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III.

Müden Schrittes kehrte Martial von der »Roten Kuh« heim. Er hatte ohne Hunger das Hammelfrikassee verzehrt, welches Mutter Groubet ihm vorgesetzt hatte; mit zufriedener Miene, glücklich über das schöne Wetter und die guten Zeiten, die diese Revolutionswochen ihr gebracht, hantierte sie am Herde; alle ihre Waren wurden verkauft, die Keller leerten sich, während die Kasse sich füllte. In die Rue Soufflot einbiegend, hob Martial zufällig den Blick und betrachtete den sonnenbeschienenen, massiven Bau des Pantheon und über der Kuppel, in der klaren Luft lustig flatternd, die rote Fahne.

Ein Ausdruck des Ekels kräuselte seine Lippen. Niemals noch hatte dieses Emblem, in dem er zu manchen Zeiten nur einen schönen Farbenfleck am blauen Frühlingshimmel, an manchen Tagen wieder nur die Standarte einer rasch vergänglichen Macht gesehen, niemals hatte er es wie heute mit seiner bürgerlichen Abneigung identifiziert; in dem Gefühl heftigen Unbehagens, das nach der schlaflos verbrachten Nacht zurückgeblieben war, erschien die ganze Welt ihm in häßlichem Lichte, ekelte ihn vor dem Leben und vor sich selbst. Erst gegen Morgen hatte er die Augen geschlossen zu jenem unerquicklichen Migräneschlaf, aus dem er gegen Mittag, die Ohren noch brummend von dem nächtlichen Bombardement, erwacht war.

Er war noch ganz erschöpft von den Stunden, die er damit verbracht, die dumpfen Detonationen zu zählen und sich den durch das Dunkel schwebenden gelben Schweif auszumalen, den er vergangene Woche von Thédenats Fenster aus beobachtet hatte. Jetzt schlief man ein – wer eben einschlafen konnte – und erwachte bei dem tragischen Getöse. Vorbei war's mit der kurzen Ruhe, die ihn in frohe Hoffnung eingewiegt.

Seit fünf Tagen grollte unaufhörlich die wütende Stimme der Vernichtung und Tod speienden Kanonen. Alles, was vom Mont-Valérien, von den Batterien von Courbevoie, der Brücke von Neuilly, von Versailles aus erreichbar war: die vom deutschen Feuer unversehrt gebliebenen Champs-Elysees, die Ternes waren einem regelrechten Bombardement unterworfen. Mauern stürzten ein, in den Straßen klafften weite Löcher; neben gespaltenen Bäumen, gestürzten Kandelabern trockneten hier und da große Blutlachen. Den zwölften war in Neuilly der Kampf mit verdoppelter Erbitterung wieder aufgenommen worden; die Föderierten hatten Schritt um Schritt Straßen und Gärten zurückerobert und einige von Ladmiraults Soldaten auf der Insel Grande-Jatte eingeschlossen. Allabendlich hüllten die südlichen Forts sich in eine von Blitzen durchzuckte Rauchwolke und erwiderten das Feuer der Belagerer. Infolge eines merkwürdigen Gedankenganges machte Martial die Kommune für die Paris verwundenden Granaten verantwortlich.

Da, wo das ganze Haus, von Thédenat bis Louchard, über die an alle Mauern gehefteten Plakate, welche ehemals von Thiers gesprochene Worts wieder anführten, empört war, hatte er nur ein ironisches Lächeln.

Es war dies eine unter Louis-Philipp bei Gelegenheit der Befestigungen, die der Minister damals hatte erbauen lassen, gehaltene Rede: »Annehmen wollen, daß eine Regierung, welche immer, sich durch Beschießung der Hauptstadt zu behaupten suchen könnte, heißt, sie verleumden. Wie! nachdem man mit seinen Bomben die Kuppeln des Invalidendoms und des Pantheon durchbohrt, mit seinem Feuer die Wohnungen euerer Familien zerstört, sollte sie zu euch kommen, um von euch die Bestätigung ihrer Existenz zu erbitten! Aber das wäre ja tausendmal unmöglicher nach dem Siege, als vor demselben.«

Und dann wieder, gelegentlich des Bombardements von Palermo, der 1848 ausgesprochene Protest: »Ihr habt alle vor Entsetzen gezittert bei der Nachricht, daß eine große Stadt zwei Tage lang bombardiert worden ist. Von wem? War es von einem fremden Feind, der das Recht des Krieges übte? Nein, meine Herren, von ihrer eigenen Regierung. Und warum? Weil diese unglückliche Stadt gewisse Rechte forderte. Gestatten Sie mir, in dieser Sache, an die Meinung Europas zu appellieren! Es ist eine Pflicht der Menschlichkeit, von der vielleicht höchsten Tribüne Europas herab einige Worte der Empörung über solche Handlungsweise vernehmen zu lassen.«

Martial hatte die Achseln gezuckt: der Staatsmann hat eben seine Ansichten geändert! Er fühlte nicht, wie sehr Thiers sich selbst beschimpfte, wie er durch seine Worte von einst seine Taten von jetzt verurteilte.

Kaum hatte er das Haus betreten, als Louchard mit geheimnisvoller Geste ihn anrief:

»Herr Poncet, ich hätte ein Wort mit Ihnen zu sprechen.«

Nun, was wollte denn der Kommandant? Kein »Bürger« mehr! Martial warf einen Blick auf das verschlagene Gesicht: zwischen den blassen Hängebacken glitzerten unruhig die Äuglein. Der Portier klopfte seiner Frau auf die Schulter. Sie saß in dem Lehnstuhl zusammengekauert, den Kopf auf die mit einer grob gehäkelten Schutzdecke bedeckte Rückenlehne geschmiegt.

»Geh vor die Tür und schau, ob niemand uns aufpaßt!«

Die Wassersüchtige schlurfte in ihren Pantoffeln zum Eingang. Ihr riesiger Rücken verbarrikadierte die Tür.

»Nun denn«, begann Louchard, »Sie wissen, daß Ihre Kameraden seit Ihrem Austritt ein scharfes Auge auf Sie haben. Louis Simon hat mir gesagt, daß L. und T. – er dämpfte die Stimme – vor dem Disziplinar-Gerichtshof von Ihnen gesprochen haben. Zum Teufel, Sie unterstehen dem Gesetze! Gut für die Marschkompagnien! Und da Sie immer zu entwischen verstehen ...«

»Nicht jeder hat das Glück, zu den ansässigen Kompagnien zu gehören«, versetzte Martial trocken.

»Das Glück«, seufzte Louchard mit sauersüßer Miene. »Das Glück ... das kommt auf die Auffassung an. Mich schreckt ja nicht das Feuer ...« Er schlug sich auf die Brust, daß das Kreuz klirrte. »Aber in solchen Zeiten ... Ach ja, es ist sehr traurig! Denn das ist gewiß, die Zeiten sind ...«

Da Martial nicht antwortete, fürchtete Louchard, sich eine Blöße zu geben und wiederholte:

»Also, man hat Sie angezeigt. Sie täten gut daran, ein wenig auf Ihrer Hut zu sein, sonst kann es geschehen, daß man Ihnen Ihr Gewehr zurückgibt ... Und dann, zwischen zwei festen Keilen, auf die Wälle! vorwärts, marsch!«

»Bah!« sagte Martial, ihm fest ins Auge sehend, »es wäre nicht das erstemal, daß man mich denunzierte.«

Überlegenen Tons räumte Louchard ein:

»Wohl möglich. Was wollen Sie ... Es gibt Notwendigkeiten ...«

Kurzes Schweigen. Verlegen fuhr er dann fort, seine Schiffe verbrennend:

»Also sehen Sie, ich habe mich, seit ich, dank dem Bürger Cluseret, nicht mehr unter die Diensttauglichen zähle, in die städtische Kommission wählen lassen. Man brauchte meine Kenntnisse, meinen Geist. Niemand kennt das Viertel so wie ich! Nun denn, Sie mögen mir glauben oder nicht, ich habe aus Hingebung für die Sache angenommen. Ich konnte es verhindern, daß man zu weit ging und womöglich Dummheiten abwenden ... Ja, ich habe seit einigen Tagen viel nachgedacht. Es ist zu viel Schmutz dabei, das wird schlecht enden. Was will denn ich? Die wahre Freiheit, die Ordnung ... Mit der Republik, versteht sich ...«

Daß jeder Kanonenschuß ihm Leibweh verursachte, das verschwieg er wohlweislich. Kaum war die Partie ernstlich im Gang, sah er auch schon ihren Ausgang voraus und hatte nur noch eine Sorge: beizeiten umsatteln. Der mißglückte Ausfall hatte ihm die Augen geöffnet. Wenn die Belagerung erst von neuem begann, würde sie enden wie bei den Preußen. Man wurde besiegt, und dann ... Bei der Erinnerung an die Maßlosigkeit seiner Worte und seiner kompromittierenden Handlungen trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn.

Er hatte nicht geruht, bis er sich mit einem der Geheimagenten von Versailles in Verbindung gesetzt und es dadurch ermöglicht hatte, auf fremde Rechnung seine politische Rolle weiterzuspielen. Es war ihm nur die Wahl schwer geworden, wem sich verkaufen. Mit Hilfe von Vermittlern hatte er umhergetastet, zuerst bei Oberst von Beaufond angeklopft, der, im Gegensätze zu Domalain und Charpentier, Anhängern der Ordnung durch die Elemente der Ordnung, sich auf den Beistand der föderierten Überläufer stützte. Als er jedoch entdeckte, daß Beaufond bonapartistische Neigungen besaß und auf Rechnung des Alten arbeitete, hatte Louchard schleunigst den Rückzug angetreten. Obgleich ehemalige Diener des Kaiserreiches sich an verschiedenen Orten regten, war der frühere Chef der hohen Geheimpolizei, Dalouvert, eben tags zuvor verhaftet worden – dieses Brot würde er, Louchard, nicht essen! Während Thiers ...

