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III.

In dem Gärtchen ihres Hauses auf dem Montmartre, auf der Bank, von der aus man ganz Paris übersah, Paris, das wie ein in weichen Dunst gehülltes Meer vor ihnen ausgebreitet lag, neigten sich Herr und Frau Poncet, Tags zuvor heimgekehrt, über den zwischen ihnen sitzenden Martial und wurden nicht müde, ihn anzusehen und auszufragen. Mit welcher Freude hatten sie sich umarmt, mit welch tiefer Rührung hatten sie sich gegenseitig von ihrem seit ihrer Trennung so verschiedenen und an Aufregungen so reichen Leben erzählt...

Man schrieb den 10. März, die Luft war frühlingshaft lau und mild. Über ihnen streckte ein Kastanienbaum seine glänzenden Knospen empor. Frau Poncet, die kräftigen Schultern in einen leichten Shawl gehüllt, faltete die Hände und betrachtete mit verstohlenen Blicken ihren Sohn. Wie mager er war, und diese hohlen Augen! ... Wie mochte er gelitten haben! ... Poncet, immer der gleiche mit seiner großen Nase, der grauen Locke, der goldgefaßten Brille, ließ seinen lebhaften Blick umherschweifen, von Martial, dem er zuhörte, zu den Alleen des von jungem Gras überwucherten Gartens, zu den grünen Fensterläden seines verlassenen Laboratoriums, bis zu dem gigantisch zu Füßen des Hügels sich dehnenden Paris.

Welche Wandlungen seit jenem Julitage, da er die Hauptstadt verlassen hatte, um seine Ferien in Charmont bei seiner Schwester Gabriele, bei dem alten Jean Réal zu verleben! Für zwei Monate hatte er Abschied genommen, ein fürchterlicher Cyklon, nach welchem Vaterland und Familie, beide mit Blut befleckt und verstümmelt, sich allmählich und wankend wieder aufzurichten versuchten ... Mächtig stürmten die Erinnerungen auf ihn ein: die Hochzeit und der Tod seines Neffen Eugen, das heldenhafte Ende des Großvaters, die Schändung und Plünderung des von der Invasion zertretenen traulichen, schönen Charmont ... Dann die erbitterte Arbeit der Verteidigung, die Schlag auf Schlag sich folgenden Niederlagen, das unter der Last des Unglücks ächzende, Land, die schmachvolle Nationalversammlung! ...

Hatte diese noch immer nicht genug auf die Schwächung des von der Genußsucht, diesem Lebensnerv des Kaiserreiches vergifteten öffentlichen Gewissens spekuliert? Von dem Bauer, der seit Jahrhunderten gehungert und eben erst begann, auf seinem Grund und Boden sich eines menschenwürdigeren Daseins zu freuen, bis zu dem unablässig nach Gewinn und Luxus gierigen Bürger, hatte Frankreich sich von seinen militärischen Pflichten freigemacht. Eine aus Berufsoffizieren und Berufssoldaten, aus den Unglücklichen, die das Los getroffen und den Ersatzmännern, die ihre Haut verkauft hatten, zusammengesetzte, stehende Armee hatte die Mission, Lorbeeren zu sammeln und sich töten zu lassen. Nachdem diese Truppen besiegt unk die erste Begeisterung welche große, ungeordnete, untüchtige Menschenherden bewaffnet hatte, verraucht war, da war die Spannkraft auch gebrochen. Gewiß gab es in allen Gesellschaftsklassen schöne Beispiele von Opfermut, doch der großen Mehrzahl kam gar nicht der Gedanke, daß zur Ehre Frankreichs, aus Liebe zum Vaterlande jeder, ob jung, ob alt, den ungeheueren Nationalkrieg der Bürger und Bauern beginnen müsse. Außerhalb Paris dachte man nur daran, den Krieg zu enden.

Da waren, aus ihren Schlössern wie aus Gräbern auferstehend, die furchtsamsten Konservativen, die fanatischsten Klerikalen, all die Überlebenden der Vergangenheit, die seit 1830 und 1848 sich in der Erwartung der Wiedergeburt der Monarchie verzehrten, wieder erschienen, – bleiche Schemen, die das helle Tageslicht blendete. Mit den egoistischen Industriellen, den großen Schmarotzern der Geschäftswelt hatten sie zusammengestimmt: Frieden, Frieden um jeden Preis! Nieder mit dieser Republik, die wahnsinnig genug war, den Krieg zu wollen! So waren all diese verschollenen, unbekannten Namen aus der Urne hervorgestiegen. Den Frieden! Nur um für ihn zu stimmen, hatte man sie gewählt.

Sie aber, die – mit so wenig würdigem Eifer – für den Frieden votiert hatten, sie hatten nichts anderes im Sinn, als ihre von Ehrgeiz und Groll genährte fixe Idee. Ein für allemal den Feind ersticken, diesen abscheulichen Geist der Revolution, den Gegenstand ihres Schreckens in den Jahren 1789, 1848, 1870 ... Die Zukunft von ihr befreien, um an ihrer Statt die Vergangenheit wieder aufzurichten, ihr wurmstichiges Ideal von Monarchie und Kirche. Arme Menschen, in der Mitschuld des Zweckes geeint, um bald bei der Wahl der Mittel sich gegenseitig zu zerfleischen...

In welch merkwürdiger Entfernung lebten sie doch von Paris, der Seele des Landes! ... Poncet wußte es wohl schon längst, und doch war es ihm gestern erst so recht zum Bewußtsein gekommen; und gleichzeitig hatte er sich überzeugen können, wie fern Paris ihnen stand. Die fünf Monate der Einschließung hatten es zu einer völlig anderen Stadt gewandelt. Provinz und Hauptstadt waren einander fremd geworden: diese ganz von ihrem argwöhnischen Schmerz, ihrem unbeugsamen Willen, die Republik, als einzige Bürgschaft ihrer kommunalen Freiheiten aufrechtzuerhalten, absorbiert jene überdrüssig auf das unermüdliche Paris blickend, das immer noch die Waffen in der Faust hielt, während sie die ihren schon hatte sinken lassen. Die Provinzen, nach Ruhe schmachtend, und von solcher Eifersucht auf die Überlegenheit der Hauptstadt erfüllt, daß sie ihr die Krone der Metropole entreißen wollten, gaben Kontredampf! Und nur die Arbeitszentren, die großen Städte, schritten kühn und unentwegt vorwärts.

Ach ja, welche Veränderungen! Als er mit seiner Frau nach der endlosen Reise auf mit Militärzügen überfüllten Schienenwegen – deutsche Transporte, welche den Vortritt beanspruchten und alles verzögerten, zur Wiederherstellung der Ordnung herbeigerufene Provinztruppen – auf dem Perron des Bahnhofes stand, wie fremd hatten sie sich da gefühlt! Keine Pferde, keine Wagen! Nach einstündigem Suchen erst fanden sie einen Dienstmann, der sich bereit erklärte, ihr altes, fellüberzogenes Kofferchen bis zur Rue Sainte-Scolastique zu tragen.

