E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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25.

»Was gibt's, Herr Eckhof?« rief sie hinaus.

Der alte Buchhalter rannte quer über den Kiesplatz nach dem Hause. Er war ohne Hut, und sein sonst so beherrschtes Gesicht sah verstört aus – er war augenscheinlich tief alteriert.

»In Dorotheenthal ist ein Wolkenbruch niedergefallen!« rief er atemlos herüber. »Mindestens vierzigtausend Thaler Verlust für die Firma Claudius! Alles ersäuft und verwüstet, was wir seit Jahren draußen mühsam angelegt und gepflegt haben! ... Hören Sie den Notschuß? ... Auch Menschen sind in Gefahr!«

Dorotheenthal war eine Besitzung der Claudius, ein altertümliches, einst adliges Herrenhaus, das, samt einem Dorf, sehr tief auf ziemlich enger Thalsohle lag. Die Firma stützte ihren Betrieb weit mehr noch auf die Ländereien in Dorotheenthal, als auf die Gärten zu K. Die Holzsämereien waren ganz auf diesen Distrikt verwiesen, und besonders hatten kostbare Koniferenexemplare Dorotheenthal eine Art Ruf verschafft. Die einzelnen Blumengattungen waren hier ackerweise vertreten, und Ananas-, Orchideen- und Kaktushäuser umkreisten in bedeutender Anzahl das Schlößchen. Einige kleine Seen und ein ziemlich reißender Fluß, der das Thal durchschnitt, erleichterten den kolossalen Betrieb ungemein; aber in diesem Augenblick war das hilfreiche Element zum teuflischen Feind geworden – die Seen waren übergetreten, und der Fluß hatte sich, einen Damm durchsprengend, mit ihnen vereint, wie Eckhof noch herüberrief, ehe er in der Halle verschwand.

»Welch ein Unglück!« rief Charlotte mit totenblassem Gesicht und schlug die Hände zusammen.

»Ah bah – was brauchst du da zu erschrecken?« sagte Dagobert achselzuckend. »Was sind vierzigtausend Thaler für Onkel Erich? Er kann's verschmerzen und schließlich, was geht's uns an? Das ist seine Sache – unser Erbteil schmälert es um keinen Pfennig! ... Er wird freilich saure Gesichter machen, und die Wegzehrung, die er mir übermorgen mitgeben wird, mag schmal genug ausfallen ... Na, meinetwegen – ich habe mir's ja auch gefallen lassen müssen, wenn der Kram in Ordnung war.«

Die letzten Worte hörten wir kaum noch. Charlotte lief hinaus, und ich mit ihr ... Menschen waren in Gefahr? Wie das beängstigend klang! Ich wollte mehr wissen – ich hielt es nicht aus allein in der Karolinenlust, Charlotte hatte mir ihren Arm gereicht, und so rannten wir, unausgesetzt bestäubt vom Regen, über den schäumenden Fluß, durch die schwimmenden und triefenden Gärten nach dem Vorderhause.

Hier und da lief uns ein Gärtnergehilfe mit erschrecktem Gesicht über den Weg, und schon von ferne hörten wir über die Hofmauer her den Lärm durcheinander rufender und klagender Stimmen. Beinahe das ganze Arbeiterpersonal war im Hofe versammelt, als wir eintraten, und vor der Hausthür hielt Herrn Claudius' Equipage ... Er selbst trat eben, in einen Regenmantel gehüllt und den Hut in der Hand, heraus auf die Thürschwelle ... Es war, als gehe von seinem vollkommen ruhigen Gesicht eine beschwichtigende Kraft aus – das Lärmen verstummte sofort. Er erteilte einige Befehle; nicht die mindeste Hast oder Ueberstürzung beeinträchtigte seine langsam edlen Bewegungen – man sah, der blonde Kopf dort mit dem ernsten Ausdruck behauptete die Herrschaft in allen Lagen des Lebens.

Bei unserem Erscheinen traten die Leute zurück und ließen uns vorüber; ich hing noch an Charlottens Arm. Da sah uns Herr Claudius über den Hof kommen – schien es doch fast, als erschrecke er; wie ein Blitz fuhr ein Ausdruck des Zorns über seine unbedeckte Stirne; er zog die Brauen zusammen, und unter ihnen hervor traf mich ein langer, finster strafender Blick ... Ich schlug die Augen nieder und zog meinen Arm aus dem meiner Begleiterin.

