E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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12.

gold

Gestern hatten mich die neuen Eindrücke überrumpelt; ich war wie von einem Rausch befangen schlafen gegangen; nun war das helle, klare Morgenlicht da und der frisch ausgeschlafene Geist ernüchtert, und ich war wieder die scheue Eidechse, die sich vor den Menschenaugen in eine dunkle Höhle zu flüchten suchte.

Wie ein Tröster zwitscherte und sang auf einmal ein kleiner Vogel in meine niederschlagenden Erwägungen hinein. Er saß jedenfalls draußen auf dem Fenstersims, und ich meinte in schmerzlicher Freude, er käme aus der Heide, direkt vom Ebereschenbaum an der Dierkhofwand her ... Die tiefe Morgenstille wurde zu meiner Ueberraschung aber auch noch auf andere Weise unterbrochen. Hinter der Wand, an welcher der Schrank stand, sang plötzlich eine tiefe, klangvolle Männerstimme in langgehaltenen Tönen den Vers eines Kirchenliedes. Zugleich wurde die Thür nach meinem Wohnzimmer aufgemacht; Ilse trat lauschend auf die Schwelle. Sie nickte mir schweigend guten Morgen zu und blieb mit gefalteten Händen stehen.

»Ein frommer Mann,« sagte sie erbaut, als der Vers zu Ende war, und trat an mein Bett. »Da wohnen ja außer deinem Vater doch noch Leute in dem Hause – und was für Leute! ... Ist mir doch gestern das ganze Haus so heidnisch und verhext vorgekommen –«

Sie schwieg, denn die Stimme begann einen zweiten Vers – das liebliche Tiriliren draußen auf dem Sims war längst verstummt; die starke Menschenstimme hatte den kleinen, schüchternen Sänger verscheucht.

»So, nun stehe auf, Kind!« sagte Ilse, nachdem sie auch dem zweiten Vers andächtig gelauscht hatte. »Die Nachbarschaft da drüben ist mir lieber, als wenn ich einen Schatz gefunden hätte. Das war eine schöne Morgenandacht! ... Nun geht's ans Tagwerk!«

Damit zog sie die Rouleaus in die Höhe und ging hinaus.

Ich sprang aus dem Bett. Draußen sprühten und tanzten goldene Funken aus dem Wasserspiegel; die Bäume und Büsche troffen von farbenglitzerndem Tau, und über die Rasenflächen hin liefen Pfauen und Goldfasane.

Während ich mich ankleidete, sang die nachbarliche Stimme unermüdlich weiter.

»Je – kriegt denn der's bezahlt?« fuhr Ilse mit einer Falte des Unmuts zwischen den weißblonden Brauen ganz erstaunt herein, als nach dem sechsten Vers auch der siebente begann. »Unserm Herrgott muß ja Zeit und Weile lang werden bei dem Ansingen! ... Dazu hat er doch wahrlich die schöne kostbare Morgenzeit nicht gemacht!«

Sie war freilich schon thätig gewesen. Sie hatte sich eine Küche aufschließen lassen und, trotz aller Anerbietungen des Stubenmädchens, das Frühstück selbst bereitet – Ilse konnte »absolut keinen fremden Kaffee trinken«. Die Stube war bereits gefegt, das Bett fortgeräumt, das sie sich auf dem Sofa zurechtgemacht, und auf dem Tisch stand schön geordnet ein von Fräulein Fliedner gesandtes Kaffeegeschirr.

Ich klopfte mit schüchternem Finger an die Thür meines Vaters.

»Komm nur herein, kleines Lorchen!« rief es drinnen ... Gott sei Dank, er wußte noch, daß ich da war, ich mußte mich nicht aufs neue vorstellen! Er zog mich an der Hand über die Schwelle, küßte mich auf die Stirn und entschuldigte sich, daß er uns gestern so allein gelassen, aber er habe bis nach elf Uhr beim Herzog bleiben müssen. Ilse teilte ihm mit, daß sie sich »nachher« bei Fräulein Fliedner Rats erholen wolle, was nun mit mir zu beginnen sei, und damit war er vollkommen einverstanden. Fräulein Fliedner sei eine sehr würdige, achtungswerte Dame, es würde ihm lieb sein, wenn sie sich seines Töchterchens annehmen wolle; später werde er ihr selbst seinen Besuch machen und sie darum bitten. Heute aber könne er unmöglich, er stecke tief in dringenden Arbeiten und müsse mit jeder Minute geizen.

