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IV.

In dieser selben Nacht um zwei Uhr verließen sämtliche Truppen der Pariser Armee schweigend ihre Kasernen; durch den eisigen Nebel in tiefem Dunkel durchzogen lange Kolonnen die verödeten Straßen, die schlummernde Stadt. Mit leiser Stimme gegebene Kommandoworte, stumme Trommeln, gedämpfte Schritte, – so breitete sich ein weites Netz von lebendigen Maschen über Paris. Die ganze Division Susbielle, die Brigaden Lecomte und Paturel, umzingelte den Montmartre, erklomm die Abhänge und rückte gegen die Mühle von La Galette und den Turm Solferino vor. Eine andere, General Faron, stieg nach Belleville hinauf, bei den Buttes-Chaumont den General La Mariouse detachierend. Die Brigade Wolf besetzte den Bastilleplatz; die Brigade Derroja das Rathaus; die Brigade Hanrion die Tuilerien und den Luxembourg. Auf der Esplanade des Invalides und vor der Ecole militaire nahm die Brigade Rocher als Reserve Aufstellung. Alle militärischen Kräfte der Regierung waren mobilisiert, um die Zurücknahme der Kanonen zu versuchen.

Um drei Uhr morgens erreichte die Vorhut der Division Susbielle, unter Vorantritt von Stadtsergeanten und Gendarmen, die Höhe des Plateaus von Montmartre. Vor ihnen flohen, ihre Posten und ihre Schlupfwinkel verlassend, die Nationalgardisten und verschwanden in den engen Gäßchen. Etwa sechzig Mann, die in der Rue des Rosiers, in demselben Hause, wo das Arrondissements-Kommitee seinen Sitz hatte, einquartiert waren, pflegten den Nachtdienst in den Geschützparks der Butte zu versehen. Diesen Morgen befanden sich dort nur fünfundzwanzig Mann, von denen sieben die Wache bei den Kanonen hatten. In der Rue Müller erblickt einer von ihnen die anrückenden Truppen, die die Höhen zu besetzen im Begriffe sind; er ruft: »Wer da?« In demselben Augenblick streckt ihn eine Kugel schwer verwundet zu Boden. Die Gendarmen stürzen zum Wachtposten, ein Pelotonfeuer weckt die bestürzten Schläfer; man ergreift sie und schleppt sie in die Keller des Turmes Solferino. Nun durchstreiften Artillerieoffiziere rekognoszierend die Parks, zählten die Geschütze. Jetzt galt es die schwerste Arbeit, die Fortschaffung derselben.

Eine endlose Wartezeit beginnt, die Gespanne kommen nicht.

Die Stunden der Nacht verstreichen, der Morgen bricht an, noch immer nichts zu sehen, man wird ungeduldig, mit Anspannung aller Kräfte beginnt man, einzelne Kanonen herunterzuschaffen ... Unter dem feinen Regen ducken die Truppen sich zusammen; ermattet tauschen sie fragende Blicke. Endlich haben die in den Champs-Elysees und auf dem Platz de la Concorde – in zu großer Entfernung und viel zu geringer Anzahl – stehenden Pferde sich in Bewegung gesetzt; es ist heller Tag. Vier Stunden sind verstrichen.

»Gnädiger Herr! Gnädiger Herr!«

Poncet, der spät erst eingeschlafen war, sprang empor. Seine Frau richtete sich erschreckt im Bette auf: »Brennt es?«

Melanie klopfte immer noch an der Tür.

»Gnädiger Herr! Die Truppen sind da! ... Überall gibt's Soldaten! Hören Sie denn nichts? Die Sturmglocke läutet und die Trommeln werden geschlagen. Ganz Montmartre ist auf den Beinen, die Bataillone greifen zu den Waffen ...«

Wie ein Blitz durchzuckte es Poncet: die Kanonen! ... In fünf Minuten war er angekleidet und riß sich von seiner Frau los, die, sonst so mutig, ihn mit flehentlichen Bitten zurückzuhalten suchte. Ihn erfüllte nur ein Gedanke: in die Mairie eilen, sich ins Mittel legen. Es durfte kein Blut fließen! Das blutigrote Gespenst des Bürgerkrieges tauchte vor seinen Augen auf. Entsetzen erfaßte ihn. Diese Wahnsinnigen, die Soldaten und Volk aufeinander hetzten, die kalten Blutes sich in ein solches Abenteuer stürzten!

... Nein, es war nicht möglich, es mußte etwas anderes sein! Die Kanonen waren nur ein Vorwand. Thiers, der Orleanist, und die Wütenden der Nationalversammlung versuchten einen Staatsstreich. Erst Paris zähmen, und dann ...

Melanie erzählte in großer Aufregung: Sie wollte Milch holen gehen; Rothosen versperrten den Weg, andere Liniensoldaten zerstörten die Verschanzungen. Sie sahen nicht gerade sehr böse aus, ein paar Frauen sprachen sie an: »Was treibt ihr da? Ihr werdet uns doch nichts Schlimmes antun, wie?« Die armen Burschen, zähneklappernd vor Kälte, und noch so jung! Einige hatten Hunger, man gab ihnen zu essen und reichte ihnen einen Schluck Wein. ... Unten begannen die Straßen sich mit Menschen zu füllen; man konnte es nicht fassen, Geschrei und Drohungen wurden überall vernehmbar ... Die Artillerie steht schußbereit am Ausgang der Rue Hudon. Der Platz Pigalle ist mit Chasseurs zu Pferd angefüllt ...

Poncet stürmte durch die Rue de la Fontenelle; ein Strom von Frauen, Kindern, Greisen wälzte sich über die Chaussee de Chignancourt der Rue Müller zu. In buntem Durcheinander marschierten zwischen den Nationalgardisten einzelne Wachen, die ihren Posten im Stich gelassen hatten, mit erhobenem Gewehrkolben oder die Taschentücher schwenkend. Ein langgezogener Schrei »Es lebe die Republik!« pflanzte sich durch die Massen fort ... Plötzlich sind Linien-Schildwachen und Stadtsergeanten verschwunden. Eine gewaltsame Stauung, und die ungeheure Woge überflutete das Plateau. In der Rue des Rosiers wälzte eine zweite Woge sich ihr entgegen.

Von dem unaufhaltsamen Strome mitgerissen, verlebte Poncet in halbem Rausche diese Minute großen menschlichen Erschauerns. Immer furchtbarer wurde das Gedränge. Der Busen einer Frau, deren Haare sich gelöst hatten, schlug an seine Schulter; ein Greis hauchte ihm seinen alkoholdurchtränkten Atem ins Gesicht. Über den wogenden Köpfen, durch den dichten Nebel, erblickte er in der Ferne einen Mann zu Pferd, ein Käppi mit goldenem Laub, einen sich bewegenden Arm. Er sah Gewehre sich senken. Ein Augenblick unsagbarer Angst. Plötzlich erhob sich ein Gemurmel; die einen bestätigten, die anderen wiederholten Lecomtes Kommando: »Feuer!«

Inmitten der Schreie des Entsetzens und des Mitleids, von Frauen umringt, die unerschrocken vorwärts drängen mit den flehentlichen, beschwörenden Bitten: »Schießt nicht, ihr seid ja unsere Brüder!« senken die Soldaten von neuem die Waffen. Sofort entsteht wilder Lärm. Soldaten und Bevölkerung bilden ein wirres Durcheinander, eine einzige kompakte Masse. Poncet sieht, von dem Gedränge fortgerissen, den General umringt, inmitten eines betäubenden Lärms von Schmähungen und Vorwürfen fortgeführt ... Die Soldaten gebärden sich am wütendsten; sie verfolgen ihn mit milden Drohungen; die Nationalgardisten schlagen sich ins Mittel und decken ihn. Alles verschwindet.

Da bog er, aufs tiefste erschüttert, in eine Gasse ein, die er nicht wiedererkannte, obgleich er sie täglich passierte. Wie in wachem Traume folgte er einer Gruppe von Leuten, die mit lauter Stimme die Szene besprachen. Drei ins Blaue gerichtete, schnell aufeinander folgende Kanonenschüsse machten ihn erbeben. Was gab es wieder? fragte er voll Bangen. Er befand sich wieder in der Rue Holozé. Die Truppen der Mühle von La Galette waren im Begriff, sie niederzureißen. In der Rue Lepic wurden die von den Artilleristen des General Paturel herabgeschleppten, an die ersten herbeigebrachten Pferde gespannten, eben erst erschienenen Kanonen ergriffen und unter Stößen und Verwünschungen die Seile entzweigeschnitten. Auf der Place Blanche herrschte unter den Truppen noch Eintracht. Viele von ihnen schlichen sich hinweg. Poncet hörte einem Nationalgardisten zu, der, eine schwarze Binde über dem einen Auge, unter lebhaften Gestikulationen erzählt:

»Ein General mit seinem Stab ist soeben vorbeigaloppiert. Sie blasen zum Rückzug. Man hat zwei getötete Pferde zerteilt, um sie zu verzehren. Fleisch für die Armen, da ist nichts übrig geblieben. Auf der Place Pigalle haben die Linientruppen nicht schießen wollen ... Die Chasseurs zu Pferd haben uns, statt anzugreifen, mit dem Hinterteil ihrer Pferde zurückgestoßen. War das ein Gelächter! Ein Hauptmann wiederholte zornig: »Aber so greift doch an!« Und er säbelte einen Soldaten und zwei Frauen nieder. Da – ein Flintenschuß, er fällt. Die Liniensoldaten erheben die Kolben. Hinter den Baracken der Boulevards im Hinterhalt liegende Gendarmen fangen an, uns zu beschießen ... Man entwaffnet sie ... Seht nur, da führt man sie weg! Guter Fang! ...«