»Onkel Erich, das ist ein schwerer Schlag!« rief Charlotte, während sie zu ihm auf die Schwelle trat.

»Ja,« sagte er einfach, ohne jede weitere Bemerkung. Dann wandte er sich in den Hausflur zurück, wo Fräulein Fliedner stand.

»Liebe Fliedner, sorgen Sie dafür, daß Fräulein von Sassen sofort in trockene Kleider kommt – ich mache Sie verantwortlich dafür!« befahl er in seiner gewohnten gelassenen Weise und zeigte auf meine beschmutzten, kläglich zerweichten Atlasstiefeln und mein regennasses Kleid ... In das Gesicht sah er mir nicht mehr.

Er bestieg rasch den Wagen und ergriff die Zügel.

»Nimm mich mit nach Dorotheenthal, Onkel!« rief Dagobert, der eben in Begleitung des nunmehr mit Hut und Mantel versehenen Buchhalters aus dem Garten trat.

»Es ist kein Platz, wie du siehst,« versetzte Herr Claudius kurz und deutete auf mehrere Arbeiter zurück, die mit angsterfüllten Mienen nach Eckhof einstiegen – sie waren aus Dorotheenthal.

Der Wagen brauste hinaus, und Fräulein Fliedner ergriff meine Hand und führte mich in ihr Zimmer. Charlotte kam nach.

»Sie sind aber auch naß wie ein gebadetes Kätzchen!« sagte sie zu mir, während Fräulein Fliedner trockene Kleider herbeitrug. – »Merkwürdig, daß der Onkel in diesem Moment, wo seine Schacherseele Tausende verliert, Augen dafür hatte!«

»Daran können Sie eben sehen, daß er keine Schacherseele ist,« versetzte Fräulein Fliedner. Ihr mildes Gesicht war noch blaß vom Schrecken, und jetzt glitt auch ein bitterer, herber Zug um ihren Mund. »Ich habe Sie schon oft gebeten, Charlotte, dergleichen harte und ungerechte Bezeichnungen vor meinen Ohren nicht laut werden zu lassen – ich kann das wirklich nicht ertragen.«

»So – aber Sie schweigen und finden es ganz in der Ordnung, wenn der Onkel mir in Ihrem Beisein den Text liest und in seiner grausam kalten Ruhe durchaus nicht glimpflich mit mir verfährt!« rief sie heftig. »Wenn er noch ein ehrwürdig alter Mann wäre, dann ertrüge sich's leichter – aber mein Stolz bäumt sich auf gegen diesen Mann mit den Feueraugen, der vor meinem Bruder und mir weniger die Erfahrungen der Jahre als die äußere Macht voraus hat. – Er mißhandelt uns!«

»Das ist nicht wahr,« sagte Fräulein Fliedner entschieden. »Er wehrt nur den Neigungen, die er nicht dulden darf ... Wenn Sie freilich eigenmächtig und rücksichtslos handeln, dann müssen Sie sich auch eine Zurechtweisung gefallen lassen, Charlotte ... Es hat heute wieder etwas gegeben, was Sie vermeiden konnten. Während Herr Claudius mit der Prinzessin im Glashause war, hat unser Haustischler an sämtlichen Fenstern Ihrer Wohnung Maß genommen – Sie hätten Jalousien bestellt, sagte er –«

»Nun ja – ich habe lange genug die Sonne geduldig auf meine unglückliche Haut scheinen lassen,« unterbrach Charlotte sie trotzig. »An die Sonnenseite gehören Läden –«

»Ganz recht; aber es war nicht mehr als billig, daß Sie Herrn Claudius darum befragten – es ist sein Haus und sein Geld, über das Sie dabei verfügen.«

»Gott im Himmel, einmal wird doch die Zeit kommen, wo ich diese Ketten nicht mehr werde klirren hören!« rief Charlotte in ausbrechender Leidenschaft.

»Wer weiß, ob sie Ihnen dann nicht eines Tages wieder wünschenswert erscheinen,« sagte Fräulein Fliedner sehr gelassen.