Nun hatte er sich an einen Verschwörer schlimmster Sorte, den Vicomte Barral de Montaut, Ex-Oberst der Legion Elsaß-Lothringen, gewandt; doch die Ernennung des Vicomte-Bürgers zum Generalstabschef einer Gemeindelegion hatte ihn ernüchtert. Sollte schon einmal verraten werden, so war es immerhin besser, sich an Persönlichkeiten mit nur einem Gesichte zu halten; dabei riskierte man weniger. Und so hatte Louchard, schon durch die Bekanntschaft mit einem Manne beruhigt, der zwar nur im Hintergrunde der Bühne seine Evolutionen vollführte, deshalb jedoch nicht weniger einflußreich war, Doktor Troncin-Dumersan, sich dem früheren Kommandanten der Nationalgarde, Domalain, angeschlossen. Dieser organisierte das Quartier des Luxembourg wie Charpentier das Quartier de l'Opéra. In den Stadtvierteln des Palais-Bourbon und von Popincourt hatten die Kommandanten Durouchoux und Gallimard eine gleiche Mission übernommen, und alle vier taten in Gemeinschaft mit Domalain und seinen Getreuen ihr möglichstes.

So sah der Portier sich durch den Anschluß an einen der von Picard ernannten Repräsentanten gegen jedes Ungemach geschützt und harrte, mit jedem Fuß in einem Lager stehend, der kommenden Dinge. Besonders freute er sich, dem Geheimagenten Thiers', diesem Troncin-Dumersan, der, ehemals Direktor der Bouffes und gegenwärtig Beamter im Kabinett Barthélemy-Saint-Hilaire, das Faktotum des Präsidenten war und unter dem Vorwand, Akten zu bringen und zu holen, täglich von Versailles aus in die Kanzleien der verschiedenen Mächte kam, einige geringfügige Dienste leisten zu können. Das Phaeton dieses Herrn, durch die Aufschrift: »Gesandtschaftsdienst« geschützt, – dem regelmäßig beim Passieren des Tors von Passy das mit der Bewachung des Sektors betraute Mitglied der Kommune, Oudet, den Ehrengruß leistete, – war unter dem Feuer des Mont-alVérien und der beständigen Gefahr der Entdeckung mit dem täglich mehr sich verwirrenden Knäuel der Verschwörungen unaufhörlich zwischen Versailles und Paris unterwegs.

»Ja, die wahre Republik, die der Freiheit in der Ordnung!« wiederholte Louchard. »Und vergessen Sie nicht, Herr Martial«, setzte er hinzu, plötzlich demütig werdend wie alljährlich am Neujahrsmorgen, »daß ich Ihnen den guten Rat gegeben habe, sich in Sicherheit zu bringen! Nicht wahr, Sie werden sich dessen erinnern, wenn ich einmal in die Lage kommen sollte, mich auf Ihre Zeugenschaft zu berufen?«

Frau Louchard hustete heftig, so daß ihr Mann zusammenfuhr.

»Achtung!« flüsterte er.

Eine Korporalschaft von Nationalgardisten legte im Hausflur die Waffen nieder. »Erwischt!« sagte sich Martial. Doch vor dem Haustor, den Zügel seines Pferdes dem ihm begleitenden Estaffettenreiter zuwerfend, kletterte Hauptmann Tinet, mit Achselschnüren und Litzen ausstaffiert, mühsam aus dem Sattel.

Martial atmete auf. Tinet! das galt Blacourt. Haha! Seine Wagenpferde waren nicht abgemagert. Die brauchten nicht viel zu leisten. Das war sicher, auf den Buchbinder war der neulich veröffentlichte Erlaß, welcher zur Vermeidung der durch die ungeübten Reiter verursachten zahlreichen Unfälle das Galoppieren durch die Straßen untersagt, nicht gemünzt ... Schau, schau! eine Litze mehr und nicht eine Vergoldung weniger! ... (eine Kirchenfranse hing statt des Portepees am Knauf seines Säbels). Ebensowenig kümmerte ihn das Dekret Cluserets, welches die lächerliche Manie vieler über und über gestickter und in allen Nähten funkelnder Generalstabs- und höherer Offiziere brandmarkte und jeden, der sich seinem Range nicht gebührende Abzeichen anmaßte oder seine Uniform überlud, mit Disziplinarstrafen bedrohte ...

Würdevoll trat der Ordonnanzoffizier der Generalin Eudes – er hatte sich dem Frauendienst geweiht, trug zum Zeichen dessen einen mit ungarischer Pomade gewichsten Schnurrbart und auf der Wange den Abdruck von Mélies Fingern, – vor und reichte Louchard die Hand, während er Martial mit einem gönnerhaften Lächeln beehrte. Im Palais der Ehrenlegion, wo die Ex-Ministerin residierte, wohnend, war er eine gewichtige Persönlichkeit, die Zierde der Diners und der kleinen, intimen Bälle.

»Befehl, bei dem des Einverständnisses mit Versailles verdächtigen Bürger Blacourt Hausdurchsuchung zu halten. Ich bin mit der Vornahme derselben beauftragt. Kommandant Louchard, übergeben Sie mir die Schlüssel.«

Seit der letzten Visitierung seiner Wohnung hatte Blacourt, Schlimmeres befürchtend, sich nicht wieder sehen lassen. Unter der Ägide seines Freundes Malonsky lebte er in einer kleinen möblierten Wohnung in der Rue de Provence, in demselben Stockwerk mit Maddalena. Er war der Leibwächter der Schönen, während Malonsky bei Neuilly kämpfte. Von der Italienerin an der Nase herumgeführt, von Begierde zu Begierde getrieben, ohne je eine andere Gunstbezeigung von ihr zu empfangen als einen vertraulichen Backenstreich oder den flüchtigen Anblick einen Stückchens weißer Haut, halb wahnsinnig vor Verlangen und Wollust, vergaß er seines Geizes und erschöpfte sich in Geschenken, Juwelen und Leckereien. Maddalena trieb ihr Spiel mit ihm, indem sie einen Abscheu vor Malonsky heuchelte, der in seiner Othello-Eifersucht beim leisesten Verdacht ihn erwürgen würde. Und der Pole selbst ließ es sich in seinen dienstfreien Stunden angelegen sein, Blacourt vollends zu rupfen, indem er nach den üppigen mit Champagner begossenen Mahlzeiten ein unerhörtes Glück im Spiel entwickelte.

Gehorsam ging Louchard, den Schlüsselbund in der Hand, den Eindringlingen voran. Auf der Stiege entstand polternde Bewegung. Ein Gardist trug unterm Arm zwei große, in Servietten eingebundene Pakete. Tinet verließ die Wohnung als letzter, die Taschen seines Rockes waren bedenklich angeschwollen. Er deutete auf die Last, die der Föderierte trug:

»Ich nehme da kompromittierende Papiere mit fort.«

Ohne mit den Augen zu blinzeln, stimmte Louchard zu. Welch merkwürdige Form diese Pakete aber hatten! Man hätte sie eher für Silberkassetten halten können!

»Wenn wir die Gelegenheit benützten«, meinte Tinet, »um unsere Kenntnisse über die Agitationen des Herrn Du Noyer zu bereichern? Ich bin überzeugt, daß man in der Wohnung dieses Ehrenmannes die Beweise seines Verrates fände.«

Louchard jedoch legte die Hand aufs Herz und beteuerte mit erhobener Stimme den unantastbaren Bürgersinn des Stadtrates. Er mißbrauchte die Angst des Ehepaares und zettelte für sie um hohen Preis, und indem er sich in ihnen künftige Bürger sicherte, eine romantische Flucht an. Er rühmte deren geringe Gefahr und versicherte ihnen, wenn sie sich nicht dazu entschließen könnten, die unfehlbare Gewißheit einer Verhaftung an den Toren trotz des vom Friseur gelieferten weißen Bartes. Die Tore öffneten sich nur zu bestimmten Stunden, weit mehr, um die Ausgewanderten mit ihren Möbelwagen und ihren Karren ein-, als um die Pariser hinauszulassen. Eine strenge Kontrolle beschränkte den Greisen, den Frauen und den Trägern von Passierscheinen den freien Verkehr.

Martial stopfte, in sein Atelier zurückgekehrt, eiligst seine Habseligkeiten in einen Koffer. Sein Entschluß war gefaßt. Er ging nach Montmartre. Dort würde man ihn nicht suchen.

Einen Augenblick hatte er daran gedacht, das von Thérould erhaltene kostbare Sesam-öffne-dich zu benutzen, um die Stadt zu verlassen. Das Verlangen nach reiner Luft, nach Ungebundenheit und Vergessen, das in diesen letzten Tagen ihn mächtig überkommen hatte, zauberte ihm das Bild Italiens, vor Augen mit seinem tiefblau leuchtenden Himmel, seinen schönen, glücklichen Städten, dem Frieden seiner Kirchen und Museen, der Pracht seiner von üppigem Grün überwucherten Ruinen. Doch im Begriffe, die Kette zu zerbrechen, zögerte er, von den tausend plötzlich ihm zum Bewußtsein gekommenen Banden gefesselt, mit denen die Vaterstadt, die gewohnte Umgebung und nicht zuletzt die Scham, egoistisch in der Stunde der Gefahr fliehen zu wollen, während die Seinen blieben, ihn hielten.

Das dort oben auf der Höhe des Montmartre in der Rue Sainte-Scolastique gelegene ruhige Nest mit seinem stillen Gärtchen winkte ihm gleich einer Oase der Liebe und Zärtlichkeit inmitten der Wüste dieser furchtbaren Wochen. Die geliebten Gestalten lockten ihn: das so begeisterungsfähige, jetzt so sorgenvolle und faltige Gesicht des Vaters mit den lebhaften Augen hinter der goldgefaßten Brille, mit der über die Stirn fallenden grauen Locke; die hohe, kraftvolle Gestalt seiner Mutter, deren anscheinende Rauheit durch unendliche Herzensgüte gemildert wurde...

Es klopfte leise an die Tür.

»Darf man eintreten?«

Es war Thédenat. Er kam aus dem Collège de France, wo die Vorlesungen, wie während der Belagerung, fortgesetzt wurden. Sein Auditorium bestand aus zwei, drei Getreuen und hier und da einer flüchtig auftauchenden, fremden Erscheinung.