Poncet sah etwa sechzig Gefangene vorbeimarschieren, von einem heulenden Menschenhaufen begleitet. Sein Herz krampfte sich zusammen. Was sollte mit ihnen geschehen? Wohin führte man sie? Von dieser aufs äußerste gereizten, halb besinnungslosen Menge war alles zu befürchten. Er rief: »Auf die Mairie!« – dort wären sie in Sicherheit. Er selbst trat an die Spitze des Zuges ... Vor allem diese Menschen retten, das war der einzige Gedanke, der ihn beherrschte. Alles andere blieb unklar. Welch eine Katastrophe! Wie schnell war das alles gekommen, und wohin sollte es führen? ... Keiner vermochte es zu sagen. Alles krachte und versank in dem ungeheuren Zusammenbruch. General Faron, der in Belleville ohne Schwertstreich um drei Uhr morgens Herr der Mairie war, La Mariouse, dem es bei den Buttes-Chaumont aus Mangel an Bespannung nur achtzehn Kanonen aus den drei Parks in die Ecole militaire zu bringen gelang, sahen sich innerhalb einiger Stunden von der friedlichen Erhebung des Volkes besiegt. Frauen, Kinder wandten sich freundlich an die Soldaten und beschämten sie mit dem Rufe: »Die Linientruppen, sie leben hoch!« Die Regimenter schmolzen zusammen. Gleichzeitig erhoben sich um sie her, in dem stillen Stadtteil, die Barrikaden, den Rückzug abschneidend. Stumm und gleichgültig sahen sie zu. Da entschloß sich Faron zum Weichen: ein Augenblick noch, und der Rückzug war unmöglich; ein weiterer Augenblick, und es waren keine Truppen mehr da. Klug vermittelnd, hier lächelnd, dort die Zähne zeigend, gelang es ihm, seine Leute fast unversehrt zurückzuziehen. Ebenso vollzog auf dem Bastillenplatz die Brigade Wolf noch rechtzeitig ihren Rückzug. Im Luxembourg übergab eines der Regimenter der Brigade Hanrion die Waffen und paktierte mit der Nationalgarde, die die Gitter mit Gewalt erbrochen hatte. Um elf Uhr war auf allen Punkten die Partie verloren, die Armee löste sich auf und ging zum Volke über.

Vergeblich wurde seit dem Morgen in den dreißig Bataillonen, die allein noch einen Rest von Sympathie für die Regierung zeigten, auf d'Aurelles Befehl aus Leibeskräften der Generalmarsch geblasen. Höchstens fünfhundert Nationalgardisten gehorchten dem Sammelsignal und zerstreuten sich schnell wieder. Und an den Mauern breiteten sich in all ihrer Ohnmacht, ein ironischer Kommentar dieses riesigen mißlungenen Streiches, die Plakate, enthaltend das Manifest Thiers' und seiner Minister, welches die guten Bürger aufforderte, sich von den schlechten zu scheiden, die Schuldigen mit strenger Strafe bedrohte und die »sofortige, völlige« Rückkehr zur Ordnung forderte.

In der Mairie des XVIII. Arrondissements, wohin Clemenceau längst schon von der Butte zurückgekehrt war, die er bei Tagesanbruch erstiegen hatte, um von Lecomte die Auslieferung der verwundeten Nationalgardisten zu verlangen, erfuhr Poncet aus dem Munde des Bürgermeisters selbst, daß der General mit seinen Offizieren, im Chateau-Rouge eingeschlossen, sich in Sicherheit befand. Von seinen offenkundig revolutionären Beamten im Stich gelassen, bewachte Clemenceau selbst die in den Kellern versteckt gehaltenen Gendarmen. Rings um die Mairie, welcher ohne Unterlaß unter Trompetengeschmetter Scharen von Nationalgardisten zuströmten, herrschte außerordentliche Bewegung. Zur Ruhe mahnend, Berichte einsammelnd, ging Poncet von einem zum anderen. Seltsame Gerüchte waren es, die er da vernahm: man wollte in einer Gruppe den ehemaligen Polizeipräfekt des Kaiserreichs, Piétri, erkannt haben. Unter dem Haustor standen in heftigem Disput einige Mitglieder des Komitees der Rue des Rosiers. Andere, vom Überwachungskomitee der Chaussee de Clignancourt, hatten soeben den Befehl zur Errichtung von Barrikaden erlassen und Bergeret, vom Zentralkomitee, zum Legationschef ernannt.

Dieses, aus der von der Polizei überwachten Place de la Corderie weichend, hatte für den Abend des 18. in der Schule der Rue Basfroi, hinter der Bastille, eine Zusammenkunft verabredet. Von dem unvermuteten Angriff und der Auflösung der Armee überrascht, hatten sich kaum zehn Mitglieder dort eingefunden, und diese wußten nicht, wo aus noch ein. In den verschiedenen Stadtteilen organisierte sich der Widerstand. Jeder für sich: Bergeret in Montmartre, Varlin in Batignolles, Duval im Pantheon, Faltot in der Rue de Sèvres, Pindy im III., Brunel und Ranvier in Belleville und dem X. Arrondissement. Die Bataillone treten auf der Stelle, keines ergreift noch die Offensive.

Ganz Montmartre kocht wie in einem Kessel, die Straßen wimmeln, von einem Durcheinander überreizter Nationalgardisten, zügelloser, ausgehungerter Soldaten. Poncet duldet es nicht an einem Orte. Man erwartet, allerdings ohne große Hoffnung, den Erfolg eines von zwei Vertretern von Paris, dem Obersten Langlois und Lockroy bei Thiers versuchten Schrittes. Sie haben sich zu ihm begeben, um die Wahl des Oberbefehlshabers der Nationalgarde, die Absetzung Vinoys und sofortige Wahlen zu fordern. Hinter jedem Haustor vernimmt man scharfe Diskussionen; die Aufregung und Verwirrung ist allgemein.

Eine noch feuchte Kundmachung der Regierung, die jeden, der Familie und Eigentum liebt, zu den Waffen ruft, geht von Hand zu Hand. Sie verkündet das vollständige Gelingen der Operation, die völlige Wiedereinnahme der Kanonen! Soeben hatte ein Deputierter Poncet anvertraut, daß am Abend vorher die dreißig Oberoffiziere der Nationalgarde, von d'Aurelles um Rat befragt, diesen auf den unausweichlichen Abfall ihrer Leute für den Fall, daß man sie zum Losgehen gegen die anderen Bataillone kommandieren würde, vorbereitet hatten. Ebenso hatten die von Vinoy zu Rate gezogenen Obersten diesem die gefährliche und unverläßliche Gesinnung ihrer Truppen nicht verschwiegen. Welch unbegreiflicher Mangel an Einheitlichkeit hatte bei all diesen Vorgängen geherrscht!

Voll empörten Staunens vernahm Poncet, wie trotz des feierlichen von Picard den Bürgermeistern gegebenen Versprechens tags vorher im Regierungsrat der tückisch wahnsinnige Beschluß gefaßt worden war: wie Vinoy skeptisch, jede Verantwortung ablehnend, seinen Plan dargelegt, übrigens sich zum Gehorchen bereit erklärt hatte ... Le Flô's Ankunft aus Bordeaux gerade zu rechter Zeit, um die Details der Ausführung kritisieren zu können, diese ohne Tornister, ohne Proviant, als handelte es sich um einen einfachen Spaziergang, in den Kampf geschickten Kolonnen ... Die Minister, die weniger die Mißbilligung der Hauptstadt, als den Despotismus der Nationalversammlung, die Notwendigkeit, »etwas zu tun«, auf sich lasten fühlten. Was sie wohl Montag, wenn die Kanonen immer noch sie verhöhnten, sagen würde? ... Und Thiers, der endlich seinen Willen durchsetzte, zu allem entschlossen: zum blutigen Triumph, der seine Macht befestigt hätte, wie zu der schlimmsten Niederlage, die wenigstens seine Bestrebungen rechtfertigte. Konnte man denn aber wissen, welch dunkle Hintergedanken hinter der Stirn dieses kleinen diabolischen Mannes mit den boshaften, kalten, brillenbewaffneten Augen wohnten? Mit solch kühler Überlegung alles aufs Spiel setzen, des Mißlingens gewiß! Denn er war viel zu klug, um die Folgen nicht vorauszusehen ... Was wollte er also?

Wählend Poncet für einen Augenblick nach Hause zurückkehrte, um seine Frau zu beruhigen, – schon halb drei Uhr! – schritt kaum einige hundert Meter von der Rue Sainte-Scolastique entfernt einer, an den er jetzt am wenigsten dachte und den er doch kannte und schätzte, der Major Pierre du Breuil finstern Blicks, aber hoch erhobenen Hauptes zwischen einer Hecke ihn verhöhnender und insultierender Wachen dahin. Ein zerlumpter Kerl mit Glotzaugen heulte unaufhörlich: »Nieder mit dem Spion!« Und den ganzen Weg entlang pflanzten die Drohungen, das grollende Murren sich fort.