»Meinen Sie, liebe, gute Fliedner?« – Der lächelnde Hohn in der Stimme der jungen Dame klang mir geradezu fürchterlich. »Eine niederschlagende Prophezeiung! ... Trotzdem bin ich so kühn, zu hoffen, ja ganz gewiß zu erwarten, daß es die Vorsehung denn doch ein klein wenig besser mit mir im Sinne hat.«

Sie schritt nach der Thür.

»Wollen Sie nicht den Thee bei mir trinken?« fragte Fräulein Fliedner so freundlich und friedfertig, als sei nicht ein bitteres Wort gefallen. »Ich werde ihn sogleich besorgen – ich bin ja für Fräulein von Sassens Gesundheit verantwortlich gemacht und muß der möglichen Erkältung vorbeugen.«

»Ich danke!« sagte Charlotte in der offenen Thür mit kaltem Tone über die Schulter zurück. »Ich will mit meinem Bruder allein sein ... Schicken Sie mir die Theemaschine hinauf, aber die kleine silberne, wenn ich bitten darf – ich mag nicht mehr aus Messing trinken, und wenn es Dörte auch noch so ›goldblank‹ putzt ... Adieu, Prinzeßchen!«

Sie ließ die Thür ins Schloß fallen und eilte mit dröhnenden Schritten die Treppe hinauf. Fast unmittelbar darauf rauschten grelle Klavierakkorde durch das stillgewordene Haus.

Die alte Dame schrak sichtlich zusammen. »Mein Gott, wie rücksichtslos!« murmelte sie vor sich hin. »Mir fällt jeder Ton wie ein Schlag auf mein geängstigtes Herz.«

»Ich will gehen und sie bitten, aufzuhören!« sagte ich, nach der Thür springend.

»Nein, nein, das thun Sie nicht!« hielt sie mich ängstlich zurück. »Das ist nun einmal so ihre Gewohnheit, wenn sie sich im Groll zurückzieht, und wir lassen sie darin auch stets gewähren. Aber heute, gerade in diesen Stunden voll Angst und Sorgenqual – was mögen die Leute im Hause davon denken! Sie gilt ohnehin für viel herzloser, als sie ist,« setzte sie bekümmert hinzu.

Sie drückte mich in die Federkissen des Sofas und begann, den Theetisch herzurichten. Zu jeder anderen Zeit wäre es sicher urgemütlich in dem altfränkischen Zimmer der alten Dame gewesen. Die Theemaschine sang; draußen durch die menschenleere Straße strich seufzend der Wind, und der Regen schlug in gleichmäßigem Tempo gegen die Scheiben. Befriedigt nickte das stilllächelnde Gesicht des Pagoden hinter dem Glas in das leise dämmernde Zimmer herein, und der kleine jähzornige Pinscher lag faul, in sichtlichem Wohlbehagen des Geborgenseins, auf dem Polster ... Aber Fräulein Fliedner strich die Butterbrötchen mit zitternden Händen – ich sah es wohl – und Dörte, die alte Köchin, die einen Teller voll Gebäck hereinbrachte, fragte unter beklommenem Aufseufzen: »Wie mag's denn draußen stehen, Fräulein Fliedner?«

Mir schlug das Herz in einer unerklärlichen Angst. Ich empfand einen brennenden Schmerz, wenn ich daran dachte, daß Herr Claudius gerade jetzt zürnend von mir gegangen war – und ich mußte, zu meiner Qual unausgesetzt daran denken ... Wie kindischeigensinnig und widerspruchsvoll mußte ich ihm erschienen sein, als ich an Charlottens Arm daher gekommen war! ... Trotzdem hatte er Besorgnis um mich gezeigt –- Besorgnis für mich kleines unbedeutendes Wesen in einem Moment, wo ein schweres Mißgeschick über ihn hereinbrach! ... Leise schlugen mir die Zähne zusammen, und unter Nervenschauern drückte ich mich tiefer in die weiche Sofaecke ... Auf Fräulein Fliedners dringende Bitten schluckte ich eine Tasse heißen Thees hinunter – die alte Dame selbst genoß nichts – still saß sie neben mir.

»Ist Herr Claudius auch in Gefahr da draußen?« rang es sich endlich von meinen Lippen.

