E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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15.

So kam es, daß die äußere Physiognomie des dunklen, steinernen Hauses in der abgelegenen Mauerstraße nie eine verschönende Restauration erfahren hatte ... Sie mußten Alle darin wohnen, wie sie nach einander folgten, und das Geschäftslokal, die große steingewölbte Stube mit den braunen Ledertapeten, sah heute noch genau so aus, wie dazumal, wo in ihr jene kostbaren Zwiebeln verpackt wurden, aus denen, vor den entzückten Augen der fieberhaft erregten Tulpenfanatiker, die despotisch herrschende Blumenkönigin in neuem Farbenspiel emporsteigen sollte.

Die alten Herren, die mit einer Hand zarte Blumengestalten pflegten und mit der anderen eiserne Ketten und Panzer um ihr nachfolgendes Geschlecht zu gürten suchten, hätten doch am besten wissen sollen, daß Abart oder Varietät bei ihrem Durchbruch nicht nach dem Gängelband der Gesetze fragt, und wenn sie weise gewesen wären, hätten sie diese Blumenerfahrung auch zu Gunsten der Menschennatur gelten lassen.

Eberhard Claudius, ein geistig offenbar sehr bedeutender Mensch, hatte unter den beengenden Traditionen des Hauses jedenfalls schwer leiden müssen, aber er hatte sich zu helfen gewußt. Wie man sich erzählte, war seine schöne, vornehme und leidenschaftlich geliebte Frau in den düsteren Räumen des Vorderhauses schwermütig geworden ... Da waren – ohne daß die Welt es ahnte – eines Tages fremde Arbeiter gekommen, hatten unter Anleitung eines französischen Baumeisters inmitten des umfangreichen Waldreviers, das durch weite Mauern umgrenzt zu dem Grundbesitz der Firma gehörte, eine Anzahl uralter, geschonter Bäume ausgerodet, und allmählich war im beschützenden Walddickicht ein heiteres Schlößchen voll Sonnenlicht und schwellender Seidenpolster, voll flatternder Liebesgötter und deckenhoher Spiegel, welche die Schönheit der angebeteten Frau glanzvoll zurückwarfen, in die Lüfte gestiegen. Und an dem Tage, wo die bleiche Blume zum ersten Mal den märchenschnell hervorgezauberten Teich umschritt, und in der weiten sonnigen Halle dem zärtlich besorgten Mann aufjauchzend um den Hals gefallen war, hatte er das Schlößchen ihr zu Ehren »Karolinenlust« getauft.

Eberhard Claudius war auch der Begründer des Antikenkabinetts und der reichhaltigen Bibliothek und Handschriftensammlung gewesen. Er hatte Italien und Frankreich durchreist und mit seltenem Kennerblick Schätze der Kunst und Wissenschaft aufgefunden und eingeheimst, die aber auf deutschem Boden, in den Räumen der Karolinenlust ebenso verborgen hausten, wie die schöne, neu aufblühende Frau.

Nach ihm war Konrad, sein Sohn, Chef des Hauses geworden und in die alten Geleise zurückgekehrt. Er hatte mit puritanischer Strenge die alten Hausregeln auch im Inneren wieder aufgerichtet, hatte die Karolinenlust, als ein gegen den Geist der Vorfahren verstoßendes Werk des raffiniertesten Luxus- und Weltsinnes, samt ihren Schätzen unter Schloß und Riegel gelegt, und die Varietät war erst wieder in seinem Enkel, Lothar Claudius, zum Durchbruch gekommen.

Dieser hatte sich entschieden geweigert, Vertreter der Firma zu werden, als er und sein jüngerer Bruder Erich sehr früh beide Eltern verloren. Sein feuriges Temperament entschied sich für die militärische Karriere. Er avancierte schnell, wurde geadelt und Adjutant und bevorzugter Liebling des Landesfürsten. Nun wurde die Karolinenlust wieder aufgeschlossen. Sie eignete sich vortrefflich zum Wohnsitz für den hochaufstrebenden, sich abzweigenden Ast des alten Handelsgeschlechts, und, wie um gegen jegliche fernere Gemeinschaft mit dem Vorderhause zu protestieren, wurde plötzlich sogar am Brückenkopf auf Seite der Karolinenlust eine festverschlossene Thür angebracht.