Als zischten die mörderischen Granaten nicht unaufhörlich durch die Luft, so fuhr der Gedanke fort, zu leben und seine Rechte zu bezeugen. Das Institut de France funktionierte in gewohnter Weise, gelichtet, aber mit ungemindertem Eifer. Das Journal officiel verfehlte nicht, zwischen einem übertriebenen Bericht über errungene Siege und einem Protokoll über die endlich der Öffentlichkeit vergebenen Sitzungen der Kommune sämtliche Rechenschaftsberichte der Académie de France zu bringen. Neben einem Manifest, welches alle Pariser Bürgerinnen in die Ambulanzen und zu den Waffen rief, stand eine Mitteilung des Herrn Chevreuil über die Gemüsekultur.

»Nun, was gibt es da?« fragte Thédenat.

Martial teilte ihm seinen Entschluß mit, der den feinsinnigen Greis schmerzte, aber nicht überraschte. Das war die traurige Logik der Dinge. Eine Gewalttat erzeugte die andere, und so weiter ins Unendliche ... Die Häuser durchsucht, die Bürger mit Gewalt zu den Waffen getrieben ... Gestern war man in Thiers' Hotel eingedrungen, hatte die Papiere weggeschleppt, das Silbergerät ins Münzamt geschickt. Die gleiche Hausschändung bei Galliffet, bei den Pereires ... Überall wurden Durchsuchungen vorgenommen. Die Verhaftungen nahmen massenhaft zu. Auf eine Denunziation des Père Duchène hin war Chaudey, ein Redakteur des Siècle, einer der liberalsten Republikaner und ehemaliger Bürgermeister des IX. Arrondissements, eingesperrt worden, obgleich er als Anhänger der kommunalen Autonomie bekannt war, während der Polizeikommissär und Karrikaturenzeichner Pilotell seine Schubladen in Beschlag nahm. Dem Ex-Adjunkten Ferrys machte man zum Vorwurf, daß er die Manifestanten vom 22. Januar hätte erschießen lassen.

Die persönlichen Gehässigkeiten, Rigaults Willkür gingen so weit, daß ein neuerliches von Vermorel verfaßtes Dekret der Kommune zur Achtung vor Recht und Gerechtigkeit ermahnte ... Doch diese Mahnung verhallte ungehört. Der unaufhaltsame Strom riß in Paris wie in Versailles die Machthaber mit sich fort, daß fast alle nun, da sie die Gewalt in Händen hatten, der Kraft vergaßen, mit der sie sie einst bekämpft hatten, als sie noch gegen sie gerichtet war. Die Brutalität war auf beiden Seiten gleich groß.

Auch Versailles verhaftete blindlings jeden der Sympathie für den »Aufruhr« Verdächtigen und verfolgte das Recht, zu denken, zu reden, zu schreiben. Während seine Agenten sich in Paris einschmuggelten, zu Hunderten konspirierten, die Stunde des siegreichen Einzuges vorbereiteten und beschleunigten, unterdrückte und fälschte Thiers alles, was aus der verpesteten, von den in seinem Solde stehenden Schreiern als eine Wildnis, in der man raubte und mordete, geschilderten Stadt kam; er verfolgte in ganz Frankreich, wo nur seine eigenen Depeschen in verschwenderischer Menge zirkulierten, die Zeitungen, die Broschüren und Proklamationen und suchte das gewaltige Donnern des Vulkans zu ersticken, damit von einem Ende des Landes zum anderen nur seine eigene schrille Stimme vernehmbar ward, die die Armee rühmte, die geduldige Erwartung des entscheidenden Moments predigte und »einen weniger blutigen und gewisseren Sieg« verhieß.

Thédenat erwähnte auch einer Rede Favres, der über den von Paschal Grousset bei den Deutschen unternommenen Schritt erbittert war: die Kommune erkundigte sich, ob die Regierung von Versailles, die eine der ersten Raten der Kriegsentschädigungen gezahlt habe, die fünfhundert Millionen, von denen die in einer gegebenen Zeit zu erfolgende Räumung der östlichen Forts abhängig gemacht war. Favre hatte darin weniger den heimtückischen Streich seines gelegentlichen Kollegen, dieses Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten, der bereit war, gegebenen Falls die Spitze zu bieten, als die Verhöhnung seiner sakrosankten Funktion erblickt. Er rächte sich dafür, indem er die Plünderung des Silbergerätes vom Quai d'Orsay, »die einzigen diplomatischen Taten« seines Sozius, anzeigte.

»Bah!« sagte Thédenat, »das Silberzeug im Münzamt, die Kirchengefäße, mit denen man soviel Aufhebens macht, als ob sie wirklichen künstlerischen Wert besäßen, all dieser reiche Kram im Schmelzofen, wie zur Zeit der Revolution! Das Merkwürdige daran ist, daß von all diesem Silber nichts in den Händen des Schmelzers bleibt. Und es heißt, daß das Münzamt so redlich wie möglich verwaltet wird; Camélinat, der Medaillenstecher, der dort alles leitet, ist die Ehrlichkeit selbst ...«

Er seufzte:

»Was bedeutet diese Umwandlung etlicher Gabeln in Taler gegen den Strom von Gold, den Frankreich aus seinen Adern pressen muß? Neulich die zweiundsiebzig Millionen, welche die Nationalversammlung zur Verköstigung und Unterbringung des Siegers bewilligte! morgen die fünfhundert Millionen, wegen derer Pouyer-Quertier in Versailles sich ereifert, während hier Jourde sich anheischig macht, sie aufzubringen und Cluseret sich in das Fort Aubervilliers begibt, um mit Baron Holstein über die Sache zu verhandeln. Morgen werden es wieder neue Millionen sein, der befreiende Strom, den man in schimmernden Haufen, in dicken Papierbündeln, in Stößen von Schecks und Tratten brauen muß. Frankreich wollte nicht mehr mit seinem Blute zahlen, so muß es in klingender Münze zahlen! Und so lange seine Adern nicht von diesem ungesunden Blute geleert sind, das es zur Stunde der höchsten Gefahr erschlafft hat, so lange es sein Blut nicht völlig gereinigt hat, so lange ist die Verlängerung dieses brudermörderischen Krieges ein Wahnsinn, ein Verbrechen! Welche Freude für unsere Feinde, triumphierend dieser Erniedrigung der Gewissen, diesem das Vaterland zerfleischenden Kampfe beizuwohnen! Wie traurig, diese Meister des Spieles über die beiden Parteien wie über Hampelmänner und Puppen sich amüsieren zu sehen!«

Bismarck quälte Favre mit endlosen Scherereien, drohte ihm mit einem Aufschub, ja mit dem endgültigen Bruch des Friedens, bereit, ihm zur Unterdrückung der Insurrektion seinen bewaffneten Beistand anzubieten und inzwischen die Kommune zu schonen, so lange sie fähig schiene, Versailles im Schach zu halten.

Das Verhalten der Kommune, die Verwandlung der Wölfe der ersten Belagerung in Lämmer, die gehorsam nach der Pfeife des Schäfers mit der Pickelhaube tanzten, war eine der Ursachen, welche Thédenat diese im Anfang so großherzige, täglich aber mehr in persönliche Agitation ausartende Bewegung so unsympathisch machten. Was zwischen den beiden Feuern vor allem zu leiden hatte, das war das Land und mehr noch die von vorn von Versailles, im Rücken von ihren eigenen Anhängern angegriffene Republik.

»Ach!« seufzte er, »ich muß mich fragen, ob ich nicht zu lange schon gelebt habe, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich am Abend des 4. September von hinnen gegangen wäre, an jenem schönen, sommerverklärten Sonntag, der uns mit der Republik unserer Träume den begeisterten Aufschwung des Jahres 1792, den fieberhaften Enthusiasmus der den Feind hinwegfegenden Freiwilligen zu bringen schien. Neulich, bei der offiziellen Begräbnisfeier von Pierre Leroux, kam mir dieser Gedanke.«

In wenigen Worten erklärte er Martial die hohe Bedeutung des Werkes des dahingeschiedenen Philosophen, dessen Glauben an eine Gottes-Menschheit, an die Evolution eines edlen und umfassenden Sozialismus. Leroux war einer der Propheten dieser Religion der Zukunft gewesen. Als Politiker hatte er auch nach den Junitagen 1848 die Verteidigung der Besiegten übernommen. Die Ehrung, welche die Kommune diesem Manne erwies, galt mehr dem Mute des Deputierten, als den für ihren Geschmack etwas zu süßlichen Theorien des früheren Saint-Simonisten. Ja, glücklich die Toten, die in ihren Träumen hinüberschlummern durften!

Auf den Horizont der gegenwärtigen Stunde beschränkt, unter dem Widerhall des Kanonengetöses leidend, fürchtete Thédenat für das Ideal seines Lebens, nicht ahnend, daß die Fortdauer des Kampfes, welche der Sache zu schaden schien und sie nur verdächtiger machte, vielmehr der ihm teueren politischen Form diente. Schlechte, unfähige Soldaten, aber doch Soldaten der Idee. Ohne sie hätte die Monarchie wieder sich im alten französischen Boden festgesetzt und mit ihren morschen Wurzeln sich darin eingesogen.

Martial schloß den Deckel seines Koffers. Schweigend blickten die beiden Männer einander an. Bewegt wandte der junge Mann die Augen ab und ließ den Blick noch einmal über diese Wände schweifen, die sein sorglos glückliches, nur der Kunst geweihtes Dasein gesehen, die dann, in den traurigen Zeiten der Belagerung, das zarte, reizende Leben, das so innig sich an das seine geschmiegt, beherbergt hatten, und die jetzt, mit Staub bedeckt, mit den unter ihren Leichentüchern erstarrten Figuren, einen so traurigen Eindruck der Vereinsamung und Verlassenheit machten.