Er war bei Weitem nicht so zerstreut wie droben in der Bibliothek an seinem Schreibtisch, und wenn er mich auch ein paar Mal mit dem Namen meiner verstorbenen Mutter anredete und sich angelegentlichst erkundigte, wie alt ich sei – ich fühlte doch aus Allem heraus, daß er sich mit dem Gedanken, sein Kind bei sich zu haben, vollkommen vertraut gemacht hatte – das ermutigte mich wieder. Er behielt fortwährend meine Hand in der seinen, und ich durfte ihn bis an die Treppe begleiten, denn er war gewohnt, seinen Kaffee im Bibliothekszimmer zu trinken.

In der Halle ging ein stattlicher alter Herr an uns vorüber. Er hatte schneeweißes Haar und ein schneeweißes Halstuch unter dem Kinn, und sein schwarzer Anzug glänzte wie Atlas in dem hereinfallenden Morgensonnenstrahl. Er zog zwar tief den Hut, aber mit sehr steifer gemessener Haltung, und seine hellblauen Augen glitten förmlich feindselig hochmütig an der nachlässigen Erscheinung meines Vaters hin.

»Wer ist das?« fragte ich leise, als er rasch, aber mit außerordentlich viel Würde draußen den Teich umschritt; bei seinem unvermuteten Erscheinen war es mir wie ein jäher Stich durch das Herz gefahren.

»Der alte Buchhalter der Firma Claudius,« sagte mein Vater. »Er ist dein Nachbar – hast du ihn vorhin nicht singen hören?« Ein sarkastisches Lächeln flog um seine feinen Lippen, während er einen Blick auf den eifrigen Morgensänger zurückwarf, der eben im gegenüberliegenden Gebüsch verschwand.

Zwei Stunden später ging ich denselben Weg an Ilses Seite, den Weg nach dem Vorderhaus. Ilse trug den Blechkasten mit den Wertpapieren meiner Großmutter unter ihrem schwarzen Umschlagtuch; sie hatte ihre Reisetoilette noch durch ein Paar dunkler baumwollener Handschuhe vervollständigt und sah ganz feierlich aus.

Heute war das Kiesrund leer; dafür herrschte desto regeres Leben im Blumengarten. Der Schubkarren kreischte im Sand der Wege, zwischen den Beeten wandelten Leute in der Arbeitsbluse, Blume um Blume in Bouquets einfügend, und aus Rosenhecken, hinter Spalieren tauchten Männerköpfe empor, die uns erstaunt nachsahen.

Als wir in die Nähe des großen Gewächshauses kamen, trat der alte Buchhalter aus der Thür. Er war ohne Hut; von dem ehrwürdigen, blütenweißen Scheitel ging ein förmliches Leuchten aus. Er sprach mit dem jungen Herrn, der, wie es schien zum Ausgehen gerüstet, neben ihm herschritt. Sie bemerkten uns nicht, obgleich wir, kurz nach ihnen, ich den breiten Weg einbogen, der direkt nach der Thür in der Hofmauer lief.

»Sie sind Brauseköpfe – Sie und Ihre Schwester – Ihr Flug geht hoch,« sagte der alte Buchhalter.

»Verdenken Sie uns das?«

»Und das Nest, in dem Sie flügge geworden sind, paßt nicht mehr – ich weiß es längst!« fuhr der silberhaarige Herr fort, ohne den Einwurf zu beantworten. Er hatte auch beim Sprechen eine tiefe angenehme Stimme, nur war seine Sprechweise so eigentümlich breit und betonend, als halte er selbst jedes seiner Worte für goldschwer.

»Das will ich nicht gerade sagen,« entgegnete der Andere achselzuckend; »aber es brauchte so Manches nicht zu sein, was Charlotte und mich demütigt, was sich uns in der Gesellschaft, und hauptsächlich mir bei meiner Karriere wie ein Bleigewicht anhängt ... Wenn sich der Onkel nur einmal entschließen könnte, diese Krambude aufzugeben!«

Er holte mit seinem feinen Spazierstock weit aus und köpfte eine prachtvolle feuerfarbene Nelke, die in den Weg hereinnickte, mit einem so wuchtigen Hieb, daß der Kelch weithin über den Kies flog ... Ich stieß einen leisen Schrei aus und fuhr unwillkürlich mit beiden Händen nach dem Halse, als sei mir der grausame Hieb selbst durch das Genick gegangen.

