E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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3.

»Da hinaus kannst du nicht, da steht die Großmutter!« sagte sie mit unterdrückter Stimme.

Die Thür stand offen, und ich sah, wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf- und niederschleuderte – ein Schauspiel, das mich sonst nicht befremdete, ich hatte es täglich vor Augen.

Meine Großmutter war eine große, starkbeleibte Frau, mit einem Gesicht, das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röte überlief. Diese Färbung der ohnehin starken und auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt mit den weitausholenden Schritten und den energischen, kraftvollen Armbewegungen machte sie zu einer wilden, furchtbaren Erscheinung, und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken, wo sie unversehens an mir vorüberschoß, und ich höre wieder das Kreischen und Schüttern der Dielen unter ihren Füßen und fühle ein Wehen, als sei ein Windstoß vorbeigebraust, dann muß ich, trotz ihrer schwarzen Augen und der streng orientalischen Profillinie, doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken, die, das Tierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand, sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen.

Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl; er schoß ihr über das Gesicht und an den außerordentlich starken, grauen Zöpfen hinab, die in den Brunnentrog hingen. Das that sie immer, auch im eisstarrenden Winter; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebensluft zu sein. Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes, beängstigendes Braunrot hinüber, und als die gewaltige Frau, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit geöffnetem Munde einige Mal kräftig ausatmete, da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen, weißen Zähnen.

Ich sah Ilse an; sie blickte wie selbstvergessen hinüber, und ihre hartblauen, strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmernis und Trauer.

»Was ist mit der Großmutter?« fragte ich beklommen.

»Nichts – es ist schwül heute,« antwortete sie kurz. Es war ihr sichtlich fatal, auf dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein.

»Gibt's denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe, Ilse?«

»Sie nimmt nichts – das weißt du ... Gestern Abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet ... Jetzt geh, Kind, und hole deine Sachen.«

Damit schritt sie nach dem Herd, und ich verließ pflichtschuldigst das Haus durch eine zweite Seitenthür. Ich sprang nach dem Flusse, der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief, und versuchte durch das Ufergebüsch zu schlüpfen. Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht, das unberührt von Menschenhand wachsen durfte, wie es Lust hatte. Aber ich wand mich unverdrossen weiter, denn die zähen Weiden, wenn sie auch nach mir zurückschlugen und meine nackten Füße schmerzend rieben, schützten mich doch vollkommen vor den fremden Blicken, und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte, segnete ich diesen Schutz doppelt; denn schräg über die Heide her kamen die Herren, Heinz voran, und schritten direkt auf den Fluß zu. Noch hoffte ich, vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen, wo ich meine Fußbekleidung abgelegt hatte, allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts, als die Fremden, und kauerte mich resigniert, ziemlich nahe am Ziele, im Gebüsch an den Boden nieder.

Was sie hierher führte, konnte ich mir denken; Heinz zeigte ihnen den schmalen, neben dem Ufergebüsch hinlaufenden Grasstreifen. Da ging sich's freilich anders, als im spröden starren Heidekraut, der Weg war samtweich, wie geschaffen für verwöhnte Füße. Die Herren kamen dicht an mir vorüber, ich hörte das Knistern ihrer Tritte, und leise wurden die Zweige gestreift, die auch meinen Arm berührten. An der Birke blieben sie stehen.

»Aha, hier hat das Heideprinzeßchen Toilette gemacht!« rief der junge Herr. Mir stockte der Atem. Ich bog mich vor und sah, wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm. Nun wußte ich, bei aller Unberührtheit von Welt und Leben, dennoch recht gut, wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte. Ich hatte im Märchen von silbergestickten Pantöffelchen, von kleinen roten Schuhen gelesen, und das Papier, auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen, erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Samt und Seide. Das Unförmchen aber, das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt, war vom stärksten Kalbsleder – o Ilse, dir wäre Holz noch nicht »derb und haltbar« genug für meine unruhigen Füße gewesen!

Heute Morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden, nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen, die Ilse selbst aus Heidschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte – ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich. Ich war glücklich, und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt, denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nagelknöpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschieren lassen – jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber.

»Je – über das Kindchen! Hat richtig die Schuhe stehen lassen! – Ganz neue Schuhe!« rief Heinz kopfschüttelnd. »Na, na, ich möchte Ilse hören!« setzte er ängstlich besorgt hinzu.

»Wem gehört denn das Kind, das wir am Hügel gesehen haben?« fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme.

»Es gehört auf den Dierkhof, Herr.«

»Nun ja – aber wie heißt es?«

Heinz schob den Hut auf die linke Seite und kraute sich hinter dem Ohr. Ich sah sie kommen, seine schlaue Antwort – er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks, wo ich mit dem Fuß gestampft hatte, und – o, Heinz wußte sich zu helfen!