In Zivilkleidern, stolz aufgerichtet den Schmähungen Trotz bietend, schritt du Breuil weiter, einen bitteren Zug um die Lippen, staunende Verachtung im Auge. Sein erster Zorn war verraucht. Er machte nicht einmal mehr einen Versuch, das Mißverständnis aufzuklären, seine Identität nachzuweisen. Alles war dem Pöbel Vorwand zu übertriebenen Besorgnissen, zu albernen Vorwürfen. »Ein Offizier von Metz! Na ja! Geh' doch, Bazaine! Er ist ein Verräter, er will für das Kaisertum spionieren! Ein Garde-Major! Gibt es nicht mehr! Es gibt nur noch die Nationalgarde ... Mörder des Volkes! Er wollte uns heute morgen töten! ... Du kommst aus Deutschland? Der gnädige Herr sind Preuße? ... Warte ab, bis das Komitee entscheidet.« Du Breuil zuckte die Achseln.

Auf einen solchen Empfang war er gestern, als er Mainz verließ, nicht vorbereitet gewesen. Er hatte geglaubt, den Albdruck der Vergangenheit abschütteln, dieser düsteren Gefangenschaft entrinnen zu können, in der der Widerhall der Kanonen von Coulmiers, von Villersexel, von Bapaume wie ein Vorwurf ihn ins Herz traf, und, schmerzlicher als alles andere, diese schreckliche Belagerung von Metz, in der sein Glaube unter der Wucht des furchtbaren Zweifels zusammengebrochen war: Fliehen wie d'Arol, heimkehren, um den Kampf wiederaufzunehmen, oder als Gefangener bis ans Ende der eisernen Fessel der Disziplin sich beugen? ... Endlich war er frei, durfte er den Boden Frankreichs wieder betreten, stand er vor der Erfüllung seiner sehnsüchtigen Wünsche! ... Nicht mehr das derbe, rauhe Gesicht des Siegers sehen müssen, sondern voll frommen Eifers in seinem bescheidenen Kreise mitarbeiten an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes, mit aller Kraft der Seele und des Körpers, das Werkzeug künftiger Revanche schmieden und stählen helfen!

Welche Rührung hatte ihn erfaßt, als er an der Grenze die geliebte Heimaterde wieder begrüßte mit den verwüsteten, noch von der Okkupation wimmelnden Städten! Mit welchem Gefühl der Erleichterung hatte er sich Paris genähert, den letzten deutschen Wachtposten hinter sich gelassen! Er bebte beinahe vor Entzücken bei dem Gedanken, die teure, die herrliche Stadt wiederzusehen, die sich während der Belagerung so mutig, so heldenhaft erwiesen, dieses Paris, das einen neuen Strahl zu seinem Glorienschein gefügt, dieses, so frivole und doch so große Paris, wo die Frauen so voller Anmut waren, wo alle Ideen so klar und lebendig strahlten, den feurigen Herd, der die Welt erleuchtete! ... Er kam ohne Abneigung gegen die Republik, bereit, ihr nach besten Kräften zu dienen. Hatte sie nicht die den Händen des Kaiserreichs entsunkene Fahne wieder aufgerichtet und, wenn auch nicht das Land, so doch die Ehre gerettet? Die bonapartistischen Verführungsversuche nach der unseligen Katastrophe hatten sein Mannesbewußtsein, die Schamhaftigkeit des Besiegten verletzt.

Zwischen dem Du Breuil, der abgemagert, mit an den Schläfen ergrauten Haaren, mit einem von schmerzlichen Grübeleien gefurchten Antlitz heimkehrte, und dem, der vor nun neun Monaten in seiner glänzenden Uniform im Park von Saint Cloud der Abreise des Kaisers und seines Hofes beigewohnt und, als der Zug, der Frankreichs Glück mit sich führte, sich in Bewegung setzte, des Aufbruchs zum Kriege jenes Anderen, Größeren und der gewaltigen Epopöe die das junge Jahrhundert und das alte Europa erschüttert hatte, gedachte, – zwischen diesen beiden lag ein weiter Abgrund, die Kluft der Auferstehung. Noch eine Stunde, und er würde als ein Fremder seine Wohnung in der Rue de Bourgogne wieder betreten und sich zum Minister begeben, um sich ihm zur Verfügung zu stellen; und morgen an die Arbeit! ... Eine tiefe, süße Empfindung mischte sich in seine Gedanken, ein Antlitz schwebte ihm beständig vor, Aninas schöne, klare Augen, die Vergangenheit verklärend, die Zukunft durchleuchtend. Endlich, endlich fuhr der Zug in den Bahnhof ein, die Drehscheiben dröhnten ...

Und plötzlich war es eine andere Stadt. Er kannte sich nicht mehr aus, suchte vergeblich einen Wagen. Doch man umringte ihn ... seine gebietende Stimme, sein militärisches Aussehen, seine Rosette ... »Ihre Papiere, Bürger?« Zerlumpte Soldaten, schmutzige, bärtige Nationalgardisten sprachen ihn an, packten ihn an den Armen, den Schultern ... All das war verdächtig, zur Wache mit ihm! Ein kurzer Kampf, eine blinde Wut, die nur dazu diente, den Griff der brutalen Hände noch brutaler, die Stimmen noch kreischender zu machen. Angeekelt, suchte er mit Gewalt, sich zu fassen. Das war zu dumm, man mußte ihn ja doch loslassen ... Doch von Wache zu Wache schleppte man ihn, immer zahlreicher wurde seine Eskorte, immer schwerer sein Verbrechen in den leichtgläubigen Augen der Menge. »Er hat ein Kind getötet! Nieder mit dem Spion! Zum Komitee mit ihm!« Und von Straße zu Straße das Komitee suchend, gelangte man bis auf den Montmartre.

»Wir sind bald angelangt!« sagte zu Du Breuil einer seiner Wächter, der trotz seiner rauhen Stimme nicht allzu bösartig aussah. Und als erriete er die schmerzliche Bestürzung des Offiziers an dem starren Blicke, mit dem er den verstreuten Soldatenbanden folgte, fügte er hinzu:

»Na, das wundert Sie, was? ... Diese guten Leute stehen auf unserer Seite!«

In von Stößen und Püffen unterbrochenen Sätzen geruhte er, seinem Gefangenen den von Fontriquet ausgeführten Coup zu erklären. Er hatte ja das Beste der Armee gewollt, doch sie ließ ihn im Stich ... Jetzt werden die Kinder des Volkes sich gegenseitig niedermetzeln, und all das, um die Republik zu begraben! Augenzwinkernd fuhr er fort:

»Auf gutes Einvernehmen! ... Sie scheinen mir der rechte Mann ... Bleiben Sie bei uns, Herr Offizier!«

Das war die grausamste Insulte. Mit Mühe nur unterdrückte Du Breuil eine Gebärde des Schauderns. Bei diesen Bestien bleiben, deren plötzliche Berührung ihm keine der Ursachen berechtigter Erbitterung zeigte, sondern nur Häßlichkeit und Gemeinheit, keine Spur von Bildung und Anstand! Bei diesen elenden Soldaten bleiben, für die seine Unkenntnis der Situation keine Entschuldigung wußte; bei diesen Verrätern, die ihre Führer verlassen hatten und fahnenflüchtig geworden waren! Und weshalb?

Alles war ihm dunkel, nur des Einen war er sich bewußt: daß er die schreckliche losgelassene menschliche Bestie sah und Paris in voller Revolution unter den ironischen Blicken der Deutschen! Und wäre der Aufstand im Prinzip auch noch so entschuldbar, das Unrecht blieb tatsächlich ein unverzeihliches. Welch selbstsüchtiger Wahn war es, der all diese Männer antrieb, sie erfüllte und ihnen alle Überlegung raubte, statt des immer noch darniederliegenden Vaterlandes zu gedenken! Wie konnte man es wagen, von Rechten zu sprechen zu einer Zeit, da es sich nur um Pflichten handeln durfte, da der Feind noch im Lande war!

Das also war der Empfang, den Paris ihm bereitete, in solch bejammernswertem Zustand mußte er die Stadt heiterer Lebensfreude wiederfinden! Alles in ihm bäumte sich dagegen auf. Voll Widerwillen ertrug er den frechen Blick, mit dem ein buckliger Leutnant der Nationalgarde mit Schielaugen und gemeinen, lasterhaften Zügen ihn maß. Welch eine Armee war das, großer Gott! Der Anblick dieser Maskerade schnitt ihm ins Herz, und in seinem tiefeingewurzelten Respekt vor der Uniform fühlte er zum erstenmal in seinem Leben sich glücklich, die seinige nicht zu tragen, nicht sie zum Gespött dieses brutalen Pöbels werden zu sehen ...