»Ich vertraue Ihnen all das an!« sagte er zu Thédenat. »Bis die Zeit wiederkehrt, da man in Frieden wieder wird arbeiten und nur von Schönheit wird träumen dürfen!«

Wieder das tiefe, schmerzliche Schweigen. Nach kurzem Zögern sprach Martial:

»Bevor ich mich von Ihrer Frau Gemahlin verabschiede, möchte ich ... Louis Simon hat mir einen Dienst erwiesen. Ich kann nicht fort, ohne ihm vorher zu danken.«

Was er nicht gestand, das war, daß im Augenblick des Scheidens – vielleicht des Scheidens für immer – von diesen schlichten Kameraden eine Art von Scham ihn peinigte. Nein, er konnte so nicht fort. Sie mußten sich noch einmal wiedersehen, mußten die Worte tauschen, die ihnen allen auf dem Herzen lagen. Thédenat erriet seine Gedanken und schlug zartfühlend vor:

»Wäre es Ihnen lieb, wenn ich mit Ihnen ginge?«

Draußen brannte die Sonne heiß auf den Asphalt. Die alten Bäume des Luxembourg verbreiteten hinter den Gittern tiefen, friedlichen Schatten und streckten ihre dichtbelaubten Äste in den leuchtend blauen Himmel empor. Sie fanden Simon und Louis bei der Arbeit, über den niedrigen Tisch mit seinen Pechtöpfen und blanken Werkzeugen gebeugt. Die Werkstatt mit den geschwärzten, mit Leder und Schuhwerk bedeckten Wanden strömte einen scharfen Geruch aus. Wie gewöhnlich in den dienstfreien Stunden holten sie die rückständige Arbeit nach. Vergangene Woche waren sie fünf Tage in den Laufgräben von Villejuif geblieben, da das Bataillon nicht abgelöst worden war.

Beim Anblick Thédenats erhellten sich wieder die bei Martials Eintritt verdüsterten Gesichter. Therese und Rose erhoben sich von ihrer Flickarbeit und machten den Gästen Platz. Die Mutter, die sich der Aufmerksamkeiten des Bildhauers bei Simons Krankheit erinnerte, begrüßte ihn mit ihrem gewohnten freundlichen Lächeln. Sie teilte ja natürlich die Ansichten ihres Mannes, aber – man mochte sagen, was man wollte, Herr Poncet hatte doch das Recht, zu handeln, wie er eben handelte. Gleiche Freiheit für alle! Und dann, ein Künstler, das ist ja nicht ein Mensch wie jeder andere, der lebt in seinen Träumen ... Auch Rose lächelte, doch ihr Lächeln galt Louis, an dessen Seite sie trat.

Nach einem Augenblick befangenen Schweigens sprach Martial:

»Ich danke Ihnen, Louis, für das, was Sie zu Louchard gesagt haben ...«

Simon blickte mit scharfsinniger Ironie vergleichend auf die beiden. Louis brummte mit abwehrender Handbewegung:

»Ein Gewarnter ist doppelt behutsam.«

In diesem Augenblick ließ sich vor der Tür eine unmelodische Musik vernehmen. Die heiseren Töne einer Harmonika wechselten mit dem Kreischen einer Geige ab. Ihre Blechbüchsen schwenkend, in denen etliche Geldstücke klimperten, erschien ein Häuflein von Gevatterinnen, von Nationalgardisten begleitet, und näselten um die Wette ihre Litanei herunter: »Für die Verwundeten der Kommune, für die Witwen und Waisen«. Auf der Schwelle tauchte ein trauriges, kupferiges Gesicht auf. Eine runzlige, von der Arbeit am Waschtrog hartgewordene Hand reichte die Büchse herein. Die Simons suchten in ihren Taschen, doch schon hatte Therese ein blankes Geldstück aus ihrem Portemonnaie genommen. Auch Thédenat und Martial warfen ihren Obolus ein. Die monotone Stimme dankte und wiederholte an der nächsten Tür ihr altes Lied.

Wie ein Gespenst war diese Erscheinung zwischen den Arbeitern und ihren Gästen aufgetaucht. Martial las aus dem Verhalten des Alten, der jetzt, seinem Blicke ausweichend, mürrisch seinen Faden pichte, einen stummen Vorwurf. Sie alle gedachten der Verwundeten, der Toten. Und Simon dachte auch an jenen Tag, an dem zum letztenmal ein Gefühl der Gemeinschaft sie an diesem selben Tische vereinigt hatte; es war am Abend des Abzugs der Preußen. Thédenat hatte von dem Einzug Napoleons in Berlin, von dem der Alliierten in Paris, von dem Versuch der Royalisten, unter den Augen der Besiegten von Jena und Austerlitz die Säule zu stürzen, erzählt ... Er gedachte seiner damaligen Empörung und wurde rot bei dem Gedanken, daß die Kommune diesen selben Vandalismus anordnete. Er glaubte, Thédenat müsse seine Gedanken erraten und wollte die Absicht eines solchen Aktes rechtfertigen, obgleich er selbst mit seinem gesunden Verstande und seinem patriotischen Sinn sie verurteilte. Anders wäre es gewesen im Frieden, als alleinige, besser noch als siegreiche Herren im eigenen Lande ... Jetzt aber, vor diesen unseligen Pruscos, die sich triumphierend die Hände rieben! ... Und brummigen Tones sagte er:

»Erinnern Sie sich, Herr Thédenat, an den Tag, wo Sie uns mitteilten, wie die Emigranten bei ihrer Heimkehr das Monument der Großen Armee behandelt hatten? Damals konnten wir nicht ahnen, daß die Kommune es ihnen nachmachen würde. Und sie denken sich wohl, daß es anderes und besseres zu tun gäbe? Das ist ja richtig. Aber wenigstens ist das Motiv nicht dasselbe. Es geschieht, damit man nicht mehr genötigt sein soll, solche Almosen zu zahlen, damit es keine Verwundeten, keine Getöteten, keine Waisen mehr geben soll! ... Damit die Eroberer, die Könige, damit überhaupt die ganze verdammte Bande aufhört, die armen Teufel bloß als Kanonenfutter zu verwenden ... Man möchte angesichts der barbarischen Vergangenheit, angesichts jener, die uns zur Ader gelassen haben, und jener, die uns noch zur Ader lassen, den Gott des Krieges mit seiner Trophäe stürzen! Die Säule in einem solchen Augenblick umwerfen, das hieße mit lauter Stimme rufen: »Der Weltfriede, Arbeit, Gerechtigkeit!« ... Na, alle Regierungen begehen Fehler und manchmal sogar schlimmere.«

Gerührt ahnte Thédenat die Gewissensskrupel, die sich unter der Wärme dieses Plaidoyers verbargen. Ja, die Idee war an und für sich eine edle, doch – Simon fühlte das selbst, sie war nicht zeitgemäß, sie war für die bestehenden Verhältnisse, da man noch unter der Wirkung der Niederlage stand, zu absolut, so daß sie als Ketzerei, als Hochverrat erscheinen mußte.

»Mein armer Simon, keiner wird das begreifen! Und übrigens, was tötet man denn, wenn man die Denkmäler, die Wahrzeichen von Bronze und Marmor zerstört? Wenn man alles fällen müßte, was von dem Glauben und der Begeisterung früherer Zeiten Zeugnis ablegt, wieviel Kunstwerke blieben dann noch bestehen? Notre-Dame, der Louvre müßten fallen, ihr würdet Paris in einen Trümmerhaufen verwandeln! Der beste Weg, die Vergangenheit zu vernichten, ist, eine bessere Zukunft aufzubauen. Dann wird eine Vendômesäule, inmitten eines den Krieg hassenden Volkes unversehrt aufrecht stehend, von größerem Nutzen sein als zertrümmert am Boden liegend. Sie wird das ewige Licht auf dem Grabe sein. Sie heute stürzen, heißt den Ideen, die sie repräsentiert, mehr Nachdruck und Ansehen verleihen; heißt ihre Grundsteine befestigen, auf denen man sie neu wieder aufrichten wird.«

Simon schüttelte seinen struppigen Kopf:

»Nicht sobald! Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«

Man schwieg. Simon überdachte Thédenats kraftvolle Worte. Gewiß, dieser greise Gelehrte hatte nicht unrecht! Aber der Wein war eben angezapft, man mußte ihn austrinken. Der Augenblick war gekommen, die Ärmel aufzustreifen und fest drauflos zu schlagen, ohne sich um das zu kümmern, was einen zurückhalten könnte ... man kann kein Omelette backen, ohne Eier zu zerschlagen! Und wenn Versailles Handschuhe anzog ...

Der Aufenthalt auf den Vorposten hatte ihn förmlich berauscht. Nie würden diese Kapitulanten mit Gewalt in Paris einziehen! Und wenn je ... Nun denn, der Bürger Gaillard der Vater, – daß er Schuster war, verschlug ja nichts – wollte die Straßen unüberwindlich machen! ... Die Barrikadenkommission würde ihre Aufgabe schon gut lösen ... Simon war stolz auf die Kommune, auf ihre Kräfte. Selbst zu der Elite ihrer Kämpfer gehörend, beurteilte er die anderen nach sich selbst. Mochte immerhin Thiers seine Zettelchen nach Paris flattern lassen und den Nationalgardetruppen die Fortdauer der Löhnung versprechen, wenn sie neutral blieben und insgeheim in sein Lager übergingen.

Louis warf seiner Braut einen verstohlenen Blick zu, der zu sagen schien: »Gehn sie denn noch immer nicht?« und pfiff leise zwischen den Zähnen vor sich hin.

Martial fühlte, daß seine Gegenwart lästig wurde und machte Thédenat ein Zeichen. Der Greis sagte:

»Auf Wiedersehen, Simon.«

Und Martial:

»Leben Sie wohl.«

Sie verstanden. Rose hob den Kopf, Therese blickte den jungen Künstler schmerzlich fragend an. Louis und der Vater legten ihre Werkzeuge nieder und sahen ihm zum erstenmal, seit er da war, offen ins Auge. Das Unbehagen von vorhin stand wieder gleich einem Gespenst zwischen ihnen. Endlich sprach Simon ernsten Tones:

»Sie haben recht. Warum sollten Sie sich für uns schlagen?«

»Wenigstens«, erwiderte Martial, tief ergriffen von diesen Worten, in denen eine Welt von Gedanken lag, »wenigstens wollte ich die Gegend nicht verlassen, ohne sie noch einmal gesehen und Ihnen gesagt zu haben, daß ich niemals gegen Sie kämpfen werde.«

»Das kommt auf dasselbe hinaus!« brummte Louis mit einem Lächeln, in dem sich Stolz mit scharfer Ironie mischte, dem sorglosen Lächeln des Liebenden, des an das Leben, den Erfolg Glaubenden ...

