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III.

Unter dem blendenden Sonnenschein, der Paris gleich einer heißen Liebkosung umhüllte, zogen die Bataillone zum Rathaus. Hoch am azurblauen Himmel, im goldigen Lichte, zogen die Schneewolken dahin. Die Dächer und die Fenster glitzerten; wie ein leuchtendes Silberband zitterte es auf dem blauen Spiegel der Seine, die langsam zwischen den Fassaden der Paläste, zwischen den in zartes Grün sich kleidenden Kais dahinfloß.

Eine friedliche Menge füllte die Straßen, bedeckte die Fahrdämme, die Trottoirs, die Plätze mit ihren Riesenwogen, in denen aus dem Gedränge der Müßiggänger und den Reihen der waffenblitzenden Bataillone die lichten Kleider der Frauen sich gar anmutig gleich frisch erblühten Blumen abhoben. Auf allen Gesichtern malte sich die freudige Erregung eines großen Tages, die Süße des Bewußtseins, sorglos, frei von der Last der gestrigen Befürchtungen, der heutigen Eintracht froh, sich ergehen zu können, die neugierige Erwartung des sich bietenden Schauspiels, die berauschende Wonne dieses plötzlich erwachten Frühlings, der allen zu Kopf stieg und aus allen Augen lachte. Mit einem Schlag umgab sich die Kommune, die man proklamierte, mit einem wunderbaren Nimbus; das war das Ende der bösen Tage, des erstarrenden, blutigen Winters, der strahlende Anbruch einer neuen Ära.

Die drei Simons marschierten Seite an Seite inmitten ihres Bataillons, beinahe allein eine Reihe bildend, die durch Thérould vervollständigt wurde. Man machte Halt und marschierte weiter, eine bunt zusammengewürfelte Kolonne von schwarzen Blusen und braunen Röcken, von Bajonetten starrend. Doch unter der Verschiedenheit der Kleider bebten die Herzen in gemeinsamer Begeisterung, lag auf den bleichen, gebräunten, bärtigen Gesichtern der gleiche Ausdruck freudiger Entschlossenheit. Neben ganz alten sah man blutjunge Gesichter. Fast das ganze bürgerliche Element war verschwunden – auch Martial und Delourmel fehlten, – das Volk allein zeigte sich. Die gelichteten, verringerten Kompagnien rückten energischen Schrittes vor, dessen Rhythmus die Verschmelzung von Männern gleicher Rasse verriet, die, durch die gleichen Interessen verbunden, demselben Ziel entgegenstrebten. Eine sterile, schlummernde Kraft, die zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht war und sich ihrer Entfaltung freute.

Der alte Simon und Louis schritten schweigend dahin, über Théroulds und Anatoles Späße lächelnd. Derselbe Taumel der Begeisterung, den der Alte auf dem Bastilleplatz empfunden hatte – einen Monat war's her, und wie war die Welt seither verwandelt! – als das Bataillon sich zur Julisäule begeben hatte, zur Erinnerung an jene, die ihr Blut für die Republik vergossen hatten, dieselbe Trunkenheit erfaßte ihn auch jetzt mit tiefer Befriedigung und ungemischtem Stolze.

Behende streckte er sein verwundetes, für gewöhnlich etwas schwerfälliges Bein; nie war es ihm so leicht erschienen. Er bedauerte nicht mehr, mit dieser Wunde seinen Tribut gezahlt zu haben, ja er empfand beinahe eine ihn süß dünkende Eitelkeit. Er gedachte seines verstorbenen Bruders, des Paten seines Sohnes Louis, des Gefährten und Lehrers seiner Jugend, des Vaters seiner Pflegetochter Rose. Armer Jean-Louis! Wie wäre er glücklich gewesen, den endlichen Sieg der Sache zu sehen, die in seinen Augen das Glück der Niederen verkörperte und eine Herrschaft der Gerechtigkeit inaugurierte. Wie hatte an jenem Aprilnachmittag des Jahres 48 sein Auge geglänzt, als die bleiche Sonne, durch den milden, bedeckten Himmel dringend, verklärend über dem Verbrüderungsfeste geschienen hatte; die Champs-Elysees waren bis zu der beim Triumphbogen errichteten Estrade hin von einer dichtgedrängten Menge erfüllt gewesen, dreimalhunderttausend Menschen Hand in Hand, eines Herzens! ... Blumengirlanden verhüllten die Mündung der Kanonen; Zweige von Flieder und Hagedorn schmückten duftend die Läufe der Gewehre... Zwei Monate später waren die nationalen Werkstätten geschlossen, Kanonen und Gewehre spieen Tod und Verderben auf das aus seinen Häusern getriebene Volk, erstickten den Aufruhr durch den Hunger.

»Brot oder Blei!« Simon glaubte den furchtbaren Schrei des Schmerzes noch zu hören, seinen Bruder Louis, von einer Kugel durchbohrt, an seiner Seite niedersinken zu sehen. Im Begriffe, den Verwundeten auf seine Schulter zu laden, war er selbst, von einem Geschoß getroffen, zu Boden, gestürzt. Kameraden hatten die beiden hinweggetragen. Monatelang hatte Louis zwischen Tod und Leben geschwebt und hatte sich nur erholt, um in oft unterbrochener Arbeit ein trauriges, entbehrungsreiches Dasein zu fristen. Vorbei war es gewesen mit all den schönen Hoffnungen! ... Der Staatsstreich vom 2. Dezember hatte der Republik ein schnelles Ende bereitet... Er sollte das gelobte Land niemals betreten! Rose war das Kind jener trübseligen Jahre. Sechs Monate nach ihrer Geburt starb die Mutter, bald darauf Louis...

Glücklich wenigstens die Söhne, die sehen durften, was zu sehen ihren Vätern nicht gegönnt gewesen. Rose erntete mit ihren blühenden achtzehn Jahren die Früchte einstigen Fleißes. Simon blickte auf und betrachtete mit freudigem Stolze seinen Ältesten; er war stolz darauf, ihn so schön, so kraftvoll zu sehen. Er lächelte über Anatoles Frohsinn; sie beide erhellten mit ihrer jugendlichen Begeisterung sein rüstiges Alter; sie waren Fleisch von seinem Fleisch, sie sollten gebildeter, glücklicher, besser sein als er selbst – wahre Männer. Seine erfüllten Träume lebten in ihnen fort, er schwelgte in dem Glück dieser Stunde: die Revanche für die Vergangenheit, die Verheißung der Zukunft. Von Anatole kehrten seine Augen zu Louis zurück, plötzlich bemerkte er in dessen Zügen den Ausdruck tiefinneren Glückes ... Voll Rührung dachte Simon an die grauen Haare, an das schöne, verblühte Antlitz seiner Lebensgefährtin ... Wie hellsehend die Mutter gewesen! Gewiß, der Gedanke an Rose war es, was den Zügen seines Jungen diese strahlende Helle verlieh. Der Frühling und die Liebe! Und Simon sagte sich: »So ist es, und es ist gut so.«

Das Gewehr über der Schulter, setzte Louis gleichmäßig Schritt vor Schritt, und unablässig sah er vor sich Rosens schlanke Gestalt, ihre zärtlichen, schwarzen Augen. Das lichte Bild schwebte durch den leuchtenden Glanz des Tages, über dem Gewimmel dieser frohbewegten Menge, durch die heiße Flut seiner Gedanken. Sie verschmolz mit der Schönheit dieses Augenblickes, der gleichsam im Glanz der Morgenröte die Jahre gemeinsam erduldeten Mißgeschickes, diese letzten Monate, in denen sie grausamer denn je unter Hunger und Kälte gelitten, und diese gestern abgeschlossenen Wochen zitternder Hoffnungen und quälender Zweifel beleuchtete. Bei der Heimkehr in jener Nacht, die sie in Erwartung der Deutschen verbracht, war es gewesen, da sie sich ihre Liebe gestanden hatten, die ihnen allein noch Geheimnis gewesen und die aus ihren Blicken sprach. Damals waren sie zum Leid und zur Seligkeit der Liebe erwacht.

Sie, die sich bisher nur in geschwisterlicher Freundschaft verbunden geglaubt, sie schienen einander jetzt wie verwandelt. Ein Schmollen des Mädchens, dessen beweglicher, zugleich heftiger und sanfter Charakter ihn bisher niemals beunruhigt hatte, machte ihn jetzt unglücklich; und sie wiederum faßte ein Schweigen, ein neckendes Wort übel auf; und die Versöhnung nach diesen jugendlichen Zwistigkeiten war ihnen wie eine Enthüllung, ein noch nie empfundenes Liebesschmachten.