Man gelangte zum Chateau-Rouge. Gewaltsam mußte man sich durch das Gedränge Bahn brechen. Nie, auch nicht an den schönsten Festtagen, hatte man die Rasenflächen, die Bosquete von einer so dichten Menge überschwemmt, nie das alte, von Heinrich IV. für Gabriele d'Estree erbaute Haus so stürmisch belagert gesehen. Mehrere Nationalgarden-Wachtposten waren hier aufgestellt. Ein greiser Hauptmann eilte Du Breuil entgegen. Während er Schimpfworte in seinen weißen Bart brummte, rief er entzückt: »Wieder einer! ... Mit euch wird man kurzen Prozeß machen!«

Zwischen den Ankömmlingen, die ihre Gefangenen nicht verlieren wollten und den vor dem Tore angesammelten Wachtposten entspann sich ein kurzer, lebhafter Wortwechsel. Endlich wurde Du Breuil auf eine Stiege gedrängt und in ein mit Menschen angefülltes Zimmer geführt, in dem mit wichtigtuender Miene ein anderer Hauptmann den Vorsitz führte; auf Du Breuils bitte um Aufklärung antwortete er sehr höflich, seine Partei bedürfe der Garantien für diesen Tag; er, Simon Meyer, sähe sich zu seinem lebhaften Bedauern genötigt, den Major mit diesen Herren als Geisel dazubehalten ... Er deutete auf acht andere Personen, die sofort mit lautem Geschrei Einsprache erhoben, ihn umringten und verlangten, vom Komitee vernommen zu werden. Der Hauptmann suchte die Aufgeregten zu beruhigen, indem er sie versicherte, daß keinerlei Gefahr ihnen drohe; daß Komitee sei nicht da; man könne es momentan nicht einberufen ... Und in sichtlicher Verlegenheit machte er sich aus dem Staube.

Eine Hand streckte sich Du Breuil entgegen: »Herr Major!« Zu seiner Verwunderung erkannte er ein bekanntes Gesicht, den Grafen Beugnot. Der Ordonnanzoffizier des am Morgen an der Ecke des Boulevards Rochechouart verhafteten und seit vier langen Stunden hier des Urteils harrenden Generals Le Flô machte ihn mit den Ereignissen bekannt. Von ihm und von zwei anderen Offizieren, die dem General Lecomte gefolgt waren, erfuhr Du Breuil den Verlust der Kanonen, die Auflösung der Truppen. Der General war in einem Nebenzimmer heimlich eingeschlossen. Wohin sollte das alles führen? Wie stand es mit diesen unsichtbaren, unauffindbaren Komitees? Lag die einzige Möglichkeit ihrer Rettung nicht darin, daß man, ganz von der Sorge um die Revolution absorbiert, ihrer vergaß, bis der Sturm sich wieder legte?

Doch nein! Den Todesschreien, die durch die Fenster zu ihnen drangen, folgten unheilkündende Kommandorufe. Die Tür öffnete sich. Eine mit vier unleserlichen Unterschriften versehene, mit dem Amtssiegel gestempelte Ordre in der Hand, trat Simon Mayer wieder ein: »Sie werden auf die Butte geführt werden, wo das Komitee sich aufhält. – Ich stehe für Sie ein; ich wollte, ich könnte auch für den General einstehen«, fügte er hinzu.

Im Garten, zwischen zwei Reihen von Nationalgardisten mit aufgepflanzten Bajonetten, nahmen Du Breuil und seine Gefährten Aufstellung. Nun wurde Lecomte herbeigeführt, den Gruß erwidernd, den die Gefangenen und die Offiziere ihm erwiesen, während ihre Leute bei seinem Anblick in Verwünschungen und Hohngelächter ausbrachen. Und nun begann durch die aufsteigenden Straßen, unter dem Geheul einer bis zum Wahnwitz erregten Bevölkerung, der schmähliche Dornenweg. Fäuste streckten sich ihnen entgegen, zum Schlag bereit. Wutverzerrten Lippen entrangen sich heisere Laute. Megären gleich schwangen zerlumpte Weiber ihre Gewehre. Deserteure des 88. Regiments pfiffen.

So dichtgedrängt stand die Menge, daß der Zug nur mit Mühe in langsamem Begräbnisschritt vorwärts kam. Das goldgeschmückte Käppi des Generals bildete den Zielpunkt allen Hasses. Ein neben Du Breuil marschierender Nationalgardist fing mit dem Ellbogen ein Bajonett auf, mit dem man auf seinen Gefangenen zielte. Wie schmerzliche Betäubung legte es sich auf Du Breuils Augen. Welch ein Wirbelsturm war es, der, alle Antiefen des Elends und des Verbrechens aufrührend, diesen Abschaum der Gesellschaft, diese Kuppler und Dirnen, alle Laster und Begierden entfesselte? Das kichernde Lachen eines Blödsinnigen schrillte ihm in den Ohren; mit unanständiger Geberde schürzte ein rothaariges Weib ihre Röcke und zeigte ihre weißen Hüften; man schrie: »Zieht ihnen die Haut ab!« Ein Todestaumel erfaßte die Friedfertigsten und heulte aus den atemlosen Gassenhauern, die von halbwüchsigen Burschen gepfiffen wurden.

Du Breuil blickte in seltsame, unheimlich gähnende Abgründe; eine Kluft voll von Blitzen durchzuckter Finsternissen tat sich vor ihm auf, ihn mit Entsetzen vor den Niederungen der menschlichen Gesellschaft erfüllend. Ein mit Mitleid gemischtes Grauen schüttelte ihn angesichts des Rätsels dieser wilden, ungeahnten Bestialität. Vor allem die Blicke waren es, die ihn faszinierten, diese Blicke unauslöschlichen Hasses, der Verachtung, des Abscheus. Was hatte er all diesen Menschen denn getan? Er konnte es nicht begreifen ... Sterben ... den Tod hatte er nie gefürchtet. Von jeher hatte seine Soldatenseele diesem Schicksal mutig ins Auge gesehen. Doch so sterben, gleich einem geschlachteten Tiere, unter den Schlägen und Hieben von Menschen seines Volkes, die wilder und tierischer waren als der grausamste Feind ... Das war es, was ihn empörte, ihm das Herz zusammenkrampfte ... Fliehen? mit gesenkter Stirn, wie ein Stier, hätte er sich vorwärtsstürzen mögen. Doch das bedeutete den sicheren, sofortigen Tod; drei Schnitte kaum, und zertreten, lebendig zerrissen, läge er am Boden. Das Geschrei der Blutgier, das Tausenden von Lippen sich entrang, folterte die Nerven, schürte die Wut, den Wahnsinn. Von dem wütenden Orkan umbraust, beschleunigte der Trauerzug den Schritt. Mißtöniger Trompetenton schrillte durch den Nebel – das Signal zum Angriff.

Im Ministerium des Äußeren, in den Salons des ersten Stockwerks, waren alle in Paris anwesenden Minister versammelt. Man harrte der Rückkehr Thiers', der am Morgen zum erstenmal das Haus verlassen hatte, um im Louvre sich Nachrichten zu holen, sich mit General Vinoy und dem Kriegsminister in Einvernehmen zu setzen und durch eigenen Augenschein sich von dem Zustand von Paris zu überzeugen. Dann war er wieder fortgegangen, nachdem er den Truppen den Befehl erteilt, sich bei der Ecole militaire zu sammeln; den ersten, die am Kopf der Brücke de la Concorde erschienen, war er entgegengeeilt. In einer Fensternische standen Favre mit der hängenden Lippe und dem weißen kranzartigen Bart, Jules Simon mit dem fettigen, verstörten Gesicht im Gespräch mit Admiral Pothua; sie hätten energischere Maßnahmen zu ergreifen gewünscht. Der dicke Picard schritt ernst mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab und schien nicht geneigt, seine gewohnten Späße loszulassen. Eine dritte Kundmachung, die dem bürgerlichen Paris den Popanz des siegreichen Kommunismus zeigte, war resultatlos geblieben. Die wenigen designierten Nationalgarden waren dahin zurückgekehrt, von wo die überwiegende Mehrheit überhaupt gar nicht sich fortgerührt hatte.

Inmitten der allgemeinen Gleichgültigkeit stürzte die gesetzgebende Gewalt zusammen, von dem Fehltritt ihrer mißglückten Versuche aus der Bahn gebracht. Überbringer von Nachrichten, Abgesandte der Bürgermeisterämter, Deputierte kamen und gingen; überall Beratungen, Verhandlungen, ein ewiges Öffnen und Schließen der Türen. Von Minute zu Minute wuchs die Kopflosigkeit. Durch die hohen Fenster warfen die Minister bange, sorgenvolle Blicke auf die zahlreichen Wachtposten, die, Gewehr bei Fuß, hinter den Gittern standen und lehnten. Man hörte Trompetenklänge und Geschrei und, gleich dem dumpfen Branden des Meeres, drang der ferne Tumult von Paris durch die Mauern herein.

Plötzlich eine Bewegung im Hofe und in den Vorzimmern. Am Fuß der Haupttreppe hielt Thiers' Wagen. Mit lebhaften, trippelnden Schlitten in aufgeknöpftem Paletot trat das Haupt der exekutiven Gewalt ein. Hinter ihm erschien mit neu gewonnener Kaltblütigkeit General Vinoy. Die Minister umringten ihn. Die Türen wurden geschlossen. In den benachbarten Salons herrschte fieberhafte Erwartung.