Und der Vater dachte bei sich: »Ein Bürger weniger, darüber wird man sich trösten können!«

Sie sprachen nichts weiter. Ein Abgrund trennte sie jetzt wieder, eine Kluft der Klassen, der Kasten, die für kurze Zeit nur die gemeinsamen Leiden der Belagerung überbrückt hatten. Es hatte so kommen müssen, ein unabwendbares Verhängnis. Konnte man verlangen, daß die Wohlhabenden, die Zufriedenen ihre Haut für die Armen und Elenden zu Markte trugen? ... Großmütig genug, daß sie das Leben dieser unglücklichen Brüder schonten! ... Martial tat es weh, sich falsch beurteilt, feiger Selbstsucht bezichtigt zu sehen. Diese stumme Verachtung war ihm ärger als harte Worte. Die Blicke wandten sich wieder ab, und wie eine Bestürzung kam es über sie nach diesem schweigenden Schiedsspruch, dieser gegenseitigen Verdammung.

»Adieu also, und gut Glück!« wiederholte Martial.

Er wagte nicht, ihnen die Hand zu reichen aus Furcht vor der Demütigung einer Ablehnung; und doch zog es wie warmes Bedauern durch sein Herz bei der Erinnerung an einstige Gemeinschaft. Plötzlich öffnete der alte Simon seine knochige Faust und streckte sie ihm mit einem großmütigen Aufleuchten der Augen entgegen:

»Ohne Groll, Herr Martial! Es ist weder Ihre Schuld, noch die meine, daß wir nicht mehr wie bei Buzenval Seite an Seite marschieren können.«

Einer nach dem anderen drückte ihm nun mit ehrlichem Freimut die Hand. Sie sprachen ihn frei und erkannten die Notwendigkeit ihrer Trennung ... Ob man sich einmal noch wiedersah? Adieu und Gott befohlen! ...

Schnell entfernte sich Martial mit Thédenat, ohne sich umzuwenden. Hinter ihnen klopften die Hämmer, wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Auf dem Trottoir kam ein baumlanger Bursche ihnen entgegen und schwenkte seine Mütze mit einem fröhlichen »Guten Abend, Herr Thédenat!« An Martial blickte er vorbei, als sähe er ihn nicht. Der Bildhauer biß sich auf die Lippen. Er hätte gern mit Thédenat gesprochen, der wortlos neben ihm dahinschritt, doch er konnte es nicht. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, Tränen traten ihm in die Augen.


An dem klaren Sonntagmorgen des nächsten Tages kehrte Anina zwischen Bersheim und Du Breuil aus dem Park zurück. Dieser ließ seine heiteren Blicke von dem nachdenklich gewordenen, in seinem schwarzen Anzug so merkwürdig grau und alt aussehenden Vater zu der in ernster Schönheit strahlenden Tochter schweifen.

Trotz der Traurigkeit der Gegenwart freute das junge Mädchen sich seines Lebens. Zwischen der Begeisterung ihrer Wirte, der Grandprés, den Gewissenskämpfen ihres Vaters und den Zweifeln ihres Bräutigams geteilt, entzog sie sich all diesen Ursachen der Sorge. Wohl empfand sie tiefes Mitleid bei dem Gedanken an dieses fürchterliche Verhängnis, welches das so schwer verwundete Frankreich in ein neues Blutbad stürzte; doch die Macht ihrer Liebe, die feurige Empfänglichkeit der Jugend trug den Sieg davon und erfüllte sie mit heißer Wonne, Seele und Körper in dem milden Lichte des Frühlings entfalten zu können. Je besser sie Pierre kennen lernte, je höher lernte sie die Ehrlichkeit seines Charakters, die treue Verläßlichkeit seines Herzens schätzen, die sich auch in seinen leisesten Skrupeln verriet. Mit jedem Tage inniger vereint, begannen sie ein neues Dasein, das ihre fortan, in dem jedes Wort, jede geringfügigste Handlung von dem süßen Duft des Vertrauens und der Zärtlichkeit erfüllt war.

Bersheim, der in seine Gedanken verschmolzen war, nahm keinen Anteil an ihrem Gespräch. Er stand völlig unter dem Eindrucke der Verheerung, die dieser Bürgerkrieg in seinem Innern angerichtet hatte. Versailles mit seiner Atmosphäre fanatischer Reaktion war ihm verhaßt. Er konnte es nicht ertragen, Paris, die Republik, den Fortschritt, alles, was er liebte, alles, was ihm nach dem Schiffbruch als der Rettungsanker erschien, schmähen und schänden zu hören. Wie man die Zerfahrenheit, die Schwäche der Kommune sich zunutze machte, um in ihr die Zukunft, die unausweichliche Entwicklung der vorwärtsschreitenden, die Ideen, die sozialen Formen erneuernden Zeit zu vernichten! Die den Zeitungen angetanen Insulte, die Schmähungen, mit denen man die Gefangenen überschüttete, dieses ganze gemeine Schauspiel der Grausamkeit, diese krampfhafte Überreiztheit der Zivilisierten widerten ihn an. Er hätte fliehen mögen, und doch hielt es ihn hier fest. Wohin sich wenden? In sein besudeltes Heim, in das deutsch gewordene Metz? Das Leben unter Kontrolle des Fremden neu beginnen, sein Landgut in Roisseville wieder aufbauen und auf diesem Boden, der nicht mehr französisch war, säen und ernten? ... Unbezwingliches Grauen erfaßte ihn bei diesem Gedanken.

In Zukunft war die Luft in dieser Stadt, wo die Seinen seit Generationen gelebt und gestorben, unerträglich. Er sah die vertrauten, von Efeu und Taxus umsponnenen Grüfte wieder vor sich, den jetzt zerstörten Friedhof mit der Menge der Toten, das Leichenhaus der Schlachtfelder, der Spitäler, der Ambulanzen. Die alten Gewohnheiten schienen ihm zerrissen. Keine anderen Bande als die der Bitterkeit und des Schmerzes knüpften ihn mehr an diese Straßen, in denen er fast jeden Pflasterstein kannte, an den geschändeten Zauber seines Hauses. Nur Großmutter Sophia allein, die zu alt war, um ihren Heimatsort noch zu verlassen, sollte darin zurückbleiben als Hüterin der Gräber.

Seine Frau war, wie ihre Briefe zeigten, fest zu der Übersiedlung entschlossen, deren Notwendigkeit auch sie erkannte. Müßte sie in Metz nicht darauf verzichten, in der Nähe ihres Sohnes Maurice zu leben, der als Offizier der französischen Armee in entlegenen Garnisonen weilen würde? Sie wäre von Anina, von ihrem Schwiegersohn getrennt ... Nein, es hieß Metz mutig Lebewohl sagen. Sie stimmte ihrem Manne bei ... Er sollte mit Anina für einige Wochen zurückkehren, um seine Angelegenheiten zu ordnen ... Und dann, so groß ihr Schmerz auch war, dann wollten sie von ihrer Vergangenheit scheiden, die alte Stadt verlassen ... In der Nähe ihrer Kinder fanden sie wohl einen ruhigen Winkel, wo sie ihr Zelt aufschlagen konnten ... Und eines Tages würden wohl die Trompeten wieder schmettern und ihre Fanfaren die triumphierende Rückkehr durch die Porte Serpenoise verkünden ...

Täglich setzte Bersheim das Datum der Abreise fest, das täglich wieder verschoben wurde. Er schwankte zwischen dem Bedauern, seine Frau so lange schmerzlich warten zu lassen, dem Kummer, Anina von ihrem Bräutigam zu trennen und der zagen Hoffnung, irgend ein neues Ereignis, eine glückliche Lösung eintreten zu sehen. Diesmal aber stand sein Entschluß unwiderruflich fest; nächste Woche wollten sie abreisen. In einem Monat konnte er die wichtigsten Geschäfte erledigt haben und nach Frankreich zurückkehren. Bis dahin war dieser schreckliche Krieg zweifellos beendet.

Wenigstens würde er in Metz nicht mehr den Kanonendonner hören, der ihm das Herz zerriß und auf den er doch beständig wie verzaubert horchen mußte. Welcher Jammer, jetzt, da ihn so heiß danach verlangte, sich an das große Vaterland anzuschließen, es wütend sich selbst zerfleischen zu sehen, ohne daß es mehr an die offene Wunde, an die amputierten Provinzen, dachte! Zwischen Versailles und Paris irrte seine Seele haltlos umher mit der Sehnsucht nach dem unnütz, fast lästig gewordenen Lothringen, um das niemand mehr sich kümmerte. Wer dachte jetzt noch an die brutale Tatsache dieses Schnittes, außer jenen, die daran verbluteten? ...

Selbst die Freude, seinen Sohn wiederzusehen, hatte ihn nicht zu trösten vermocht. Maurice hatte, aus Köln zurückgekehrt, einige Tage mit ihnen verbracht. Er hatte gehofft, auf seinen nachdrücklichen Wunsch, weiter zu dienen, hin, seine Stelle als Linien-Unterleutnant im 4. Korps wiederzuerhalten, das aus Cambrai gegen Paris zu führen Douay im Begriffe stand. Doch dem hatte sich Bersheim energisch widersetzt: sein Sohn sollte nicht wieder Franzose werden, um gegen Franzosen ins Feld zu ziehen!

Dank Du Breuils Vermittlung war Maurice einem der algerischen Regimenter zugeteilt worden, die an dem Feldzug gegen den kabylischen Aufstand teilnahmen. Kurze Stunden unvollständiger Vereinigung, das traurige Glück des Wiederfindens und einer Liebe, die umso wärmer war, weil sie der Abwesenden, der Mutter, der Großmutter und des unter einem unbekannten Felde bei Morsbronn ruhenden Bruders gedachten ... Noch blaß und angegriffen von einer kaum überstandenen Bronchitis, war Maurice mit einem Gefühl der Erleichterung abgereist. Es drängte ihn, nach der ersten Rührung des Wiedersehens, den ihn hier umgebenden Schreckbildern zu entfliehen, um unter einem anderen Himmel, unter Afrikas Sonnenglut ein neues Leben, das abenteuerliche Soldatenhandwerk zu beginnen.