Die Straßen, deren Geschäfte nächst den Barrikaden sich wieder öffneten, die geschlossenen Fensterläden der Wohnungen, die müßige, bewaffnete Menge, die Gesichter, die nicht mehr, wie ehemals, den Ausdruck der Sorglosigkeit trugen, der verschanzte Montmartre mit seinen Posten und Schildwachen und seiner doppelten Etage von Kanonen! ... Und doch, welch ein Abstand zwischen dem, was sie sahen, und dem, was sie nach all den Berichten zu finden erwartet: Paris in Feuer und Blut! Die Zeitungen der Departements schilderten in parteiischer Übertreibung die Hauptstadt als in vollem Aufruhr, die Stadtsergeanten niedergemetzelt, die staatlichen Lagerhäuser der Plünderung preisgegeben, Vinoy auf das linke Ufer zurückgedrängt...

»Aber die Kanonen«, hatte Poncet am Abend einen seiner Nachbarn, Catisse, Beamten der Mairie des XVIII. Arrondissements, gefragt, »wozu diese drohenden Batterien, eine Woche nachdem die Preußen sich zurückgezogen haben?«

»Bah«, hatte die Antwort gelautet, »die Wachbataillone beginnen müde. zu werden. Gestern war das 142. nach achtundvierzigstündigem Postenstehen nahe daran, die Sache aufzugeben. Das 75., an das das Zentralkomitee sich wandte, konnte nicht einmal ein Piquet zusammenbringen. Hätten nicht andere sich geopfert, so wären die Kanonen ohne Bedienung geblieben... Übrigens wäre es ihnen ganz recht, die überschüssigen Geschütze den Bataillonen, welchen sie gehören, sofort zurückgeben zu können.«

Und Catisse hatte mit gutmütigem Spott die Achseln gezuckt. Er war ein alter Studienkollege, der nach einem bewegten Leben dank den Bemühungen des Chemikers eine Anstellung beim Bürgermeisteramt gefunden hatte. Seit einigen Monaten verwitwet, fand er durch diese Anstellung die Mittel, seine fünf Töchterchen, wenn auch armselig, zu ernähren. Sie wohnten alle sechs im Erdgeschoß eines ärmlichen Häuschens, in derselben Straße wie die Poncets; der Vater, in abgetragenen Kleidern, eilte stets sofort nach Amtsschluß in sein Nest heim. Die rührend ernsthaften kleinen Mädchen mit den blassen Wangen, den dünnen, kurzen Zöpfchen, den schwarzen Schürzen erwarteten ihn. Die älteste, ernsteste spielte das Mütterchen.

Von anderer Seite, von einem intimen Freunde Jules Favres, hatte Poncet am Morgen erfahren, daß die Regierung mit den Bürgermeistern wegen der Übergabe all dieser Geschütze verhandelte, die, hier und da in Paris sequestriert und anfangs als einfache patriotische Trophäen betrachtet, in den Händen des Zentral-Komitees schnell zu einer Bürgschaft der kommunalen und republikanischen Rechte geworden waren. Clemenceau, Henri Martin, Tirard, Arnaud de l'Ariège traten für eine Transaktion ein: die Stadt sollte die Gespanne liefern und sämtliche Geschütze der Artillerielegion der Nationalgarde anvertraut, in Parks gruppiert und unter das Kommando des getreuen Obersten und Deputierten der Seine, Schoelcher, gestellt werden. Zum Dank für die Cession wollte die Regierung in einer Proklamation Favres in formeller Weise die Republik bestätigen.

»Das wäre«, sagte Martial, »das einzig richtige Mittel, ein Ende zu machen und die Bevölkerung zu beruhigen. Die Arbeit könnte wieder aufgenommen werden. Denn man hat das Arbeiterelement in der Nationalgarde verleumdet, es handelt sich ihnen nur um ihre dreißig Sous. Möglich, daß die jetzigen Zustände nach dem Geschmack vieler Tagediebe sind, – für eine verlorene Kraft, weil man sie nicht zu benützen gewußt – für alle jene, die Trochu lieber die Flaschen leeren und mit den Würfeln spielen sah, als sie zu disziplinieren und sie in den Kampf zu schicken! ... Doch die andern, die Leute der Ordnung, und die Masse, die sich danach sehnt, die Geschäfte wieder aufzunehmen, die Flinte mit dem Werkzeug, den Sold mit dem Salair zu vertauschen, die werden schnell mit diesen Großmäulern fertig werden.«

»Aber dein famoses Zentral-Komitee«, fragte Frau Poncet, »was sind denn das für Leute? Du wirst mich doch nicht glauben machen, daß sie alle, Lämmer sind und sich kein Wolf hinter ihnen versteckt hält?«

»Da gibt es viel zu sagen«, entgegnete Poncet. »All das ist so kompliziert ...«

Er griff zum Anfang zurück und erklärte, welche Gefühle fast die gesamte Nationalgarde, zuerst gegen den Feind, hierauf für die Republik, vereinigt hatten. Anonymer und verbrecherisch«! Umtriebe angeklagt, hatte das provisorische Zentralkomitee am 3. März mit erhobener Stirn geantwortet, daß, als Mandatar von zweihundert Bataillonen, seine Beschlüsse stets unterzeichnet gewesen seien und keinen anderen Beweggrund gehabt hätten, als die Verteidigung von Paris. Und pardauz! den 4. März erfährt man, daß d'Aurelle de Paladines das Kommando über die Nationalgarde übernimmt! Man sieht in ihm nicht mehr den Sieger von Coulmiers, sondern nur noch den von Cambetta abgesetzten Zauderer, den bei Orleans Besiegten. Jetzt gerade, wo das ehemalige Kaiserreich sich wieder regt, wo Napoleons Proklamationen an das Land, seine Versuche, die gefangenen Armeen zur Desertion zu verführen, sich häufen! Wieder ein Staatsstreich! ... Man sehe doch nur den in den Tuilerien gefundenen Brief, enthaltend die Bitte um einen Senatorssitz als Belohnung für die am 2. Dezember Saint-Arnaud angebotenen Dienste! ... Das ist das Oberhaupt, das Thiers unserer Metropole gibt ... Als Antwort darauf haben denselben Tag noch die Delegierten der Bataillone in Vaux-Hall die Statuten der Föderation, die Republik, akklamiert und gleichzeitig die Wiederernennung der Offiziere aller Grade und die baldige Bildung des definitiven Zentral-Komitees beschlossen: drei Mitglieder für jedes Arrondissement, von rechtswegen, die zwanzig Legionschefs ...«

»Aber«, unterbrach Frau Poncet die Rede, »wie ich in einer Zeitung gelesen, hat man auch den Entschluß gefaßt, daß das Seine-Departement sich als unabhängige Republik konstituieren solle, sobald die Nationalversammlung Paris als Hauptstadt absetzen wollte...«

»Das ist einfach albern«, sagte Poncet. »Wenn man der allgemeinen Republik dient, kann man sie doch nicht zwischen vier Mauern einsperren wollen. Als wäre Frankreich für Paris nicht ebenso notwendig, wie Paris für Frankreich ...«