Als er an jenem Morgen aufs tiefste erschöpft von den Wällen heimgekehrt war und sie so verwandelt wiedergefunden hatte, da war ihm angesichts dieser vom Weinen geröteten Augen, dieser von der ausgestandenen Angst eingefallenen Wangen die Erkenntnis ihrer Liebe gekommen. Ihre Hände hatten sich mit krampfhaftem Drucke gefaßt, ihre Blicke heiße Liebesschwüre gesprochen. Seit jener Stunde lebte er wie in einem Zustand der Verzückung, alles mit dem Widerschein seiner heute erfüllten Hoffnung verklärend. In dem Beginn der Kommune begrüßte er zugleich die Religion seiner Jugend – den Kultus des Vaters! – und sein eigenes, plötzlich erblühtes Glück. Morgen wurde die Arbeit wieder aufgenommen, das Leben war gesichert, bald konnten sie Hochzeit machen ... Im Vollgefühl seiner Seligkeit dünkte ihn alles möglich, ja selbstverständlich: der Aufschwung seiner Liebe, der Sieg seiner Ideen.

Mit mehr Phantasie begabt als sein Vater, weniger als dieser von der Härte der Menschen und Dinge berührt, übersah er auch nicht mit solcher Klarheit alle die Schwierigkeiten und Hindernisse, und da, wo der alte Simon mit seiner Erfahrung sich hinter seine Arbeiten und sein Handwerk verschanzte, mit dem geringsten Fortschritt zufrieden, da schaffte sich Louis, der seinen Geist mit Lektüre genährt, gern mit Systemen Genugtuung, in seinen Träumen an der zukünftigen Stadt bauend. Der zukünftigen? Nein, der gegenwärtigen ... Auf den Trümmern der harten, alten Gesellschaft, die von selbst zusammengestürzt war, erstand schnell unter der Mitarbeit aller Menschen von Kraft und ernstem Willen eine neue, die ihre weißen Giebel in den strahlenden Frühlingshimmel emporstreckte.

»Auf den Platz treten, Ruhe!« sagte Anatole zu Thérould. »Da erhebt Louchard schon den Säbel. Daß er ihn nur nicht schluckt!« ...

Die Reihen stockten. Immer dichter wurde der Wald von Bajonetten. Die reglose Kolonne entlang wälzte sich unter dem sorglosen Gelächter der Gaffer in mächtigen Wogen der Menschenstrom. Alles drängte dem Place de Grève, dem flaggengeschmückten Rathaus zu, von dem am Ende der Avenue einer der hohen Eckpavillons sichtbar wurde.

Anatole fühlte sich um hundert Armlängen gewachsen durch das stolze Gefühl, in Reih' und Glied mitmarschieren zu dürfen, durch die Freude an dem Chassepotgewehr, das er am Tage nach dem 18. März von einem Liniensoldaten um 10 Francs gekauft hatte. Was war an jenem Tage nicht alles zu kaufen gewesen! Sogar Knöpfe von Lecomtes Rock, um 50 Centimes das Stück, und mit Blut und Gips beschmutzte, aus der Mauer gelöste Kugeln; doch ein solcher Kauf, nein, pfui! ... Louchard hatte, als er Anatoles Gestalt erblickte, – wie eine Spargel! fast so groß wie Thérould, – ihm die Erlaubnis erteilt, mit den Älteren zu marschieren. »Eine Gunst, welche – so hatte er emphatisch erklärt – durch die Loyalität der Simons wohlverdient war.« Für Anatole war eine Revolution ein Kinderspiel. Die Straße war sein Daheim; er beobachtete alles und ergötzte sich an einem Nichts. Seine Stumpfnase schnüffelte überall umher, seine grauen Augen funkelten vor Übermut. Keinem wurde es so leicht wie ihm, Verworrenes zu entwirren; zu jeder Arbeit geschickt, zu jedem Streich bereit, schlagfertig und unternehmungslustig.

»Sie nehmen mich unter Ihren Schutz, Herr Thérould, nicht wahr? Ich bin ehrgeizig.«

Der Zigeuner reckte seine hageren Arme und erwiderte gewichtig:

»Wähle deinen Platz, so lange noch ein Platz frei ist!«

Er trug eine affektierte Hoheit zur Schau. Tatsächlich war er seit einigen Tagen der Polizeipräfektur zugeteilt, wo Raoul Rigault in Anerkennung der zahllosen in den Bierstuben des Quartier Latin geleerten Krüge ihn untergebracht hatte. Doch trotz seiner neuen Würde hatte Thérould es sich nicht nehmen lassen, bei dieser Gelegenheit seinen Platz neben seinen Kameraden wieder einzunehmen. Als die Kolonne sich wieder in Bewegung setzte, heulte er:

»Es lebe die soziale Republik!«

An der Ecke der Avenue Victoria standen auf einer der den Zugang absperrenden Barrikaden Poncet und Martial und reckten den Hals, um besser zu sehen. Zum Ersticken dicht gedrängt, erblickten sie zwischen den Köpfen der unter ihnen Stehenden hindurch das ungeheure Gewoge der Neugierigen, der Tausende und Tausende von Menschen inmitten der Menge der Bajonette, die rings um eine mit rot-goldenen Draperien verkleidete Estrade aufgepflanzt waren. In der Mitte der Fassade breitete sich vor dem Palais die geräumige Plattform, mit rotsamtenen Fauteuils besetzt und mit der die phrygische Mütze tragenden Statue der Republik geschmückt, von der rote Fahnen lustig flatterten. Andere Fahnenbüschel zierten mit ihren purpurnen Fächern die Reliefs des monumentalen Gebäudes; die Reiterstatue Heinrich IV. war durch eine reiche, scharlachrote Draperie verdeckt. Inmitten des wie ein stürmisch bewegtes Meer wogenden Platzes, in den die überfüllten Straßen ihre Menschenströme entleerten, stand das Riesengebäude gleichsam lebendig im klaren Sonnenschein mit seinen dichtbesetzten Fenstern, seinen von Gestalten wimmelnden Dächern, seinen Statuen und Nischen, an denen eine Unzahl von Kindern hingen. Man verstand kaum ein Wort in dem betäubenden Lärm, den unaufhörlich Trommelwirbel und Trompetenfanfaren übertönten.

Um vier Uhr waren sämtliche Bataillone versammelt, rings um die Estrade zusammengedrängt, in die Straßen verteilt, wo es, so weit das Auge reichte, von Waffen blitzte und gleißte. Auf dem Kai stand die Salvenbatterie mit ihren stummen Rachen aufgereiht. Plötzlich erdröhnte ein langanhaltendes Rollen. Wie gewaltiger Donner krachten die Kanonen. Die Trompeten schmetterten die Marseillaise, die von Tausenden von Kehlen mitgesungen wurde. Und zu der Estrade, auf der mit den Neugewählten die Mitglieder des Zentral-Komitees erschienen, bleich, die Uniformen mit der roten Schärpe umgürtet, stieg ein frenetischer Jubelruf empor und begrüßte mit endlosem Vivatgeschrei diese schlichten Männer, in denen die Seele des Pariser Volkes sich verkörperte. Sie waren das lebende Symbol der Stadt, sie hielten in ihren Händen deren wiedererrungene Macht und wollten sie nun, ihrem Versprechen getreu, redlich jenen übergeben, die von zweimalhundertneunundzwanzigtausend Stimmen zu diesem schwierigen Ehrenamt berufen worden waren. Die Trommler schlugen den Marsch, auf den Spitzen der Bajonette baumelten die Käppis. Martial gedachte jenes Oktobertages, da zum erstenmal der Ruf: »Es lebe die Kommune!« auf diesem selben Platze an sein Ohr gedrungen war; damals war es nur dumpfes Gewittergrollen gewesen, heute schwoll der Ruf zu gewaltigem Donner an, von Tausenden von Lippen getragen, und stürmte mit jenem anderen Rufe: »Hoch die Republik!« sieghaft empor in den leuchtenden Frühlingshimmel, der Sonne entgegen.

Gerührt, von der magnetischen Kraft der allgemeinen Erregung mit fortgerissen, sprach Poncet zu seinem Sohn:

»Das ist doch großartig ... Ah! sieh hin! Der in der Mitte erhebt sich!«

Der schöne, schlanke, braunhaarige Mann sprach. Doch in solcher Entfernung verhallte Assis südlich wohllautende Stimme, und man konnte nur seine Gesten sehen. Ein anderer erhob sich, ein großer, bleicher Mann, den Poncet erkannte: Ranvier. Unter den Klängen der Marseillaise und dröhnenden Vivatrufen verlas er die Liste der Gewählten. Die Namen, die da verkündigt wurden, sie legten Zeugnis ab von dem Willen der Arrondissements, der vorgestern mit solcher Ruhe manifestiert worden. Hinreißende Begeisterung verbreitete diese vielen unbekannten, allen verheißungsvollen Namen von Mund zu Mund. In der Umgebung der Estrade wurden die Rufe immer lauter, jede Stimme übertäubend. Kaum, daß in einem Augenblick der Stille die von der Estrade herab verkündeten Worte vernehmbar wurden:

»Im Namen des Volkes, die Kommune ist erklärt.«

Die magischen Worte pflanzten sich fort, wieder donnerten die Kanonen, schmetterten die Trompeten. Ein einziger, gigantischer Taumel erfaßte aller Herzen, von aller Lippen erscholl der Ruf: »Die Kommune lebe hoch!« ... Poncet und Martial schrien wie die anderen, bis ins Innerste ergriffen und erschüttert. Die Taschentücher wehten, die Fahnen flatterten, die Spitzen der Bajonette blitzten. In diesem Augenblick fühlte Poncet weniger die Sorge, die in den letzten Tagen ihn gequält hatte. Freundliche Illusionen umgaukelten ihn; die Drohung von Versailles erschien ihm eitel, als ein im Schatten sich verflüchtigender blutiger Begriff, der vor der blendenden Wirklichkeit dieses herrlichen Augenblickes verschwinden mußte. Von dem Freudentaumel der Menge fortgerissen, teilte er dieses glühende Vertrauen eines Volkes, diese Gemeinsamkeit der Hoffnungen. Nie noch in seinem Leben hatte er eine so übermächtige Erregung empfunden. Es war eine Erschütterung, die in ihm und um ihn her Leib und Seele ergriff, die Tränen und Lächeln auf die runzligen Züge der Alten wie auf die blühenden Gesichter der Jungen zauberte.