Sie zuckte die Achseln. »Ich fürchte es – gefährlich mag's schon sein – Wassersnot ist fast schlimmer als Feuersgefahr, und Herr Claudius ist nicht der Mann, der in solchen Augenblicken an sich selbst denkt – aber er steht in Gottes Hand, mein Kind!«

Das erleichterte mein Herz gar nicht ... Wie oft hatte ich von Menschen gelesen, die ertrunken waren – unschuldige Menschen, die nichts verbrochen hatten – und er sollte ja einen Mord auf dem Gewissen haben! ... Stand der Mörder auch in Gottes Hand? Das Angstgefühl, unter dem ich litt, trieb mich unwillkürlich, das auszusprechen.

»Er ist ja schuld an dem Tode eines Menschen,« sagte ich gepreßt, ohne aufzusehen.

Die alte Dame fuhr zurück, und zum erstenmal sah ich ihre sanften Augen im Ausdruck tiefster Empörung auflodern.

»Abscheulich – wer hat Ihnen das schon gesagt? Und in einer solchen schonungslosen Weise?« rief sie erregt. Sie stand auf und trat für einige Sekunden an eines der Fenster; dann setzte sie sich wieder zu mir und nahm meine beiden Hände in die ihrigen.

»Wissen Sie auch Näheres darüber?« fragte sie ruhiger.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nun, dann mag sich Ihre junge, in Welt und Leben so unerfahrene Seele allerdings ein grauenhaftes Bild machen – ich kann mir das lebhaft denken – armer Erich! ... Es ist freilich die dunkelste Stelle in seinem Leben; aber, mein Kind, er war damals ein junger Mann von kaum einundzwanzig Jahren, ein leidenschaftlich und enthusiastisch empfindender Mann ... Er hat eine Frau lieb gehabt, so lieb – nun, das mag ich Ihnen nicht des breitern schildern. Weiter besaß er einen Freund, dem er sein ganzes Vertrauen geschenkt, und für welchen er sich vielfach aufgeopfert hatte ... Eines Tages nun muß sich der Ahnungslose überzeugen, daß die Frau und der Freund ihn betrügen, daß sie beide treulos sind ... Es ist zu einer heftigen Szene gekommen, und es sind Worte gefallen, die, wie es die abscheuliche Sitte unter Männern verlangt, nur durch Blut gesühnt werden konnten. – Sie haben sich duelliert, der verräterischen Frau wegen; der Freund –«

»Der junge Eckhof?« warf ich hastig dazwischen.

»Ja, der Sohn des Buchhalters – er hat einen Schuß in die Schulter bekommen, und Herr Claudius ist ziemlich schwer am Kopfe verwundet worden – seine Augenschwäche stammt aus jener Zeit ... Die Wunde Eckhofs ist an sich nicht gefährlich gewesen; aber seine bereits zerrüttete und geschwächte Konstitution hat ihn ihm Stiche gelassen – nach mehrwöchentlichem Krankenlager hat er sterben müssen, trotz aller Bemühungen der ausgezeichneten Aerzte.«

»Und die Frau, die Frau?« unterbrach ich sie.

»Ja, die Frau, mein liebes Kind, die hatte Paris längst verlassen, als Herr Claudius von seinem Schmerzenslager aufstand; sie war mit einem Engländer abgereist.«

»Sie war schuld an seinem Leiden und ist nicht gekommen, abzubitten und ihn zu pflegen?«

»Mein kleines Mädchen, sie war eine Dame vom Theater – sie hat dieses Blutopfer als eine Huldigung ihrer gefährlichen Schönheit hingenommen und sich durchaus nicht verpflichtet gefühlt, abzubitten, noch weniger aber die Wunde mit ihren verwöhnten Händen zu heilen ... Damals, kurze Zeit nach seiner Genesung, kam Herr Claudius hierher – sein Bruder war – gestorben und hatte so manche Anordnung in die Hände seines Erben niedergelegt ... Nach langer Trennung sah ich ihn zum erstenmal wieder – ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Menschen so furchtbar leiden sehen, als diese junge, aus allen Fugen gerissene Männerseele.«

»Er hatte Gewissensbisse?«

»Das weniger – er konnte die Frau nicht vergessen ... Wie wahnsinnig lief er stundenlang durch die Gärten, oder raste mit den Händen über die Tasten –«

»Der ernsthafte, ruhige Herr Claudius?« fragte ich atemlos vor Ueberraschung.