Martial fuhr fort: »In dieser ungeheueren Bewegung einer Stadt, die ihre Freiheiten fordert, eines nach Recht und Fortschritt dürstenden Volkes, sind einige sichtlich zu schnell vorwärts gestürmt. Hinter dem provisorischen Zentral-Komitee, und es mit mißtrauischen Blicken betrachtend, standen Revolutionäre von Profession, die am 4. September Übergangenen, die Rädelsführer vom 31. Oktober, eine ganze Gruppe kleiner Parteien mit feindlich gesinnten Führern, verschiedenen Neigungen, alle durch die Verfolgungen gleich erbittert, gleich entschlossen, die Fehler der Verteidigungsregierung, in welcher sie nur reaktionäre Bourgeois erblicken, sich zu nutze zu machen. Die Blanquisten, die Jakobiner, die Sozialisten der Internationalen. Letztere hatte, beunruhigt darüber, sich außerhalb der Bewegung gestellt zu sehen, vier Delegierte designiert, um sich mit dem Komitee zu verständigen...«

Frau Poncet machte eine besorgte Miene: die Internationale Arbeiterverbindung! Das Wort schreckte sie mehr, als die Sache selbst, kannte sie doch die friedliche Tendenz dieser aus Arbeitern verschiedener Länder zusammengesetzten Vereinigung, welche auf der Gemeinsamkeit der Ideen beruhte, und deren Ziel die Auffindung der Mittel zum Schutze der Arbeit gegen das Kapital, der Mittel zum Kampfe gegen die egoistische Habgier der Arbeitgeber bildete. Sie hatte ihre Erfolge in den letzten Ausständen, in den Protokollen der sensationellen Kongresse, welche seit 1866 die Aufmerksamkeit Europas auf sich gezogen, sowie jene der von dem Kaiserreich ausgegangenen Prozesse verfolgt, dessen politische Verfolgungen, weit entfernt, die Einheitlichkeit der Sektionen zu lockern, der Internationalen erst Zusammenhalt und Ansehen verschafft hatten.

»O, die Internationale!« sprach Poncet, »man übertreibt ihre Macht! In bezug auf die Form gespalten, sind sie, ich weiß es, auch im Grund und Wesen desorganisiert. Der Krieg hat alles gelöst, zersplittert. Einer ihrer Propheten, Karl Marx, hat sogar in einem Briefe von der Anwendung jeder Meuterei abgeraten... Übrigens liegt, trotz der Plünderungen von Munition und Waffen, trotz der drohenden Anarchie, nicht darin die Gefahr. Sie liegt in der Nationalversammlung! Eine Regierung wird immer nur durch ihre eigenen Fehler zu Grunde gerichtet. Noch dröhnt mir das Ohr von dem Lärm, mit dem die Rechte, vorgestern, die Stimme Viktor Hugos übertäubte, der sich des Verbrechens schuldig machte, dem Verdienste Garibaldis seine Huldigung zu erweisen. Noch höre ich das Hohngelächter, womit man Telescluzes, Milliéres Forderung, Trochus Regierung in Anklagestand zu versetzen, beantwortete ... Sobald hingegen einer der Ihren Gambetta und sein Werk auf den Armensünderstuhl setzt, welch rührende Eintracht! Wir, die Diener der Delegation, »die Lumpen von Republikanern«, wir sind die »Banditen von der Loire! ...« Und dieses Gemurmel, als Polain sprach: »Bürger!« Und das »Glückliche Reise«, womit man Rocheforts, Rancs, des Arbeiters Malon patriotische Demission nach dem Friedensvotum begrüßte ...«

Poncet legte seine Hand auf Martials Schulter:

»Merke, was ich dir sage, mein Junge, das Rot macht sie wütend, wie die Stiere stürmen sie darauf los. Und keiner da, um sie zu leiten, sie im Zaum zu halten. Ein Ministerium im Harlekinkleid, in dem Zentrum, Rechte und Linke sich kreuzen, ohne miteinander zu verschmelzen, in dem Republikaner von der Färbung eines Favre, eines Simon, eines Picard, eines Le Flo trotz all ihrer Mäßigung in der Majorität zu sein scheinen. Die andern: Dufaure, ein hartes Juristengehirn, ein Schauspieler der Kabinette Louis-Philipps und von 1848, wo er vortrefflich auf das Volk zu schießen verstand, Lambrecht, ein tüchtiger Ingenieur und schwacher Handelsminister, de Larcy, der ehemalige Polizeibeamte Karls X. ... Was kann man von solchen Leuten erwarten? Sie sind nichts als Plunder, das Unterfutter Thier's, und dieser selbst ...«

Poncet konnte dem berühmten Politiker sein der Delegation feindliches Verhalten nicht verzeihen, nicht die Bezeichnung»»wütender Narr«, womit er in seiner eisigen Klugheit Gambetta qualifiziert hatte, nicht seinen Widerstand gegen den Krieg bis aufs Messer, nicht seine Manöver in Tours und Bordeaux, womit er den Frieden, als dessen unentbehrlichen Unterhändler er sich fühlte, zu beschleunigen gesucht...

»Dieser Mensch, der alles zu retten vorgibt, wird alles zu Grunde richten! Nichts kann verhängnisvoller für uns sein ...«

Mit sicheren Strichen entwarf der Chemiker das Bild des Greises: ein kleiner Staatsmann und großer Geschäftsmann, groß vor allem durch die hohe Meinung, die er von sich selbst hegte, und die er ganz Europa aufzudrängen gewußt hatte. Der Typus eines Bourgeois, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern, das getreue Abbild der armseligen, aufschneiderischen Julimonarchie, als deren unerbittlicher und schlauer Minister er im Finanzministerium seine Kasten zu füllen verstand, während er im Inneren Amte den Aufruhr schürte, Absolut in der Macht, liberal in der Stellung, hatte Meister Jacques ebenso die skandalöse Verhaftung der Herzogin von Berry, wie die offene Opposition gegen die Ministerien, zu denen er nicht mehr gehörte, geleitet. Ein unermüdlicher Arbeiter, im Vordergrund wie in den Kulissen, vom Sonnenuntergang Louis-Philipps bis zum aufgehenden Stern Louis Napoleons, solange er auf den Sturz des einen oder den Aufschwung des anderen hofft. Endlich der langsame Rückzug: ein glühender Ehrgeiz, der seit dreißig Jahren ihn verzehrte, während seine Hände noch zitterten von der Kraft, mit der er Frankreich gehalten, und dem Verlangen, es wieder zu fassen! Eine ungeheuere Eitelkeit, die wütend sich darauf beschränkt sah, Geschichte zu schreiben, während er danach lechzte, selbst Geschichte zu machen; ein Eroberer in Pantoffeln, aufgebläht nach dem Bild jener, die er studierte. Ein klarer, aber kurzsichtiger Blick, der in den Julitagen den Abgrund wohl sah, zu dem der Krieg führte, der aber, nach der Lehre von Sadowa, die Gefahr der großen deutschen Effektivbestände als Fabel und Phantasterei behandelte. Von der Manie der strengsten Zentralisation beherrscht, mit den Worten: Autorität, Legalität Götzendienst treibend, nichts von dem, dessen es bedurfte, um den Ernst der Lage zu begreifen. Ein gesunder, aber trockener, jeden Schwunges barer Verstand; mehr Redseligkeit als Beredsamkeit, mehr Gemeinplätze als Ideen. Viel praktische Menschenkenntnis, alle die seinen Hilfsmittel des Geistes, ohne die belebende Quelle des Herzens.