»Meine Herren«, sprach er mit jener säuerlichen Stimme, deren schwaches Falsett weithin vernehmbar war und gebieterisch Schweigen gebot, »es ist klar, daß unsere Truppen von dieser Menge überwältigt werden müssen. Es bleibt nichts übrig, als auf die Kanonen zu verzichten und die Armee mit möglichster Schnelligkeit aus dem Chaos zu befreien, in dem sie zu versinken droht. Ich für meine Person zögere nicht länger, wir brauchen nur Paris zu verlassen und uns zu der Nationalversammlung zu begeben.«

Lauter Widerspruch unterbrach ihn. Favre, Simon schrieen: »Paris dem Aufruhr überlassen, seine ungeheuren Hilfsquellen, seine Waffen, seine Munition, seine Monumente preisgeben!«

Mit kalter Ruhe fuhr Thiers fort:

»Ich selbst habe durch einen patriotischen Gewaltstreich die Verlegung der Nationalversammlung nach Versailles bewerkstelligt. Ich will nicht den ewigen Vorwurf auf mich laden, sie in eine Falle gelockt zu haben! Sie repräsentiert Frankreich. Ihr muß jedes Opfer gebracht werden! Mit unseren Leibern müssen wir ihr einen Schutzwall bauen. So schwer es mir fällt, ich bin entschlossen. Ich gebe die Partie nicht auf, ich rette sie.«

Hartnäckig beharrte er auf seiner vorgefaßten Idee. Er war auf die Möglichkeit eines Mißlingens gefaßt gewesen, hatte vielleicht sogar auf sie spekuliert. Er vertraute einzig der Gewalt. Da eines Tages ja doch gehandelt werden mußte, so war ein diesmaliger Mißerfolg mit unzureichenden Truppen ein wieder gutzumachendes Übel. Diese Armee, die sich, wie vorauszusehen gewesen, aufgelöst hatte, sie war keine wirkliche Armee, sie entbehrte jeder Spannkraft. Hätte er hingegen, wie man es ihm geraten, den Streich später unternommen mit der aus ihren Gefängnissen heimgekehrten alten Armee, dann wäre das Mißgeschick unheilbar gewesen. Jetzt war es, wie die Erfahrung lehrte, nicht mehr möglich, gegen Paris zu kämpfen; man muß es verlassen und es wieder einnehmen. Unter dem Gewande des eitlen Ministers Louis Philipps kam der Geschichtsprofessor zum Vorschein:

»Beim Anblick dieses Aufwandes, meine Herren, kam mir eine Erinnerung. Die Erinnerung an den 24. Februar 1848. Am 24. Februar, als die Ereignisse eine schlimme Wendung nahmen, fragte mich der König, was zu tun sei. Ich gab ihm zur Antwort, daß man mit Marschall Bugeaud Paris verlassen und mit fünfzigtausend Mann dahin zurückkehren müsse ... Doch der König gedachte der Bourbons und Bonapartes, die, einmal außerhalb der Mauern der Stadt, dieselbe nicht mehr hatten betreten können. Er weigerte sich: das war sein Untergang ... Meine Herren, die Geschichte spricht. Ich erinnere Sie noch an das Beispiel des Marschall Windischgrätz, der, nachdem er vor Ausbruch der Revolution Wien verlassen, bald darauf siegreich wieder dahin zurückgekehrt war.«

Was er nicht hinzufügte und keiner ihm zu bedenken gab, war die Art und Weise, wie Windischgrätz und Jellachich ihren Einzug in Wien hielten: die wiederholten Angriffe, die Beschießung der Vorstädte, Feuersbrunst, Plünderung, Erschießung der Gefangenen, – die ganze Stadt den Kroaten mit den roten Mänteln preisgegeben! Übrigens wußte Thiers all das sehr wohl und billigte es. Man hatte ihm achtungsvoll, aber mit wenig Überzeugung zugehört. Jules Favre erhob die Stimme:

»Ein solches Zurückweichen ist ein Verzweiflungsakt und kann Frankreich zugrunde richten!«

Picard, Simon, Pothnau kamen ihm zu Hilfe. Weshalb nicht vom Rathaus aus, wo Jules Ferry sich noch gegen General Derroja zu wehren wissen wird, einen Widerstand versuchen? Warum die Militärschule räumen? Warum sich nicht im Trocadero, diesem leicht zu verteidigenden strategischen Punkte, verschanzen, wo die zur friedlichen Beilegung geneigten Nationalgarden, denen doch endlich die Augen geöffnet werden mußten, sich unzweifelhaft sammeln würden?

Doch der Greis antwortete mit ungeduldigem Kopfschütteln und blieb taub gegen alle Vorstellungen. Wäre sein Entschluß nicht längst schon gefaßt gewesen, diese Stunde, da er auf dem Wege zum Louvre den Zustand der Stadt erkannt, hätte ihn gezeitigt. Als alterfahrener Praktiker hatte er dem Kranken den Puls gefühlt. Jetzt keine Tränklein mehr! Jetzt konnte nur ein Aderlaß noch retten! Ein gewaltiger Aderlaß, um dieses Fieber zu beruhigen! Seine scharfe Stimme, noch um einen Ton höher steigend, erklärte in gebieterischem Tone:

»Ich habe dem General Vinoy bereits Befehl gegeben, seine Truppen hinter die Seine zurückzuziehen und sämtliche Brücken zu besetzen. Die Zeit drängt, die Trümmer der Armee müssen der korrumpierenden Berührung mit dem Volke entzogen werden. Dann werden wir sie neu organisieren.«

Vinoy sprach:

»Ich bin Soldat, befehlen Sie!«

Die Minister blickten einander zögernd an: So die Flucht ergreifen, da noch nichts verloren, da man Herr aller Ämter, der Wälle, der Forts war! Sie beherrschten die Situation und konnten sich nicht entschließen, alles im Stiche zu lassen. Was geschah mit General Le Flô? Würde er Thiers nach Versailles folgen? Und Thiers beharrte auf seinem Verlangen, immer wieder sich auf seine Grundsätze berufend: eine Lücke reißen, die Armee neu wieder aufrichten, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, Paris verlassen...

Da vernahm man Trompetenklänge, Trommelwirbel. Man stürzte an die Fenster. Ihre Waffen schwenkend und schreiend zogen drei Nationalgarde-Bataillone auf dem Quai vorüber. Sie blickten zu der hohen Fassade empor. Die Gestalten hinter den Scheiben verschwanden. Eine Panik entstand.

»Ich glaube, wir werden ausgeflammt«, sagte Le Flô, »man will uns beiseite schaffen!«

Am Morgen war ihm auf dem Bastilleplatze übel mitgespielt morden, und er bewahrte davon eine unangenehme Erinnerung. Wenn diese Kerle eine Wendung nach rechts machten und in den Palast eindrangen, war man bis auf den letzten Mann gefangen. Sofort wurde die Diskussion geschlossen. Der Bürgerkrieg war erklärt. Indessen hielt jeder einzelne sich für verpflichtet, wenigstens die fünfundsiebzig Jahre dieses unentbehrlichen Greises zu schützen, den Nimbus, der das Staatsoberhaupt umgab. Thiers ergriff seinen Hut. Vinoy hängte ihm seinen Mantel um.

»Ihr Wagen steht bereit. Nehmen Sie meine Eskorte, ich habe sie verdoppeln lassen.«

Und Le Flô:

»Es ist von größter Wichtigkeit, daß Sie sich in Sicherheit bringen. Es muß doch irgendwo eine geheime Treppe geben, auf der man in die Rue de l'Université gelangen kann.«

»Eine Eskadron bewacht die Türe nach dem Bois de Boulogne«, sagte Vinoy. »Nach dieser Seite hin ist Ihr Ausgang gesichert.«

Mitten in dem Gedränge wiederholte Thiers noch einmal den Räumungsbefehl. Auf welche Truppen war am sichersten zu rechnen? Die Brigade Daudel? »Aber«, meinte Vinoy, »diese hält die Südforts, den Mont-Valérien besetzt. Courbevoie ...« »Gleichviel! Man sende ihn unverzüglich nach Versailles!« Und von einem Geschwirr von Abschiedsgrüßen gefolgt, verschwand Thiers. Und nun fort in rasendem Galopp!

Während Favre die Delegationen empfing und Simon, Picard und Pothuau in ihre Ministerien zurückkehrten, rollte der Wagen, von der Reitereskorte umgeben, in schärfstem Tempo dem Ziele zu. Von Zeit zu Zeit steckte Thiers den Kopf zum Wagen hinaus, um den Kutscher, die Reiter anzuspornen: »Schneller, schneller! Aber so treibt doch die Pferde an!« Auf der Brücke bei Sèvres reichte er dem Leutnant der Eskorte einen mit Bleistift geschriebenen Zettel. »Für General Vinoy. Nicht eine Sekunde zu verlieren!« Es war die neuerliche Ordre, die Forts zu räumen ... Erst beim Anstieg nach Viroflay konnte man Atem holen. Die Pferde waren total erschöpft.