»Das war er eben damals nicht ... Er suchte Ruhe und Beschwichtigung in der Musik, und wie spielte er! Ich begreife sehr wohl, daß ihm Charlottens ›Trommeln‹ oft geradezu zur Qual wird ... Er hielt nicht lange hier aus. Ein Jahr noch reiste er ziellos durch die Welt, dann kam er zurück, völlig umgewandelt, und nahm als der ernste, strenge, schweigsame Mann, als den Sie ihn kenne, das Geschäft in die Hand ... Ich habe ihn nie wieder eine Taste berühren sehen, ich habe nie wieder ein leidenschaftliches Wort von ihm gehört, eine heftige Bewegung an ihm bemerkt. Er hatte anders überwunden als sein Bruder, der an seinem Seelenschmerz zugrunde gegangen war – sein starker Geist hat ihn das richtige Beschwichtigungsmittel, die Arbeit, finden lassen. Und so ist er das geworden, was er heute noch ist, ein Arbeiter im strengsten Sinne des Wortes, ein stahlharter Charakter, der in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen für die Menschenseele sieht und sie überall angewendet wissen will.«

Fräulein Fliedner hatte mit einer Lebhaftigkeit gesprochen, wie ich sie an der zwar immer anmutig liebenswürdigen, aber auch stets sehr zurückhaltenden alten Dame noch nicht gesehen – sie hatte sich offenbar hinreißen lassen. Und ich saß an ihrer Seite und sah mit zurückgehaltenem Atem in eine ungekannte Welt – eine Wunder war sie für mich, die leidenschaftliche Liebe des Mannes zum Weibe! Meine geliebtesten Zaubergeschichten erblaßten und verloren ihren Glanz und Reiz neben dieser Erzählung aus der Wirklichkeit ... Und der Mann, der die treulose Frau nicht vergessen konnte, den der Schmerz um ihren Verlust wie wahnsinnig durch die Gärten gejagt hatte, es war Herr Claudius gewesen – er konnte sich wirklich etwas so tief zu Herzen nehmen? ...

»Liebt er wohl die Frau noch immer?« unterbrach ich mit leiser Stimme das plötzlich eingetretene tiefe Schweigen.

»Mein Kind, darauf kann ich Ihnen nicht antworten,« sagte lächelnd die alte Dame. »Meinen Sie wirklich, es wisse irgendein Mensch, was in Herrn Claudius' Innerstem vorgeht? ... Sie kennen ja sein Gesicht und Wesen und nennen es selbst ernsthaft und ruhig – seine Seele ist für alle ein zugeschlagenes Buch ... Uebrigens kann ich mir kaum die Möglichkeit denken; er muß ja die Frau verachten.«

Es war dunkel geworden. Fräulein Fliedner hatte vorhin ein Fenster geöffnet, weil es schwül im Zimmer war; der plätschernde Regen hatte aufgehört. In der abgelegenen Mauerstraße war es still, aber fern, von den frequenten Plätzen, dem Knotenpunkt der Stadt her, drang in an- und abschwellendem Summen das Getöse des lebendigsten Menschenverkehrs. An der gegenüberliegenden Straßenseite hüpften die Gaslichter eines nach dem anderen auf – sie spiegelten sich in den trüben Regenlachen des Pflasters und zeigten, wie schwarz und dräuend der Himmel noch über der Stadt hänge ... Auch in das Zimmer herein, wo wir lautlos schweigend nebeneinander saßen, fiel ihr schwacher Schein, und ich bat Fräulein Fliedner, keine Lampe anzuzünden, es sei hell genug – ich fürchtete mich, in das Gesicht der alten Dame zu sehen, weil ich wußte, daß es angstvoll und tiefbesorgt aussehen müsse.

Da kamen schallende Schritte das Trottoir entlang, und im Vorübergehen, unter dem offenen Fenster, sagte eine hastig erzählende Stimme: »Eine gelähmte Frau, die sich nicht hat retten können, ist ertrunken! ... Es soll schrecklich draußen sein!«

Wir fuhren empor, und Fräulein Fliedner begann rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen ... Nun erscholl auch lebhaftes Sprechen in der Hausflur. »Noch keine Nachricht aus dem Dorotheenthal?« hörten wir Charlotte über das Treppengeländer herabrufen, als Fräulein Fliedner die Thür öffnete.