Da residierte nun, umgeben von einer wahren Waldeinsamkeit, der schöne, junge Offizier, während im Vorderhause der Buchhalter Eckhof das Geschäft verwaltete, bis der in einem Knabeninstitut erzogenen Erich Claudius von seinen Reisen zurückkehrte und, den alten Traditionen getreu, mit eiserner Ausdauer und Arbeitskraft sein Erbe antrat.

Für das Antikenkabinett hatte der verstorbene, flotte, gefeierte Offizier so wenig Verständnis gehabt wie seine Vorgänger. Die Kisten und Kasten im Souterrain waren nicht berührt worden seit langen Jahren, bis plötzlich der junge Herzog an das Ruder kam und eine wahre Leidenschaft für Archäologie an den Tag legte. Mein Vater, eine der größten Autoritäten, wurde nach K. berufen, und nun wuchsen die Antiquitätenliebhaber wie Pilze aus der Erde. – Seine Hoheit hätte Höchstseine Residenz mit ihnen pflastern können. Die Ballgespräche bei Hofe wimmelten von griechischen, römischen und etruskischen Altertümern, und schwerwiegende Wörter, wie Numismatik, Glyptik und Epigraphik, perlten nur so von den rosigen Lippen der graziösen Tänzerinnen.

Die Nachricht von dem neuen Umschwung bei Hofe hatte Dagobert in das stille Geschäftshaus der Mauerstraße gebracht. Fräulein Fliedner, die noch bei Lebzeiten der letztverstorbenen Frau Claudius, Lothars und Erichs Mutter, als Stütze derselben, in das Haus gekommen und seitdem, kraft testamentlicher Verfügung, in ihrer Stellung als Kastellanin und Verwalterin verblieben war, wußte manches Halbverschollene aus der Familie zu erzählen, und so erinnerte sie sich auch der eingesargten Antiken. Dagobert hatte meinen Vater davon in Kenntnis zu setzen gewußt. Der letztere erzählte später wiederholt, daß er einen Augenblick zweifelhaft lächelnd vor dem Haus mit der strengen, ehrbar bürgerlichen Physiognomie gestanden habe: aber er war doch eingetreten, um die Erlaubnis, behufs einer Nachforschung, von dem Besitzer zu erbitten. Herr Claudius hatte sie erteilt, wenn auch dem Anschein nach nicht besonders gern.

Am frühen Morgen war mein Vater in das Souterrain der Karolinenlust hinabgestiegen und den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein gekommen; er hatte weder gegessen, noch getrunken, er war wie toll vor Aufregung gewesen – eine ungeheure Fundgrube für die Wissenschaft hatte sich vor ihm aufgethan ... Herr Claudius gestattete das Auspacken und Aufstellen der Kunstschätze und räumte meinem Vater die Wohnung im Erdgeschoß und die unumschränkte Benutzung der Bibliothek ein.

Dies alles erfuhr ich freilich nicht in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in K. Ich war da überhaupt wenig geneigt, mich zu orientieren; denn, nachdem sich die Flut der ersten Eindrücke einigermaßen gelegt hatte, da kam das Heimweh nach der Heide mit aller Macht über mich ... Ilse war zwar noch da; sie hatte sich einige Tage Urlaub zugegeben, um »einmal gründlich Ordnung in der Junggesellenwirtschaft meines Vaters zu machen«, und wohl auch, damit sie mich erst in dem neuen Boden ein wenig einwurzeln sähe. Allein das beschwichtigte mein unruhiges Herz nicht; ich wußte ja doch, daß sie schließlich gehen und mich zurücklassen würde, und der Gedanke brachte mich stets in eine unbeschreibliche Aufregung.