Nein, sogar im Jahre 1848 bei der Überwältigung der Tuilerien hatte er dieses Gefühl der Gemeinsamkeit in seiner ganzen Tiefe nicht empfunden; damals hatte sein Freiheitskultus die trockene, egoistische Exklusivität der Jugend besessen. Heute jedoch als alternder Mann, der sein Leben dem Wohle aller gewidmet, heute sagte er sich, den Blick zu der großen Turmuhr des Rathauses erhebend: »Die Stunde, die dieses Zifferblatt zeigt, sie ist vielleicht eine der bedeutsamsten der Geschichte; nie hatte seit dem großen Verbrüderungsfeste von 1790 eine gleich feierliche Stunde geschlagen. Damals waren es die auf dem Marsfelde vereinigten Provinzen gewesen; ihre Herzen schlugen im Herzen von Paris und weihten auf dem Altar des Vaterlandes die Einigkeit Frankreichs. Heute ist es das befreite Paris, das Paris der Revolution; es ist das in einem einzigen übermächtigen Gefühl geeinigte Paris, das das lebenerhaltende Blut, das Feuer der neuen, der ewigen Ideen in die Adern der Provinzen gießt ...«

Wie sollte man das legitime Prinzip dieses Gemeinderates bestreiten, dieses Recht, das Paris sich soeben wiedererobert, und das Versailles ihm ungerechterweise ableugnete, nachdem es zum Kompromiß der Bürgermeister seine Hand geliehen hatte? Ihres Ranges als administrative Hauptstadt entkleidet, hätte die Riesenstadt fortan zum Range einer einfachen Präfektur herabgedrückt bleiben sollen, der Willkür des Herrn unterworfen, der Spielball der Launen von ganz Europa? Tocquevilles Worte kamen ihm in Erinnerung: »In der Kommune liegt die Kraft der freien Völker. Die kommunalen Institutionen sind für die Freiheit, was die Elementarschulen für die Wissenschaft sind: sie setzen sie in das Bereich des Volkes; sie lehren es, einen friedlichen Gebrauch davon zu machen und gewöhnen es daran, sich ihrer zu bedienen. Ohne, kommunale Institutionen kann eine Nation sich eine freie Regierung geben, aber sie besitzt nicht den Geist der Freiheit. Vorübergehende Leidenschaften, momentane Interessen, der Zufall der Verhältnisse kann ihr die äußeren Formen der Unabhängigkeit verleihen, doch der zurückgedrängte Despotismus kommt immer wieder an die Oberfläche.« Das ist einleuchtende Wahrheit.

Angesichts der vollendeten Tatsache würde Paris überlegen und sich zur Nachgiebigkeit entschließen. Picard, mit der Abfassung des Gesetzes betraut, mußte sich seiner Erklärungen erinnern und des Tages gedenken, da er die Bildung »unabhängiger Gemeinden« gefordert hatte. Kein Zweifel, er mußte im April bestätigen, was er im Februar unterzeichnet hatte! Dann konnte man, wie Charles Longuet, der Delegierte beim Journal officiel, sagte, mit der Nationalversammlung unterhandeln. Lyon, Marseille, zehn große Städte würden bald vielleicht die Wagschale zum Sinken bringen. Dann war die Republik gegründet und gesichert, und Versailles willigte ein, das Wahlgesetz einzuführen und zwar in der Weise, daß fortan die Vertretung der Städte nicht mehr in derjenigen der Landgemeinden aufgehen sollte. Damit wäre die Einigkeit der Nation wieder begründet, das soziale Gleichgewicht wieder hergestellt. Während es die gegenwärtigen Umrisse bewahrte, doch durch die tausend Lungen der großen und der kleinen egalisierten Gemeinden ungehindert atmete, konnte das republikanische Frankreich sich sogleich wieder an die Arbeit begeben und die Wunden vernarben lassen. Man konnte zahlen, den Deutschen abschütteln, konnte endlich daran denken, die seit der Revolution erloschene Fackel wieder zu entzünden, Licht und Leben in die Abgründe voll Finsternis, und Elend zu tragen, für das Volk zu sorgen, ihm seinen Anteil an Bildung, an Glück zuzuwenden und gemeinsam den langsamen und sicheren Weg nach dem Fortschritt, der Gerechtigkeit wieder aufzunehmen.

Von der Religion seines Lebens, dem Ideal einer besseren Zukunft geleitet, fragte er sich: »Warum nicht? Wer weiß, was aus diesem Schmelzofen der Leidenschaften hervorgehen wird, dessen Flamme der Großmut die Schlacken verzehren und läutern kann? Wer weiß, ob es diesem zündenden Hauche, der der Sonne der Zukunft voranleuchtet, nicht gelingen wird, die Zurückgebliebenen, die Schwerfälligen, die Rückschrittler zu einer guten Tat aufzurütteln? Oder wenigstens ... Sie werden es nicht wagen!« schloß Poncet.

Martial philosophierte nicht; er fühlte nur die mitteilende Schönheit der Dinge, den pompösen Glanz einer von leuchtender Frühlingssonne übergoldeten, in dem Jubel einer freudetrunkenen Menge gebadeten Szene. Von Reitern in gestickten Röcken und mit Hahnenfedern geschmückten Filzhüten gefolgt, tummelte ein italienischer General in wehendem, goldgesticktem, roten Mantel seinen Hengst vor der Front der Estrade, von Beifallsrufen begrüßt. Man hielt ihn für Garibaldi.

Vor allem interessierten den Künstlerblick des Bildhauers die Kraft und die Mannigfaltigkeit der Gefühle, die sich in den Gesichtern spiegelten. Eine Alte hielt die Hände gefaltet und öffnete ihre Augen mit einem Ausdruck so unendlicher, so naiver Gläubigkeit, als erblicke sie das Paradies.

Ein siecher Greis in zerlumpten Kleidern brach in ein Lachen der Extase aus: er fühlte nicht mehr seine Gebrechen, er sah sich reich und mächtig. Ein Arbeiter mit schwieligen Händen und einem von dichtem Bart überwucherten Gesicht blickte mit dem Ausdruck düsterer Geringschätzung auf einen Modenarren, der vor ihm die Taille einer rothaarigen Dirne umfaßt hielt. Sie lachte – ein schwindsüchtiges, atemloses Lachen. Aus den Zügen des Arbeiters sprach Elend und Erniedrigung und wilde Rachgier. Aus seinem Ruf: »Es lebe die Kommune!« tönte Schmerz und Drohung. Ein anderer, ein breitschultriger, hünenhafter Mann mit gutmütigen Zügen und blutunterlaufenen Augen brüllte mit aller Kraft, wie ein Stier ...

Die tausend Seelen langer Leiden, neidischer Entbehrungen, zähen Grolles, impulsiven oder bewußten Hasses, die Instinkte der Genußsucht und der Brutalität kontrastierten mit der selbstzufriedenen Kleinlichkeit der einen, der aristokratischen Verachtung anderer, dem glühenden Glauben vieler. Nur mit Blitzesschnelle erfaßte Martial diese vielgestaltigen Nuancen, die augenblicklich wieder von der allgemeinen Bewegung verwischt wurden, von den Wogen dieses Volkes mit den tausend und Tausenden gläubiger, verklärter Gesichter, den Tausenden und Tausenden in vertrauender Brüderlichkeit geeinigter Herzen, die alle sich den neuen Herren, den Erlösern, den Rettern zuwandten ...

Da erschollen Kommandorufe. Die dichten Massen gerieten in Bewegung, die Spitzen der Bajonette kamen ins Schwanken. Die Truppen strömten gegen die Straßen zu und drängten die Wogen der Zuschauer zurück. Die Bannerträger und der Offiziersstab verließen ihren Platz am Fuße der Estrade, statt ihrer wurden die Kanonen in Batterie aufgefahren. Brunel befehligte das Defilieren. Vor den Mitgliedern des Zentral-Komitees und der Kommune zogen die Bataillone, eines nach dem anderen, vorbei. Endlos ergoß sich der dichtgedrängte Strom. Neugierig blickten die bärtigen Gesichter zur Estrade empor; man erhob im Vorüberziehen die bändergeschmückten Gewehre, die unheimlich funkelnden Bajonette: Krieg oder Frieden! Die Offiziere salutierten mit dem Säbel, und jedesmal senkten sich feierlich die roten oder trikoloren, mit roten Bändern geschmückten Fahnen.

