Sie haben eine schöne Stimme, Fräulein Claudius,« sagte die Prinzessin, als Charlotte nach beendigtem Gesang wieder an den Theetisch trat. »Besonders in der Mittellage erinnert sie mich lebhaft an den Mezzosopran meiner Schwester Sidonie ... Auch Ihr lebendig feuriger Vortrag mahnt mich an längstvergangene Zeiten – meine Schwester zog rauschende, wildoriginelle Weisen dem einfachen elegischen Liede vor.«

»Wenn Eure Hoheit gnädigst erlauben wollen, dann möchte ich eine solche wildoriginelle Weise singen,« versetzte Charlotte rasch. »Ich liebe die Tarantella – sie berauscht mich ... Già la luna –«

»Ich möchte dich bitten, die Tarantella nicht zu singen, Charlotte,« unterbrach sie Herr Claudius ruhig ernst – seine Stimme bebte nicht, aber eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht, und die Brauen falteten sich finster und drohend.

»Sie haben recht, Herr Claudius,« sagte die Prinzessin lebhaft. »Ich teile Ihre Antipathie. Diese Tarantella grassierte förmlich zu meiner Zeit – sie war das Paradepferd aller Sängerinnen von Fach, und auch Sidonie sang sie zu meinem Verdruß leidenschaftlich gern. Mir ist sie zu bacchantisch wild.«

Sie schob die Tasse zurück und erhob sich. »Ich meine, wir gehen jetzt ein wenig auf Entdeckungen aus,« sagte sie lächelnd. »Ich will mir einmal recht gründlich diese wundervoll altertümliche Einrichtung ansehen – ist mir doch, als läse ich in einem uralten Buche, so oft ich den Blick erhebe ... Herr von Wismar, sehen Sie dort den prachtvollen Hirschkopf?« – Sie deutete nach dem letzten Zimmer der langen Flucht – »Das ist etwas für Ihr Weidmannsherz!«

Der Kammerherr wirbelte davon und die Hofdame desgleichen – Ihre Hoheit wollte ja allein sein ... In diesem Augenblick wandte Charlotte den Kopf, so daß ich ihr voll in das Gesicht sehen konnte; beim Anblick dieser gespannten Züge, dieser flackernden Unruhe und Leidenschaft in den Augen, sagte ich mir sofort, daß das junge Mädchen an diesem Abend entschlossen auf ihr Ziel loszuschreiten gedenke. Jetzt freilich folgte sie an der Seite ihres Bruders pflichtschuldigst den zwei Hofschranzen nach dem von fürstlichem Finger gebieterisch bezeichneten Hirschkopf, während die Prinzessin allein in dem an den Salon stoßenden kleinen Zimmer zurückblieb und anscheinend mit großem Interesse die Leidensgeschichte der Genoveva auf der farbenprächtigen alten Wolltapete betrachtete.

»Wissen Sie nicht, wo Fräulein von Sassen geblieben ist?« fragte Herr Claudius hastig Fräulein Fliedner, die eben in das Zimmer eintreten wollte, wo ich mich aufhielt.

»Hier bin ich, Herr Claudius,« sagte ich, mich erhebend.

»Ach, meine kleine Heldin!« rief er und trat rasch auf mich zu, ohne zu berücksichtigen, daß anderen dieses ungewohnte Feuer in Stimme und Bewegungen auffallen müsse ... Fräulein Fliedner zog sich sofort wieder in den Salon zurück und machte sich am Theetisch zu schaffen.

»In die dunkelste Ecke haben Sie sich vergraben, heute, wo ich Heideprinzeßchen mit allem Licht, das das alte Haus zu geben vermag, überschütten möchte?« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wissen Sie auch, daß ich in diesen köstlichen Abendstunden eine Art Wiedergeburt feiere? ... Ich war noch sehr jung, als ich mich selbst dazu verurteilte, in den bedächtigen Geleisen des Alters zu wandeln. Rauh und unerbittlich habe ich die heraufspringenden Quellen der Jugend in meinem Herzen niedergehalten – ich wollte nicht mehr jung sein ... und nun, wo ich es in der That nicht mehr sein sollte, brechen sie unaufhaltsam hervor und verlangen ihr Recht, ihr verjährtes und verfallenes Recht! ... und ich gebe mich ihnen willenlos hin – ich bin unaussprechlich glücklich, mich wieder so jung zu fühlen, als hätten dieses köstliche Kleinod in meiner Brust weder die Jahre, noch schlimme Erfahrungen berührt – ist das nicht thöricht von ›dem alten, uralten Mann‹, den Sie zuerst in der Heide gesehen haben?«

Ich senkte den Kopf auf die Brust, die sich unter fliegenden Atemzügen hob. Die Sorge um meinen Vater, die Angst vor Charlottens Beginnen, die Menschen, die sich um uns her bewegten, alles, alles versank vor den bebenden Tönen, die halb geflüstert an meinen Ohren hinstrichen ... Und er mit seinem scharfen Blick, er mochte wohl wissen, was in mir vorging ...