Im Vorderhause war man unsäglich gut gegen mich, aber ich haßte das dunkle, kalte Haus und betrat es nur gezwungen an Fräulein Fliedners oder Charlottens Hand. Zu einem Besuch aus eigenen Antrieb konnte ich mich nie entschließen. Dagegen zog es mich immer mehr in die Nähe meines Vaters. Auf seine zarte Zurechtweisung hin störte ich ihn freilich nicht mehr in der kräftigen Art und Weise wie neulich, wo ich unversehens meine Arm um seinen Hals gelegt hatte – ich wagte es nicht einmal, wie meine Mutter, eine Blume auf sein Manuskript zu werfen; aber seit ich Mut gefaßt, stand jeden Morgen eine Vase voll frischer Waldblumen auf seinem Schreibtisch, und im unhörbaren Vorüberhuschen ließ ich meine Hand scheu und leise über sein halbergrautes Haar hingleiten. Ich war gern in der Bibliothek, noch lieber aber in dem Saal »mit dem zerbrochenen Zeug«, wie Ilse beharrlich sagte. Alle diese stummen Gesichter gewannen allmählich Macht über mich und ließen mich manchmal sogar auf Augenblicke vergessen, daß droben im Norden die weite Heide lag, nach der meine ganze Seele fieberte.

Aber ich wurde dort auch sehr oft verscheucht. Dagobert, der eine wahre Leidenschaft für Altertumskunde an den Tag legte und sich stolz den Famulus meines Vaters nannte, verweilte halbe Tage lang in Bibliothek und Antikenkabinett. Sobald ich ihn in die Bibliothek treten hörte, entfloh ich durch die entgegengesetzte Thür, rannte über Hals und Kopf die Treppe hinab, und dieser kindischen Angst und Scheu genügte oft nicht einmal der weite Raum zwischen Mansarde und Erdgeschoß – ich lief und lief, bis ich mich atemlos im Walde wiederfand.

Dieses Stück Wald war köstlich in seiner scheinbaren Urwüchsigkeit. Die alten Herren Claudius hatten es angekauft und mit Mauern umzogen, nicht zur Nutzbarmachung für das Geschäft, sondern einzig und allein zu dem Zweck, daß sie ihren sonntäglichen Erholungsspaziergang, ungestört und unbehelligt durch fremde Gesichter, auf eigenem Grund und Boden ausführen konnten – der einzige Luxus, den sie sich gestattet ... Die heiße Sehnsucht nach dem schrankenlos weiten Himmel der Heide machte mich anfänglich eiskalt und verständnislos für die Waldschönheit. Meine Blicke richteten sich nie aufwärts – ein grüner Himmel, wie schrecklich! – Desto zärtlicher aber hingen sie an den hellen Blüten, die mit scheuen, wilden Aeuglein aus Moos und Blattwerk und schattenfeuchtem Steingeröll hervorguckten – sie kamen mir so weltverschlagen und furchtsam vor, wie ich selber.

So sorglos ich die Heide stets durchstreift hatte, so wenig Mut fand ich, tiefer in die anscheinende Wildnis einzudringen. Ich beschränkte mich auf die nahe Umgebung des Hauses, und mein liebster Aufenthalt wäre sicher das Ufergebüsch des Flusses geworden, denn da drinnen war es doch genau so wie daheim; allein ich wurde schon am zweiten Tag meines Aufenthaltes in K. daraus vertrieben. Als Ilse den Brief auf die Post trug, begleitete ich sie bis an die Brücke. Unter dem zierlich geschwungenen eisernen Bogen hin floß des farblos klare Wasser so leise und lieblich murmelnd, wie der traute Heidefluß hinter dem Dierkhof. Ich schlüpfte in das Gebüsch – es waren Erlen und Weiden, und von draußen dämmerten weißglänzende Birkenstämme herein. Perlmuscheln lagen nicht auf dem Grund, wohl aber die kleinen glattgewaschenen Kiesel, und das seichte Ufer war mit Laichkräutern und weißblühenden Ranunkeln ausgekleidet. Ein zackiger, leuchtend blauer Fleck zitterte auf den Rieselwellchen – der hereinlauschende Sommerhimmel – alles, alles wie in dem kleinen Becken daheim; ich warf die Fußbekleidung ab, und bald floß die blaugefärbte Flut um die Füße, die freilich zu meinem Verdruß in den wenigen Tagen strenger Inhaftierung schon weißer geworden waren. Es fiel mir wie Ketten von Leib und Seele und floß mit den Wellen dahin. Vor Vergnügen und Wonne lachte ich in mich hinein und stampfte wiederholt und übermütig das Wasser, so daß die blauen Tropfen hoch aufspritzten. Da knisterte es im Gebüsch. – Spitz war ja so oft vom Dierkhof gekommen, hatte mich gesucht und war zu mir ins Wasser gesprungen. Er brach dann gewöhnlich quer durch das Buschwerk, und jetzt fühlte ich mich so ganz in die Umgebung der Heimat versetzt, daß ich bei jenem Knistern den lieben täppischen Gefährten zu hören glaubte. Laut rief ich seinen Namen – ach, ich hatte mich schön blamiert mit meiner Illusion – es kam selbstverständlich kein Spitz; an der Stelle aber, wo ich das Geräusch gehört hatte, bewegten sich die Weidenzweige durcheinander, und ein hellbekleideter Männerarm zog sich hastig zurück.