Als die Reihe an die Simons kam, begann der Abend zu dunkeln. Fröhlich schritten der Schuster und seine Söhne dahin, wie Kinder über Théroulds Schwänke lachend. Man redete die Zuschauer an; zwischen den den Schritt beschleunigenden Reihen und dem Spalier des Publikums flogen Scherzworte hin und her. Jeder war verjüngt in froher Laune.

»Da sind sie!« sagte Anatole, als man die Defilierlinie erreichte.

Alles reckte die Hälse. Die Reihe ordnete sich von selbst, Simon betrachtete gerührten Blickes die Männer auf der roten Estrade, die von gestern, die von morgen, ihnen allen dankbar für das, was sie getan, was sie tun würden ... Für sie, für die Sache, die sie vertraten, war er bereit, wenn es sein mußte, sein Leben hinzugeben. Doch seine Gedanken waren nicht traurig, sie blickten in eine Zukunft der Eintracht und der Arbeit. In einer glücklichen, friedlichen Zukunft sollten diese Stunden des Glanzes fortdauern. Man würde sich etwas mehr um die Armen und Niederen kümmern, und des Elends würde auf der Welt etwas weniger werden.

Als er unter den Blicken dieser Unbekannten vorüberschritt, deren Umformen und Festkleider zum größten Teile Männer seiner Klasse, Proletarier wie er selbst, bedeckten, da erfaßte ihn ein überwältigendes Gefühl des Stolzes, und er ließ in Gedanken Jean-Louis an diesem Triumphe teilnehmen ... Er rief ihm im Geiste zu: »Siehst du, Alter ... Wir haben unseren Weg gemacht! ... Die Saat beginnt zu keimen ... Im Februar 1848, als wir mit dem Volke hierher kamen, um die provisorische Regierung zu bestätigen und die soziale Republik zu proklamieren, da befand sich unter den Führern wie Lamartine, Louis Blanc und Konsorten nur ein einziger von den Unseren, Albert ... Und auch seinen Namen hatte man nur aufgenommen, weil wir es so dringend verlangt hatten! ... Heute ist Albert nicht mehr da, auch Louis Blanc fehlt, aber die Pariser Kommune zählt unter ihren Mitgliedern mehr als dreißig Arbeiter ... An jeden kommt die Reihe, das ist das Gesetz ...«

Louis blickte lebhaft überrascht auf eine Gruppe, aus der ein schwacher Ruf: »Sie sind es!« zu ihm gedrungen war. Unter den Zuschauern, der Estrade gerade gegenüber, erblickte er die Mutter und Rose. Seit Stunden standen sie da, das Vorüberziehen des Bataillons erwartend. Sie machten den Männern vertrauliche Zeichen, Therese winkte mit der Hand, Rose warf ein Sträußchen von Primeln, das sie am Morgen im Luxembourggarten gepflückt. Louis bemühte sich, es aufzufangen, doch schon war die Entfernung zu groß ...

Simon und Anatole hatten den Gruß der beiden Frauen mit einem herzlichen Blicke erwidert. Dem Jüngling war Rose die heitere Genossin, Therese eine wahre Mutter. Für Simon war das junge Mädchen die verkörperte Erinnerung an den Verlorenen, dessen schwarze Augen sie hatte, und dem sie in manchen ihrer flüchtigen Bewegungen so sehr ähnelte, daß er zuweilen seinen Bruder vor sich zu sehen glaubte. Die frische Jugend des Kindes belebte in ihm das Andenken an die Vergangenheit, an die Zeit der Illusionen und des Kampfes. Sie lehnte sich zärtlich an Theresens Schulter. Lange noch wandte Simon sich nach dem ernsten, gütigen, von grauem Haar umrahmten Antlitz seiner Gefährtin zurück.

Wie schön war sie einstmals gewesen, wie schön war sie noch jetzt, in seinen Augen immer noch die gleiche! Welche Hingebung hatte sie den Kindern erwiesen, seit sie vor nun vierzehn Jahren in das verödete Haus gekommen war, wo Simon sich in Wut und Verzweiflung verzehrte, untröstlich darüber, die andere, die Treulose, die Pflichtvergessene nicht getötet zu haben, bevor sie mit ihrem Geliebten – einem Handelsreisenden, dessen Namen er nicht einmal kannte – auf und davon gegangen war ... Was wäre ohne Therese aus ihm geworden, aus ihm und den Kleinen? ... Sie hatte die Liebe aller sich zu erwerben gewußt, heiter, würdig, immer tapfer, eine vortreffliche Hausfrau, einen Schmerz, einen kindlichen Kummer mit zärtlichen Worten heilend, fest und sanft zugleich, die Jungen lehrend, was sie selbst wußte, Redlichkeit und Einfachheit ... Sie hatte ihre schiefe Stellung zur schönsten Rolle umzuwandeln verstanden. Im ganzen Stadtteil war keiner, der sie nicht liebte oder sie nicht hochschätzte. Simon war stolz darauf.

Todmüde und doch glücklich schlugen die beiden Frauen den Heimweg über den Kai ein. Über dem ruhigen Spiegel der Seine lag noch ein heller Schimmer. Jawohl, ein schöner Abend nach einem schönen Tage. »Wie zufrieden der Vater aussah!« dachte Therese; und Rose träumte: »Wie gut doch Louis die Uniform kleidet!« ... Sie waren ganz heiser von den fortwährenden Hochrufen. Doch aus diesem großartigen Schauspiel, das unter einem leuchtenden Himmel sich entfaltet hatte, aus diesem Jubel eines Volkes, mit dem gleich den anderen auch sie selbst das Ende aller Leiden gefeiert hatten, trugen sie vor allem das Gefühl des Stolzes heim, daß sie unter Hunderten das Bataillon erkannt und den Vater und die Söhne so stramm hatten vorüberziehen gesehen ... Um sie her zerstreute sich ruhig die Menge.


Denselben Abend hatten etwa fünfzig der Gewählten sich versammelt, von dem langsam sich leerenden Platze kommend, durch das mit essenden, trinkenden, laut sprechenden Wachen überfüllte Rathaus irrend, in dem sie die menschengefüllten Säle der Ämter des Zentral-Komitees durchschritten. Sie hatten sich an den Gittern den Einlaß erkämpfen müssen und suchten vergeblich nach einem geeigneten Orte für ihre Sitzungen. Nichts war vorbereitet, keiner da, sie zu empfangen, zu führen. Manche waren entmutigt wieder fortgegangen. Die Mitglieder des Zentral-Komitees waren unauffindbar und kümmerten sich, nachdem sie ihre offizielle Macht niedergelegt, nicht im geringsten um die Einführung ihrer Nachfolger.

Nur dreizehn unter ihnen gehörten dem neuen Gemeinderate an. Ihrer drückenden Verantwortlichkeit entledigt, in deren Bewußtsein sie zuerst sich zur Höhe der Ereignisse aufgeschwungen, waren sie schnell von dieser Höhe herabgesunken; die einen seufzten nach der so schnell entsagten Macht, die anderen lauerten ungeduldig auf die Gelegenheit, dieselbe wiederzuerobern, alle aber waren bereit, zu denken: »Wir haben unsere Pflicht getan, tut nun ihr die eure ...« und, sobald die Kommune eine geringe Unentschlossenheit zeigte, sich diese zugunsten der eigenen Autorität zunutze zu machen.

So kam es, daß die neuen Mitglieder der Kommune unter Führung Arthur Arnoulds, der, seit dem 4. September Adjunkt, sich des ehemaligen gemeinderätlichen Sitzungssaales erinnerte, die Türen zu diesem Saale von einem eiligst herbeigerufenen Schlosser öffnen ließen und wütend in den geräumigen, staubigen Saal drangen, der, von den wenigen Lampen schwach erleuchtet, mit seinen amphitheatralisch aufsteigenden Bänken einen melancholischen Eindruck machte.

Eine halbe Stunde verbrachte man damit, unter Klagen und Vorwürfen auf die in den Gemeinderat gewählten Mitglieder des Zentral-Komitees zu warten.

Schon ist man im Begriffe, ohne sie die Sitzung zu eröffnen. Endlich erscheinen sie, von Offizieren und bewaffneten Wachen gefolgt, die die unverzügliche Erfüllung der Wünsche des Volkes fordern. Viard erklärt im Namen des Komitees, daß »dasselbe abtrete, ohne sich aufzulösen, und daß die Kommune fortan, die volle Verantwortung für die Situation zu tragen habe.« Man nimmt endlich Platz, es wird ruhig, relative Stille herrscht im Saale.

Den Traditionen der parlamentarischen Versammlungen gemäß hat man zum Alterspräsidenten den greisen Charles Beslay ernannt, dem seine siebenundsiebzig Jahre und seine frühere gesetzgebende Tätigkeit einen gewissen Nimbus verleihen. Mit seiner müden, schwachen Stimme verliest er die von ihm verfaßte Rede.