»Von unseren Leuten ist noch keiner zurück,« antwortete der alte Erdmann. Er stand inmitten der dienstbaren Geister des Hauses, und seine rauhe Stimme zitterte. »Aber andere erzählen, es sei zu schlimm draußen,« fuhr er fort, »und unser Herr ist der erste Mann beim Retten – daß Gott erbarm, er fragt viel danach, ob solch eine Nußschale umkippt! ... Dafür sind doch auch andere Leute da! ... Der Herzog soll auch draußen sein.«

»Wie, Seine Hoheit selbst?« rief Dagobert herab.

Erdmann bejahte. Die Thür droben wurde zugeschlagen; aber gleich darauf kam der Leutnant die Treppe herab – er ließ sich sein Pferd vorführen und jagte davon – der schöne Tankred – wie erbärmlich erschien er mir jetzt!

Ich kauerte mich wieder in die Sofaecke, während Fräulein Fliedner tief aufseufzend in die Fensternische trat ... Ich mußte an das Wasser denken, wie es wütend über die Erde hin tobte und die Menschen erstickte, die sich nicht retten konnten! Es mußte schrecklich sein, in dem trüben tosenden Wasser umzukommen! Aber »Herr Claudius fragte viel danach, ob die Nußschale umkippte«, wie der alte Erdmann sagte; er hatte die Welt und die Menschen und das eigene Leben wohl nicht mehr lieb, und er hatte auch recht. Die Frau, die er nicht vergessen konnte, war falsch gewesen, und die Geschwister und der alte Buchhalter waren es auch, und ich, für die er so viel Güte zeigte, ich hatte vor wenig Stunden erdrückende Beweise gegen ihn und sein Handeln an das Tageslicht gebracht ... Nur Fräulein Fliedner hielt zu ihm – ich sah mit einer Art von Neid nach der kleinen zierlichen Gestalt hinüber, die regungslos am Fenster verharrte; sie hatte ein gutes Gewissen, sie hatte ihm nie etwas zuleide gethan, sie brauchte sich mit keinem Vorwurf zu quälen, wenn – die Wasser über den edlen blonden Kopf hinweggingen. Fast hätte ich aufgeschrien bei dieser Vorstellung, aber ich biß die Zähne zusammen und begann von neuem angstvoll auf jeden Schritt, jedes ferne Räderrollen zu horchen.

So verrann Stunde um Stunde. Mein Vater war auch noch nicht heimgekommen – auf Fräulein Fliedners Befehl hatte Erdmann in der Karolinenlust nachsehen müssen ... Ganz beschwichtigt hatte sich der Lärm der aufgeregten Stadt noch nicht, aber es war stiller geworden – Mitternacht kam heran ... Da bog ein Wagen in die Mauerstraße ein – mit einem leisen Aufschreien, einem Gemisch von Angst und Freude, fuhr die alte Dame empor und ich flog durch die Hausflur und riß die Hofthür auf. Ein fast greifbares Dunkel lag über der Erde, aber ich lief blindlings hinein, dem daherbrausenden Wagen entgegen.

»Sind Sie es selbst, Herr Claudius?« rief ich mit bebender Stimme über das Rädergerassel hinweg.

»Ja,« scholl es vom Kutschersitz herab.

Gott sei Dank! ... Ich drückte die Hände auf die Brust – ich glaube, mein angsterlöstes Herz müsse sie im Aufatmen zersprengen.

Nun kamen auch von allen Seiten die Leute des Hauses gestürzt und umringten den Wagen. Herr Claudius stieg herab.

»Steht's wirklich so schlimm, Herr Claudius?« fragte der alte Erdmann. »Wirklich vierzigtausend Thaler Verlust, wie Schäfer sagt?«

»Der Schaden ist größer – es ist alles verwüstet; wir müssen in Dorotheenthal ganz von vorn anfangen. Mich schmerzen nur meine jungen Koniferen – nicht eine steht mehr,« sagte er bewegt. »Nun, das läßt sich wohl alles mit der Zeit ersetzen; aber hier« – er brach ab und öffnete den Wagenschlag. –

Er half jemand sogleich über den Tritt herab. Das Licht mehrerer herbeigebrachten Lampen quoll jetzt durch die Hofthür und fiel auf ein junges Mädchen, das, halb in Herr Claudius' Armen hängend, auf das Pflaster glitt. Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte die zarte, tief vornübergebeugte Gestalt, und das unbedeckte Haar hing unordentlich und aufgelöst um ein schönes, aber in verzweifeltem Schmerz verzogenes Gesicht.