»Er erscheint«, fuhr Poncet fort, »als der von der Vorsehung bestimmte Mann: der letzte Ersatzmann Frankreichs. Keinem aber mehr als sich selbst. Die einen begrüßen ihn als den Wiederaufrichter des Thrones, die anderen als den Begründer der Republik. Er wird sie alle täuschen. Das Regime gilt ihm blutwenig; er sieht nur sich selbst; und für die Befriedigung seines Egoismus wird er alles tun.«

Zwei Tage lang waren Poncet und seine Frau, ohne sich aus Montmartre, wo man wie in einer Zitadelle eingeschlossen war, fortzurühren, den Lokalkomitees gehorchend, von denen das eine militärische in der Rue des Rosiers, das andere, das Überwachungskomitee genannt, auf der Chaussee de Clignancourt seinen Sitz hatte – damit beschäftigt, ihr Häuschen in Ordnung zu bringen. Eine auvergnatische Magd, ein hochaufgeschossenes Mädchen mit großen Händen und flachsgelben Haaren, war ihnen dabei behilflich. Der Besen fuhr in alle Ecken, die Wände wurden abgerieben, die Alleen gejätet ... Indessen prüfte Poncet in seinem Laboratorium die staubbedeckten Phiolen, untersuchte die in den Fächern aufbewahrten Päckchen; so manche der Substanzen waren verdorben. Mit vorsichtiger Genauigkeit ordnete und reinigte er alles, von neuem Arbeitstrieb beseelt, von dem neuen Explosivmittel träumend.

Als er jedoch den dreizehnten die Zeitungen, die er seit seiner Ankunft nicht berührt hatte, öffnete und sich in deren Lektüre vertiefte, versetzten ihn die Ereignisse, die er daraus erfuhr, in neue Aufregung und entrissen ihn der Traulichkeit des wiedergewonnenen Daheim, dieses Gärtchens, in dem man sich so fern vom Getriebe der Welt fühlte. Waren sie in Bordeaux denn närrisch geworden? War es zu glauben, daß sie Paris zum äußersten treiben wollten...

Die Verlegung der legislativen Gewalt, des Staatsoberhauptes, der Minister und aller großen Verwaltungsbehörden nach Versailles beschließen! So brach also die Reaktion die Brücken ab und schrie ihre schmähliche Verachtung der Hauptstadt, ihre politischen Hintergedanken in alle Welt hinaus! Wäre es nur auf sie angekommen, dann wäre wohl auf Bourges oder Orléans, als äußerste Grenze, ihre Wahl gefallen. Nur auf die dringenden Vorstellungen Thiers', der in soviel arroganter Ungeschicklichkeit eine Gefahr gewittert hatte, hatte sie sich von Fontainebleau nach Versailles geschlagen. Wenn Paris, wie zu befürchten stand, sich erhob, dann würden die mit dem Schutze einer entfernt tagenden Nationalversammlung betrauten Truppen der Armee zur Unterdrückung des Aufstandes fehlen.

Die Insulte war deshalb nicht weniger groß. Die Rechte hatte ihren ängstlichen Haß gestanden, hatte verraten, wie überdrüssig sie des feurigen Herdes war, dieses Paris, das »zehnmal binnen achtzig Jahren – so hatte ein Herr von Belcastel gerufen – dem Lande fertige Regierungen durch den Telegraphen geschickt hatte.« Poncet las Louis Blancs wundervolle Rede.

Welch entrüstete Beredsamkeit in seinem Protest! ... Die nationale Einheit angreifen! Mit einem Wort: das Werk von Jahrhunderten auslöschen wollen! Als wäre Paris nicht durch seine Ausdehnung, seine Million arbeitender Wesen, durch das Ausstrahlen seiner Ideen, durch die Erhabenheit seiner Erinnerungen die notwendige, die berufene Hauptstadt! ... Als ob nicht alle Departements hier mündeten, wie die Bäche im Strome! Und welchen Moment wählte man? Denselben Augenblick, da eine ganze Bevölkerung das erhabenste Beispiel der Tapferkeit und des Opfermutes gegeben hatte! Das also war der Preis, mit dem Frankreich den während der Belagerung bewiesenen Opfermut lohnte! ... Man wollte also die ganze Stadt zu höchstem Zorn und wilder Empörung reizen, wollte in Lyon, in Marseille und Bordeaux die gefährlichste der Versuchungen entfachen und in Paris eine Pariser Regierung schaffen, gegen welche die Nationalversammlung keine andere Zuflucht hätte als die Provinz aufzuwiegeln? Aus der Asche des furchtbaren Krieges gegen den fremden Feind sollte die Feuersbrunst des noch weit furchtbareren Bürgerkrieges emporlodern!

Wie recht er doch hatte, jener Deputierte von Savoyen, Silva, als er den Zauderern das leuchtende Dilemma entgegenhielt: »Entweder Paris bietet keine Gefahr, und wir können dahin zurückkehren, oder es bietet eine solche, dann ruft die Pflicht uns in seine Mauern zurück!« Und wie richtig hatte Millière die Zukunft prophezeit, da er nach der Wegnahme der beiden Provinzen das Land der Hauptstadt beraubt, zerstückelt, dem Tode nahe zeigte.

Und nicht damit zufrieden, Paris zu Boden zu werfen, plünderte man ihm die Taschen und sog ihm den letzten Blutstropfen aus. Ohne Erbarmen mit dem halb oder ganz darniederliegenden Handel befahl die Regierung die unverzügliche Zahlung sämtlicher zwischen August und November fälliger, durch das Dekret der Verteidigungsregierung prolongierter Wechsel.

»Wie«, sagte sich Poncet, »während die Kommunikationen kaum wieder eröffnet, während die Filialen der Bank von Frankreich noch geschlossen, die Diskontokassen unauffindbar, die Transaktionen unmöglich sind! Kann man ruhigen Herzens den Ruin von Tausenden, ehrlicher, unschuldiger Menschen unterschreiben?«

Er nahm hastig Hut und Überrock vom Nagel und stieß die Tür zum Speisezimmer auf, wo seine Frau mit dem Verbinden ihrer Fruchtgläser beschäftigt war:

»Adieu, meine Liebe. Ich gehe zu Martial und Thédenat. Erwarte mich nicht zum Frühstück.«

Ohne daß er einen Widerstand versuchte, stopfte sie schnell in die eine Tasche seines Überziehers einen Topf mit Aprikosengelee, in die andere ein Glas Johannisbeergelee.

»Martial hat sie so gern!«

Achselzuckend ging er fort.

Eine förmliche Reise. Er kam an den Verschanzungen vorüber. Halt! Bajonette senkten sich. Auf dem Platz Saint-Pierre standen schwatzende Gruppen. Andere Wachen saßen nähend unter den Schutzdächern oder vor ihren Zelten, warfen ihre Fingerhüte in die Höhe und riefen Lotterienummern aus: 11, die Beine meiner Schwester, 14, Trochu wird sich schlagen.« Je weiter Poncet kam, je mehr staunte er über die ungeheuere Anzahl der Liniensoldaten und Mobilgardisten, die sich unter die Menge mischten. Plaudernd, die Hände in den Taschen, umstanden sie die Tische, an denen dem Würfelspiel gefröhnt wurde. Die Sous und die Silberstücke klimperten und rollten. Die Zimmer der Weinhändler, die Plätze vor den Kaffeehäusern wimmelten von Uniformen.