Sein feines Antlitz, seine geistvollen Züge beleben sich im Abglanz der tiefen Überzeugung, die sein Leben geleitet hat. In den Jahren 1830 und 1848 radikaler Deputierter, Ingenieur von Beruf, der sein ganzes Leben lang sein Vermögen zum Wohle der anderen verwendet hatte, seinen Arbeitern ein menschenfreundlicher Brotherr, ein intimer Freund Proudhons und Vertreter der Ideen des Meisters, einer der Gründer der Internationalen, entwirft er in großen Zügen das Programm für die Kommune.

»Seit fünfzig Jahren stehen die Routiniers der Republik auf derselben Stelle, während ihr, Bürger, vorwärts geschritten seid. Man klagt euch an, der Republik einen Schlag versetzt zu haben – möglich, doch wie einem Pfahl, den man in die Eide schlägt. Nur durch die vollkommene Freiheit der Kommune allein kann die Republik bei uns Wurzel fassen. Sie ist nicht mehr der Soldat, sie ist eine emsige Arbeiterin, die der Freiheit bedarf, um den Frieden zu befruchten ... Friede und Arbeit! Das ist unsere Zukunft, das die Gewißheit unserer Revanche und unserer sozialen Wiedergeburt. In dieser Weise aufgefaßt, kann die Republik Frankreich noch zur Stütze der Schwachen, zum Beschützer der Arbeiter, zur Hoffnung der Unterdrückten in der Welt und zum Grundstein der universellen Republik machen!« ...

Wirkungslos hallten die Worte durch das gleichgültige Schweigen, mit dem man den Veteranen ehrte. Er wies jeder Maschine ihre besondere Arbeit zu: dem Gemeinderat die lokalen, den Departements die regionalen, der Regierung die nationalen Angelegenheiten. Die festgegründete Kommune wäre die Musterkommune: wer von Arbeit spricht, spricht von Ordnung, von ehrlicher Sparsamkeit und strenger Kontrolle. Die derart eingeschränkte Regierung könnte fortan nur noch die gehorsame Bevollmächtigte des allgemeinen Stimmrechtes, die Hüterin der Republik sein. Wenn diese Grenzen nicht überschritten würden, müßte das ganze Volk dieser so großartigen und so einfachen Revolution zustimmen.

Das Getuschel und Geflüster der untereinander leise geführten Gespräche übertönte beinahe die schwache, friedliche Stimme, die der Zukunft die Ratschläge der Vergangenheit diktierte ... Die meisten dachten nur an die Gegenwart, vom Rausche des Erfolges geblendet; einige hatte bereits die Sorge um das Morgen erfaßt, alle aber erfüllte der wilde Tumult ihrer ehrgeizigen Wünsche und Ideen. Ein kleines Häuflein hielt sich abseits, es waren die von den Arrondissements Gewählten, ehemalige Bürgermeister oder Adjunkte, von denen die Mehrzahl, jede Verständigung von sich weisend, am Tage nach der Wahl ihre Weigerung oder ihre Demission gesandt hatte. Tirard, Brelay warteten nur darauf, daß ihnen das Wort erteilt würde, um ihre Demission zu geben. Nur wenige waren da, die an der Versöhnung nicht verzweifelten, trotzdem Méline am Morgen zu einigen Deputierten geäußert hatte: »Ich habe soeben wieder Proudhons ›Principe fédératif‹ gelesen; diese Leute haben recht. Bleiben Sie in Versailles; wir wollen indessen im Rathaus bleiben und werden große Dinge vollbringen ...«

Unaufhörlich plätscherte Beslays Stimme gleich einem Sommerregen auf trockenes Erdreich. Sie fiel, ohne tiefer einzudringen, auf diese so verschiedenen Seelen, deren seltsame Verschmelzung den beweglichen Grund, bildete, auf welchem die Hoffnung von Paris ruhte.

Nie noch hatten Wahlen unter traurigeren Bedingungen, unter schlimmerer Verwirrung stattgefunden, sowohl von seiten der von der Arbeiterklasse bewohnten Stadtteile, welche aufs Geratewohl ihre Stimmen auf improvisierten Listen für lokale Berühmtheiten abgaben, – als auch seitens der gelichteten, unentschlossenen bürgerlichen Arrondissements. Hundertsechsundvierzigtausend Wahlzettel weniger als bei der Volksabstimmung, die nach dem 31. Oktober die Verteidigungsregierung bestätigt hatte, zeugten von dem erschreckten Zurückweichen einer Klasse, welche der anderen das Feld überließ. Daß Paris, das soeben von neuem seine Stimme abgegeben hatte, diese Wahlen als legal betrachtete, machte keinen Unterschied. Warum sollte das, was im November gültig gewesen, es nicht auch im März noch sein? Und überdies, hatte zwischen den Bürgermeistern, den Bevollmächtigten der Regierung und dem Komitee nicht volles Einverständnis geherrscht? Illegal waren die Wahlen in den Augen von Versailles, wo man, mit dem geringen Zeitgewinn zufrieden, die Bürgermeister, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt, desavouierte und sich weigerte, dem Vorschlage Louis Blans Folge zu geben und zu erklären, daß sie »als gute Bürger« gehandelt hatten. »Ein betrügerisches Skrutinium«, schrieb Thiers an die Präfekten, »ohne Freiheit und daher auch ohne moralischen Wert.«

Ein tragisches Moment. Diesmal waren die beiden Parteien getrennt, und die Scheidung war eine endgültige; zwischen diesen beiden Versammlungen, von denen die eine sich fälschlich Frankreich, die andere sich ebenso fälschlich Paris nannte, gähnte ein tiefer Abgrund.

Dort die Nationalversammlung von Versailles in Reaktionäre und Republikaner geteilt, die ersteren so zahlreich, daß es schien, als hätten sämtliche Monarchisten des Landes sich hier ein Stelldichein gegeben, in Angst und Groll verbittert, zu den schlimmsten Gewalttaten bereit; die letzteren unentschlossen, unterdrückt, einer Mitschuld verdächtigt, die sie doch leugneten, entsetzt ihr Ideal einer Bürgerrepublik gefährdet sehend ... Als Bindeglied zwischen diesen Parlamentanern derjenige, auf den die verschiedenen Hoffnungen sich richten, der trockene Greis, der die einen durch die Lockpfeife des Königtums zu fangen sucht, den anderen die Republik als Lohn für verständiges und artiges Verhalten verheißt, der Janus bifrons, der nach rechts und links lächelt, sich in Thiers konzentriert, nur für Thiers denkt und arbeitet, in seiner senilen Eitelkeit und seiner unermüdlichen Tatkraft überzeugt, daß er allein die Interessen des Landes verkörpert. Um ihnen zu dienen, um diese Hochmütige von dem verderblichen Blute, zu befreien, das ihr zu Kopfe gestiegen ist, schärft er die Waffen ...

Und hier, die Versammlung von Paris, von ihrem Triumph berauscht, für ihren Sieg keine anderen Grenzen als die im Feindeslager ihr aufgerichteten sehend, auf die Glaubwürdigkeit der Depeschen oder die parteiischen Berichte der Emissäre, auf den Beitritt der großen Provinzstädte spekulierend und entschlossen, wenn diese Berechnung fehlschlug, nur auf Rechnung ihrer eigenen Suprematie den Kampf gegen den einzigen ihr noch gegenüberstehenden Feind aufzunehmen. Dieser Feind war nicht mehr der Preuße! damit war's vorbei! der schweigende Waffenstillstand ist geschlossen, nicht »freundlich«, wie man zuerst in Schlotheims Depesche zu lesen geglaubt, sondern »friedlich«, nach Fabricius' Berichtigung. Die einzigen Feinde sind die Versailles in denen man auch nichts anderes als Barbaren erblickt, die Bekenner des »Obskurantismus«, die geschworenen Feinde aller Ideen der Gerechtigkeit und des Fortschrittes.

Und welche Führer sind da für diesen drohenden Krieg, dessen Nähe und Furchtbarkeit trotz eines letzten Restes von Illusion alle ahnen, und dessen Soldaten einen ganzen Tag lang unter dem trunkenen Jubel des Volkes defiliert hatten? Neunzig Namen, auf zehntausend Wähler je einer, sind aus den Wahlurnen hervorgegangen.

Fünfzehn darunter waren gemäßigte Republikaner, Kandidaten der Bürgermeisterpartei, Angehörige der wohlhabenderen Handelswelt und der liberalen Berufe. Verlorene Wahlzettel, da niemand von ihnen an den Sitzungen teilnahm, jene wenigen ausgenommen, auf deren Gesichtern sich Widerwille oder Verwirrung malte, und die bald wieder von der Bildfläche verschwinden sollten.

Ein halbes Dutzend Radikale, einer entschiedenen Evolution geneigt, doch rein von dem vergossenen Blute, die bekanntesten unter ihnen Ulysse Parent, der Freund Gambettas, der getreue Chef des Sicherheitsbureaus in der Delegation von Tours, Arthur Ranc, der ehemalige Bürgermeister des IX. Arrondissements. Diese Männer behalten sich vor, ihren Beistand zu entziehen, nachdem sie ein Urteil über das Werk gewonnen.