Sie schritten die laubüberdachten Mauern der Orangerie entlang und betrachteten, ihre Blicke von den mächtigen Toren, hinter denen die Gefangenen seufzten, abwendend, zu ihrer Rechten die weite, gleich einem Riesenspiegel zwischen den hundertjährigen Avenuen ruhende Wasserfläche der Suisses. Jenseits der unter den Avenuen sich dehnenden Reihen der Zelte und Gewehrpyramiden, des blauen, goldig funkelnden Wassers umgaben die Bäume im Halbrund die leuchtende Reiterstatue Bernins und kletterten den Hügel hinan, mit ihrer frisch-grünen Masse den leuchtenden Azur abschließend.

Bei dem Gedanken an die nahe Trennung genoß Du Breuil mit intensiverem Glücksgefühl Aninas Gegenwart. Im Rhythmus des Ganges berührten sich ihre Arme, und diese leise Berührung erfüllte ihn mit seliger Verwirrung; die Weiße des Körpers, welche der rosige Schnee des Halses ahnen ließ, die zarte Haut der Hände verriet sich ihm flüchtig in leuchtender Schönheit. Anina fühlte sein heißes Verlangen; ihre Augen wurden dunkler, ein schmachtender Ausdruck milderte ihr stolzes Antlitz. Sie lächelten sich zu.

Der Glockenklang zitterte durch die linde Luft. Vor den Toren der Kathedrale wimmelte eine bunte Menge, sonntäglich gekleidete Bürger, Damen in lichten Toiletten, Offiziere in Parade. Auf den Stufen der Kirche Saint-Louis bildeten sich Gruppen, die zwischen dem dichten Spalier der Neugierigen, dem Gedränge der Getreuen lebhaft plauderten. Das Hochamt war vorüber. In den Händen hielten alle die mit Goldschnitt versehenen Gebetbücher. Du Breuil warf einen ruhigen Blick auf die Vorübergehenden, die, ihrer Andacht schnell vergessend, sich mit lauter Stimme unterhielten. Seit dem Kriege hatte er von einer Religion sich losgesagt, die er unter dem Kaiserreich noch der Form nach geübt hatte.

Mit seinem kritischen Geiste, seiner feingebildeten Seele hatte er im Sturm der Ereignisse, in den einsamen Stunden der Gefangenschaft beim Anblick all des Elends und all der Ungerechtigkeiten, des ewigen Übels, das Menschen und Dinge unter der Knute hielt, den Glauben an eine göttliche Vorsehung verloren. Wie ließe sich das Vorhandensein einer göttlichen Fürsorge mit den furchtbaren Leiden der Menschen vereinen? Er stand immer noch unter der Wirkung der Bilder, die er seit Metz gesehen und erlebt: das Verfaulen, die Agonie, den Tod einer ganzen, dem schauderhaften Egoismus eines einzelnen, dem senilen Ehrgeiz Weniger hingeopferten glänzenden Armee; das entfesselte, in seinen Tiefen gleich einem Ozean aufgewühlte Paris, der Passionsweg der Rue des Rosiers; hier die mit Spott und Verwünschungen überschütteten Gefangenen, der Sturmwind des Hasses und die merkwürdige Art und Weise, wie diese Christen, Katholiken wie er selbst, in ihrer wilden Wut ihre Grundsätze der Mildherzigkeit, der Vergebung der Beleidigungen verleugneten. Was war denn dieser blutdürstige, schlaue Gott, dieser gefräßige Moloch? Wie konnten vernunftbegabte Wesen, in ihrem Stolz wie in ihrer Demut, dessen Tyrannei ertragen?

Gewiß, es gab unter der Zahl der Gläubigen auch erlesene Seelen, edle, der Tugend geweihte Existenzen; die Mehrzahl jedoch hüllte sich darein, wie in einen bequemen Mantel, den sie über ihre Leidenschaften und ihre Laster geworfen. Auf die Äußerlichkeiten des Kultus beschränkt, erschien ihm die Religion nur als eine eines freien Gewissens unwürdige Heuchelei. Immer mehr wandte sein Glaube sich einer moralischen Auffassung der im Sinne des Guten und Schönen vervollkommnungsfähigen Menschlichkeit zu, einem Ideal der Gerechtigkeit, die das Leiden aller möglichst zu verringern bestrebt wäre. Eine solche Philosophie vertrug sich sehr wohl mit der Überzeugung Bersheims und Aninas, deren Protestantismus von jeder Engherzigkeit frei war. Am Morgen war das junge Mädchen, wie allsonntäglich, in der Kirche gewesen und hatte dort, in der gedankenvollen Einfachheit des geheiligten Raumes, voll tiefinneren Glückes über den männlichen Glauben ihres Verlobten, der so voll mit ihrer eigenen Überzeugung harmonierte, nachgesonnen.

Bersheim wechselte einen Gruß mit dem Grafen La Mûre. Die kleine, dicke Gräfin stand in einem Kreise geputzter Modedamen und sprach so lebhaft, daß die weiße Feder ihres Hutes in beständiger Bewegung war. Hinter ihr ragte die lange, dürre Gestalt ihrer Tochter mit dem blutlosen, ausdruckslosen Gesicht. Das Geschwätz war in bestem Gange. Leise, mit sauersüßer Miene, vertrauten die Damen sich die Pariser Skandalgeschichten der letzten Tage an. La Mûres Glatze glänzte bei jedem Gruße wie ein Straußenei.

Drei Viertel der Nationalversammlung waren hier beisammen. Du Breuil traf eine Menge Bekannte. Fast alle militärischen Chefs, die durch den Dienst nicht abgehalten waren, das Personal der verschiedenen Generalstabsabteilungen waren erschienen. Er legte die Hand an den Schirm seines Käppi. General Chenot, der neben ihm stand, sprach ihn an. Er war immer noch gleich dick und rot, den scharfen Blick von den schweren Augenlidern halb verschleiert. Was hatte sich doch nur an ihm verändert? Richtig, der Bart! ... Statt der geraden Spitzen, dem gewichsten Zwickelbart, ein kühn geschwungener Schnurrbart und ein kleiner Kinnbart à la d'Aumale. Als mürrischer, jedoch schlauer Höfling war er ein Freund der Fürsten und machte kein Hehl aus seinem trikoloren Orleanismus, bereit, sich dem weißen zuzuwenden, wenn Chambord ...

Indessen eilte Anina den Damen Grandpré entgegen. Die alte Dame sah in ihrem schwarzen Seidenkleid, dem weißen Haar und dem Ausdruck nachsichtiger Malice im faltigen Gesicht ungemein vornehm aus. Ihre Tochter nahm ihre Cousine sofort in Beschlag, in ihrem einförmigen, des Mutterglücks entbehrenden Dasein von dem Feuer der Liebe belebt, das aus Aninas ganzem Wesen leuchtete. Tadellos und eisig, war Herr von Grandpré der korrekteste der Gatten, doch weiter nichts für ihr liebebedürftiges Herz.

Er drückte Bersheim und Du Breuil die Hand, als auch d'Avol hinzutrat. Das Frühstück sollte sie alle in dem großen, reichgetäfelten Speisesaal des alten Hotels in der Rue d'Anjou vereinigen. Langsam schritten sie, des strahlenden Tages sich freuend, durch die engen, im Sonnenschein fast heiter aussehenden Gassen. Hoch über ihnen zogen weiße Wolken leise über das durchsichtige Blau.

Bersheim und Grandpré gingen voraus, ihr ewiges Gespräch wieder aufnehmend. Sie hatten schließlich daran Gefallen gefunden; der Widerspruch reizte sie, und es gewährte jedem eine Art Vergnügen, seine Ansichten durch den Widerspruch des anderen zu befestigen.

»Nun«, begann Grandpré, die Offensive ergreifend, »die Herren von der Kommune sind im Begriff, sich um einige neue Kollegen zu vermehren; das Rathaus beherbergte noch nicht genug Kanaillen!«

Bersheim wiegte den Kopf: jawohl, heute fanden die Ergänzungswahlen statt.

»Es werden heute weniger Wähler als das erstemal sein.«

»Und aus guten Gründen!« spottete Grandpré. »Wenn man bedenkt, daß diese unsauberen Kerle die Legalität der Nationalversammlung leugnen und ihre Regierung von Schlemmern und Zügellosen in die Wagschale zu werfen wagen! ... Es gibt tatsächlich Tage, an denen ich, gleich der Mehrzahl, Thiers' Güte für zu weitgehend halte. Schonung des Lebens den Aufständischen versprechen, die sich nicht wegen Vergehen gegen das gemeine Recht zu verantworten haben! Haben Sie den ausgezeichneten Artikel im Journal de Versailles gelesen? Sein Verfasser hat recht: kein Mitleid! sonst werden diejenigen, die wir aus humanitärer Gefühlsduselei geschont haben werden, eines Tages uns nicht schonen! Keine Gefangenen! Befände sich unter ihnen ein mit Gewalt verführter ehrlicher Mann, so müßte man ihn an seinem Glorienschein erkennen. Unsere tapferen Soldaten müssen die Freiheit haben, in der Hitze des Kampfes ihre Kameraden zu rächen und das zu tun, was sie am nächsten Tag bei kaltem Blute nicht tun würden ... Feuer!«

Er schlug mit dem Stock hart auf den Boden. Er sprach mit klangloser, gemessener Stimme; aus seinen grauen Augen blickte kalter Zorn. Bersheim streifte ihn mit einem schmerzlichen Blick. Und dieser Mann war, was man einen Gemäßigten nennt! Er besaß lebhafte Intelligenz, eine gewisse Geistesbildung ... Täglich vernahm Bersheim ähnliche, ja noch giftigere Reden. Die Rechte der Nationalversammlung, das will heißen fast die gesamte Nationalversammlung mit der um sie her gravitierenden Welt, Familie, Freunde, das Publikum von Journalisten und Geschäftsleuten erhitzten sich in einer ansteckenden Erbitterung und sahen in Paris nur noch einen Haufen von Verbrechern und Verrätern. Bersheim gedachte des in den Couloirs herrschenden Lärms, als am Donnerstag Jean Brunet die Forderung gestellt hatte, die Regierung über ihre Absichten zu interpellieren: Fortsetzung des Krieges oder Frieden mit Paris? ... In was mischte sich dieser Narr? – Auf einen Monat verschoben! ... Bis dahin war die Sache wohl beendet. Unterdessen träumte die Majorität von nichts als von der unmittelbaren Erstürmung der Stadt; die Kommission der Fünfzehn quälte Thiers unablässig und forderte ihren Anteil an der Herrschaft ...