»Ihre Mutter ist ertrunken,« flüsterten die Leute, die mitgekommen waren.

Herr Claudius schlang seinen Arm fester um ihre Taille und führte sie die Stufen hinauf. Er strich im Dunkeln dicht an mir vorüber – seine Kleider waren schwernaß.

Auf der obersten Stufe stand Fräulein Fliedner und streckte ihm die Hände entgegen; was er ihr sagte, konnte ich nicht verstehen – eine plötzliche Scheu und ein unerklärliches Wehegefühl hatten mich von den Menschen fort, tiefer in den Hof hinein gescheucht – aber ich sah, wie die alte Dame sanft den Arm der Weinenden in den ihren legte und sie hinwegführte. Herr Claudius verweilte noch einen Augenblick droben in der Flur und sprach mit Charlotte. Es entging mir nicht, daß er dabei suchend umherblickte – hatte er doch vorhin meine Stimme erkannt und wollte sich nun überzeugen, ob ich, der er zürnte, es wirklich gewesen sei? ... Was für thörichte Gedanken! Er hatte jetzt Wichtigeres zu denken – wie viel Unglück hatte er heute mit ansehen müssen, und was für schwere Aufgaben lagen nun auf seinen Schultern! ... Und hatte er nicht eben ein tiefgebeugtes, verwaistes Mädchen in sein Haus eingeführt – eingeführt mit zärtlicher Sorgfalt und tiefem Mitgefühl? Sie war nicht so undankbar wie ich; sie stieß die Hand nicht zurück, die sie stützen wollte – vertrauensvoll hatte sie sich dem Arm hingegeben, der sie umschlang ... Und da sollte er sich noch des tolltrotzigen Menschenkindes aus der Heide erinnern? ... Ganz gewiß nicht.

Er kam die Stufen wieder herab, blieb in der Hofthür stehen und sah angestrengt in das Dunkel hinaus. Unterdes war auch ein Herr aus dem Wagen gestiegen, der zu ihm trat – ich erkannte meinen Vater. Verwundert sah ich, wie er Herrn Claudius, dem mißachteten »Krämer«, in herzlichster Weise die Hand bot und sich unter warmen Dankesworten von ihm verabschiedete. Im Garten schlüpfte ich neben ihm hin und hing mich an seinen Arm. Er war sehr überrascht und konnte sich nur schwer in die Thatsache finden, »sein kleines Mädchen zu so später Nachtzeit noch im Freien auflesen zu müssen.« Er hatte den Herzog nach Dorotheenthal begleitet und dann, der Kürze wegen, die Rückfahrt in Herrn Claudius' Wagen angenommen. Während wir nach der Karolinenlust schritten, erzählte und sprach er auch von Herrn Claudius.

»Was für ein Mann!« rief er stehenbleibend. »Der Herzog ist entzückt von dieser Ruhe und Kaltblütigkeit, von der stillen Würde, mit der er sein Mißgeschick hinnimmt ... Ich habe den Mann für ein lebendiges Rechenexempel gehalten – das muß ich ihm abbitten!«

Ja, was für ein Mann! ... »Nun, das läßt sich wohl alles mit der Zeit ersetzen, aber hier« – mit diesen wenigen einfachen Worten hatte er seine enormen pekuniären Verluste dem Unglück des jungen Mädchens gegenüber abgewogen. Und das war der Zahlenonkel, der eiskalte Geldmensch? ... Nein, »der Arbeiter im strengsten Sinne des Wortes,« der aber nicht lediglich um des Erwerbs willen wirkte, sondern weil er »in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen seiner Seele sah« ... Ach, jetzt verstand ich ihn schon besser! ...

In dieser Nacht ging ich nicht mehr zu Bett. Ich setzte mich in die Fensterecke und wartete auf das Morgenlicht. – Mit dem Tage, der so blaß hinter den Bäumen aufglomm, wollte ich ein neues Leben anfangen.


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