Nun bleibt noch das Gros, etwa sechzig Persönlichkeiten, ein Gemisch von Revolutionären jeder Färbung, Unbekannte, Ignoranten, bereits Berühmte und längst Vergessene, Redner aus der Zeit der Belagerung, Weißbärte von 1848, notorische Jakobiner, Polemiker der Vorhut, Blanquisten, Sozialisten der Internationalen; die edelsten Absichten und die niedrigsten Instinkte, kalte und klare Intelligenz und feurig fühlende Herzen neben emphatischen Hohlköpfen und sterilen Windbeuteln, Geist und Albernheit auf denselben Bänken; jene, die dem Lärm zufliegen wie die Falter in die Flamme, die Impulsiven, die Neuropathiker, die Schwächlinge, die gern furchtbar scheinen möchten, die Komödianten des Lasters und jene, die durch körperliche Gebrechen, durch unverdientes Leiden, durch schlechte oder mangelhafte Gesetze erbittert, von Groll überflossen, – eine ganze Horde, dem Schoße eines überreizten Volkes entlassen.

Darunter die Dreizehn vom Komitee, bekannter, wenn nicht besser erkannt: eine Nachtgestalt, Pourille, genannt Blanchet, ein Paralytiker, hinkend und halb irrsinnig, unter dessen struppigem Kapuzinerbart sich der frühere Polizei-Kommissariatssekretär und Bankrotteur verbarg. – Der kommandierende General Bergeret, Ex-Sergeant der Voltigeurs und ehemaliger Druckereigehilfe, klein, mager, gallig, von Selbstgefälligkeit gebläht und seine Unfähigkeit zur Schau tragend. – Babick, ein langbärtiger Illuminat, der feurige Prophet eines Herrn von Toureil, der den fusionistischen Kultus geschaffen hatte, eine mystische Mixtur von allen Religionen; übrigens ein vortrefflicher Mann und geschickter Salbenverkäufer unter der Etikette: »Kind des Reiches Gottes und Parfumeur der Rue de Nemours.« – Billioray, Maler von Beruf, dem seine armseligen Farben das Blut vergiftet hatten, ein roter Republikaner. – Antoine Arnaud, Eisenbahnbeamter und Magnetiseur, ein düster blickender Mann mit brillenbewaffneten Augen und kalten Zügen, hinter denen der Fanatiker sich verbarg ... Unreife Knaben: Champy, Mortier. Ein schreckliches altes Kind: Henri Fortuné. Ein Schatten, Clovis Dupont. Ein Wüterich, Géresme ... Im Vordergrund der Gruppe: Ranvier, zweiundfünfzigjährig, Bürgermeister von Belleville und eines der Idole seines Viertels, durch seine Verurteilung im Ansehen gewachsen, ein kränkliches, bleiches Gesicht mit den roten Flecken der Schwindsüchtigen, von seinen Kluberfolgen berauscht, ein erbarmungsloser Soldat des sozialen Krieges. – Brunel, vierzig Jahre alt, nach Buzenval für das Ehrenkreuz vorgeschlagen, ein militärischer Typus, ehemaliger Kavallerieoffizier und gegenwärtiger Gutsbesitzer, aus patriotischer Entrüstung an die Spitze des Aufstandes vom 22. Januar gestellt; ein ganzer Charakter, der exaltiertesten Bravour fähig, und sich verzweifelnd, ohne zurückzublicken, in seine Idee verrennend. – Endlich Jourde, dreißig Jahre alt, groß, von vornehmer Gestalt, ein von langem, blondem Barte umwalltes intelligentes Gesicht, ein Mann von vollendeter professioneller Ehrenhaftigkeit und vortrefflichen Rechnungsführereigenschaften im Dienste einer gemäßigten Seele.


Die Internationale zählt siebzehn Mitglieder, von denen einige bereits durch ihre Rolle im Komitee oder durch ihr früheres politisches Leben bekannt sind. Der Mehrzahl nach – Beslay, Lefrançais, Vaillant ausgenommen – Arbeiter, die sich aus den niedrigsten Anfängen hinaufgearbeitet hatten und mit zäher Tatkraft die legitimen Bestrebungen der Arbeiter förderten, der durch die Gongschläge der internationalen Kongresse, durch die sensationellen Prozesse unter dem Kaiserreich, durch das mysteriöse Netz der bis zum Kriege wachsenden Vereinigungen überraschten alten Welt das Auftreten einer neuen Klasse enthüllend, eines vierten Standes, der seine Bedürfnisse und seine Leiden darlegt, der in dem Gewirr der sozialistischen Systeme das Allheilmittel sucht und indessen unverzüglich wirkende Arzneien fordert. Hier, in seiner unbestimmten Form, liegt der gute, Keim der Republik, der mit Spreu gemischte Weizen, der unter dem Dünger seine grünen Halme treibt.

Varlin, dessen schwarze Augen die denkende Stirn mit dem Feuer einer leidenschaftlichen Seele durchleuchten; ein strenges Antlitz im Rahmen des viereckig geschnittenen Bartes, seiner in jahrelanger Gefangenschaft erfüllten Mission ergeben, voll zähen Arbeitsdranges, ein energisches Organisationstalent, willensstark, tatkräftig und von vorwurfsfreier Ehrenhaftigkeit. – Malon, ebenfalls dreißigjährig, ein zweiter Pfeiler der Internationalen, der er im Norden ein Lager aufgeschlagen hatte; der Sohn armer Bauern, der in der Schule des Lebens lesen gelernt, zuerst Laufbursche, dann Färbergehilfe; bald der erste unter seinen Genossen in der Knechtschaft und deren Stimmführer in den Kongressen, Zeitungskorrespondent beim Streike von Creuzot, den er gemeinsam mit Varlin unter Assis Maske schürt; ein Jahr Gefängnis im Prozeß von Blois, am 4. September Adjunkt in Batignolles, im Februar Abgeordneter von Paris, bei Friedensschluß aus seiner Stellung entlassen. Ein Biedermann, der zur Erziehung anderer niederschrieb, was seine eigene harte und fruchtbare ihn gelehrt hatte. – Albert Theiß, Ziselierarbeiter, der mit zweiunddreißig Jahren ein blühendes Unternehmen gegründet hat und es leitet; der im Brüsseler Kongreß, beim Ober-Gerichtshof von Blois, vor seinesgleichen und vor seinen Richtern kraftvolle und besonnene Worte gesprochen und sie mit zweimonatlicher Gefängnishaft gebüßt hatte. Ein klarer Kopf, ein Charakter von unantastbarer Rechtschaffenheit, ein pflichttreuer Soldat, der während der Belagerung still und tapfer auf seinem Posten gestanden hatte. – Lefrançais, ehemaliger Schullehrer, den er auch in seinem Äußeren nicht verleugnen konnte, mit stark ausgeprägten Zügen und gutmütigen Augen. In seinen Überzeugungen und Handlungen von rückhaltlos revolutionärer Logik, im Privatleben der friedfertigste und beste der Menschen, voll Selbstlosigkeit und schlichtem Heldenmut. – General Duval, Metallgießer, ein düsterer, gewalttätiger Charakter, bereit, seinem Ideal seine Existenz ebensowohl wie die der anderen zu opfern. – Der Mechaniker Avrial, der Metalldrechsler Langevin, auch diese beiden ehrenwerte und überzeugungstreue Naturen. – Clémence, Eugen Girardin, Victor Clément, gereifte oder alte Männer, würdige Arbeiter, die der Kampf der Arbeit gegen das Elend doch nicht gehässig gemacht und deren Verstand gerecht, deren Herz weit genug war, um sich die Mäßigung in ihren Überzeugungen zu bewahren. – Vaillant, Doktor der Philosophie, der seine Kenntnisse an den Universitäten Deutschlands und Österreichs vervollständigt; dessen Geist sich an Philosophie und sozialen Träumen genährt, Theoretiker des Fortschritts um jeden Preis. – Frankel, ein Ungar mit jüdischer Nase und eckigem Schädel, in politischer Ökonomie arbeitend. – Der Zimmermann Pindy, der seine galonnierte Uniform mit unendlichem Selbstbewußtsein trug, ein mittelmäßiger Geist und überspannter Kopf. – Der Schuhmacher Dereure, ein Bourgeois unter rotem Anstrich. – Der Kupferdrechsler Chalain, eine volltönende Stimme, aber ein hohler Kopf.

Dann die Masse: Klubpolitiker, Journalisten, Jakobiner, Blanquisten, einige wenige Arbeiter in jenem Gemisch von zahmem alten und wildem jungen Bürgertum, in dem wenige gesunde neben allzuvielen faulen Elementen stehen. Ein gärendes Zentrum, auf dessen Oberfläche alle Volksdefekte sich tummeln und aus dessen reißender Grundströmung, die in scheinbarem Schlummer darauf lauert, alles fortzuschwemmen, etliche markante Gesichter emportauchen.