Mit einem Satze flüchtete ich an das Ufer; ich hätte weinen mögen vor Aerger. Gleich in den ersten Stunden der bildenden zwei Jahre war ich wieder rückfällig geworden; Dagobert hatte die Eidechse bereits wieder barfuß gesehen – nun wurde gelacht und gespottet im Vorderhause ... Aber er war ja dunkel gekleidet gewesen, als ich ihn vor kaum einer Stunde zu meinem Vater hatte gehen sehen, und dann – hatte nicht ein heller Blitz aus dem Gebüsch herübergezuckt? Das Blitzen hatte ich heute schon einmal gesehen, und zwar am Kontorschreibtisch, es kam von dem Ring an Herrn Claudius' Hand ... Ich atmete erleichtert auf – ach ja, es war nur Herr Claudius gewesen! Er hatte jedenfalls das unvernünftige Stampfen im Wasser gehört und war besorgt gekommen, um nachzusehen, wer ihm denn einen Weidenzweig von seinem Eigentum abknicke und die hübschen Kiesel in seinem Fluß aufstöre. Er konnte ruhig sein, der gestrenge Herr – ich that es gewiß nicht wieder.

Nun waren wir fünf Tage in K., und es war Sonntag geworden. Auf dem Dierkhof hatten wir das ferne Turmglöckchen nur wie unterbrochenes Wimmern gehört – wie fuhr ich zusammen, als plötzlich ein tiefes, prachtvolles Glockengeläute durch die Lüfte brauste! ...

Ilse machte sich auf den Weg zur Kirche, und während sie, begleitet von den Glockentönen, feierlich den Teich umschritt, blieb ich in der Halle stehen und sah ihr nach ... Da kam auch der alte Buchhalter aus seinem Zimmer; er hatte das Gesangbuch unter dem Arm und zog im Weitergehen einen lilafarbenen, neuen, engen Handschuh über die Hand – der alte Herr leuchtete förmlich in Sauberkeit und Eleganz.

Als er in meine Nähe kam, blieb er stehen. Er grüßte nicht; sein spiegelnder hoher Hut saß wie festgenagelt auf dem Kopfe; dafür aber maß er mich mit einem langen Strafblick von Kopf bis zu Füßen. Ich zitterte und fürchtete mich, und in dem Augenblicke, wo er die Lippen öffnete, um mich anzureden, floh ich hinaus in den Wald.

Der Schreckliche – ober er mir wohl nachkam? ... Ich blieb atemlos stehen und sah scheu über die Schulter zurück. Der Weg, den ich gekommen, fiel hinter mir förmlich in das Dickicht hinein – ich war, ohne es zu wissen, ziemlich steil bergan gelaufen. Es blieb lautlos still drunten – der fromme Mann hatte jedenfalls seinen Weg in die Kirche fortgesetzt ... Vor mir mündete der enge Pfad auf eine Wiese; an den gefiederten Gräsern hing noch der Tau, und rings am Waldsaum lagen die dicken Purpurköpfchen der Erdbeeren wie hingesät; es kam wohl niemand hier herauf, sie zu pflücken. Sie würzten die Luft, die golden flimmerte – ich meinte, die Glockentöne noch in ihr nachzittern zu sehen. Langhaarige Fichten standen umher, an ihren rissigen Stämmen nieder flossen goldgelbe Harzthränen, und durch die trauerdunklen Wipfel zog leichtes Summen.

