E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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8.

Der einsame Dierkhof hatte just seine schönste Zeit; er lag mitten in einem pfirsichfarbenen Bett – die Heide fing an zu blühen, und die Bienenschwärme, die bis dahin auf den goldenen Rübsamenfeldern und in der Buchweizenblüte geschwelgt hatten, breiteten sich nun wonnetrunken über den unabsehbaren, honigtriefenden Flächen aus ... Nun summte sie wieder bestrickend und einlullend um das traute Dach, die uralte eintönige Heidemelodie! Aus den Lüften taumelten meine Lieblinge, die blauen Schmetterlinge, so massenhaft nieder, als sei der strahlende Sommerhimmel droben in Stückchen zerflattert; über die Sandblößen schlüpften goldflimmernde Laufkäfer, und an den Wiesen- und Gartenblumen hingen Perlmuttervögel, der prächtige Admiral und das Pfauenauge.

Sonst war ich den Schmetterlingen nachgelaufen, hatte sie eingefangen, mich ergötzt an dem wunderbaren Farbenspiel der Flügel, und sie dann wieder davonfliegen lassen – so hatte ich oft halbe Tage lang die Heide durchschwärmt; das war jetzt anders geworden. Ich hielt mich viel im Zimmer meiner Großmutter auf, das mit seinen altertümlichen, aus dem Judenhause stammenden Möbeln einen geheimnisvollen Reiz auf mich ausübte. Es lag und stand da alles an seinem alten Platze, nicht ein Gerät war verrückt worden, die große Uhr wurde wieder pünktlich aufgezogen, und damit nichts fehle, was den Glauben erwecken konnte, die Verstorbene walte noch in dem Raume, hatte Ilse die niedergebrannten Kerzen auf dem Silberleuchter durch neue ersetzt.

Sie schloß mir auch da und dort eine Truhe oder ein Spind auf: die Fächer waren meist leer – meine Großmutter hatte bei ihrer Flucht aus der Welt allen Ballast von sich geworfen. Dafür war mir aber auch jedes beschriebene Papierblättchen, jeder zerstäubende Blumenrest ein interessanter Fund.

In einem Schranke hingen auch noch verschiedene Kleidungsstücke, die meine Großmutter aber nie in der Heide getragen hatte. Eines Tages nahm Ilse ein schwarzes, wollenes Kleid aus dem Schranke, zertrennte es und fing an, zuzuschneiden – sie hatte in der Stadt schneidern gelernt, und das war ihr Stolz ... Ich war sehr erschrocken, als sie mich aufforderte, zur Anprobe in das Werk ihrer Hände zu schlüpfen – das Ding sah aus wie ein Küraß.

»Ilse, nur das nicht,« protestierte ich schaudernd und zerrte ängstlich an dem pressenden Halsausschnitt, der mir dicht an der Kehle saß, und mein Ellbogen gab sich insgeheim alle Mühe, die enge, drückende Aermelnaht zu zersprengen.

»Ei was – wirst dich schon dran gewöhnen!« sagte sie kaltblütig und schneiderte weiter.

Wir saßen im Baumhof unter den Eichen, wohin ich einen Tisch und Stühle getragen hatte. Draußen über der Ebene brütete die flimmernde Nachmittagssonnenhitze; aber hier war es schattig kühl und still; nur die Bienen summten, und droben im Nest schrieen die jungen Elstern. Ich hatte den übergroßen, runden, braunen Strohhut unter den Händen, den mir Ilse vor circa fünf Sommern aus der Stadt hatte kommen lassen, und trennte auf ihr Geheiß das Rosaband herunter, das die Wonne meiner Augen gewesen war.

Da kam Heinz aus dem nächsten Dorfe zurück und legte einen Brief vor Ilse hin.

Mein Vater hatte auf die ihm telegraphisch mitgeteilte Nachricht vom Ableben meiner Großmutter hin geschrieben und sein Nichterscheinen bei der Beerdigung mit ernstlichem Kranksein entschuldigt. Seitdem war die Korrespondenz zwischen ihm und Ilse eine ziemlich lebhafte geworden; um was es sich handelte, wußte ich nicht, ich bekam keine Zeile zu sehen; aber so viel war mir bekannt, daß zwischen Ilses letztem Schreiben und der Antwort meines Vaters, die sie da eben vor meinen Augen überlas, kaum fünf Tage lagen.