Grandpré zuckte die Achseln. Die letzten Handlungen der Kommune brachten seinen Ordnungssinn, sein System einer wohleingerichteten Gesellschaft, – wohleingerichtet, weil er sich dabei zufrieden fühlte – in Aufruhr. Er hatte einen Abscheu vor dem Plebs mit seinem Fettgeruch, seinem unästhetischen Schweiß, seinem Weinatem. Was war von diesen unsauberen Kerlen anders zu erwarten als Diebstahl und Mord? Man spreche ihm nur nicht von den reinen Händen! Er dachte nicht, daß diese, durch eben ihre Reinlichkeit vor jeder häßlichen Arbeit bewahrt, sich je beschmutzen könnten. Und wenn doch eine Schwäche ... ohne es sich klar einzugestehen, fand er für sie im voraus tausend mildernde Umstände, milde gegen alle Verbrechen am Rande des Kodex, wenn nur jener andere, ebenso barbarische und veraltete Kodex: die weltliche Ehre, respektiert wurde, wenn nur das Äußere unter seinem lügnerischen Anstrich gewahrt blieb. Seit dem die Säule betreffenden Dekret und den letzten Briefen des Erzbischofs kam er aus dem Zorn nicht heraus.

»Können Sie es glauben«, sagte er, »daß Rigault und Konsorten Monseigneur Darboy soweit umgarnt haben, daß dieser würdige Prälat ihren Versicherungen, daß wir die Gefangenen erschießen und den Verwundeten auf dem Schlachtfelde den Rest geben, Glauben schenkt! Der Pfarrer von Montmartre kam vorige Woche als Abgesandter der Kommune zu uns, – Grandpré sagte »uns« und wollte damit in bescheidener Weise seine Zugehörigkeit zu Thiers andeuten –, und brachte uns eine Botschaft vom Erzbischof und eine andere vom Abbé Deguerry, worin beide gegen die Hinrichtungen Protest einlegen.«

Bersheim fragte harmlos:

»Und was hat Thiers geantwortet?«

»Vorerst nichts. Aber da hat sich ein kommunefreundliches Blatt, L'Affranchi, beeilt, den Brief des Erzbischofs förmlich als einen Sieg zu veröffentlichen! Gleichzeitig empfing Thiers eine neue Epistel, diesmal von Mazas. Denken Sie sich, diese Leute haben Monseigneur so lange zugesetzt, bis er einen Austausch gegen Blanqui vorschlug! Ja, gegen diesen Missetäter, diesen Delinquenten, den wir in Cahors unter Schloß und Riegel halten, bis man ihn neuerdings vor Gericht stellt ... Man würde uns fünf Geiseln ausliefern: den Erzbischof, dessen Schwester, den Präsidenten Bonjean, die Abbés Deguerry und Lagarde ... Dieser letztere, Monseigneurs eigener Vikar, der geschworen hatte, selbst im Falle des Scheiterns Mazas wieder in seine Funktionen einzusetzen, hat uns selbst diesen schönen Vorschlag gebracht! De Flotte, Blanquis alter Freund, hat die ganze Geschichte angezettelt.«

»Was gedenkt Thiers zu tun?«

»Er hat damit angefangen, den ersten nun öffentlich gewordenen Brief in gebührender Weise zu beantworten, die albernen Gerüchte über angebliche Hinrichtungen dementiert und seine Verwunderung ausgesprochen, daß ein so aufgeklärter Prälat derartigen Verleumdungen Gehör schenken könne!«

Bersheim, dem Du Breuil die tragische Begebenheit am Kreuzwege von Petit-Bicètre erzählt hatte, dachte: Und Duval? Doch er zog es vor, davon zu schweigen, und erkundigte sich nur:

»Und was hat er auf den zweiten Brief geantwortet?«

Grandpré dämpfte die Stimme:

»Nichts ... Man berät sich noch darüber.«

»Ware denn aber ein solcher Tausch nicht von Vorteil? Wäre Blanqui, in Freiheit gesetzt, selbst wenn er wieder nach Paris zurückkehren sollte, unter den gegenwärtigen Verhältnissen noch zu fürchten?«

»Das weiß man nicht«, meinte Grandpré. »Man kann warten. Es drängt ja nicht ...«

Ein solches Phlegma bei Konservativen, die überall Mord witterten und daher logischerweise für das Leben ihres Oberhauptes hätten zittern müssen, setzte Bersheim in Staunen. Er hatte sich noch nicht an die kalten Berechnungen der Politik zu gewöhnen vermocht. Doch schon war Grandpré, über die Schweigsamkeit des Metzers verdrießlich, zu einem anderen Thema übergegangen, sprach von dem vorgestern endlich votierten Munizipalgesetze und rühmte die Größe und den Edelmut Thiers', der darein willigte, daß Paris trotz seiner unverzeihlichen Fehler bei der Verteilung der Wahlen ebensogut wie die anderen großen Städte Frankreichs behandelt werde. So lautete die offizielle Depesche, welche dem Lande das definitive Votum dieses Gesetzes verkündete, das nun drei Wochen zu spät kam, so spät, so außerhalb der Ereignisse, daß es in bezug auf die Hauptstadt wie für irgend ein Städtchen Chinas erlassen schien.

Diesmal schickte Bersheim den abgeschossenen Pfeil zurück:

»Das ist zu stark! Wie? Paris wird ebensogut wie die anderen Städte behandelt? Das wagt man zu behaupten? Wen will Thiers das glauben machen? Als ob das Gesetz nicht drei Kategorien von Gemeinden schüfe! Erstens diejenigen unter 20 000 Seelen, deren Gemeinderäte das Recht haben, aus ihrer Mitte Bürgermeister und Gehilfen, – die allerdings durch Dekret absetzbar sind – zu wählen. Ferner jene über 20 000 Seelen, wie die Hauptorte der Departements und Arrondissements, deren Bürgermeister und Gehilfen aus dem Gemeinderat gewählt, jedoch von dem Chef der Exekutivgewalt ernannt werden. Endlich Paris, das – aber wann? da die Kommune besteht! – vier Räte per Arrondissement designiert. Schon das ist absurd, denn es gibt Arrondissements von dreißigtausend und andere von hunderttausend Einwohnern. Und das ist, wenn ich richtig rechne, die ganze der Hauptstadt erwiesene Gunst, da Thiers sich das Recht vorbehält, nach Gutdünken und außerhalb des Gemeinderates die zwanzig Bürgermeister und sechzig Gehilfen, sowie den Polizeipräfekt und den Seinepräfekt zu ernennen. Wenn Sie das Größe und Edelmut nennen ...«

»Erlauben Sie«, unterbrach ihn Grandpré.

Je mehr Bersheim sich erhitzte, je ruhiger wurde er, je kaltblütiger wog und wählte er die Worte. In dem festen Boden seiner Grundsätze ankernd, sprach er mit schneidender Stimme, immer wieder zu seinen unabänderlichen Argumenten zurückkehrend: die Legalität, das heißt die Kraft im Dienste der Ordnung, die ewigen Grundlagen der Religion und des Thrones, die auf dem Höhepunkt der Entwicklung angelangte Menschheit, die untergehen müßte, wenn sie sich nicht auf die erprobten Formen der Vergangenheit stützte; jeder auf seinem Platze, die Niederen unten, die Führenden oben ... »Man spricht immer von der Revolution, dem Geiste der Revolution!« ... Er verzog sein Gesicht zu einer Miene tiefster Verachtung: »Wissen Sie, was eine Revolution von anderen Zeiten unterscheidet? Daß man sich in den öffentlichen Bedürfnisanstalten viel öfter als sonst übergibt! Ferner: daß sich die Fußböden der Paläste und Kirchen mit Stroh und Kot bedecken ... Eine Stallstreu! ... Das ist das Ganze!« ... Und befriedigt über diesen vortrefflichen Ausspruch, den er noch öfters zu verwerten gedachte, strich sich Grandpré den Schnurrbart.

Hinter ihnen schritten d'Avol und Du Breuil wie in den Zeiten ihrer jungen Freundschaft – jetzt mischten sich in ihr volles Haar schon einzelne graue Fäden, – und sprachen über die Einzelheiten der militärischen Operationen. d'Avol war dem Generalstab des Marschalls Mac-Mahon zugeteilt und verbrachte seine rasch verfliegenden Tage teils in dem von General Borel im Schlosse im dritten Stockwerk des Pavillon de Monsieur eingerichteten stillen Winkel, teils auf Inspektionsgängen und eiligen Dienstritten.

Die beiden Freunde tauschten offen ihr Urteil über den Generalissimus, der aus dem Abgrund von Wörth und Sedan auferstanden war, ohne viel von seinem Nimbus eingebüßt zu haben – so groß ist die nationale Eigenliebe, so bereit, in den schlimmsten Niederlagen noch einen Rest von Ruhm zu erblicken. Sie kommentierten die in Umlauf befindlichen Gerüchte: Thiers, von Stolz gebläht, eine so großartige Belagerung theoretisch leiten zu können, beständig an klassische Vorgänge erinnernd, er allein der Schwierigkeit der Aufgabe gewachsen: so die Schaffung der zur Vernichtung von Issy bestimmten großen Batterie, welche es unnötig machen würde, vor dem Sturm die Breschebatterien in Anspruch zu nehmen; ferner, angesichts des schwachen Punktes der Befestigungen, – den er selbst entdeckt hatte, als er dreißig Jahre, nachdem er sie erbaut, unter dem Kaiserreich in den Verteidigungsausschuß berufen worden war, – diese Riesenwerke von Montretout, mit hundert Kanonen bewaffnet, während die Generäle deren nur zwanzig vorgeschlagen hatten, und die man innerhalb acht Tagen errichten konnte, wo die Generäle einen Termin von einem Monat verlangten. Ein Bauunternehmer hatte mit tausend Arbeitern, schaufelnd und terrassierend, die mit bedächtiger Langsamkeit arbeitende Genietruppe unterstützt.