Aus den großen Lokalen, aus den Lagern der Belagerung vertrieben, war die ehemalige Armee bei den Einwohnern untergebracht oder biwakierte in den Straßen. Warum sorgte man nicht dafür, daß all diese Leute entlassen und in die Provinz zurückgeschickt wurden? Täglich verließen ganze Kolonnen von Beurlaubten die Stadt, ohne daß die Masse sich zu verringern schien. Dafür begannen die Franktireurs mit dem weichen Filzhut, die Garibaldianer herbeizuströmen. Am lärmendsten gebärdeten sich die Mobilgarden der Seine, die mit zehntägigem Sold entlassen worden waren.

Im Quartier de l'Opera war das Gedränge geringer; hier sah man, wie in gewöhnlichen Zeiten, geschminkte Frauenzimmer mit gelben Chignons; Geschäftsleute, Journalisten, Modenarren, das Publikum der gewohnheitsmäßigen Spaziergänger schlenderte über das Pflaster, ohne sich durch die Neuigkeiten, die in einigen Gruppen lebhaft besprochen wurden, aus ihrer Ruhe bringen zu lassen. In der Rue de Rivoli wurde die Bewegung wieder stärker. Am Fuß einer Arkade stand gestikulierend und schreiend ein Menschenhaufe. Ein Mann, der ein rotes Plakat abzureißen versucht hatte, wurde mit Püffen und Schlägen traktiert.

Poncet las das Plakat, es war ein Manifest des Zentral-Komitees, dieses gegen die in der Provinz verbreiteten »odiosen Gerüchte« protestierte und die gegen Paris entsandten Truppen beschwor, mit dem Volke zu fraternisieren. Gut gekleidete Frauen, friedliche Bürger zollten der Kundmachung Beifall. Der Mann schlich sich mit hängenden Ohren hinweg.

Jenseits des Wassers wuchs die Aufregung und versammelte die empörten Kaufleute auf der Schwelle ihrer Läden und an allen Straßenecken leidenschaftlich erregte Gruppen. In den Bierstuben des Boulevard Saint-Michel wurde laut gestritten. Ein ordengeschmückter alter Herr, der am Rand des Trottoirs eine Zeitung las, streifte ihn zornigen Blicks.

In der Rue Soufflot angelangt, stieß Poncet im Hausflur mit Martials Hausmeisterin zusammen und sah verwundert, wie die dicke Person, ohne seine Frage zu beantworten, ihn stehen ließ und hoheitsvoll ihre Loge betrat mit einem Blick der Verachtung auf eine grauhaarige Frau, die, einen Korb am Arm, die letzten Stufen der Treppe herabstieg. Diese erwiderte den verächtlichen Blick mit stolzer Miene. Als sie aber Poncet erblickte, rief sie aus:

»Welche Überraschung! Wie Herr Thedenat sich freuen wird! Wünscht der gnädige Herr, daß ich mit hinaufgehe?«

»Danke, ich will zuerst mit meinem Sohne frühstücken.«

Aus der Tiefe der Loge klang eine strenge Grabesstimme herauf:

»Er ist schon mit Herrn Therould in die Rote Kuh gegangen.«

Die Aufwartefrau folgte Poncet, der sie fragte:

»Sie haben sich also mit Frau Louchard verfeindet?«

»Ach, gnädiger Herr, sprechen Sie nicht davon! Ihr Mann kann meinen Mann nicht leiden; daran ist auch diese schreckliche Politik schuld. Und Villoir! Wie er gestern den Posten bei den Gobelins verteidigt hat, ist er von einem Stein getroffen worden. Vier Bataillone haben sie belagert! Das hat eine ganze Nacht gedauert, und am Morgen hat man den Platz räumen müssen. Zwölfmalhunderttausend Granaten, gnädiger Herr, die sie da drinnen geplündert haben!«

Mit diesen Worten entfernte sie sich, die Augen zum Himmel gewandt.

Poncet öffnete die Tür der Restauration. Im rückwärtigen Saale waren Martial und Therould eben damit beschäftigt, ein gebratenes Huhn zu zerlegen, das Mutter Groubet nebst einer Schüssel voll fettem und goldgelbem Reis auf ihr Tischchen gestellt hatte. Martial bestellte freudig ein drittes Gedeck. Therould, der das Tranchieren übernommen hatte, unterbrach seine Arbeit, um den Chemiker, der seinen Überrock an einen Haken gehängt hatte, sich zwischen ihnen niederließ und den Flügel, den der Maler ihm reichte, annahm, zum Zeugen aufzurufen.

»Nicht wahr, Herr Poncet, das ist eine Abscheulichkeit?«

Sein früher so lustiges Gesicht hatte jetzt einen trübseligen Ausdruck, die Hautfarbe war gelb, die Wangen eingefallen, die Nase gerötet. Frau Groubet seufzte von ihrem Ladentisch aus:

»Ist das nicht himmelschreiend? Ebensogut könnte man den Laden sperren ... Morgen ist ganz Paris ruiniert.«

Und Martial stimmte, bei:

»Du hattest recht, Papa, sie wollen uns zugrunde richten.«

Immer lebhafter und lauter wurde das Gespräch. Hoch und niedrig, arm und reich, in allen Klassen nur ein Schrei der Empörung. Der zweifache Beschluß der Nationalversammlung traf Paris ins Gesicht, ins Herz.

»Jedenfalls«, sagte Thérould, »wenn sie auf die Soldaten rechnen, die sie uns auf den Hals schicken, um uns zu verschlingen, können sie sich den Bauch kratzen. Gestern war ich auf dem Marsfeld, um Vinoy die Revue abnehmen zu sehen. Ah la la!«

Mit den zwölftausend Mann der Division Faron vereinigten sich die mit Zustimmung der Deutschen aus der Provinz zugezogenen Truppen, welche eine Verstärkung von drei Divisionen bedeuteten. Jedoch vom Krieg erschöpft, und wenig geneigt, den Kampf gegen Paris aufzunehmen, vermehrten sie wohl die Zahl, doch nicht die Kraft.

»Rechte Gecken, diese Generalstabsoffiziere ... Selbst beim Trocadero lauter Rentiers, lauter Schmerbäuche. Nun also! bis vor der Nase der Generäle waren sie die ersten, die ›Es lebe die Republik!‹ heulten. Und die Infanteristen! Man mußte sie nur hören, wie sie sich durch die Straßen in ihre schmutzigen Baracken auf den äußeren Boulevards schleppten. Arme Teufel! Sie stecken in Lumpen und fallen vor Hunger um! Wenn die Pariserinnen ihnen nicht was zum Essen brächten!« ...