Hier wehte ein in der Welt verschollener, geheimnisvoller Geist – es war so verschwiegen still wie drunten hinter den Siegeln ... Ueber den betauten Rasenfleck war wohl auch die Prinzessin geschritten, und die harzduftenden, schaukelnden Fichtenzweige hatten ihren Scheitel gestreift ... Im Walde knisterte es leise, ein weiß- und rotbraungeflecktes Etwas wandelte drinnen, und dann breitete sich plötzlich ein schaufelförmiges Geweih majestätisch zwischen den Stämmen; das zierliche Wild war zahm und sanft; die Tiere kamen über die Wiese her und sahen mich mit stillen Augen furchtlos an – sie hatten vielleicht auch der schönen Prinzessin das Futter aus der Hand genommen ... Was für thörichte Gedanken! Ich wußte ja nun, daß keine Prinzessin, sondern ein lediger junger Herr in den Zimmern gewohnt hatte, und er war tot – er hatte sich den schönen Kopf zerschmettert. Wie schrecklich! ... Ob das die ernsthaften alten Fichtenbäume mit den niederhängenden dunklen Wimpern wohl wußten?

Ich schritt weiter ... Wie lange meine Entdeckungsreise auf diesem neuen Terrain angedauert, wußte ich nicht. Es waren wohl Stunden vergangen, seit ich bergauf und bergnieder trollte. Ich war völlig im unklaren, wo ich mich befand; allein ich fühlte keine Furcht, die reine keusche Waldluft hatte sie mitgenommen ... Den Berg hatte ich hinter mir, ich war wieder in der Tiefe, aber wo? ... Die Wege liefen kreuz und quer, und ich wußte nicht, welchen ich betreten sollte – da hörte ich plötzlich durch das Dickicht zu meiner Linken eine Menschenstimme. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme des freundlichen alten Gärtners, der mit den sanftesten Schmeicheltönen ein unablässig schreiendes Kind zu beschwichtigen suchte. Ich ging dem Schalle nach und stand auf einmal vor einer Mauer; hinter ihr war es hell – sie schloß den Wald ab. Um alles gern mochte ich den kleinen Schreihals sehen; aber an der Mauer empor konnte ich nicht; sie war hoch und spiegelglatt. Dagegen verstand ich mich ja auf das Baumklettern wie eine Eichkatze, war es doch eine meiner liebsten Gewohnheiten, wie das Fußbad im klaren Wasserspiegel, und nach wenigen Augenblicken saß ich hoch droben im Wipfel einer Ulme.

Ich sah hinaus in die Weite, sah ein großes Stück Himmel. Zu meiner Rechten breitete sich die betürmte Stadt hin, flankiert von prächtigen Promenaden; dann kam der Fluß, derselbe, der auch die Claudiussche Besitzung durchschnitt ... Ich war ganz nahe bei der Karolinenlust gewesen, ohne es zu wissen, denn das Wasser lief keine zweihundert Schritte vorüber; eine breite steinerne Brücke wölbte sich darüber hin; diesseits des Flusses, weithin, bis hinauf an den Saum des Waldes verstreut, lagen elegante Landhäuser inmitten reizender Gartenanlagen. Zu meiner Linken, so nahe, daß ich jeden Gegenstand im oberen Stockwerk bequem übersehen konnte, stand ein hübsches kleines Schweizerhaus. Das Fleckchen Grund und Boden, auf dem es lag, war eng begrenzt. Vor der Hauptfassade breitete sich ein schmaler Blumengarten hin, und rückwärts über einem engen Rasengrund wölbte eine prachtvolle Roßkastanie ihre undurchdringlich befiederten Aeste – sie war der einzige Baum der ganzen kleinen Besitzung, die nur eine breite Fahrstraße von der Claudiusschen Waldmauer trennte.

Der alte Gärtner Schäfer ging unter dem schattenwerfenden Balkon des Hauses auf und ab. Er hatte einen rosenfarbenen Kattunmantel um die Schulter geschlagen, trug den kleinen schreienden Bösewicht so kunstgerecht wie die gewiegteste Kindermuhme und sang ihm in sichtlicher Todesangst alle bekannten Kinderlieder vor. Auf dem Rasenfleck hinter dem Hause spielte ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren. Es hatte ein weißes Kleidchen an, und lange, flachsgelbe Locken fielen über den Rücken bis fast auf den Gürtel herab. Die Kleine hatte sich glückselig, mit ganzer Seele in ihr Spiel vertieft. Sie raufte mit beiden Händchen Grashalme aus und lud sie auf ein Korbwägelchen. Eine Zeitlang ließ sie sich in ihrem Eifer durch das Kindergeschrei nicht stören: aber endlich ging sie in den Vordergarten, pflückte eine halbverwelkte Levkoje ab und reichte sie dem ungezogenen Brüderchen hinauf.