Vor allem aber gewährte es d'Avol und Du Breuil ein nicht geringes Amüsement, die großen Chefs von dem kleinen Manne tyrannisiert und belehrt zu sehen. Endlose Kriegsgerichtssitzungen tagten, in denen der Napoleon der Kammer sie niemals zu Worte kommen ließ und in kaustischem, unendlichem Geschwätz die Manöver kritisierte. Alle Entscheidungen wurden in den privaten Morgensitzungen getroffen, welche der allwissende und allmächtige Thiers mit seinen vertrauten Mitarbeitern, dem Schiffskapitän Krantz, dem Unterstaatsekretär General Valazé, Borel, der Stütze Mac-Mahons, dem Eisenbahndirektor de Franqueville und dem General Appert, dem Kommandanten der Unterabteilung, abgehalten wurden.

Thiers hatte lange in der Wahl seines Stellvertreters geschwankt und mehrere Namen gestrichen: Bourbaki litt noch zu sehr an den Folgen seines Selbstmordversuches, Canrobert galt als zu imperialistisch, Le Boeuf hatte an Ansehen verloren, Changarnier war zu anspruchsvoll, forderte nichts Geringeres als den Marschallstab und hatte den Großorden der Ehrenlegion als eine allzu schwächliche Entschädigung geringschätzig zurückgesandt. Er hatte sich zu Mac-Mahon, dem möglichen Nebenbuhler in der öffentlichen Meinung, nur entschlossen, weil Bazaine leider unmöglich geworden war. »Der wäre gerade mein Mann!« Mit ehrlicher Entrüstung wiederholte Du Breuil diesen ihm zu Ohren gekommenen Ausspruch... War die politische Freundschaft denn wirklich imstande, einen Mann von Thier's tatsächlicher Bedeutung das Verbrechen von Sedan und all die gemeinen und verdächtigen Kalkulationen vergessen zu machen! ...

In solchen technischen Gesprächen stimmten Du Breuil und d'Avol zu ihrer Freude vollständig überein; sie zogen diesen festen Boden dem Flugsande anderer Diskussionen vor. In Moral und Religion gingen ihre Anschauungen auseinander. Es waren dies unbekannte, dunkle Regionen, in denen sie nicht vorzudringen wagten, um ihre frisch zusammengelötete Freundschaft keiner neuen Erschütterung auszusetzen.

D'Avol ging gefestigt aus der tiefen Seelenkrisis hervor, in welche der Tod seiner Mutter nach so schwerem Leiden ihn versenkt. In seiner Vereinsamung hatte er sich anfangs verzweifelt an seinen Beruf geklammert, um in rastlosem Arbeitseifer Betäubung zu finden; doch das genügte nicht, seine Zeit zu füllen. Instinktiv erstand in ihm die Erinnerung an die Frömmigkeit seiner Mutter wieder, der Einfluß einer strengkatholischen Erziehung, welcher, durch das flotte Garnisonleben geschwächt, durch die Kriegserlebnisse in den Hintergrund gedrängt, ihn nun dem unvernünftigen Kultus seiner Kindheit, einem heftigen und gewaltsamen Glauben, in die Arme führte. Ein langes Verweilen am Grabe seiner Mutter, ein abendlicher Besuch der Kirche, wo er, die Stirn in den Händen vergraben, vor der ewigen Lampe zu Boden gesunken war, hatten ihn mit blendendem Lichte erfüllt. Er lernte sehen, begreifen. Gottes Hand hatte Frankreich schwer geschlagen.

Die Nennung von Bazaines Namen hatte verstimmend auf die beiden Männer gewirkt. Mehr als einmal seit ihrer Versöhnung hatten sie mit Bangen jener schrecklichen Vergangenheit gedacht, die sie getrennt, auf verschiedene Wege getrieben hatte. Noch hatten sie sich nicht darüber ausgesprochen, und diese Unklarheit lastete schwer auf Du Breuils rechtlichem Gewissen. Er ergriff die Gelegenheit; seine Stimme wurde plötzlich tiefernst in der Erregung eines edlen Geständnisses.

»Ich muß dir sagen, Jacques ...«

Er vermied es, ihn anzusehen, denn sein Stolz ließ sich nicht ganz zum Schweigen bringen:

»In Metz hattest du recht. Ich habe das zu spät eingesehen. Über die Disziplin läßt sich streiten, wenn der Führer, der sie gebietet, die Ehre verrät. Über dem passiven Gehorsam steht ein höheres Gesetz, das Gewissen. Ich habe den Buchstaben des Gesetzes befolgt, während du dessen Geist erkannt hast. Du hast das Rechte getan ... Ich habe viel gelitten, bis ich zu dieser Erkenntnis gelangte! Wie oft habe ich in Mainz dich beneidet! ... Ich war zu nichts nütze, der Sklave einer sterilen Pflicht, während du dich schlugst ... Du hast dem Vaterlande besser gedient.«

Nun er sein Herz erleichtert, blickte er d'Avol ins Auge. Mit unbewegten Zügen starrte dieser vor sich hin, als hätte er die Worte nicht gehört. In einem leisen Ausdruck des Stolzes leuchteten seine Augen auf. Endlich erhellte ein mildes Lächeln sein Antlitz. Schweigend legte er seine Hand in Du Breuils Arm und preßte ihn mit zitterndem Druck an sich. Es war ein ergreifender Augenblick, in dem all ihre wiedererstandene Freundschaft emporwallte.

»Ja, Bazaine«, seufzte d'Avol.

Und von neuem schwiegen sie. Dann, von einer inneren Macht getrieben, nicht länger dem Verlangen widerstehend, sich fortan wieder wie in früheren Zeiten rückhaltlos anzuvertrauen, sprach d'Avol, wenngleich die Möglichkeit einer Meinungsverschiedenheit ins Auge fassend:

»Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr festigt sich in mir der Glaube, daß eine unbarmherzige, aber gerechte Vorsehung uns für unsere Leichtfertigkeit und unseren Hochmut bestraft hat. Wir haben die göttliche Strafe verdient. Ich bin der Meinung des Herrn von Belcastel. Hätten wir uns den Glauben unserer Väter bewahrt, Frankreich wäre nicht unterlegen. Und wenn Paris heute im Todeskampfe liegt, so geschieht es, weil es diese mächtige Stütze verloren hat. Sieh die Landbevölkerung an: sie ist ruhig und friedfertig, denn sie glaubt ...«

Bu Breuil war unschlüssig, ob er antworten sollte. Doch schon fuhr d'Avol fort, seinem Zorn gegen die Mitglieder der Kommune Luft zu machen: die Elenden, die das Werk der nationalen Wiederherstellung vereitelten und die Stunde, da die Armee, neu gestärkt, ihre Arbeit wieder aufnehmen könne, verzögerten ... Die Schließung der Kirchen, die Verhaftungen der Geistlichen hatten das Maß seiner Empörung vollgemacht.

»Diese Narren, die davon sprachen, den Krieg gegen die Deutschen fortsetzen zu wollen und nur gegen die Stadtsergeanten ihre Tapferkeit beweisen!« höhnte er. »Und selbst da! Dort, wo sie rückhaltlos triumphieren, ist es gegen unglückliche Geistliche, gegen Männer des Friedens, die keinen anderen Schutz besitzen als ihren Beruf und ihr Kleid ... Geduld! Der Tag wird kommen ... Dann aber, keine Gnade!«

Schweigend, nachdenklich hörte Du Breuil zu ... Eben noch so nahe und jetzt so fern! Seine religiösen und patriotischen Zweifel bäumten sich vor d'Avols Siegesgewißheit auf wie unter einem brutalen Schlag. Früher hatte er diesen schlichten Freimut, diesen starren Glauben beneidet. Heute hätte er nicht mehr wie der Freund denken mögen und sah mit Schmerz ihren Mangel an Übereinstimmung, wenn auch in anderer Form, sich erneuern. Jetzt war es d'Avol, der die grausame Pflicht, im Namen der militärischen und sozialen Disziplin unerbittliche Strenge walten zu lassen, voll und ganz zu erfüllen entschlossen war, während er, Du Breuil, der sich einst dem Joch gebeugt, sich auch jetzt wieder zu beugen zögerte. Die Rollen waren vertauscht, doch das Problem war dasselbe, wenn auch dessen Grundgedanke ungleich schwerer zu lösen. So unterlag auch d'Avol gleich den meisten dem allmächtigen, das menschliche Leben und Denken nivellierenden Einfluß des Milieus!

In seiner Beklemmung hätte Du Breuil gern geantwortet ... Ja, die Männer, die Handlungen der Kommune empörten auch ihn wie die Kameraden ... Aber lag diesem erbitterten Widerstand, dieser gleichgültigen oder zustimmenden Entschlossenheit einer der größten Städte der Welt nicht doch irgend ein edles Prinzip zugrunde? Entbehrten die Bestrebungen dieser gestern noch verachteten, heute immerhin zu fürchtenden Soldaten gänzlich der Berechtigung? Schlummerte in der Tiefe dieses Fanatismus nicht doch ein fester Glaube? Klassenkrieg? Mag sein. Es war doch die Frage, ob man ihn nicht zu einem unabwendbaren Verhängnis gemacht, ob nicht hinter diesen impulsiven, wie Schreckgespenster sich gebärdenden Schauspielern der Vergangenheit eine unbekannte, unabwendbare Form der Zukunft lauerte? Sie niederschießen, sie vernichten, hieß das ihre dereinstige Entfaltung verhindern? Und überdies, hatte denn der Stärkere getan, was er hätte tun müssen, um zu versöhnen, den Zwist zu vermeiden? Wäre es nicht besser gewesen, hellsichtig den Bedürfnissen Rechnung zu tragen, die Leiden zu lindern?

Auch er war seit seiner Rückkehr von einer Art düsterer Offenbarung geblendet gewesen. Da er sich aber nicht, gleich d'Avol, an die Vergangenheit klammerte, irrte er haltlos durch die nächtliche Finsternis der unsichtbaren Küste, der bleichen Morgendämmerung zu. Wozu aber all das äußern? Lieber nach der männlichen Aussprache von vorhin vermeiden, was sie von neuem hätte trennen können. Er lenkte das Gespräch wieder auf das neutrale Gebiet ... Was d'Avol von der neuen Rekrutengesetzvorlage halte?

Über ihnen spannte sich der Himmel in strahlender Klarheit. Und doch war eine Wolke darüber hingezogen.


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