Die Sprechenden fuhren herum. Mein erschrockenes Gesicht, noch mehr aber wohl meine Bewegung lockten ein spöttisches Lächeln auf das Gesicht des jungen Herrn.

»Ah, Heideprinzeßchen kann auch sentimental sein?« rief er und nahm den Hut verbindlich grüßend von seinen kastanienbraunen Locken. »Nun bin ich sicher ein Vandale, ein Barbar, und Gott weiß, was alles, und bin verurteilt für ewige Zeiten,« fuhr er mit einem lächelnden Seitenblick auf mich fort. »Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als die Blume sofort wieder zu Ehren zu bringen.«

Er hob die Nelke auf und steckte sie in sein Knopfloch.

»Das macht das arme Ding auch nicht wieder ganz und heil,« sagte Ilse trocken im Vorübergehen.

Er lachte auf.

»Heißen Sie nicht Ilse?« fragte er schelmisch.

»Aufzuwarten, ja – Ilse Wichel, wenn's erlaubt ist,« entgegnete sie, sich nach ihm umdrehend – das klang scharf, als habe sie Pfeffer und Salz auf der Zunge; wie aber würde ihre Antwort erst ausgefallen sein, hätte sie gewußt, daß er in der Heide an den Namen Ilse das Bild eines – Drachen geknüpft hatte!

Wo sie übrigens den Mut hernahm, so selbständig fest und gleichmütig in die braunen Augen zu sehen, als gehörten sie zu dem ersten besten Besenbinderjungen, den sie mit irgend einer Vermahnung und einem Stück Brot vom Dierkhof fortschickte, das war mir ganz unfaßlich.

Ja, Ilse war tapfer wie ein Soldat, mit der konnte sich Keine messen, Keine in der ganzen Welt, ich aber am allerwenigsten, denn mein Hasenherz schlug so heftig, daß ich meinte, der Herr Buchhalter sähe es und betrachte mich deshalb so scharf von Kopf bis zu Füßen.

Ich glaubte, der junge Mann wollte seinem Begleiter sagen, wer ich sei; allein Ilse hielt nicht Stand; sie nickte mit dem Kopfe und wandte sich um, und ich machte selbstverständlich die Schwenkung mit.

Die Herren gingen langsam hinter uns her. »Ein Wagen kommt draußen um die Ecke!« sagte der junge Herr plötzlich stehenbleibend. »Ja, ja, es sind die Rappen! Onkel Erich kommt von Dorotheenthal zurück!«

Sie beschleunigten ihre Schritte und traten noch vor uns in den Hof, wo eben durch das Thor der hübsche hellausgeschlagenen Wagen hereinbrauste. Der alte Herr mit dem braunen Hut und der blauen Brille saß drin. Er sah gerade so aus wie in der Heide, nur sprang er mit weit mehr Leichtigkeit über den Tritt herab, als ich nach seinem sonst so gemessenen, jedenfalls vom Alter bedingten Bewegungen vermutet hätte.

»Guten Morgen, lieber Onkel!« sagte der junge Mann, und: »Bist du da, Onkel Erich?« rief Charlottens Stimme aus einem Fenster herab.

Der alte Herr winkte grüßend hinauf und reichte seinem Neffen und dem Buchhalter die Hand. Wir gingen eben vorüber, wurden aber nicht beachtet; denn mit dem Wagen zugleich war auch ein stattlicher, kräftiger Mensch mit einem Felleisen auf dem Rücken in den Hof getreten und hielt in diesem Augenblick seinen abgezogenen Hut bittend hin.

Ich sah, wie der junge Herr sofort seine Börse zog und ein großes Silberstück in den Hut werfen wollte; allein der Onkel schob die freigebige Hand zurück.

»Was für ein Handwerk?« fragte er den Bittenden.

»Bin ein Schreiner –«

»Habt Ihr hier in der Stadt Arbeit gesucht?«

»Ja wohl, gnädiger Herr – und wie! Hab' aber keine gefunden, partout nicht, und wär' mir doch jede recht, weiß es Gott! – Ich hab' das Wandern dicksatt!«

»So, so – dann kommt einstweilen zu mir; ich habe Arbeit für Euch« – er zeigte auf die Kistenstöße ringsum – »und bezahle gut.«

Der Mensch kraute sich verlegen in seinem wirren Haar.