Mutter Groubet wechselte unter zustimmendem Nicken die Teller. Ein Dreieck von rohem, flüssigem Brier Käse erschien. Thérould schlug mit der Gabel den Generalmarsch und präsentierte mit dem Messer. Nach so langen Entbehrungen freute man sich des bescheidensten Leckerbissens. Nachdem er ein großes Glas Wein auf einen Zug geleert, fuhr er fort:

»Das ist wie euer d'Aurelle mit seiner Proklamation! Alle Welt in den Arrest! Fort mit dem Schreckgespenst! Sagte nicht Picard zu Fernol und den anderen vom Komitee: ›Er ist ein Mann von Eisen, und ihr wagt euren Kopf‹, und so weiter und so weiter ... Ein General der Nationalgarde, das! Nein, Lisette! Unsere Generäle, die ernennen wir! In der Avenue d'Italie, Duval; Boulevard du Maine, Henry! Saubere Patrone! ... Und das Komitee hat einen harten Schädel; Beweis dafür, daß es den Konkurrenten mit Leichtigkeit bezwungen hat; eine Versammlung von Auguren, lauter Bataillonchefs, die unter dem Vorwand, sich mit der Auszahlung des Soldes beschäftigen zu wollen, das Maul voll nahmen und nichts anderes leisteten, als daß sie ihr eigenes kleines Bundeskomitee konstituierten.«

Thérould fegte mit dem Handrücken die Brotkrumen weg:

»Psst! Abgesetzt! Gegründet ... Es gibt jetzt nur noch die Grrrroße Republikanische Föderrration der Nationalgarde! Alle Patrioten verbündet gegen die Pfaffen von Bordeaux! Mittwoch wählt man in den Baux-Hall die defintiven Manitus, das einzige und alleinige Zentral-Komitee ... Und Rrrran! nach Canroberts unsterblicher Onomatopoesie! Wir wollen sehen, ob man, nachdem man Paris seine Stellung im Staate geraubt, nachdem man ihm den Sitz der Regierung, die Kammern, die Ministerien genommen, ob man es dann noch wagen wird, ihm auch das Recht zu entziehen, seinen Gemeinderat zu wählen und wie die erstbeste kleine Stadt seine eigenen Angelegenheiten zu verwalten ...«

In dem Rausch, der ihn überkam, gewann sein instinktiver Leichtsinn wieder die Oberhand. Er stürzte drei Schalen heißen Mokka hinunter und nahm mit geheimnisvoller Miene Abschied. Er war jetzt beständig unterwegs, trieb sich zwischen einem Ende der Stadt und dem anderen herum, in allerlei Geschäfte sich mischend, zwischen dem Rathaus und den Winkelschänken sich bewegend, zwischen Politik und Liebe sich teilend.

Poncet folgte ihm mit dem Blicke:

»Auch einer, der einen Sparren zu viel hat!«

Er war erstaunt, bei so vielen Leuten von früher ruhiger Gemütsart jetzt jene Art zerfahrener Exaltation und Nervosität zu finden, welche eine krankhafte Folge der Belagerung war. Er bezahlte die Rechnung und nahm seinen Überrock vom Haken. Dabei stießen die beiden Geleetöpfe zusammen.

»Teufel!« sagte er. »Befreie mich von diesem Zeug... Es ist ein Geschenk deiner Mutter.«

Fröhlich übernahm Martial die Töpfe und warf den Mantel seines Vaters über die Schulter.

»Wir wollen nun zu Thédenat gehen. Wie geht es ihm?«

»Er ist von all den Aufregungen sehr angegriffen. Gestern kam er aus der Empörung über Vinoys Ukas nicht heraus.«

Dem Beispiel, das die harten Maßregeln der Nationalversammlung lieferten, folgend, hatte der Generalissimus sechs der radikalen Blätter, diejenigen, in denen Felix Pyat, Jules Ballès, Rochefort ihren Sarkasmus schärften und die Stimme des Volkes zu entfesseln suchten, konfisziert. Teilte Thédenat auch nicht bis in die letzten Konsequenzen ihre gewalttätigen Bestrebungen, so konnte er eine solche Verletzung der Freiheitsprinzipien doch nicht dulden: das war schlimmer als ein Angriff, das war ein Fehler. Immer wieder der Sporn des Kaiserreiches! Wie aber konnte heutzutage eine Nation wie Frankreich ohne eine freie Presse leben? Mochte man sie noch so gewaltsam zum Schweigen bringen, am Denken und Handeln vermochte man sie nicht zu hindern. Die Geschichte sprach: die Brutalitäten der Regierungen werden mit Revolutionen erwidert. Die Leute knebeln, das war keine Kraftprobe, das war ein Geständnis der Schwäche.

»Da kommt unser Freund«, rief Martial.

Thédenat, der eben das Haus verließ, erblickte die beiden und hob die Arme. Die beiden Gelehrten umarmten sich voll Herzlichkeit und tauschten teilnahmsvolle Fragen nach dem Befinden ihrer Frauen. Lange hielt Thédenat Poncets Hände in den seinen.

»Nun?« fragte der Chemiker.

Thédenat machte eine Geste äußerster Entmutigung:

»Noch ist nicht alles aus. Mögen wir nicht noch das Furchtbarste zu erleben haben! ... Man tut sein möglichstes, damit Paris vollends den Kopf verliere! ... Es ist, als hätte man sich in Bordeaux und hier verabredet, um an einem Tage alle Albernheiten und alle Schmähungen zusammenzuhäufen. Thiers erneuert den hinterlistigen Vertrag, schmeichelt der monarchistischen Chimäre und macht aus der noch fernen Gründung der Republik, anstatt sie schnell und in absoluter Weise durchzuführen, einen dem Zufall überlassenen Preis der Klugheit. Ach! diese Beschlüsse von Versailles, dieser die Wechsel betreffende Erlaß! Hier die Zeitungen... doch selbst die Gazette de Paris protestierte gegen solche Willkür. Und die Verurteilung von Blanqui, Flourens und den anderen Beschuldigten vom 31. Oktober! ... Welche Treulosigkeit! Denselben Abend hat ein formeller Akt die Erstürmer des Rathauses gedeckt und das Wort der Regierung gebunden ... Ist das alles? Nein; ich weiß daß Binoy den Antrag stellt, von heute an der Nationalgarde den Sold zu entziehen... Und die Werkstätten sind geschlossen, die Fabriken ausgestorben. Wo sollen die Unglücklichen Arbeit finden? Das heißt ja direkt Tausende von Familien auf die Gasse setzen ... Doch was kümmert das Bordeaux? Man hat es ja an den Mietzinsen gesehen, als Millière das Gesuch um Verlängerung der Zahlungstermine einbrachte. An die Arbeitskommission zurückgeschickt und begraben! ... Man ahnt nicht das Elend der armen Leute, man spottet darüber.«

Er blieb stehen und hielt Poncet an einem Knopf seines Rockes fest:

»Sehen Sie, Martial kennt die Simons, unsere Nachbarn, wackere Schuhmacherleute. Ich gehe eben zu ihnen. Nun denn, sie konnten am achten nicht ihre rückständige Miete bezahlen; wenn der Hausherr morgen nicht die Summe, die er von ihnen fordert, in Händen hat, dann – hinaus mit ihnen! Und dabei spreche ich nicht einmal von dem Protest des Wechsels, den sie im August wegen eines Ledereinkaufs unterschrieben haben. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich auszugleichen, werden sie gepfändet und aus dem Hause gewiesen. ... Und wie ihnen, so ergeht es dem ganzen arbeitsamen Paris.«

Vor dem Laden in der Rue Gay-Lussac angelangt, bat er seine Begleiter:

»Warten Sie auf mich, ich habe ein Wort mit ihnen zu reden.«

Er trat ein; der Laden war leer. Beim Klang der Klingel kam Therese aus dem Hinterzimmer heraus; Martial und sein Vater waren diskret zur Seite getreten. Sie sahen Thédenat im Hintergrunde verschwinden. Therese trat auf die Schwelle, erkannte Martial und begrüßte ihn. Sie sah schlecht aus, ihre Augenlider waren geschwollen. Und sofort, nachdem Martial ihr den Namen ihres Vaters genannt, machte sie ihrem Kummer Luft:

»Simon liegt krank zu Bett, er quält sich so! Die Söhne und Rose laufen im ganzen Stadtviertel herum, um die Kunden aufzusuchen... Wenn man uns alle Arbeit bezahlen wollte, die wir geleistet haben! ... Simon hat bei der Arbeit gar nicht daran gedacht ... Und für den Kredit immer offene Hand! Aber jetzt ist ja alle Welt ebenso arm wie wir selbst! ... Wenn der gute Herr Thédenat nicht...«

In diesem Augenblick erschien der Genannte wieder; er tat, als hätte er nichts gehört und entzog sich schnell Theresens Dankesworten.