»Leonore,« sagte er, sich über mich herabbeugend, »wir wollen denken, wir beide seien mutterseelenallein im alten Kaufhause und hätten mit all denen« – er deutete in die Zimmer hinein – »nichts zu schaffen ... Ich weiß, wem Ihr mutiges Bekenntnis heute abend galt – ich nehme die Wonne jenes Augenblicks für mich allein in Anspruch, gegen die ganze Welt, ja gegen Sie selbst, wenn Sie im alten Trotz zu leugnen versuchen wollten! ... Unsere Seelen berühren sich, mögen Sie auch, hart genug, mir wehren, die Hand in Wirklichkeit zu fassen, die mir einst mein Geld trotzig vor die Füße geworfen hat.«

Mit wenigen raschen Schritten stand er drüben am Flügel, und gleich darauf klangen Harmonien an mein Ohr, die mich in eine Art von Taumel versetzten ... Diese wundervollen Klänge gehörten mir, dem kleinen unbedeutenden Geschöpf allein – sie hatten »nichts mit denen zu schaffen«, deren Geplauder aus dem letzten Zimmer fern herüberscholl! ... Ja, hochauf sprangen die erlösten Quellen der Jugend im Herzen des so schwer Gekränkten, der eine kurze Zeit maßlos aufschäumender Leidenschaft durch Entsagung und vollständige Resignation auf Lebensglück und Lebensgenuß hatte sühnen wollen ... Und die Hände, »die nie wieder eine Taste berührt hatten«, jetzt schlugen sie das Thema an, das die geheimnisvoll vermittelnde Beziehung zwischen seinem gereiften starken Geist und meiner schwachen, schwankenden Kinderseele aussprach:

»O säh' ich auf der Heide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt' ich dich!«

»Gott im Himmel, ist das nicht Herr Claudius, der spielt?« fuhr Fräulein Fliedner aus dem Salon herein und schlug bei Erblicken des am Flügel Sitzenden in freudiger Bestürzung die Hände zusammen.

Ich ging an ihr vorüber – ich konnte sie unmöglich in mein Gesicht sehen lassen. In eine der tiefen Fensternischen des Salons flüchtete ich mich, hinter die dicken seidenen Vorhänge, die ich bis auf einen schmalen Spalt zusammenzog – mochten doch da meine Wangen glühen und meine Augen glückselig aussehen; niemand kümmerte sich um mich, selbst Fräulein Fliedner nicht mehr, die sich jetzt mit gesenktem Kopf und auf dem Schoß gefalteten Händen in die dunkle Ecke gesetzt hatte und regungslos dem Spiel lauschte.

Einen Augenblick blieb es still im leeren Salon. Jeder Ton, auch der schwächste, schwebte vom Flügel zu mir herüber, und aus dem Zimmer mit dem Hirschkopf klang dann und wann ein Auflachen oder ein lauter gesprochenes Wort dazwischen.

Da kam plötzlich die Prinzessin mit leisen Sohlen über die Schwelle; ich sah, wie sich ihre Brust gleichsam befreit hob unter der Gewißheit, endlich allein zu sein. Sie nahm den verdunkelnden Schirm von der auf dem Theetisch stehenden Kugellampe, so daß auch dieses Licht voll auf Lothars Bild fiel. Noch einmal ließ sie ihren Blick rasch und mißtrauisch durch den Salon und das Nebenzimmer streifen, dann trat sie vor das Bild, zog ein Buch aus der Tasche und warf in fliegender Hast mit dem Stift Linien auf das Papier – sie suchte offenbar die Umrisse des schönen Männerkopfes, vielleicht auch nur »die Augen voll Seele«, in diesem unbelauschten Moment zu erhaschen.