»Nun ja, ist mir recht, Herr – will aber erst noch einmal in die Herberge gehen« – sagte er stockend.

»So geht!« sagte kurz der alte Herr und wandte sich weg.

»Tausend noch einmal, der hat Haare auf den Zähnen!« meinte Ilse bewundernd, während wir die Stufen in dem Hausflur hinaufstiegen; ich aber war empört. Der Bettler sah erbärmlich zerlumpt und zerrissen aus, und wie rauh und kurz war er angelassen worden! War es nicht an sich schon schrecklich, bitten zu müssen –- mir hatte das Herz weh gethan, als der stattliche Mann so demütig gebückt vor dem stolzen Reichen stehen mußte! ... Da war der junge Herr doch viel barmherziger und edler gewesen; ohne zu fragen, hatte er sein Almosen hingereicht ... Wenn der Schreiner nicht wiederkam, so verdachte ich ihm das nicht einen Augenblick – wer mochte sich denn von den häßlichen, blauen Brillengläsern anfunkeln lassen?

Charlotte hatte uns jedenfalls durch den Hof gehen sehen. Sie kam die Treppe herab und begrüßte uns in der Hausflur. Ich konnte den Blick nicht von ihr wegwenden. Ein Spitzenhäubchen, klar und durchsichtig wie Spinnweben, hing nachlässig hingeworfen auf dem dunkelglänzenden Scheitel und legte sich verklärend um das schöne, wenn auch für ein junges, weibliches Gesicht etwas zu große und volle Oval der Wangen. In lockeren Falten floß ein helles Morgenkleid um die hoch aufgebaute Gestalt; nur ein schmaler Gürtel bezeichnete in weitgeschwungenen Konturen die durchaus nicht beengte, kräftig gebaute Taille.

»Will Heideprinzeßchen zu mir!« fragte sie freundlich und ergriff ohne Weiteres meine Hand.

»Nachher auch zu Ihnen, Fräulein; aber erst müssen wir Fräulein Fliedner sprechen,« sagte Ilse. Auch ihre Augen hingen wohlgefällig an der schönen Erscheinung – ja, das Große und Starke, davor hatte sie doch auch Respekt; jedenfalls schmückte sie solch einen großen Kopf auf breiten Schultern auch stets mir ihrem eigenen starken Willen aus ... Ich selber kam mir neben den zwei stämmigen Frauengestalten so verkürzt, so grenzenlos unwichtig vor, wie etwa eine zwischen zwei Eichen hingewehte Flaumfeder.

Charlotte schüttelte bei Ilses unverblümter Antwort lachend den Kopf und öffnete eine Thür ... Gott sei Dank, die Dame, die sich bei unserem Eintreten in einer der tiefen Fensternischen erhob, sie war wenigstens nicht so groß wie meine zwei Flügelmänner! Fräulein Fliedner sah in ihrem seidenen Kleide und weißen Häubchen und mit der feinen goldenen Uhrkette am Gürtel wieder ebenso appetitlich und zart, so vornehm aus wie gestern Morgen in der Hausflur und kam uns mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

Ich versank sofort neben Ilse in den dicken, kattunüberzogenen Federkissen eines altfränkischen Sofas, während Charlotte sich in einen Lehnstuhl warf, den kläffenden Pinscher, der eben ein Stück aus meinem kostbaren Kleide zu reißen gesucht hatte, ohne Umstände am Genick auf ihren Schoß zerrte und ihm eine Strafpredigt hielt.

Ilse schilderte ohne lange Präliminarien in den knappesten Umrissen mein bisheriges Leben. Mein Kopf voll Unsinn, meine braunen Hände, die nicht stricken wollten, und der unbezähmbare Trieb, barfuß zu laufen, das waren die schauderhaften Grundzüge des Portraits, welche die zweijährige Bildungszeit verwischen sollte ... Ich saß lammstill dabei und sah in den gegenüberstehenden Glasschrank nach der großen häßlichen Porzellanfigur drinnen, die zu Ilses kerniger Rede mit ernsthaftem Gesichte ein schweigendes »Ja, ja, das muß anders werden!« unermüdlich nickte. Dann zählte ich die unendlichen Schlüsselreihen an der Wand – Himmel, diese schreckliche Menge großer und kleiner Schlüssel hatte Fräulein Fliedner auch in ihrem kleinen zierlichen Kopf und mußte wissen, was jeder verschloß! Mir wurde angst und bange vor dem Hause, das so unzähligemal hinter Schloß und Riegel lag – ach, mein lieber, lustiger Dierkhof mit seinem allereinzigen Hausschlüssel, der oft Nachts nicht einmal umgedreht wurde!