»Nichts da!« sagte sie und steckte den Brief in die Tasche. »Uebermorgen reisen wir – dabei bleibt's!«

Hut und Schere fielen mir aus den Händen.

»Reisen wir!« wiederholte ich mit stockendem Atem. »Du willst mit Heinz fort? ... Ihr wollt mich mutterseelenallein auf dem Dierkhofe lassen?«

»O je, da wär' er gut aufgehoben, der arme Dierkhof!« rief sie, und zum erstenmal wieder seit dem Tode meiner Großmutter flog ein schwaches Lächeln über ihre Züge. »Närrisches Ding, du sollst fort!«

Ich stand auf und warf meinen Stuhl so heftig zurück, daß er polternd hinten über fiel.

»Ich? – wohin denn?« stieß ich hervor.

»In die Stadt,« lautete die lakonische Antwort.

Das ganze sonnige Heideland draußen und die urkräftigen, rauschenden Eichen über mir versanken – die entsetzliche, dunkle Hinterstube umfing mich, und ich sah in das feuchte, karge Gärtchen inmitten der vier grünangelaufenen Häuserwände.

»Und was soll ich in der Stadt?« preßte ich heraus.

»Lernen. –«

»Ich gehe nicht mit, Ilse, darauf kannst du dich verlassen!« erklärte ich entschieden, während ich mit den bitteren, heißen Thränen rang. »Mache mit mir, was du willst – aber du sollst sehen, ich klammere mich in der letzten Stunde draußen am Hausthorpfosten an ... Ob du das Herz hast, mich fortzuschleppen?« Ich schüttelte Heinz, der wie eine Bildsäule mit offenem Munde dastand, verzweiflungsvoll am Aermel. »Hörst du denn nicht – fort soll ich! ... Wirst du das leiden, Heinz!«

»Ist's denn wirklich wahr, Ilse?« fragte er beklommen und faltete die ungeschlachten Hände ineinander.

»Nun sehe mir einer die zwei Kinder hier an – thun sie doch wirklich, als sollte der Kleinen der Hals abgeschnitten werden!« schalt sie, aber ich sah recht gut, daß ihr gar nicht wohl zu Mute war bei meiner ausbrechenden Heftigkeit. »Meinst du denn, es kann das ganze Leben lang so fortgehen, Heinz, daß das Kind wie ein Heide den ganzen lieben Tag über draußen herumtobt und mir Abends barfuß, mit Schuhen und Strümpfen in der Hand, heimkommt? ... Sie kann nichts und versteht nichts und läuft fort wie eine wilde Katze, wenn ihr ein fremdes Gesicht über den Weg geht! ... Wo soll's endlich hinaus? ... Das ist immer mein stiller Kummer gewesen, und ich hab' manchmal vor Angst nicht einschlafen können; aber so lange die Großmutter lebte, konnte ich nicht fort – das ist vorbei, und nun halten mich keine zehn Pferde mehr! Sei vernünftig, Kind!« sagte sie zu mir und zog mich wie ein kleines Kind auf ihre Kniee. »Ich bringe dich zu deinem Vater – nur zwei Jahre bleibe draußen und lerne was Rechtes, und wenn es dir durchaus nicht gefallen will, so kommst du wieder heim auf den Dierkhof, und nachher bleiben wir zusammen, gelt?«

Zwei Jahre! Das war ja eine ganze Ewigkeit! ... Zweimal sollte die Heide blühen, sollten die Störche fortziehen und wiederkommen, und ich war nicht auf dem Dierkhof; ich steckte zwischen vier dumpfen Wänden und knebelte am verhaßten Strickstrumpf, oder mußte wohl gar Schreibübungen halten und neue Bibelsprüche auswendig lernen! ... Ich schauderte und schüttelte mich, und jede Fiber in mir stählte sich zum Aufruhr und energischem Widerstand.