Ich erschrak in meinem Versteck, denn ich sah plötzlich bestürzt in das Herz der stolzen, fürstlichen Frau und sagte mir selbst, daß sie sicher Lebensjahre darum geben würde, wenn sie das Bild als ihr eigen von der Wand nehmen dürfe ... Niemand fühlte wohl in diesem Augenblick tiefer mit ihr, als ich, die Glückliche, zu der »die andere Seele« eben in tiefergreifenden Melodien sprach! ... War es mir doch, als müsse ich hervorspringen und ihr Buch und Stift aus der Hand nehmen, um beides zu verbergen; denn sie hörte nicht, daß nahende Schritte durch die lange Flucht der Zimmer kamen; sie sah nicht auf, als Charlotte, einen Seitenblick auf sie werfend, lautlos durch den Saal huschte und maßlos erstaunt zurückfuhr, als sie in dem Spielenden am Flügel Herrn Claudius erkannte. Ehe ich mich dessen selbst versah, hatte sie die Thüre leise zugedrückt, so daß die Musik nur noch gedämpft herüberklang – dann stand sie mit wenigen Schritten hinter der Prinzessin.

Dieses Geräusch ließ endlich die hohe Zeichnerin aufsehen – purpurn schoß ihr die Röte des Erschreckens über das ganze Gesicht; aber sie sammelte sich unglaublich rasch, klappte das Buch zu und maß die Störerin über die Schulter mit einem indignierten, stolzen Blick.

»Hoheit, ich weiß, daß ich eine schwer zu entschuldigende Taktlosigkeit begehe,« sagte Charlotte – an dem starken zuversichtlichen Mädchen bebte jede Fiber, ich hörte es an ihrer Stimme. – »Es ist ein günstiger Augenblick, den ich kühn erhasche, ohne die Erlaubnis zu haben, zu Euer Hoheit sprechen zu dürfen; aber ich weiß mir nicht anders zu helfen! ... Wenn Hoheit mir auch zu jeder Stunde eine Audienz im Schlosse gewähren wollte, ich würde den Mut nicht finden, das auszusprechen, was ich hier, unter dem Schutz dieser Augen« – sie zeigte nach Lothars Bild – »getrost wage.«

Die Prinzessin wandte ihr im höchsten Erstaunen nun voll das Gesicht zu. »Und was haben Sie mir zu sagen?«

Charlotte sank in die Kniee, ergriff die Hand der fürstlichen Frau und zog sie an ihre Lippen. »Hoheit, verhelfen Sie mir und meinem Bruder zu unserem Rechte!« flehte sie mit halberstickter Stimme. »Wir werden um unseren wahren Namen betrogen, wir müssen das Gnadenbrot essen, während wir vollgültige Ansprüche auf ein bedeutendes Vermögen haben und längst auf eigenen Füßen stehen könnten ... In unsern Adern fließt stolzes, edles Blut, und doch fesselt man uns förmlich mit Ketten an dieses Krämerhaus und zwingt uns gewaltsam in bürgerliche Verhältnisse –«

»Stehen Sie auf und sammeln Sie sich, Fräulein Claudius,« unterbrach sie die Prinzessin – die hoheitsvolle, tiefernste Gebärde, mit der sie winkte, hatte durchaus nichts Ermutigendes. »Sagen Sie mir vor allem, wer betrügt Sie?«

»Es will mir nicht über die Lippen, denn es sieht aus wie schwarzer Undank ... Die Welt kennt uns nur als die Adoptivkinder eines großmütigen Mannes –«

»Ich auch –«

»Und doch ist er's, der uns beraubt!« fiel Charlotte wie verzweifelt ein.

»Halt – ein Mann wie Herr Claudius raubt und betrügt nicht! Da glaube ich weit eher an einen schweren Irrtum Ihrerseits!«

Ich hätte hervorstürzen und die Kniee der Dame umfassen mögen für diesen Ausspruch.