An der Spitze der radikalen Presse erscheint der alte Delescluze. Der lange Dornenweg seines der unbeugsamen Strenge, der unerbittlichen Integrität seiner Überzeugung geopferten Lebens hat ihm Haar und Bart gebleicht, hat diesen hageren Körper ausgedörrt, dieses gelbe Antlitz gehöhlt, aus dessen pergamentnen Zügen, aus dessen kalt und klar blickenden Augen ein unzähmbarer Wille, eine verzweifelte Energie sprechen. Kämpfer im Jahre 1830, unter Louis-Philipp verhaftet, verbannt und eingekerkert, 1848 Kommissär der Republik im Norden und dem Pas-de-Calais, 1849 in contumaciam zu zehnjähriger Deportation verurteilt, nach London flüchtend, 1853 in Paris von der kaiserlichen Polizei ergriffen, von Mazas in die Strafanstalten von Belle-Isle, Corte, Ajaccio, Marseille, Toulon geschleppt, nach Cayenne verschickt, anläßlich der Amnestie von 1859 nach Frankreich zurückgekehrt und 1863 den Reveil gründend, infolge seiner Tätigkeit bei diesem Blatte mit Verurteilungen und Zwangsmitteln überhäuft, nach dem 31. Oktober Bürgermeister des IX. Arrondissements, nach dem 22. Januar nach Vincennes und hierauf zwischen die düsteren Mauern des Krankenhauses gebracht, das er stimmlos, von furchtbarem Husten geschüttelt, verläßt, – diese unglaubliche Reihenfolge mit stoischer Seelenstärke ertragener Leiden umgaben ihn mit einem Glorienschein, der trotz seines rauhen Charakters und seiner spröden Tugend Achtung und Ehrfurcht heischte. »Wenn die Revolution noch einmal unterliegt,« hatte er zwei Monate früher gesagt, »werde ich ihre Niederlage nicht überleben ...« Der unerwartete Triumph der Kommune richtete vor seinen Augen jene Revolution wieder auf, der er bis zum letzten Atemzug seinen düsteren Jakobinerglauben zu weihen bereit war.

Ebenso berühmt wie er erscheint Felix Pyak, dessen hohe, kräftige Gestalt einen Kopf von romantischer Schönheit mit ergrauendem Haar und lockigem Barte trägt; er rollt seine träumerischen, glänzenden Augen. Delescluze ist der Mann der Schreckensherrschaft, er ist deren Hanswurst. In der Tasche trägt er, mit Randbemerkungen versehen, Mignets »Abrégé de la Revolution» in Diamantausgabe, sein Breviarium und sein Spiegel. Als Sohn eines Ultra-Royalisten war er durch einen bei einem politischen Bankett gesprochenen Toast auf den Konvent, durch schwulstige Melodramen, deren Tiraden auf das Elend des Volkes ihn bereicherten, durch heftige, mit kaltem Blute verfaßte Pamphlete zu Ansehen und im Jahre 1843 in die Kammer gelangt. Den 10. Juni unterschrieb er den Aufruf zu den Waffen und flüchtete. Von Belgien, von England aus schürt er seine Popularität durch flammende Briefe an Fürsten, an den Kaiser, an die Arbeiter, wagt aber erst nach der zweiten Amnestie von 1869 nach Paris zurückzukehren, hält sich verborgen, konspiriert geschickt, läßt in Saint-Mandé seinen berühmten Toast: »Zu den Kugeln!« verlesen. Den 4. September zeigt er sich wieder, schleudert im Combat, im Vengeur seine blechernen Blitze, taucht am 31. Oktober unter, verkriecht sich am 18. März und erscheint nach überstandener Gefahr wieder auf der Bildfläche, von Selbstgefühl gebläht: es ist der Vortag der Wahlen. Er überschüttet mit Schmähungen das Komitee, »das jeden Namen verringert und jedes Talent schmälert«. Man hat ihn gelesen, man wählt ihn, und der behende Phrasentänzer, die weißen Hände voller Dekrete, springt auf das gespannte Seil, von dem er rechtzeitig sich herabschwingen wird, um seinen giftigen Hochmut und seine unheilbare Feigheit in Sicherheit zu bringen.

Daneben ein sanftes Antlitz mit breiter Stirn und gedankenvollen Augen: das ist Arthur Arnould, der durch seine Feldzüge gegen die Presse zur Avantgarde berufene Schriftsteller. Sohn eines Professors am Collége de France, selbst ein feingebildeter Geist und ein begeisterungsfeuriges Herz, brachte er für seine neue Aufgabe ehrlichen Glauben und edle Illusionen mit. – Ein bäuerisches, von Bartstoppeln umstarrtes, gebräuntes Gesicht mit hart und traurig blickenden Augen, das ist Jules Vallóe, der erbitterte Widerspenstige, der lärmende Aufrührer, dessen ganze Persönlichkeit den Stempel hochmütiger Wildheit trägt: in leidenschaftlichem, abgehacktem Stil geschriebene flammende Chroniken im Evénément und im Figaro, in der blutroten Rue, im Cri du Peuple hatten auf diesen kraftvollen Worteschmied den Widerschein des Schmiedefeuers geworfen. Wenn man ihn hörte, ihn zuschlagen sah, hätte man ihn für mutig und furchtbar halten können. Eine Dogge, die wütend bellt und beim Anblick des Köders den Schweif einzieht und kuscht. Weniger Charakter als Talent. – Ein hübscher, junger Mann mit lebhaften, anmutigen Zügen, dessen sorgfältig gepflegtes Äußere in dieser wenig für Eleganz besorgten Umgebung überraschend wirkt: der Polemiker Paschal Grousset. Derselbe Kontrast zeigt sich auch in seinem Talent, das, ehemals Rosenwasser, jetzt sich in Scheidewasser verwandelt hat. Südländische Überspanntheit und Ehrgeiz hat ihn an die grünen Tische des Rathauses geführt, wo er mit wagehalsigem Leichtsinn alles auf eine Karte setzt.

Und dieser da, mit den sich überstürzenden Worten, denen die Gedanken zuströmen, mit seinen runden, glatten und blassen Wangen, der ohne den kleinen, rötlichen Schnurrbart und das beständige ironische Lächeln wie ein dicker Chorknabe ausgesehen hätte, das ist Vermorel: der Romanzier und Journalist, dessen ätzende Feder, dessen beißende Verse überall verwundeten, wohin sie trafen. Ein Menschenfeind, der durch seinen agressiven Freimut, durch seine durchdringende Klugheit zu den Repressalien der Verleumdung wie berufen erschien. Seine politischen Verurteilungen, die Einfachheit seiner Lebensführung, seine Selbstlosigkeit, der Mut, der aus seinen Büchern und seinen Artikeln sprach und die Republikaner ebensowenig wie das Kaiserreich verschonte, hatten doch die Verbreitung des absurden Gerüchtes: er sei Rouhers Kundschafter, nicht zu verhindern vermocht. Vergebens hatte Rochefort, der dieses Gerücht aufgebracht, sein Wort zurückgenommen, in dem Getroffenen war ein Gefühl der Bitterkeit, das Bedürfnis, selbst um den Preis seines Lebens die Glut seiner republikanischen Gesinnung zu beweisen, zurückgeblieben. Um dieses Opfers willen war er aus der Provinz, wo die Nachricht seiner Wahl ihn überrascht, nach Paris zurückgekehrt.

Jene dort: der Liederdichter J.B. Clément, mit der Haltung und dem Benehmen eines Briganten der Komischen Oper: der Dichter der Armen und Niederen, dessen sentimentale Refrains auf dem Boulevard wie in den Werkstätten geträllert werden und zur Begleitung die dumpfen Töne der Trommeln von Santerre haben; ein gefühlvolles und scheues Herz. – Courmet, Deputierter der Seine, Sohn eines abenteuerlichen Unruhstifters, an allerlei Verschwörungen und lichtscheuen Gewerben beteiligt, ein dicker Bursche von freundlichem Wesen, dem seine Streitigkeiten mit den politischen Gerichten mehr noch als seine Artikel im Réveil einen Sitz an der Seite Delescluzes, dessen Jakobinismus den seinen inspirierte, eingetragen hatten. – Verdure, ein Unbekannter, ehemaliger bei seinen Büchern ergrauter Schulmeister, Kassierer und Redakteur der Marseillaise, einer jener Biedermänner, auf die das Milieu abfärbt.

Zur selben Gruppe gehören die alten Revolutionärengesichter: Miot, ein Trümmer von 1848, von dem Gespenst des Jahres 1793 verfolgt, ein edles Greisenhaupt, das ein kindisches Gehirn birgt, eine sinnlos faselnde Beredsamkeit. – Der sagenhafte Deputierte Gambon, ebenfalls Volksvertreter, dem seine Weigerung, die Steuer zu zahlen, die Pfändung seiner Kuh durch den kaiserlichen Fiskus, bei den Februarwahlen nahezu hundertvierzigtausend Stimmen eingebracht hatten. – Endlich Gustave Flourens, ein edler, feuriger, jugendlicher Kopf, eine der sympathischsten Persönlichkeiten jener Zeit, Sohn des berühmten Gelehrten und selbst Lehrer am Collége de France, jedoch durch seinen Unabhängigkeitsdrang veranlaßt, sein Lehramt aufzugeben, von ritterlicher Hingebung beseelter Mitkämpfer am Aufstand von Kreta, voll glühender Begeisterung an dem Angriff gegen das Kaiserreich sich beteiligend, Adjunkt zu Belleville, wo man ihn vergötterte mit seinem offenen Herzen, seiner offenen Börse, mit naiver Eitelkeit auf den Wällen seine Majorslitzen spazierenführend und am 31. Oktober in loderndem Zorn auf den Tisch des Rates stampfend, von dem er die unfähigen Redner, die Paris zugrunde richtenden Advokaten hätte vertreiben mögen ...