Zur selben Stunde, da der Chef der exekutiven Gewalt Paris verließ, – es mochte zwischen drei und vier Uhr sein – vollendeten General Lecomte und seine Gefährten ihren Dornenweg. Unter dem Geheul der Menge erreichten sie die Rue des Rosiers und betraten das Haus Nummer 6. Der Hof wimmelte von sich wie rasend gebärdenden Liniensoldaten. Deutlich und doch nebelhaft wie im Traume gewahrte Du Breuil das grüne Tor, das altertümliche Haus, einen ländlichen Garten. An der rückwärtigen Mauer lehnten zwei knospende Pfirsichbäume. Ein Flintenschuß knallte. Man stieß sie in ein im Erdgeschoß gelegenes, dunkles Zimmer ... »Das Komitee wird über Ihr Schicksal entscheiden«, erklärte der alte, ordengeschmückte Hauptmann. Als die Zeit verging und der General verlangte, unverzüglich vor diese geheimnisvollen Richter gerufen zu werden, erhielt er zur Antwort, man wolle sie holen. Das Geheul der Menge verdoppelte sich; um die Gefangenen näher betrachten, womöglich sie greifen zu können, zerbrach man die Scheiben. Blutdürstige Mäuler preßten sich an die Fensterrahmen, Flintenschüsse übertönten noch den Lärm. Die verbündeten Offiziere und die Nationalgardisten warfen sich dazwischen und schlugen mit Gefahr ihres Lebens den Ansturm ab. Ein Leutnant namens Meyer stemmte sich gegen die Tür und beschwor die Wütenden, zu warten. Das Komitee erschien noch immer nicht. Jede Sekunde beschleunigte den tragischen Ausgang und vertierte immer mehr diese Gesichter, die nichts Menschliches mehr hatten. Du Breuil erkannte, daß die Stunde der Entscheidung schlug; in diesem alle Bestialität entfesselnden Delirium waren sie auf Gnade und Ungnade dem ersten Ansturm preisgegeben; beim ersten Weichen ihrer Verteidiger waren sie die Beute dieser rasenden Bestien.

Niemals, auch nicht im Handgemenge bei Forbach, bei Rezonville, wo der Säbel zerfleischend niedersauste, wo der Revolver mörderische Lücken riß, hatte er in den verzerrten Gesichtern des Feindes einen solchen Ausdruck der Mordgier gesehen. Entsetzt betrachtete er diese Kraft des Bösen, diese Entfesselung finsterer Elemente. Das waren nicht mehr, wie vorhin, von Haß durchwühlte Züge, nicht mehr die Nachsucht bitteren Leidens, ungerechter Unwissenheit, nicht mehr das bewußte Handeln eines Volkes. Das war der Instinkt des wilden Tieres, welches tötete, um zu töten. Dieser Haufen von Epileptikern, nein, das war nicht das Volk. Und ein Ekel erfaßte ihn vor dem Gedanken an ein solches Ende. Warum befand er sich nicht noch auf dem Schlachtfeld von Mars-la-Tour, Seite an Seite mit Lacoste, in dem schwindelnden Galopp des Angriffs! Er glaubte, die ganze Szene wieder zu durchleben. Die Erdschollen flogen; und über dieses Blutbad sandte die Sonne ihre leuchtenden Strahlen herab ... Von Franzosenhand sterben müssen – das war es gewesen, was damals Lacostes Tod so schrecklich gemacht hatte! ... Er bedauerte, nicht in der Schlacht gefallen zu sein, konnte sich in dieses nutzlose Opfer nicht ergeben! Wütende Verzweiflung packte ihn bei dem Gedanken an Anina, an das verlorene Glück. Seine Blicke kreuzten sich mit jenen seiner Gefährten, lasen darin das gleiche Entsetzen, die milde Regung des Mitgefühls. Er beneidete alle seine freien Kameraden.

Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. In schwindelnder Hast wechselten die Bilder. Da das Komitee nicht erscheint, begibt sich ein garibaldischer Offizier, Kadanski, ein Pole, der von dem Adjunkten Jaclard zum Platzkommandanten ernannt worden war und im oberen Stockwerk andere Gefangene vernommen hatte, in das Zimmer im Erdgeschoß und bildet auf Andrängen der Menge mit einigen anderen einen provisorischen Kriegsrat. Lecomte gesteht, die Befehle Vinoys ausgeführt und das Feuer kommandiert zu haben; trotz der allgemeinen Wut, die sich in Flüchen und Verwünschungen Luft macht, zieht die Verhandlung sich in die Länge, man spricht davon, den General in den Saal Robert zu überführen. Plötzlich – es ist halb fünf Uhr – bricht ein ungeheurer Lärm aus; die Menge weicht auseinander. Ein weißbärtiger, hochgewachsener, schwarzgekleideter Mann wird in das Zimmer gestoßen. Die Tür gibt nach, der Fensterrahmen kracht, die Menge dringt ein: »Nieder mit ihm! Tötet ihn!«

Es ist Clement Thomas, der ehemalige Oberkommandant der Nationalgarde, der auf dem Platz Pigalle erkannt und verhaftet worden war. »Er hat den Plan der Butte entworfen! Der Elende! ... Er hat uns während der Belagerung lang genug als Feiglinge behandelt! Du hast uns bei Buzenval verraten! Du hast uns Anno 48 niederschießen und deportieren lassen!« Diejenigen, die ihn zu schützen suchen, werden niedergeschlagen. Kadanski will sich ins Mittel legen, man reißt ihm sein Goldschnüre ab. Ein ehemaliger Hauptmann der Franktireurs, der auf einem Schutzdach des ersten Stockwerks kauert, läßt einen Trommelwirbel schlagen und verlangt, daß man das Erscheinen des Komitees abwarte; Steinwürfe hageln auf ihn nieder. Doch schon strecken zwanzig Hände sich aus: Clement Thomas wird hinausgeschleppt. Eine Kugel durchbohrt seinen hohen Hut. Mit Kolbenschlägen wird er unter die Pfirsichbäume, zu der Mauer getrieben. Die Brustwehr ist mit Zuschauern bedeckt, der Garten voll von Menschen, viele Weiber gebärden sich wie trunken. Der alte Republikaner blickt dem rasenden Pöbel unerschrocken entgegen. Das Exekutionspeloton verliert sich in der Menge. Von allen Seiten richten sich die Flintenläufe auf den Unglücklichen, Schuß auf Schuß kracht. Clement Thomas liegt auf dem Boden; die Kugeln hageln auf ihn nieder, zerschmettern ihm den Schädel, durchbohren seine Füße.

In das Zimmer, wo sie alle in düsterer Verstörtheit dem Widerhall des schaurigen Lärms lauschen, sieht Du Breuil einen Korporal der Chasseurs zu Fuß, einen Liniensoldaten vom 88. Regiment und zwei Mobilgardisten eindringen. Sie stürzen sich auf Lecomte, halten ihm die Fäuste vors Gesicht: »Jetzt kommt an dich die Reihe! Du hast uns heute morgen niederschießen wollen! Du hast mir dreißig Tage Arrest gegeben, ich werde der erste sein, der auf dich Feuer gibt!« Vergeblich spricht Lecomte von seiner Frau, seinen Kindern; die Mörder stoßen ihn hinaus, schießen ihn in den Rücken. Er sinkt in die Knie, man reißt ihn empor, schleppt ihn zu der Leiche Clement Thomas! Neun Kugeln durchbohren ihn. Immer noch feuern die Besessenen auf den noch warmen Leichnam, zerstampfen ihn mit den Füßen. Der eine zupft Clement Thomas am Bart, eine Furie verstümmelt Lecomte. Kleider und Stiefel werden ihnen abgerissen. Und rings um die beiden Leichen beginnt ein Karaibentanz.

Bei diesem Anblick flieht angeekelt mehr als einer; das Übermaß der Brutalität gebiert die Ernüchterung. Die Menge beruhigt sich einigermaßen und zerstreut sich allmählich. Die erschöpften Offiziere der Nationalgarde erhalten endlich von den letzten Belagernden die Erlaubnis, die Gefangenen ins Rote Schloß zu führen. Kaum haben diese zwischen dem Spalier der vorhin so brutal schimpfenden, jetzt gleichsam ernüchterten Wachen einige Schritte gemacht, als atemlos, bleich vor Erregung, über die Brust die Bürgermeisterschärpe, ein Mann erscheint und sie anhält: »Wohin führt ihr diese Offiziere?« »Lassen Sie nur, wir werden sie retten«, flüstert Leutnant Meyer. Und ohne sich länger aufhalten zu lassen, setzt er seinen Weg fort ...

Von dem Vorgefallenen unterrichtet, war Clemenceau augenblicklich herbeigeeilt. Er glaubte den General immer noch im Roten Schloß und war wie niedergeschmettert bei der Nachricht, daß er zu spät kam.

»Befinden sich noch Gefangene hier?« fragte er auf der Schwelle des Unglückshauses.

Man verneinte. Und doch harren im ersten Stock noch viele ihres Schicksals.

Doch von neuem rottet sich um ihn her die Meute zusammen, die Bajonette strecken sich drohend vor. Der neuentfachte Zorn wendet sich gegen den Bürgermeister, in dem man den Verräter, der die Kanonen hatte übergeben wollen, einen Helfershelfer der Nationalversammlung, erblickt. Nationalgardisten legen das Gewehr auf ihn an. Eine halbnackte Dirne, rittlings auf einem Schimmel reitend, schwenkt einen roten Fetzen. Von Hunderten von Lippen gellt der Schrei: »Du hast uns verkauft! Nieder mit dir!« Ein anderer heult: »Man hat sie erschossen. Was weiter?« Überzeugt, daß sich niemand mehr im Hause befindet, macht Clemenceau sich gewaltsam frei und kehrt zur Mairie zurück, bei jedem Schritte aufgehalten, von Schmähungen und Verwünschungen verfolgt. Er findet Langlois und Schoelcher vor. Man begibt sich zu dem in der Nähe des Roten Schlosses etablierten Überwachungskomitee. Schon hatten Lockroy, Tolain und andere sich dort eingefunden.