Charlotte hob den Kopf – man sah, sie raffte all ihren Mut zusammen. Mit einer raschen Bewegung stieß sie auch die Thür zu, durch welche ein lautes, neckendes Gespräch zwischen der Hofdame und Dagobert herüberscholl. – »Hoheit, es handelt sich hier nicht um Geld – das ist vorläufig völlig Nebensache,« sagte sie fest. »Herr Claudius liebt den Besitz, aber ich selbst bin fest überzeugt, daß er streng jedweden unrechtlichen Erwerb von sich weist ... Dagegen werden Hoheit mir zugeben, daß schon mancher tüchtige Charakter in leidenschaftlicher Verfolgung einer Idee, einer hartnäckig verblendeten Ansicht zuerst zum Selbstbetrüger und schließlich zum Verbrecher an anderen geworden ist!«

Sie preßte die Hand auf die Brust und schöpfte tief Atem, während drüben die wundervollen Melodien hochauf rauschten – er ließ ahnungslos seine strengverschlossene Seele zum erstenmal nach langen Jahren wieder in Tönen ausströmen, und hier wurde sein reiner Name an den Pranger gestellt – und ich durfte ihn nicht einmal warnen, ich mußte aushalten auf dieser Folter! Wie haßte ich in diesem Moment unbeschreiblicher Qualen die Anklägerin dort!

»Herr Claudius mißachtet den Adel, ja, er haßt ihn!« fuhr sie fort. »Er ist selbstverständlich zu einflußlos, um an dem Bestehenden rütteln zu können; aber wo es in seine Hand gelegt ist, das Erstarken der Aristokratie zu verhindern, da thut er es aus allen Kräften, ja, eben in diesem Punkte scheut er selbst den Betrug nicht ... Hoheit, mit meinem Bruder tritt ein neues Adelsgeschlecht in das Leben, und, ich sage es mit Stolz, eine neue, feste Stütze in das Fundament der maßlos beneideten hohen Kaste; denn wir Geschwister sind durch und durch aristokratisch gesinnt ... Aber gerade deshalb sollen wir nie erfahren, wer uns das Leben gegeben hat. – Herr Claudius will das Wappenschild an dem alten Krämernamen nicht dulden.«

Das Gesicht der Prinzessin wurde plötzlich weiß wie Wachs. Sie hob hastig unterbrechend die Hand und deutete nach Lothars Bild. »Und weshalb wollten Sie mir das alles gerade unter dem Schutze dieser Augen sagen?« stieß sie mit völlig veränderter heiserer Stimme heraus.

»Weil es die Augen meines lieben Vaters sind – Hoheit, ich bin seine Tochter!«

Die Prinzessin taumelte zurück und hielt sich an der Tischecke.

»Lüge, abscheuliche Lüge! ... Sagen Sie das nicht noch einmal!« schrie sie auf – wie entsetzlich veränderte sich das liebliche Gesicht, wie hart und eckig hob sich der drohende Arm! – »Ich dulde keinen Flecken auf seinem Namen! ... Claudius war nie verheiratet, nie – das weiß die ganze Welt! ... Er hat nicht einmal geliebt, nie geliebt – o mein Gott, nur diesen einen Trost raube mir nicht!«

»Hoheit –-«

»Schweigen Sie! ... Wollen Sie wirklich behaupten, daß er sich vergessen habe, der stolze, unnahbare Mann? ... Und wenn – o Gott im Himmel, es ist ja nicht wahr – aber wenn auch, möchten Sie in der That auf Rechte pochen, die Sie einer augenblicklichen Verirrung, nicht aber der Liebe danken?«

Mit welch beißendem Hohn warfen die schmerzhaft zuckenden Lippen diese Worte hin! ... Charlotte war sprachlos vor Bestürzung in sich zusammengesunken; die Beleidigung aber traf sie wie ein Schlag in das Gesicht und gab ihr die Fassung zurück.

»Er habe nie geliebt?« fragte sie. »Wissen Hoheit nicht, weshalb er freiwillig in den Tod gegangen ist?«

»Aus plötzlicher Schwermut – er war krank – fragen Sie alle, die ihn gekannt haben,« murmelte sie und legte die Hand über die Augen.

»Ja, er war krank, er war wahnsinnig vor Verzweiflung über den Tod –«

»Ueber wessen Tod! Ha, ha, ha!«

Charlotte sank abermals auf den Boden und umfaßte mit hervorstürzenden Thränen namenloser Angst die Kniee der Prinzessin.

»Hoheit, ich beschwöre Sie, hören Sie mich nur einen Augenblick ruhiger an!« flehte sie. »Ich bin bereits zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Ich muß die Wahrheit sagen, schon um meines Bruders willen, denn ich darf nicht dulden, daß Sie in dem Glauben beharren, wir seien illegitime Kinder ... Lothar von Claudius war verheiratet – in geheimer, aber von der Kirche eingesegneter, rechtmäßiger Ehe hat er in der Karolinenlust gelebt – da sind wir geboren.«

»Und wer war die Glückliche, die er so heiß geliebt hat, daß er um ihretwillen gestorben ist?« fragte die Prinzessin mit unheimlicher Ruhe – wie eine Statue von Marmor stand sie da, und die Worte zischten klanglos von ihren Lippen.