Hier eine sich abseits haltende Gruppe, die sich in geschlossener Phalanx um den großen Abwesenden, Blanqui, schart. Über ihnen schwebt das Bild dessen, den sie »den Alten« nennen, das Andenken an den Märtyrer der Kerker, an den ewigen Verschwörer, der, in Cahores hinter Schloß und Riegel schmachtend, jetzt, da die Stunde geschlagen, nicht mit seinen kalt berechnenden und doch glutvollen Worten diese Revolution unterstützen kann, die er, der geschwächte, verbitterte, siebzigjährige Mann, in den Kerkerzellen, den Kasematten der Festungen und in den Mansarden, wo er in den seltenen Stunden der Freiheit seinen Traum ausgesponnen, ersehnt und vorbereitet hatte. Eine lange Vergangenheit der Leiden verleiht ihm eine gewisse Weihe, verklärt seine unerbittliche, diktatorische Doktrin. Und es erfüllt seine Jünger mit bitterem Groll gegen das Schicksal, das in einem solchen Moment, der das Ziel seines ganzen Lebens verwirklicht, den entschlossenen Schauspieler des 31. Oktober fernhält, den Hellseher, der in der Patrie en danger auf dem Schiffe von Paris der vor den Klippen warnende Wächter gewesen.

Wer wird ihn ersetzen, der sein Talent, sein großes Vermögen, seine ganze Persönlichkeit in den Dienst der Sache stellte, als diese hoffnungslos schien, und der er jetzt nur noch mit ermatteter Seele in gebrechlichem Körper zu dienen vermag? Wer wird es sein? Nicht sein junger Freund Tridon, nicht Protot, der arme, arbeitsame Advokat, der, obgleich intelligent und gebildet, doch nicht die Flamme des Geistes besitzt und sich mit der strengen Befolgung des Buchstabens begnügt. – Auch nicht der General Eudes, dessen Taten auf die von Blanqui unrichtig eingeleitete, armselige und blutige Affaire von La Vilette, den albernen Angriff auf eine Feuerwehrkaserne, beschränkt bleiben. Ehemaliger Apothekergehilfe, dann Korrektor einer Druckerei, später Gérant der Libre Parole, im ganzen ein schwacher Geist, ebenso wie Chardon, der großmäulige Kupferschmied.

Noch weniger sind es Rigault und Ferré. – Rigault, aus gut bürgerlicher Familie stammend, ein verbummelter Student mit lockigem Bart und frechem Lorgnon; ein grausamer Bursche, ein lasterhafter Prahler, der auch vor einem Verbrechen nicht zurückscheut. Ferré, sein würdiger Genosse, Schreiber bei einem Geschäftsagenten, ein ebenso gehässiger Kerl, der es der Natur nicht verzeihen kann, daß sie ihn so mißgestaltet erschaffen, der Gesellschaft nicht, die ihn so ärmlich vegetieren läßt, ein kaltherziger Epileptiker mit bartüberwuchertem Gesicht, schwarzem Haar und schwarzen, unruhigen Augen.

Hinter diesen die Gruppe der Klubkandidaten, die alle Mißbräuche abzuschaffen und Reformen einzuführen versprechen, heftige und verworrene Köpfe, die statt mit Taten nur mit Worten dienen und die rauchgeschwängerte und rauflustige Atmosphäre lärmender Klubsäle mit sich bringen. Ein heterogener Chor von wahnwitzigen Köpfen, zwischen denen kein Zusammenhang besteht: heißblütige Südländer wie Leo Meillet, Doktor Rastoul, der frühere Tierarzt Régére; alte, ehrwürdige Narren wie Demay, oder Kranke wie Allix; überspannte Köpfe: Amouroux, Charles Gerardin, Martelet; anspruchslose, jeder Schandtat fähige Nullen: der Schuldirektor Urbain und Doktor Parisel; zerfahrene Geister wie Ostyn; Opfer des Lebens: der Porzellanmaler Oudet; zweifelhafte Existenzen: Ledroit, Emil Clement; Unbekannte, die niemals erschienen: Decamp, Puget...

Seit lange schon war Beslays Stimme verstummt. Die Verlesung der Namen wurde eben beendet. Nachdenklich betrachtete Jacquenne von seinem Platze aus mit forschendem Blicke und zusammengezogenen Augenbrauen diese Schatzmeister der Macht, der Zukunft. Viele von ihnen waren ihm fremd, wenige sympathisch.

Von allen Seiten kreuzen sich die Anträge und prallen bei der ersten Berührung der Charaktere aneinander. Man versteht sein eigenes Wort nicht, man hört nichts als hier und da zusammenhanglose Phrasen und den Lärm der am Fuß der Treppe lagernden Wachen. Die einen fordern die Ehrenpräsidentschaft für Blanqui, ein anderer verlangt die übliche Gabe, mit welcher der glückliche Regierungsantritt der Revolution gefeiert werden soll: »Aufhebung der Todesstrafe!« Antwort darauf: »Ah, er will Vinoys Kopf retten!« Für einen Augenblick einigt man sich zu dem belobenden Zeugnis: »Die Nationalgarde und das Zentralkomitee haben sich um Paris und die Republik verdient gemacht.« Und von neuem bricht der Tumult los, in dem Beslays weise Ratschlage wie Spreu im Winde zerflattern ... Wird man die Wahlen bestätigen? Sollen die Sitzungen geheim oder öffentlich geführt werden? Die Gemäßigten, Arnould, Theiß, Jourde stimmen für die Öffentlichkeit. Die Aufgeregten protestieren: »Wir bilden einen Kriegsrat,« läßt Paschal Grousset sich vernehmen, »der Feind darf unsere Beschlüsse nicht erfahren!«

Valles und andere nötigen die zu Mitgliedern der Kommune ernannten Deputierten, zwischen ihren Mandaten zu wählen: entweder das Rathaus oder Versailles. Sofort erhebt sich Tirard: in dem Augenblick, wo die Versammlung, die nichts weiter ist als ein einfacher Gemeinderat, ihre Rechte überschreitet und sich politische Gewalt anmaßt, zieht er sich zurück ... Immer lauter wird das Gemurr und die Drohungen, er verläßt den Saal und schlägt die Tür krachend hinter sich zu. Mit ihm erlischt jede letzte Hoffnung auf Versöhnung; die letzte Brücke stürzt ein.

Die anderen Deputierten haben gewählt, sie bleiben. Nur Delescluze allein, der seine Demission in Versailles beschlossen, erklärt, wegen seines hohen Alters und seines schwachen Gesundheitszustandes sich zurückziehen zu wollen, da er nicht mehr die Kraft besitzt, der guten Sache anders als mit der Feder zu dienen ... Man umringt ihn, man beschwört ihn ... Die Revolution kann ihn nicht missen!

Bis Mitternacht dauert der wüste Tumult ... Über die hufeisenförmige Doppeltreppe Louis XIV., über den Hof, wo die halb schlaftrunkenen Wachen mit dem Rufe: »Es lebe die Kommune!« sich erheben, entfernen sich nun die von Paris Gewählten.

Und das ehrwürdige Gebäude, die Jahrhunderte alten Mauern dieses Rathauses, das die großen städtischen Feste bei der Geburt und der Hochzeit der Könige gesehen, das den Aufruhr der Fronde, die Donnerschläge der Revolution, die Bestätigung der Verfassung durch Ludwig XVI., das Fest des Allerhöchsten, den Sturz Robespierres, Napoleons und Marie-Louisens, den Prunk der Restauration und Louis-Philipps, die Republik von 1848, die Hochzeit Napoleons III. und die Taufe des kaiserlichen Prinzen miterlebt, dieser feierliche Zeuge von Frankreichs denkwürdigsten Stunden, sieht jetzt mit seinen steinernen Augen die kleinen Schatten vorüberziehen.

Die Erwählten von Paris, die Hoffnung von Paris, auf denen die schwerste der Verantwortlichkeiten ruht, und von denen so wenige nur für ihre Aufgabe vorbereitet sind! Verbittert, deklassiert, mit Gefängnis und Strafen aller Art verfolgt, am Rand des Lebens und einer stiefmütterlichen Gesellschaft stehend, die Besten unter ihnen gelähmte, dem Untergang geweihte Ideologen, die Schlimmsten gleich wilden Bestien auf die Macht gehetzt, alle noch wankend von den Krämpfen der Belagerung, so zerstreuen sie sich im Dunkel der Nacht. Einige von ihnen halten schon die unsichtbare Fackel in der Hand.

Und dort drüben ist die Armee von Versailles im Anzug, lauern die Deutschen.


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