»Ilse, da lasse mich nur gleich drüben auf dem Gottesacker einscharren!« sagte ich trotzig. »In die entsetzliche Hinterstube bringst du mich nicht –«

»Dummes Zeug!« unterbrach sie mich. »Glaubst du denn, dein Vater kann sie im Koffer mitnehmen? ... Er ist ja fortgezogen, und Vieles ist anders geworden – nun wohnt er ja in K.«

Husch, da war der braune Lockenkopf mit der blendend weißen Stirn wieder und sah mich mit spöttischen Augen an – er kam immer so unversehens und erschreckte mich jedesmal so heftig, daß mir das Blut heiß nach den Schläfen schoß!

»Mein Vater will mich ja nicht!« sagte ich und steckte das Gesicht in Ilses Halstuch.

»Das wollen wir sehen!« versetzte sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzer; aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und schob mich von sich.

»Muß es wirklich sein? ... Ach, Ilse –«

»Es muß sein, Kind! ... Und nun sei still und mache mir das Leben nicht schwer! Denke an deine Großmutter – die hat's auch so gewollt!«

Sie nähte mit verdoppeltem Eifer den zweiten Aermel in das schwarze Kleid; Heinz aber schob die kaltgewordene Pfeife in die Tasche und schlich fort. Gegen Abend sah ich ihn drüben auf dem großen Hünenbett sitzen; er hatte die Arme um die Kniee gelegt und sah unverwandt hinaus ins Weite ... Ich lief hinüber und setzte mich zu ihm, und nun flossen die Thränen unaufhaltsam, die sich in Ilses strenger Gegenwart nicht hervorgewagt hatten. Ein so tiefes Trennungsweh hatte das blaue Stück Himmel über uns wohl lange nicht gesehen!

Am andern Tage sah die Wohnstube schrecklich aus. Eine große hölzerne Truhe stand auf den Dielen, und Ilse packte ein.

»Da sieh her!« sagte sie und hielt mir ein Paket grober, buntgewürfelter Bettüberzüge hin. »Ist das nicht eine wahre Pracht! ... Ja, da ist Kern drin! ... Das Spinnwebenzeug, in dem die Großmutter schlief, ist mir von jeher ein Greuel gewesen!«

Sie schob einen Stoß außerordentlich feinen, mit Stickerei besetzten Leinenzeugs verächtlich auf die Seite. »Die neuen Ueberzüge bekommst du mit; die habe ich nach und nach für den Haushalt angeschafft, seit wir auf dem Dierkhof sind – halte sie ordentlich!«

Auch ein ganzes Regiment jener steifen, unförmlichen Strümpfe aus Heidschnuckenwolle wanderten in den Koffer und füllten einen beträchtlichen Raum. Ilse hatte jahrelang beträchtliche Vorräte für mich aufgespeichert, die nun draußen in der Welt »Staat machen« sollten ... Dann wurden kolossale strotzende Federbetten zu einem Ballen geknetet und in Sackzeug eingenäht – ein riesiges Frachtstück!

Mir verursachten alle diese Vorbereitungen entsetzliches Herzweh, und doch gab es Augenblicke, wo meine junge Seele plötzlich schwoll, wo es über sie kam wie ein frohes Ahnen, eine schöne Hoffnung; aber das erschien und erlosch wie der Blitz, und – seltsame Gedankenverbindung – mein Blick huschte jedesmal scheu und prüfend über meine Schuhe hin. Sie waren jetzt recht hübsch ausgetreten und gewährten meinen Füßen in liberalster Weise Spielraum. Ich trat so stark auf, als ich vermochte, und suchte mein ängstliches Herz mit der unumstößlichen Gewißheit zu beruhigen, daß die Nägel doch bei Weitem nicht mehr so entsetzlich klapperten wie vor vier Wochen. Aber das half nicht immer, und so verstieg ich mich denn einmal in meiner Bedrängnis zu der schüchternen Bitte, Ilse möchte mir unterwegs ein Paar neue Schuhe kaufen. Aber da kam ich schön an. Sie zog mir einen Schuh aus und hielt ihn gegen das Licht.

»Solche Nähte und solche Sohlen, die kann man suchen!« sagte sie. »Das sind Schuhe, in denen du noch nach zwei Jahren zum Tanze gehen kannst! ... Brauchst keine neuen!«

Damit war die Sache erledigt.