»Gern, herzlich gern will ich das kleine Fräulein von Sassen unter meine Flügel nehmen,« sagte die alte Dame, als Ilse geendet und dabei den Bleichkasten mit den Papieren auf den Tisch gestellt hatte. »Aber es muß dabei Manches, vorzüglich die Geldangelegenheit, in ernste Erwägung gezogen werden. Ich bin der unmaßgeblichen Meinung, daß Sie auch Herrn Claudius um seinen Rat bitten –«

»Um Gottes willen nur heute nicht, liebe Fliedner!« unterbrach sie Charlotte lebhaft. »Onkel Erich hat seine Arbeitsmarotte schlimmer als je – er hätte eben um ein Haar einen unglücklichen Handwerksburschen gepreßt, der war aber so schlau, zu entwischen ... Er ist imstande und steckt das arme Ding da 'nüber in die Hinterstube und läßt es sein lebenlang Totenkränze aus getrockneten Blumen binden!«

Ich sah ihr starr vor Schrecken ins Gesicht.

»Ja, ja, sehen Sie mich nur an, Kleine!« sagte sie und betrachtete ihre großen, weißen, schöngepflegten Finger. »Für diese zehn unglücklichen Geschöpfe hier zittere ich beständig, daß sie eines schönen Tages konfisziert und in der Hinterstube angestellt werden!«

»Nun, Sie dürfen sich doch wahrhaftig nicht beklagen, Charlotte,« meinte Fräulein Fliedner bei aller Milde doch ein wenig scharf.

Ilse machte ein bedenklich langes Gesicht. Bei aller scheinbar rücksichtslosen Strenge hatte sie mich doch viel zu lieb, als daß sie den Gedanken, mich unglücklich in einer fremden Stadt zurückzulassen, ertragen hätte ... Ja, sie malte meine Unwissenheit und Ungeschicklichkeit in den schwärzesten Farben; aber sie mußte sich auch sagen, daß sie selbst viel Schuld trug – sie hatte nie die Kraft gefunden, mich zur Arbeit zu zwingen und meinen Hang zum ungebundenen Umherschweifen zu unterdrücken.

»Seien Sie ganz ruhig,« versetzte Fräulein Fliedner lächelnd. »Fräulein Claudius liebt es manchmal, in Uebertreibungen zu sprechen. Der Herr ist streng, aber nicht taktlos; Sie können getrost mit ihm reden.«

»Nun, wenn Sie meinen,« entgegnete Ilse sichtlich erleichtert. »Ich weiß nicht warum, aber ich habe Vertrauen zu dem Mann. Was er für ein Gesicht hat, weiß ich freilich nicht – er stand draußen im Hofe mit dem Rücken nach mir zu – aber die Kleine hat ihn vor vier Wochen in der Heide gesehen und sagt, er sei ein alter, uralter Herr, und da muß er doch Erfahrungen haben und die Welt kennen.«

Charlotte fuhr mit beiden Armen in die Luft und schüttelte sich vor Lachen.

»Onkel Erich wird sich bei Ihnen bedanken, Durchlauchtigstes Heideprinzeßchen!« rief sie, und auch Fräulein Fliedner sah mich schalkhaft an.

»Nehmen Sie nur Ihren Kasten, und kommen Sie mit!« sagte sie zu Ilse. Sie warf die Mantille über die Schultern, zupfte die weißen Manschetten am Handgelenk zurecht und fuhr mit beiden Händen über den tadellos glatten, graumelierten Scheitel.

»Da muß ich auch dabei sein!« rief Charlotte aufspringend und warf den Pinscher in seinen Polsterkorb.

»Im Morgenanzug?« fragte Fräulein Fliedner mit großen Augen.

»Ach was, ist der denn nicht schön und frisch?« rief Charlotte leichthin, indem sie sich vor dem Spiegel das Spitzenhäubchen tiefer in die Stirn zog.

Die alte Dame zuckte die Achseln und ließ uns wieder hinaustreten in die dämmernde Hausflur. Sie öffnete geräuschlos eine am entgegengesetzten Ende der Halle liegende Thür.


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