Sie alle bestürmten Ferré, den Präsidenten, und seine Akolyten mit Vorwürfen: »Ihr müßt die Schuldigen verhaften lassen! Ihr seid für den Mord verantwortlich!« Bergeret, der ein rotes Band um das Käppi geschlungen hat, erklärt mit verlegener Miene: »Das raubt uns hunderttausend Mann.« Wenigstens versichert man, daß die Offiziere keine Gefahr mehr laufen.

Zwei Stunden noch, und Du Breuil verläßt unter Eskorte das Rote Schloß und wird in das Entresol eines nahegelegenen Hauses in der Chaussee Clignancourt geführt. Endlich sollte er vor dem den ganzen Tag hindurch unauffindbar gewesenen Komitee erscheinen. War es dasselbe, auf dessen Geheiß er dort oben zur Schlachtbank geführt worden war? Existierte denn überhaupt noch jenes andere Komitee in der Rue des Rosiers? Und wenn, – welche geheimen Intriguen hatten sein und seiner Gefährten bedrohtes Leben von Gefängnis zu Gefängnis getrieben? Welch kalte Vernunft hatte diese Schattenmenschen, deren verborgene Gegenwart man trotz der unbeschreiblichen Verwirrung überall empfand, unsichtbar gemacht? Sie waren da, sie besaßen so bedeutende Macht und versteckten sich? Sie hatten den Dingen ihren Lauf gelassen, glücklich vielleicht über die blutige Kluft, die plötzlich, unüberbrückbar sich auftat? Mochten sie noch so ostentativ sich ihre Hände in Unschuld waschen, dieses schuldlose Blut schrie gegen sie zum Himmel, befleckte und verdammte sie – wenn nicht ihren zweifelhaften Anteil an den Greueltaten, so doch ihre verbrecherische Untätigkeit.

Zitternd vor mit Mühe verhaltener Verachtung ertrug Du Breuil das kurze Verhör, das ein föderierter Bataillonchef mit ihm anstellte. Endlich in Freiheit gesetzt, benützte er die eingebrochene Nacht, um mit Hilfe des Nationalgardisten, der ihn schon früher beschützt hatte, sich durch die lärmende Straße fortzuschleichen. All die furchtbare Erregung machte tiefster Erschöpfung Platz, seine Nerven bebten von dem Lärm der Detonationen, und unablässig sah er die Gesichter der beiden Opfer vor sich, den edlen Kopf des harmlosen Clement Thomas, die martialischen Züge Lecomtes, dieses Chefs, den er nicht kannte und den als Chef niedermetzeln zu sehen sein tiefeingewurzeltes Gefühl für Disziplin verwundete. In dieses Gefühl mischte sich ein rein menschliches Mitleid, das um so größer ward, als er wieder die freie Luft, den Atem des Lebens einsog. Bei Notre-Dame de Lorette flüsterte sein Führer ihm zu: »Ich glaube, Sie können jetzt gehen.« Im Banne der gleichen Erinnerung gefangen, hatten sie bis dahin kein Wort gewechselt. Zögernd reichten sie sich die Hände; sie sollten sich nie wiedersehen.

Wie groß war sein Staunen, als er in der Rue Lafayette eine ganz andere Stadt betrat. Die geöffneten Läden, die erleuchteten Schaufenster, die mit Gästen gefüllten Kaffeehäuser, die sorglose Miene der Spaziergänger, all das verlieh den Straßen das Aussehen eines ganz gewöhnlichen Abends. Er horchte auf die Reden der Vorübergehenden. Kein Zweifel, man wußte noch nichts. Man sprach weniger vom Montmartre als von Charles Hugos Begräbnis. Ein Aufstand! Wie viele hatte man schon erlebt! ...

Als er die Tür zu seiner dunklen Wohnung öffnete, überkam ihn ein Gefühl tiefster Trostlosigkeit; er hätte weinen mögen vor Verzweiflung. Das zitternde Licht einer von der Hausmeisterin geliehenen Kerze warf phantastische Lichter über die Wände, die Möbel, über alle diese Gegenstände, in denen unter der Schicht angesammelten Staubes sein früheres Leben gleichsam eingesargt lag. Er entledigte sich seiner beschmutzten, zerfetzten Kleider. Der silberne Spiegel auf dem Toilettetische weckte ihm die Erinnerung an längstvergessene Frauengesichter, an Frau von Guionies reines Profil. Die Vergangenheit ... Aus der tiefsten Tiefe seines verwundeten Heizens sehnte er sich nach Anina.

Er ahnte nicht – wie hätte er sonst darunter gelitten! – daß wenige Augenblicke vorher in dem Zuge, der den General Chanzy zurückführte, Bersheim und seine Tochter in Gesellschaft d'Avols, der von Bordeaux an mit ihnen reiste, sich der schmachvollen Visitation durch berauschte Nationalgardisten, die ihnen mit Laternen ins Gesicht leuchteten, unterziehen mußten. Glücklicher als Chanzy, der als verdächtig verhaftet worden, konnten sie, wenn auch mit Furcht und Bangen, durch Paris gelangen; ahnungslos passierten sie auf dem Wege nach Saint-Lazare, von wo aus sie am späten Abend Saint-Germain erreichen sollten, das Haus, in dem Du Breuil wohnte.

Nachdem er Toilette gemacht und sich ein wenig erholt hatte, begab er sich geradenwegs ins Ministerium. Zu seiner größten Bestürzung erfuhr er von dem Türhüter, daß General Le Flô abgereist und niemand mehr anwesend sei. Verödet der ungeheure Bienenstock, leer die vertrauten Korridore ... Er gedachte der ersten Julitage, des atemlos hastenden Lebens, das in diesen Räumen geherrscht, der krampfhaft tollen Arbeit inmitten des beständigen Kommens und Gehens, der die Fauteuils bedeckenden Aktenstöße. Damals war ihm gewesen, als schlüge hier das Herz des ganzen Landes ... Und nun fand er hier nichts als die Öde, das Schweigen der Wüste ... Das Ministerium verlassen, die Regierung in Versailles? War es möglich?

Er stand wieder auf der Straße, blickte ins nächtliche Dunkel, die friedliche Umgebung ... Ah! ja, die Orgie auf dem Montmartre! ... Doch dieses große Paris, so voll heiß pulsierenden Lebens auf den Boulevards, hier so still? ... Er glaubte immer noch zu träumen.

In seinem in tiefstem Schlummer ruhenden Häuschen suchte Poncet, von Müdigkeit und Aufregung überwältigt, vergeblich den Schlaf, der sein Auge floh. Der gleichmäßige Atem seiner Frau, die nach langen Stunden bangen Wartens endlich eingeschlafen war, verursachte ihm ein Gefühl bitteren Neides. Wie regungslos alles in der Ferne war! Diese stille Heiterkeit der Natur, diese momentane Windstille im Sturm der Ereignisse erfüllten sein erregtes Gemüt mit Bitterkeit. Es schlug halb vier Uhr. Vierzig Minuten erst waren seit seiner Heimkehr verstrichen, und ihn dünkte, es wären Wochen, seit er das Haus verlassen. Er erhob sich und trat ans Fenster. Er erinnerte sich der Stille des gestrigen Abends! ... Sie war nicht tiefer gewesen als heute. Ruhig breitete im nächtlichen Dunkel Paris seine mächtigen Häusermassen, über denen ein fahler Lichtschein lagerte. Der regenschwere Himmel hatte sich aufgeheitert, die mit Schnee beladenen Wolken hatten sich zerstreut. Durstig sog er den Hauch des Frühlings ein. Ein Hahnenschrei gellte durch die Luft. Zwischen diesen beiden Nächten voll heiteren Friedens lag ein Tag, grauenerfüllt von dem furchtbarsten der Kriege, der Abgrund einer Revolution ...

Wieder überkam ihn die Empörung, die am Morgen ihn erfaßt hatte. Die Wahnsinnigen! Tausendmal wahnsinniger noch, als er je geglaubt ... Wieder fühlte er den Taumel, unter dessen Einfluß er gehandelt. Unerbittlich stürmten tausend Empfindungen auf ihn ein. Ahnungslos, Lecomte in Sicherheit wähnend, eilte er zur Mairie nächst der Börse, wo die Mehrzahl der Bürgermeister und ihrer Adjunkte, ohne Nachrichten von der Regierung, ratlos unter dem Eindruck des Schlages, der mit Paris sie alle traf, der weiteren Ereignisse harrt. Er befand sich unter der Delegation, die sich zu d'Aurelles begeben hatte, hörte den General mit seiner barschen Stimme sagen: »Die Advokaten haben es gewollt!« Andere kamen ebenso erfolglos von Picard, den sie allein im Ministerium des Innern getroffen hatten: er könne ohne seine Kollegen nichts beschließen. Man vertagt die Zusammenkunft auf den Abend, in der Mairie des Louvre. Er durchstreift die Straßen, sie haben ein ganz alltägliches Aussehen. Die Musik an der Spitze, defilieren friedlich die Bataillone. Er begegnet Jacquenne, erfährt von ihm Thiers Flucht, die grenzenlose Überraschung der Herren vom Zentral-Komitee: Paris, die Macht fiel in ihre Hände, sie mit der furchtbaren Wucht dieser unvorhergesehenen Verantwortlichkeit zu Boden drückend ... Mit Mühe nur beginnen sie, sich darein zu finden, mit ein wenig Einheitlichkeit zu handeln! Und in zusammenhanglosen Worten teilt Jacquenne ihm die unglaublichen Nachrichten mit: »Überall übergeben die Truppen ihre Waffen. Die Kasernen Prince-Eugène und Faubourg du Temple sind schon in unserem Besitz; fünftausend Soldaten sind zu uns übergegangen.«

Sein von grauem Bart umstarrter Wolfskiefer verzog sich zum Lachen.