»Ich finde nicht den Mut, ihren Namen auszusprechen,« stammelte Charlotte wie erschöpft. »Hoheit haben meine Mitteilungen zu ungnädig aufgenommen – ich darf nicht weitergehen! ... Der Mann da drüben,« sie deutete über die Schulter zurück nach ihrem Zimmer, »darf vorläufig nicht erfahren, daß ich um das Geheimnis weiß – haben wir doch ohnehin schon unsern Anker verloren, da Hoheit sich von uns verfolgten und verlassenen Geschwistern abwenden ... Ich habe vorhin bei jedem heftigen Wort, bei jedem Laut angstvoll gezittert und gefürchtet, daß sie dort hinüber dringen würden ... Ich weiß es, Sie werden den Namen nicht mit Ruhe anhören –«

»Wer sagt Ihnen denn das, Fräulein Claudius?« unterbrach sie die Prinzessin, sich hoch aufrichtend – die letzten Worte Charlottens hatten genügt, den ganzen Fürstenstolz in ihr wachzurufen. – »Sie sind auf völlig falschem Wege, wenn Sie meiner augenblicklichen Hast einen anderen Grund, als den einer allerdings maßlosen Ueberraschung zuschreiben ... Was geht es mich schließlich an, wer die Frau gewesen ist? ... Ich würde es Ihnen erlassen, den Namen zu nennen, wenn ich nicht gerade beweisen möchte, daß ich ihn sehr ruhig anhören kann; und somit befehle ich Ihnen, Ihre Bekenntnisse mit dem Namen zu schließen!«

»Nun denn, ich gehorche, Hoheit! ... Die Frau war die Prinzessin Sidonie von K.« –

Sie hatte sich vermessen, die stolze Fürstin! Sie hatte gewähnt, sie könne das verächtliche Lächeln auf den Lippen festhalten, das Blut gebieterisch in die Wangen beschwören, wie auch der Name lauten mochte – und jetzt fiel er wie ein Blitzstrahl auf ihr Haupt, und sie sank mit versagenden Blicken an die Wand zurück und stöhnte auf, als sei ihr ein Messer durch die Brust gestoßen worden.

»Das ist wohl der grausamste Betrug, der an einem Frauenherzen verübt worden ist!« hauchte sie. »Pfui, pfui, wie schwarz und falsch!«

Charlotte wollte sie stützen.

»Fort! Was wollen Sie?« zürnte sie und stieß die Hände des jungen Mädchens zurück. »Ein Dämon muß Ihnen den teuflischen Gedanken eingegeben haben, mich, gerade mich zu Ihrer Vertrauten zu machen! ... Gehen Sie! Ich gebe Ihnen Ihr Geheimnis wieder in die Hände – ich will nichts gehört haben, nichts! Denn ich kann und werde mich nie damit befassen, Ihnen zu Ihren sogenannten Rechten zu verhelfen!«

Sie richtete sich empor, war aber genötigt, sich sofort wieder am Tisch festzuhalten. »Haben Sie die Güte, mein Gefolge herbeizurufen – mir ist sehr übel!« gebot sie mit erlöschender Stimme.

»Verzeihung, Hoheit!« rief Charlotte außer sich.

Die Prinzessin zeigte wortlos und gebieterisch nach der Thür, während sie in den nächsten Fauteuil sank. Charlotte flog über die Schwelle, und sofort füllte sich der Salon mit bestürzt herzueilenden Gestalten. Auch die Musik riß mit einem schrillen Akkord ab – Herr Claudius kam herüber.

»Ein altes Leiden hat mich plötzlich überrascht,« sagte die Prinzessin matt lächelnd zu ihm. »Ich habe Herzkrampf. Wollen Sie mir Ihren Wagen leihen? Ich kann unmöglich warten, bis der meine kommt.«

Er eilte hinab, und nach wenigen Minuten führte er die hohe Leidende die Treppe hinab. Sie stützte sich fest auf ihn; die Art und Weise aber, mit welcher sie sich von ihm verabschiedete, bewies, daß Charlottens Mitteilungen auch nicht den allermindesten Einfluß auf ihre Hochachtung für ihn ausgeübt hatten.


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