»Richtig!« rief Martial, der immer noch den Überrock überm Arm trug. Rasch eilte er zurück, zog die beiden Fruchttöpfe aus, den Taschen und stellte sie auf den Tisch. »Die hat meine Mutter gemacht. Simon soll sie kosten und mir dann erzählen, wie sie ihm geschmeckt haben.«

Da sie zu widersprechen versuchte, lief er eiligst davon. Poncet und Thédenat lächelten mit einem Blick liebevollen Einverständnisses.

»Wie kann man verlangen«, sprach Thédenat, »daß diese Leute ein Herz für die Regierung haben sollen?«

In Gedanken versunken durchschritten sie das Gittertor des Luxembourg und ergingen sich in ernsten Gesprächen in den verwüsteten Gärten. Mit jenem grauschimmernden Flaum überzogen, der den Vorboten des Frühlings bildet, breiteten sich die traurig verstümmelten Alleen und die zerstampften Rasenflächen. Überall zeigten sich die schmutzigen Spuren der Lager und der Ambulanzbaracken. Von der Terrasse herab überblickten sie ein Biwak grauer Zelte, in denen ein Marschregiment, die Trümmer der Nordarmee, zusammengepfercht lag.

»Seltsam«, sprach Thédenat, »diese Soldaten, die die feindlichen Linien passiert haben, durch alle unsere mit Deutschen überfüllten Städte marschierend, um mit den mit Granaten vollgestopften Tornistern zur Überwachung von Paris herbeizueilen, ... Wissen Sie, daß die Obrigkeit aus Furcht vor Mangel an Chassepots von Moltke zwölftausend der durch die Kapitulation letzterem ausgelieferten Gewehre zurückgekauft hat? ... Unsere Bezwinger sind gar praktische Leute! Nachdem sie unsere Südforts ausgeräumt, haben sie unseren Offizieren einen Zettel übergeben, die Mitteilung enthaltend, daß sämtliche alten Gußeisengerätschaften, alte Projektile, Gitter, Röhren an einen Juden in Frankfurt verkauft worden seien und der Käufer die Lieferung bereits übernommen habe ... Und jetzt, nachdem sie das durch ihre Schändlichkeit beschmutzte Versailles geräumt, Saint-Cloud und Meudon verwüstet haben, jetzt halten sie die östlichen Forts in ihrer Gewalt, lasten mit der ganzen Wucht der Invasion auf Manets, Chartres, Fontainebleau und Meaux und zermalmen ein Drittel von Frankreich, das ihnen Wohnung, Beleuchtung, Heizung und Nahrung liefert! Sie umringen uns, sie ziehen den Kreis immer enger und warten hochmütig und frohgemut bis Paris die ersten Millionen des Lösegeldes zahlt!«

Die drei Männer schwiegen, und als hätte Thédenats Schilderung ihnen das Herz allzu schwer gemacht, drückten sie einander die Hände und trennten sich mit einem »Auf Wiedersehen!«

Müde, traurig und sorgenvoll kehrte Poncet nach Montmartre zurück. Als er bei dem Bürgermeisteramt vorüberkam, konnte er seine Neugierde nicht bezwingen und trat ein. Zu seiner Freude erfuhr er von Catisse, daß der Maire des XVIII. Arrondissements und elf seiner Kollegen aus Picards eigenem Munde soeben die Versicherung erhalten hatten, daß die Regierung es um jeden Preis vermeiden würde, Gewaltmaßregeln zu ergreifen ... Ein Blutvergießen mußte verhindert werden.

»Aber natürlich«, fuhr Catisse fort, »anstatt, wie verabredet war, einen Generalstabsoffizier auf das Bürgermeisteramt zu schicken, um sich bezüglich der Übergabe der Kanonen zu verständigen, hat d'Aurelles mehrere von Gendarmen eskortierte Protzwagen direkt auf das Plateau beordert. Das Komitee der Rue des Rosiers hat ›Verrat!‹ geschrien; die Wachen, die durch die Ereignisse der letzten Tage völlig kopflos geworden sind, haben sich geweigert, abzutreten ... jetzt werden die Geschütze auf der Höhe des Montmartre aufgestellt; man arbeitet an einer Brustwehr ...«

Die folgenden vier Tage verbrachte Poncet mit Geschäftsgängen und Besuchen. Es war ihm unmöglich, in seinem Laboratorium zu bleiben, gleichgültig gegen alles andere sich in geduldige Untersuchungen zu vertiefen. Ein lebhaftes Bedürfnis, zu handeln und seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, trieb ihn aus seinem Häuschen, das nun wieder sein früheres anmutiges und sauberes Aussehen gewonnen hatte ...

In dem Stadtteil, wo so viele Arme ihn kannten, gewöhnte man sich schnell wieder an seine Erscheinung, seine lebhaften Züge, seinen langen braunen Mantel. Bald suchte er seit lange vernachlässigte Freunde wieder auf, bald nahm er an Beratungen teil. Man sah ihn im Ministerium des Innern, in den Bürgermeisterämtern. Er machte nähere Bekanntschaft mit Doktor Clemenceau und beteiligte sich an dessen Bestrebungen. Der Bürgermeister des XVIII. Arrondissements, Deputierter von Paris und hervorragender Biologe, sah seinen glühenden Republikanismus von beiden Parteien verdächtigt. Gegenüber seinen Versöhnungsversuchen hielten die exaltiertesten Nationalgardisten sich für verraten.

Poncet gab trotz all der Gärungen und Wirren die Hoffnung nicht auf. Zweifellos gab es fortgesetzte Unruhen. Um zwei auf der Straße gefangen genommene preußische Soldaten zu befreien, bedurfte es der Intervention eines hohen deutschen Generals und des Ministers des Äußeren. Wohl bedeckten Blanquis und Flourens' Proteste in roten Plakaten die Mauern und fanden die Zustimmung vieler. Doch nur ein wenig Geduld, und alles würde sich klären ...

Die Wahl des definitiven Zentral-Komitees verschlimmerte im ganzen die Lage nicht. Wohl wurde in Vaux-Hall Garibaldi einstimmig zum Oberbefehlshaber der Nationalgarde gewählt. Wieder einer! Übrigens eine rein platonische Demonstration. Allerdings wurde gleichzeitig ein ehemaliger Marineoffizier, Lullier, ein überspannter Kopf, zum Artilleriekommandanten ernannt. Doch nur noch wenige Tage, und es gab keine Artillerie mehr, die Kanonen wurden übergeben. Nur ein Mißverständnis, die Provokationen der Regierung, hatten die Übergabe verhindert. Poncet wußte aus zuverlässiger Quelle, daß Favres Proklamation: »Die Regierung setzt ihre Ehre darein, die Republik zu gründen«, in Bordeaux als zu kühn befunden und von Thiers getadelt worden war. Ohnehin sprachen die Taten der Regierung schon allzu vernehmlich.