»Und begreifen Sie diese Narren, die das Feld räumen? Man kann gar nicht zuvorkommender sein. Wollen Sie gefälligst eintreten! ... Ich komme aus der Nationaldruckerei. Konfisziert! Lullier sammelt jetzt eben die Bataillone; Brunel, Pindy und Ranvier ziehen gegen das Rathaus.«

Die Nacht ist hereingebrochen, man befindet sich in der Mairie des Louvre, es gilt, um jeden Preis eine Verständigung herbeizuführen, ein Mittel zur Versöhnung zu finden. Die Minister müssen unverzügliche Gemeinderatswahlen bewilligen, müssen aus der Reihe der Republikaner Langlois zum General der Nationalgarde, Edmond Adam zum Polizeipräfekten, Dorian zum Bürgermeister von Paris, Billot zum Höchstkommandierenden ernennen. Mehrere Mitglieder begeben sich zu Favre, um ihm diese Vorschläge zu unterbreiten ... Beim Verlassen des Hauses jedoch trifft ihn die entsetzliche Nachricht von der Ermordung der beiden Generäle ... und von der Verhaftung Chanzys, des Helden der Loire. Aus der Tiefe seiner Seele wünschte er, daß ein neues Unglück abgewendet werden möge. Er hatte ehemals Clement Thomas gekannt. Unsagbarer Abscheu erfaßte ihn angesichts dieses blödsinnigen Mordes. Armer Mann! ... Und noch viel ärmere Menschheit! ... Und Lecomte, dieser Unglückliche! Er hatte einen zu hohen Preis bezahlt. Diejenigen, die vor allem die Verantwortung traf, waren der Höchstkommandierende, der den Befehl gegeben, kalten Blutes auf ein harmloses Volk zu schießen und jeden Widerstand mit den Waffen niederzuschlagen, und Thiers, der den Angriff befohlen, der so geschickt den Aufstand zu provozieren und dann vor ihm zu fliehen gewußt! ...

Ein schmerzliches Vorgefühl zeigte ihm den blutigen Abgrund, der fortan Paris von der Nationalversammlung trennte. Wie hatte man es nur wagen können, an der ganzen unschuldigen Stadt ein solches Verbrechen zu verüben! Indem er das Schlimmste befürchtete, hoffte er nur um so inbrünstiger, die Zwietracht beseitigt zu sehen, bevor es zu spät war ... Favre jedoch empfing sie sehr herablassend: »Keine Konzession möglich. Man könne mit den Mördern nicht unterhandeln.« Ah! die Wahnsinnigen! Im Ministerium des Äußeren hatten sie gleichzeitig mit dem Minister von dem herbeieilenden Charles Ferry erfahren, daß das Rathaus, sowie die Kasernen auf Befehl verlassen worden seien. Vergebens hatte Jules Ferry Widerstand geleistet. Man hatte Soldaten und konnte so die Archive, die Kassen, das altertümliche Gebäude, das gleichsam der Mittelpunkt, das Symbol von Paris war, im Stiche lassen! Endlich hatte Favre sich bereit erklärt, das Verlangen der Bürgermeister nach Versailles zu überbringen.

Während in der Rue Abbatucci die Minister, nachdem sie ihre Ministerien auf Nimmerwiederkehr verlassen, bei einem Generalsekretär sich versammelten, wird in der Mairie des Louvre die unterbrochene Diskussion wieder aufgenommen; Jules Ferry, der als letzter das Rathaus verlassen hat, ist anwesend; er wütet. Brunels Patrouillen umzingeln die Mairie, um ihn gefangen zu nehmen. Ferry entkommt durch ein nach rückwärts gelegenes Fenster. Paris ist sich selbst überlassen. Duval setzt sich in der Polizeipräfektur fest. Arnold, Varlin, Bergeret sind seit langem ohne Spur eines Widerstandes im Besitz des Vendômeplatzes und halten die erste Militärdivision, den Generalstab der Nationalgarde, in ihrer Gewalt. Dieser hat sich längst zurückgezogen, den gemäßigten Bataillonen den Befehl zurücklassend, sich einzeln und ohne Lärm zu zerstreuen. Neun Bürgermeisterämter befinden sich in den Händen der Föderierten. Im Rathaus sammelt sich nach und nach das aus den so leicht eroberten Quartieren eingetroffene Zentral-Komitee. In der den Siegern weniger nahegelenen Mairie de la Bourse wird eine neuerliche Versammlung in Permanenz erklärt. Man hat keine Zeit zum Denken. Um halb ein Uhr nachts erfährt man, daß Thiers, telegraphisch um Rat befragt, in Langlois' Ernennung willigt, daß Picard einen Gesetzentwurf für die Gemeinderatswahlen verfaßt und ihn am zwanzigsten der Nationalversammlung vorlegen will. Ein Hoffnungsstrahl. Man läßt Lanlois holen. Er soll sich sofort ins Rathaus begeben, um sich dort beglaubigen zu lassen. Unter anderen begleitet ihn auch Poncet.

Sämtliche Fenster des alten Palastes sind erleuchtet, überall herrscht Unruhe und Verwirrung. Der Hof Louis XIV. ist mit tieferschöpften Schläfern angefüllt und in das Lager eines müden, an Speise und Trank sich gütlich tuenden Volkes verwandelt. Im Salon Trochus tagt das Zentral-Komitee. Schon hat der dort herrschende Ton sich verschärft. Man will von einem von Versailles ernannten General nichts wissen. Langlois solle sich der Wahl unterwerfen. Er weigert sich. Die letzte Brücke ist abgebrochen ... Der Streich prallt auf Thier's Wange zurück. Nachgeben kommt zu spät, ist nutzlos jetzt, da das Unheil besiegelt ist, das gestern noch hätte abgewendet werden können.

Dann kam die Heimkehr nach Montmartre durch die stiller werdenden Straßen, durch das in alter Gleichgültigkeit ruhende Paris. Zur selben Stunde, da durch die weitgeöffneten Südtore die letzten Regimenter still von dannen ziehen, Artillerie und Bagage mit sich führend. Schon haben Vinoy, Le Flô, Jules Simon, Pothuau, Dufaure inmitten ihrer Truppen die Stadt verlassen. In langen Reihen schleppen die Soldaten sich weiter. Sie blicken zurück und überschütten die Gendarmen, die sie aufzuhalten suchen, mit Schmähungen. Favre und Picard, die sich nicht entschließen können, ihren Posten zu verlassen, erhalten von Thiers die dringende und gemessene Ordre, ihm nachzufolgen; sie werden den ersten Frühzug benutzen und lassen eine letzte Proklamation zurück, in der alle Schuld an den Fehlern und Vergehen auf Paris, die Verantwortung für den Mord auf das Zentral-Komitee geschoben wird. Die Beamten der Ministerien erhalten Befehl, ihre Ämter zu verlassen und unter Preisgabe der Staatspapiere, der Kassen, der viele Millionen bewahrenden Bank sich zur Nationalversammlung zu begeben. Die Hast, mit welcher der Befehl ausgeführt wird, ist so groß, daß man im Luxembourg ein Regiment, auf den freien Geleisen die verpanzerten Waggons, sowie siebzehn Kanonenboote vergißt, die nur der Wasserstraße zu folgen haben.

Poncet vermochte den Blick von dieser schlummernden Riesenstadt, von dem klaren Himmel, an dem leise, unmerklich der Tag zu dämmern begann, nicht abzuwenden. Diese vertrauende Stille der Menschen und Dinge, erschien ihm furchtbar. Voll Bangen gedachte er der verlassenen Stadt mit allem, was sie enthielt an Bewundernswertem und Kostbarem, an Niedrigem und Gemeinem, dieses Volkes von Paris mit dem tollen Kopf und dem guten Herzen, das so schmerzlich litt, so in allen Fugen zerrüttet war, dieses Kranken, dessen Leiden so grundlos verschlimmert und der wie ein Aussätziger geflohen ward gerade von denen, deren Aufgabe es gewesen, ihn zu heilen und die ihn längst, die ihn zwanzigmal schon geheilt hätten, wenn sie es gewollt. Er dachte an all die Katastrophen, die er seit Monaten sich häufen gesehen: den Zusammensturz einer Dynastie, Sedan, Metz, Frankreich offen, blutend im Norden, im Zentrum, im Osten, Niederlagen auf Niederlagen, den namenlosen Frieden, der das Vaterland zerriß, die Anwesenheit der Deutschen in dem Lande, das sie zermalmten, schändeten... War etwas Entsetzlicheres noch auszudenken?

Und angesichts dieser Armee, die sich schweigend zurückzog, angesichts dieser Nationalversammlung, die sich gleich einer furchtbaren Geisel in Versailles niederließ, angesichts dieses finster drohenden Horizontes, der über Paris sich zusammenzog, flüsterte eine geheime Stimme in kaltem Erschauern ihm zu: Ja.


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