Und er kam wirklich, der Morgen, da ich meinen geliebten Dierkhof verlassen sollte ... Früh vor vier Uhr lief ich schon durch die tautriefende Heide. Ich winkte mit ausgebreiteten Armen über die Millionen blütenbeschwerter Erikastengel hin und nach dem qualmenden Torfsumpf hinüber, und schüttelte die gute, alte Föhre im Abschiedsschmerz so heftig, daß die letzten dürren Nadeln vom vergangenen Winter auf mein flatterndes Haar herabrieselten ... Spitz war mitgelaufen und bellte und freute sich wie närrisch – er hielt alle meine heftigen Bewegungen für eitel Spaß und Kurzweil, die ich ihm machen wolle. Ich flocht einen bunten Kranz und legte ihn auf Miekes Hörner, die schlaftrunken aufblinzelte und zu bequem war, um mir auch nur mit einem leisen Brummen zu danken oder Adieu zu sagen.

Dann zog mir Ilse das neue, schwarze Kleid an und band eine schneeweiße, breite und faltenreiche Batistkrause aus dem Wäschespind der Großmutter um meinen Hals – mein schwarzbrauner Kopf lag darauf wie eine abgefallene Haselnuß auf einem kleinen Schneepolster. Darüber wölbte sich der umfangreiche, braune Strohhut, den Ilse mit einem schwarzen Band besteckt hatte. Ich mag wohl eine merkwürdige Reiseerscheinung gewesen sein, ähnlich wie die kleinen Waldpilze mit den großen Hutdeckeln, die ich immer so lächerlich fand.

Nach dem Kaffee, den ich unter Thränenströmen hinabgeschluckt hatte, brachte Ilse eine Schachtel und nahm feierlich, mit spitzen Fingern einen violetten Tafthut heraus.

»Das war mein Kirchenhut in Hannover,« sagte sie, vor den Spiegel tretend und setzte sich das wunderliche Seidenhaus vorsichtig auf den Scheitel. »In der Stadt darf man nicht ohne Hut ausgehen – es ist nun einmal so!«

Ich sah scheu zu ihr auf. Der Begriff »Mode« existierte natürlicherweise nicht für mich. Ich hatte keine Ahnung davon, daß es jenseits der Heide eine Macht gab, welcher sich der Mensch widerstandslos unterwirft, und von der er seine äußere Erscheinung in Formen treten und kneten läßt, wie sie gerade Lust und Laune hat. Deshalb wurde auch mein Respekt vor dem schnabelförmigen Gebäude selbst nicht im Geringsten geschmälert; aber es hatte während der zwanzigjährigen Rast in der Hutschachtel offenbar stark an Glanz und Nüance eingebüßt. Ilse schien das nicht zu finden. Sie zupfte die mißfarbenen Pensees über ihrer krausen, gelben Haarwolke zurecht, warf die offen herabhängenden Bindebänder in den Nacken zurück, schlug ein großes schwarzes Wolltuch um die Schultern, und fort ging es.

Heinz und ein Bauernknecht aus dem nächsten Dorfe fuhren das Gepäck. Sanft, aber unwiderstehlich schob mich Ilse aus dem Hausthor, auf dessen Schwelle meine Füße wie festgezaubert standen. Ich hörte hinter mir den Hausschlüssel umdrehen, dann scheuchte Ilse die Hühner und Enten zurück, die uns durchaus ins Freie begleiten wollten; sie schrieen und krakelten durcheinander, und dazwischen hinein brüllte die eingeschlossene Mieke von der Tenne her ... Auch das Gatterthor wurde hinter mir zugeschlagen und verrammelt, und nun wanderte ich hinaus aus dem Paradies meiner Kindheit auf demselben Wege, den einst Fräulein Streit gegangen war ...

Wie ich von Heinz fortgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ueber den ganzen sonnigen Abschiedsmorgen breitet sich mir heute noch ein Thränenflor. Ich weiß nur, daß ich das gute, alte, weinende Menschenkind mit beiden Armen umschlungen und der schauderhaft breiten und steifen Hutkrempe zu Trotz mein Gesicht tief in seinen alten Drellrock eingewühlt habe, und daß er, umringt von gaffenden Bauernjungen, sein blaugewürfeltes Taschentuch vor die Augen hielt, während ich im Dorfe die Kalesche bestieg, in der wir fortrumpeln sollten nach der weitentfernten ersten Poststation.


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