»Du sollst ja keine Blumen abreißen, Gretchen – Papa hat's verboten!« rief eine Männerstimme vom Balkon hinab.

Die südliche Ecke des Balkons war so üppig von wildem Wein umsponnen, daß nicht ein Sonnenstrahl in die Laube und auf den gedeckten Eßtisch inmitten derselben fallen konnte. Der junge Helldorf, der im Kontor des Herrn Claudius arbeitete, bog sich unter dem Weinlaub hervor; ich hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. Er hielt ein Buch in der Hand, und wenn er auch die Mahnung im strafenden Tone hinabrief, so flog doch beim Anblick des auf Zehen stehenden Geschöpfchens ein zärtliches Lächeln um seinen Mund.

Da kam über die Brücke her ein Herr, er eine Dame am Arme führte. Sie blieben einen Augenblick aufhorchend stehen; dann entschlüpfte die Dame ihrem Begleiter und lief voraus auf das ungeduldige Kind zu. Sie war jedenfalls in der Kirche gewesen, denn sie legte eilig ein Gesangbuch auf den nächsten Gartentisch und reichte nach dem Knaben, der bei dem Klang ihrer Stimme sofort verstummt war und nun lallend mit Händen und Füßen ihr entgegenstrampelte –- in überströmender Mutterzärtlichkeit bedeckte sie das kleine dicke Kerlchen mit Küssen. Dann schlang sie den linken Arm um das Töchterchen und zog es an sich. Sie war sehr zart, die kleine Frau, man hätte meinen können, der feine Arm zerbräche unter dem dicken Jungen. Sie nahm den Strohhut ab, an dessen blauen Bändern das Kind mit täppischen Händchen zerrte, und ich sah ein wunderfeines, lilienweißes Gesichtchen unter einer Fülle so hellblonder Haare, wie sie über Gretchens Rücken hinab hingen.

Mittlerweile war auch der im Stich gelassene Herr Gemahl nachgekommen und in den Garten eingetreten. Er sah dem jungen Helldorf sehr ähnlich, die schönen Männer waren offenbar Brüder. Mit beiden Armen nahm er sein Töchterchen und warf es in die Luft; das weiße Kleid blähte sich wie ein Sommerwölkchen; die goldenen Locken wogten und flatterten im Luftzug, und das Kind jauchzte zum Balkon hinauf: »Onkel Max, siehst du mich?«

Ich war wie berauscht: ich hatte zum erstenmal das reinste Familienglück vor Augen. Herzinniges Behagen an dem schönen Bild und eine tiefe Sehnsucht, für die ich keinen Namen wußte, mischten sich mit Wehmut in meiner Seele. Mich hatte nie eine Mutter leidenschaftlich an ihr Herz gedrückt; ich hatte nie erfahren, wie das glückliche Bübchen dort, daß ein einziger Laut von zärtlichen Mutterlippen alles vermeintliche Leid sofort zu stillen vermag. Aber ich hatte auch mit heimlicher Lust gesehen, wie die junge Frau ihre Kinder herzte – die Beneidenswerte! Wie süß mußte es sein, wenn solch ein Kinderärmchen sich verlangend ausstreckte und alles Heil, alle Beruhigung ausschließlich von der Mutter erwartete!

Gretchen ging wieder zu ihrem Heuwagen und setzte plaudernd ihr Spiel fort, während die anderen in das Haus traten. Leise glitt ich von der Ulme herab und schritt suchend die Mauer entlang; und da stand ich richtig vor einer Thür, die ins Freie führte. Es steckte sogar ein Schlüssel im Schloß; er war freilich mit einer dicken Rostschicht überzogen und wurde augenscheinlich nie berührt. Aber mein Verlangen, das kleine Mädchen zu sprechen, machte mich kräftig und gewandt; nach langer Anstrengung wankte der Schlüssel unter meinen Händen, er fuhr herum, die Thür that sich kreischend auf.


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