Und dabei immer noch diese militärische Fahrlässigkeit ... Dasselbe falsche Vorgehen bezüglich der Kanonen der Place Royale. Vinoy mußte sich mit dem Kommandanten des Sektors ins Einvernehmen setzen; ein Bataillon, das sich dazu bereit erklären würde, sollte zum Dienst designiert werden ... Man trug dem nicht Rechnung; auf gut Glück entsandte man Beamte, ohne auch nur einige Gespanne zur Verfügung zu haben ... Man war auf andere Wachen gestoßen, die ebenfalls den Gehorsam verweigerten; sofort wurde der Generalmarsch geschlagen, der ganze Stadtteil geriet in Aufruhr, die Kanonen wurden in die Rue Basfroi und in die Mairie des XX. Arrondissements gezogen.

Doch Paris mußte bald dieses Soldatenspieles überdrüssig werden. Diese famosen Kanonen nahm man ja gar nicht mehr ernst; die gesamte Presse machte sich über sie und ihre Entführer lustig und spottete über den Mont-Aventin. Die Rädelsführer fanden wohl bald keine Gefolgschaft mehr. Wie vergangene Woche auf dem Montmartre, so würden wohl in kürzester Zeit die Wachtposten sich überall weigern, den langweiligen Dienst weiter zu versehen. Vor der Bastille verwandelte sich jetzt schon die flammende Begeisterung der ersten Tage in eitles Possenspiel, die Manifestanten ermatteten; morgen würden vor der an der Spitze der Säule befestigten und in Riesenbuchstaben die Worte: »Es lebe die Allgemeine Republik!« tragenden Tafel nur vereinzelte Passanten, übermorgen wohl kein einziger mehr stehen bleiben. Die rote Fahne würde von selbst sich senken. So heftig eine Krisis auch auftritt, sie geht vorüber, das Fieber sinkt.

Je mehr er darüber nachdachte, je mehr Grund glaubte Poncet zu haben, sich zu beruhigen.

»Du wirst sehen, du wirst sehen«, sagte er eines Morgens zu Catisse, der, eins seiner kleinen Mädchen an der Hand, im Vorübergehen für einen Augenblick eingetreten war, »es wird alles wieder ins Geleise kommen.«

Catisse widersprach mit seiner friedlichen Miene, während Frau Poncet dem Kind ein Stück Kuchen abschnitt.

»Was sagst du zu der Ernennung des Generals Valentin zum Polizeipräfekt? Wieder einer von diesen Gendarmen des Kaiserreichs! Vinoy, d'Aurelles ... und nun der Dritte im Bunde! Das deutet auf einen Staatsstreich!«

Poncet blies ungläubig die Backen auf: »Bah!« Thiers, vorgestern aus Bordeaux zurückgekehrt, konnte nun mit eigenen Augen den Stand der Dinge prüfen und Paris den Puls fühlen. Ein Staatsstreich! Guter Gott, womit denn aber? Verkündete er denn nicht in einer seiner letzten Depeschen, daß er gesonnen sei, nur im Notfall Gewalt zu gebrauchen, im geeigneten Moment jedoch mit der äußersten Energie?

Gewalt? Wozu, wenn Geduld, Geschicklichkeit und Taktgefühl genügten? Und dann, welcher Moment war wohl weniger geeignet, als dieser, da durch ihre unsinnigen Beschlüsse die Nationalversammlung sich selbst ihre eigenen Anhänger entfremdete, da hundertfünfzigtausend Wechselproteste den Ruin über eine Unzahl von Geschäftsleuten verhängten; da seit drei Wochen mehr denn sechzigtausend Nationalgardisten ihre Reihen und Paris verlassen hatten?

»Die äußerste Energie« – die Lust, sie anzuwenden, fehlte dem Manne von Transnonin sicherlich nicht. Er war viel zu hochmütig, um den Radikalen verzeihen zu können, daß sie am 31. Oktober unter dem Vorwand des von Bismarck geschürten Aufruhrs die Unterhandlungen wegen des Waffenstillstandes abgebrochen hatten, und um die am Abend des 26. Februar ausgestandene Angst zu vergessen, als in Erwartung des Einzugs der Deutschen die Menschenfluten tosend, alles mit sich fortzureißen drohten ... Auch seine Abhängigkeit gegenüber der Nationalversammlung mußte aufreizend wirken. Den zwanzigsten eröffnete sie in Versailles wieder ihre Sitzungen und würde entrüstet sein, unter den übrigens nicht geladenen Kanonen vom Montmartre verhandeln zu sollen. Zu alledem verfolgte ihn auch noch die Bande der Geldmänner mit Vorstellungen und Drohungen: »Sie werden niemals imstande sein, finanzielle Operationen auszuführen, wenn Sie nicht mit diesen Verrätern ein Ende machen und nicht zuerst die Kanonen forträumen!« ... Doch »die äußerste Energie«, woher sie nehmen? Wenn der Polizeipräfekt davon sprach, das Zentral-Komitee verhaften zu lassen, sagte Vinoy: »Übernehmen Sie es!« und der Polizeipräfekt erwiderte: »Ich kann nicht!« D'Aurelle sah auf seine Sammelordre fünfzehn Mann sich einstellen. Seine Eisenhand faßte das Leere. Die Truppen? In Paris, in der Provinz besiegt, kaum noch in Cadres eingeteilt, geschwächt durch die Entlassung der vom Militärdienst Befreiten und durch die Einverleibung jener müßigen Elemente, die seit einem Monat bei den Einwohnern einquartiert waren und in den Straßen umherlungerten, – war es klug, auf sie zu zählen? Demoralisiert, schwankend, wer vermochte zu sagen, ob sie nicht, anstatt die Gewehre zu senken, vielmehr die Kolben erheben würden? Und dann? ...

Am Abend brachte Catisse auf dem Heimweg von der Mairie Poncet folgende Neuigkeit:

›Oberst Schoelcher, der heute aus Bordeaux eingetroffen ist, hat sich mit Clemenceau in den Park der Butte begeben. Sie konnten denselben erst betreten, nachdem sie sich in der Rue des Rosiers einen Passierschein hatten ausstellen lassen. Ein Mitglied des Zentral-Komitees hat sie begleitet; man hat sich dahin verständigt, Schoelcher die Kanonen zurückzustellen.«

An diesem Abend saß Poncet beim Diner heiterer als seit langer Zeit seiner Frau gegenüber. Die Lampe warf ihren milden Schein auf das weiße Tischtuch. Tiefe Stille umhüllte das kleine Haus. Feiner Regen rieselte nieder. Zum erstenmal nach langen Wochen begann Poncet zu lesen, während seine Frau an ihren ewigen Strümpfen und Pulswärmern für die Armen strickte.

Vor dem Zubettegehen öffnete er das Fenster und atmete tief die scharfe Nachtluft. Friedlich schlummerte Montmartre im Schutze seiner Kanonen. Stumm dehnte sich die Stadt mit ihren unzähligen, langsam verlöschenden Lichtern. Ein leiser, frischer Frühlingshauch strich durch die Nacht.

»Welche Stille!« sagte Poncet, das Fenster schließend.


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