»Je nu, Herr, Ilse ruft sie ›Kind‹ und ich sage –«

»Desgleichen Prinzeßchen,« ergänzte der junge Herr in demselben gravitätischen Ton wie mein pfiffiger Freund. Wie vorhin das Fundstück aus dem Hünenbett, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand; diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung, die etwas Gewichtiges ironisiert.

»Ah, die Damen der Heide belieben mit Nachdruck aufzutreten!« sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. »Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen, Onkel! ... Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen –«

»Keine Possen, Dagobert!« unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.

»Ei beileibe nicht, Herr ... O je – was würde Ilse sagen! – ganz neue Schuhe!«

»Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! – – Voilà!« lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegen einander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.

Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.

Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. Ich war sehr aufgeregt; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen, die mir den Hals zuschnürte und mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ, und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll, rachsüchtiger Groll ... »Wie einfältig!« hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen, daß Doktor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen, wie der weise Salomo, und ich war ihm gram, ich war bitterböse auf ihn.

Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf meinem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich, wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht ... Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.

Der Hügel sah besser aus, als ich erwartet hatte. Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, und die Scherben der Urne waren verschwunden. Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche, und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines, schwarzgebranntes Knöchelchen, für immer getrennt von den anderen, die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte.

Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte recht, es waren keine Riesen gewesen, die der Hügel deckte. Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein, einst vielleicht vom rosigen Fleisch umhüllt, schlank gebaut, von so weißer, atlasglatter Haut bedeckt, wie die Hand, die ich heute gesehen, geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen, und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen. Ich stieg auf den Hügel und grub es unter der Föhre ein. Der gute, alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!

Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte ... Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten! Menschen auf der feierlich stillen, eintönig braunen Fläche, über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog, um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war, als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen.

Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt! ... Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden, und aus dem Menschengewimmel, das man auch »die Welt« nennt, waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht ... Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlich blassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin, gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerung auf – ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, dann tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen: »Kind, du machst mich nervös!« Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden. Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.

Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem »Hä, hä, hä – Ausgeschlafen?« anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang ... Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen, und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: »Kommt, Puttchen!« und aus dem Hausthor rannte eine Schar bunter Hühner auf ihn zu.

Dort stand auch die Frau mit dem roten Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte de Storch, und Ilse – die Ilse mit den scharfen Augen – hielt mir ein kleines Tier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes, junges Kätzchen ... Und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein, und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Heidewind. Ich jubelte und kreischte auf vor Lust, während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte.

So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf dem Dierkhof, und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten ... Hussa! ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Heide hin. Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Thür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im sauberen buntgewürfelten Ueberzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Heide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.

In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden, wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen, und war dabei, wenn er Streuheide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich hoch über seinen Kopf nach den alten, pensionierten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten, weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse hinab.

Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen, hinter dem Ofen lief die braune, abgenutzte Holzbank hin, und die Tische standen grob und ungeschlacht umher. Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sofa aus der Stadt kommen lassen, und Ilse hatte blau und weiß gestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, totenstillen Heide, wenn die Sonne so darüber hinbrenne, und wenn der Mond schien, fürchtete sie sich auch ... In meinem fünften Jahre begann sie mich zu unterrichten; da brachte Ilse ihre Arbeit herein und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich Abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schoß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen röteten sich, und die blonden Löckchen flogen und flatterten alteriert um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause, und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus- und eingegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: »Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau«, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin- und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.

Außerdem berührten mich die »himmlischen Erinnerungen« meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Konsequenz wie die graublonden Löckchen, wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt, und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.

So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender. Sie stand auch wohl draußen im Baumhof, breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel:

»Eilende Wolken! Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!« –

»Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten!« verabschiedete sie sich von Ilse, während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.

»Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Heide!« Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimat. Heinz fuhr den Koffer bis ins nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie ins Freie entlassen hatte ... Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! ... So kam ich heim. Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sofa in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen, und die blau- und weißgestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen, um sie im Kasten aufzuheben.

»Ilse, abschneiden!« sagte ich und hielt meine langen, unbequemen Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Schere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen ins Feuer, das Jäckchen paradierte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.

Das glitt mir alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten, wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Heide möglichst schnell im Rücken zu haben ... Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber, daß die alte Frau mit dem roten Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Heide gegangen war, um nie wieder zurückzukehren! Fräulein Streit meinte freilich immer, meine Großmutter sei tiefsinnig, und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen, und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte, so war es ebenso leise und allmählich geschehen, wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint, so seien eben alle Großmütter. Wie kam es doch, daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge, die mir bisher als selbstverständlich gegolten hatten? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die »seltsame alte Frau, die kein Geld im Hause litt«, hatte mich aufmerksam gemacht ... Und war es nicht auch seltsam, daß meine Großmutter im Lauf de Jahre völlig verstummte? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf, wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß? ... Die Eier, von denen sie hauptsächlich lebte, nahm sie eigenhändig aus den Nestern; sie molk die Kuh selbst, damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre, kein fremder Atem über den Trank hinstreiche, den sie genoß, und Fleisch und Brot rührte sie nie an ... Nur im ersten Jahre hatte sie mich hie und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben, wer ich sei.

Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existierte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für ich, meinte Ilse. – Sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich Abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Kapitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels konfirmiert; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich kniete in der kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntnis ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.

So war ich aufgewachsen, wild und lustig, wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut auf über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache.

Mochten sie doch diese unabsehbaren, flachen Strecken eine furchtbare Einöde nennen; für mich waren sie beseelt vom Geiste der Heimat und von einer ganzen Armee lustiger Gestalten, als da sind Feen, Wasser- und Luftgeister, aber auch – Gespenster; ja Gespenster! Ich war schon ein wenig zusammengefahren bei meinem eigenen Lachen – hatte es doch so wunderlich über die dämmernde Heide hingeklungen, so fremd, als sei es gar nicht von mir selbst, sondern von der einfachen Mondsichel hergekommen, die sich am unermeßlichen Gewölbe droben ebenso verlor, wie meine kleinwinzige Person inmitten der ungeheuren, schweigenden Ebene. Schwarz stand der Wald am Horizont, er trennte mit einem scharfen Strich unerbittlich Himmel und Heide; und im Osten, da, wo am Tage ein feiner, grüner Streifen verlockend leuchtete, ballten sich weißliche Dünste. Dort lag der Torfsumpf voll tiefer Wasserlachen und bestanden mit Binsen und sprödem Riedgras; die kleinen stehenden Gewässer tief drinnen aber umsäumte Schilf, und die weiße Seerose lag bleich auf dem dunklen Spiegel – ich meinte immer, das seien keine Blumen, sondern traurige Menschengesichter. Jetzt schwebten sie aufwärts, und die weißen Schleier und Gewänder quollen nach und blähten sich und flossen herein auf das trockene Heideland, über das einst, in uralten Zeiten, grüne, rauschende Meereswogen hingerollt waren, wie heute der gute, alte gelehrte Herr mit der Blechbüchse auf dem Rücken gesagt hatte. Vor den wehklagenden, in den Sumpf zurückgedrängten Wassergeistern fürchtete ich mich nicht – aber da unten zu meinen Füßen war heute Menschenasche verschüttet worden; frevelnde Hände hatten den Grabhügel aufgebrochen und die Ruhe der Toten gestört ... An der anderen Seite, neben dem Föhrenstamm lag das Knöchelchen eingescharrt – wie, hob es sich nicht schon als Finger aus der Erde, wieder fest eingefügt in die weiße Hand? Wuchs es nicht immer höher, da dicht neben mir, bis er dastand, der Phönizier, finster und dräuend, mit der breiten, weißen Stirn Karls des Großen und der Goldkrone in dem zurückbäumenden kastanienfarbenen Haar? ... Kalte Schauer überliefen mich, mit stockendem Atem stand ich starr und steif und sah nicht rechts, noch links; ich hatte nicht einmal den Mut, den Arm vom Föhrenstamm zu lösen, und doch erwartete ich jeden Augenblick mit leise gesträubtem Haar, den kalten Finger auf dem nackten, warmen Fleisch zu fühlen – und da legte sich plötzlich eine Hand schwer auf meine Schulter. Ich stieß einen gellenden Schrei aus.

»Leonore, was machst du für Streiche!« schalt Ilse. Sie stand hinter mir und hielt mich mit festen Armen – ich glaube, ich wäre sonst wie leblos den Hügel hinabgerollt.

»Ach Ilse, der Phönizier« – stammelte ich.

»Was?« fragte sie gedehnt. Sie schob mich von sich und sah mir mißtrauisch besorgt in die Augen – sie hatte ja heute schon einmal gefragt, ob ich toll geworden sei. Ihr Gesichtsausdruck brachte mich sofort zu mir selbst – ich mußte laut auflachen und warf mich an ihre Brust; da war ich geborgen vor allen Gespenstern und auch vor dem fremden Gesicht, das, obschon längst in der Dämmerung verschwunden, sich doch sogar dem Geist des Phöniziers aufgedrängt hatte.

»Hat's wieder einmal gespukt?« fragte Ilse. »Und nun gar unter Gottes freiem Himmel! ... Ja, du und Heinz, ihr seid mir ein Paar Helden!«

Die gute Ilse – unter dem dunklen Dach des uralten Dierkhofes war auch sie nicht sicher vor allerlei unheimlichen Begegnungen, und wenn sie auch Mutig und beherzt auf alles losging, so wußte sie doch der haarsträubenden, verbrieften und womöglich amtlich bestätigten Dinge genug, vor denen der Verstand der Verständigen absolut still ein mußte.

Sie nahm meine Rechte in ihre harte, kühle Hand und führte mich den Hügel hinab.


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