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IV.

Von zwei edlen Füchsen gezogen, rollte der Landauer der Grandprés schnell die Straße dahin, die vom Rundel von Rocquencourt zum Parktor hinabführt. Es war ein köstlicher Frühlingsnachmittag, die Ebene prangte in jungem Grün, und von dem in wolkenloser Bläue lachenden Himmel sandte die Sonne ihre goldenen Strahlen über die Gipfel der frischbelaubten Bäume, die dort hinter den alten königlichen Mauern herüberwinkten.

»Wie alles keimt!« sagte Anina.

Sie saß mit ihrem Vater im Fond des Wagens. Du Breuil, in Galauniform, ihr gegenüber, suchte durch den schwarzen Kreppschleier hindurch ihre geröteten Augen. Herr von Grandpré, Bersheim gegenüber und wie dieser in schwarzem Anzug, wandte sich dem Park zu und erwiderte mit freundlichem Lächeln, das diesem Gemeinplatz einen Schimmer von Melancholie verlieh:

»Die Natur kümmert sich wenig um unsere Schmerzen. Das Leben spinnt sich fort und achtet nicht des Todes ...«

Sie kehrten von Saint-Germain zurück, wo sie Frau d'Avols Begräbnis beigewohnt hatten. Sie war zwei Tage vorher der Lungenentzündung erlegen. Bis zu ihrem letzten Atemzug hatte ihr Sohn mit unermüdlicher Sorge und leidenschaftlicher Hingebung um ihr Leben gekämpft, immer noch hoffend, sie dem allzu frühen Tode entreißen zu können. Er hatte bei der Kranken nur die Ärzte und die Wärterin geduldet, nicht mehr gegessen, kaum mehr geschlafen und diese teuere Pflicht – denn er betete seine Mutter an – mit jener zähen Energie und unbeugsamen Willenskraft erfüllt, die den Stempel seines Charakters bildeten.

Und jeder hing seinen eigenen traurigen Gefühlen nach. In Anina hatte das Mitgefühl für ihren Cousin den schlummernden Schmerz, die tiefe Trauer um den verlorenen Bruder wieder geweckt. Dieser brave, lebensfrohe Junge, den sie vielleicht noch mehr geliebt hatte als den jüngeren, Maurice, und der im Vollgefühle seiner Kraft ausgezogen war – sie sah ihn noch vor sich in seinem Küraß und dem roten Mantel – ruhte nun in unbekanntem Grabe mit anderen Toten, unter irgend einem Felde der gleichfalls verlorenen Elsässer Erde! ... Das Bild von Metz erstand vor ihr, das Haus, in dem nun Mutter und Großmutter einsam inmitten des lastenden Schweigens der deutschen Okkupation der Abwesenden harrten ... Sie fühlte sich allein und suchte den Blick ihres Verlobten. Doch Pierre sah gedankenvertieft auf das vorüberfliehende Gras am Rande der Gräben ... Sie erriet, welch peinvolle Gedanken ihn verfolgten ... D'Avol, Metz, das Drama ihrer gebrochenen Freundschaft ... Sie wußte nun alles, auch in welchem Grade eine Eifersucht, deren unschuldige Ursache sie selbst war, diesen Bruch verschärft, vergiftet hatte ... Wie fern das alles lag! Heute hatten Pierre und Jacques sich die Hände gereicht ... Warum sollten sie nicht wieder Freunde sein? Die Zeit geht über alles hinweg ...

Du Breuil sah immer noch vor sich die stumme, fast tränenlose Verzweiflung, mit der d'Avol sie an der Schwelle des Trauerhauses empfangen hatte. Wie verändert er war! War das denn wirklich der sorglose, jugendlich feurige Gefährte der Zeit vor dem Kriege, dieser Mann mit den ergrauenden Haaren, dem eingefallenen, durchwühlten Gesicht und den von tiefstem Schmerze brennenden Augen ...

Als Du Breuil die Nachricht von der Katastrophe erhalten, hatte er bei dem Gedanken an das, was d'Avol leiden mochte, tausend kleine, versiegt geglaubte Quellen wieder in sich öffnen gefühlt. Empfindungen, die seit den ersten Tagen seiner Gefangenschaft, in den langen Stunden der Einsamkeit in Mainz ihn gequält und seit seiner Ankunft in Versailles und seinem Wiedersehen mit Anina ihn in noch verstärktem Maße beschäftigt hatten, ohne daß er sich dessen klar bewußt gewesen, sie waren ihm nun klar geworden. Immer lichter wurde es in seiner Seele, und nicht ohne Bangen erkannte er und gestand sich ein, daß die Schuld an ihrer gegenseitigen Entfremdung und das Unrecht auf beiden Seiten war ... Waren sie – d'Avol und er – sich früh genug ihrer Liebe zu Anina bewußt geworden? War es nicht Mangel an Vertrauen gewesen, was sie davon abhielt, einander die wahre Natur ihres Gefühls zu gestehen? Vielleicht, daß eine offene Aussprache, nach welcher das Opfer des einen oder des anderen noch möglich gewesen wäre, den ihre alte Freundschaft vernichtenden Zusammenstoß noch hätte verhüten können.

Und was den zweiten Konflikt betraf – ein Vorwand, mit dem sie ihre so schnell in Haß verwandelte Feindschaft zu decken gesucht, und hinter dem sich in Wahrheit nur die Eifersucht ihrer Liebe verbarg, – warum nicht aufrichtig sein? In diesem grausamen Kampfe ihrer gegen ein erhabenes menschliches Problem sich aufbäumenden Seelen, in diesem Zwiespalt ihres zwischen zwei Pflichten schwankenden Gewissens war es nicht er, Du Breuil, gewesen, der recht gehabt hatte. Nein, denn da er in seiner Stellung als Generalstabsoffizier unabhängig und nicht, wie sein Cousin Bedel, an das Schicksal der Truppe gebunden war, hätte er gegen die Unterschrift des schuldigen Führers, gegen die Kapitulation des Marschalls von Frankreich, der seine Armee wie eine Herde Vieh auslieferte, protestieren müssen! Er hätte, bevor noch ein Ehrenwort ihn binden konnte, erhobenen Hauptes wie d'Avol sich durch die feindlichen Linien Bahn brechen oder wie Decherac, Barrus und so viele andere verkleidet entfliehen müssen, um mit seinem vielleicht unwesentlichen, aber doch nicht nutzlosen Beistand die Kadres der Verteidigungsarmee zu stützen ...

Ja, ehrlich gestand er es ein, wie er so oft in seiner Gefangenschaft es sich eingestanden, er hatte geirrt, und so schwer es heute auch seiner Eigenliebe wurde, es gewährte ihm doch fast eine Erleichterung, daß er endlich klar sah, – zu spät freilich ... Selbst d'Avols Avancement, der neue Rang, der mehr als einmal gegen seine bessere Einsicht – man ist doch nur ein Mensch! – seinen Neid erregt hatte, diese Oberstleutnantborten, die in den Gefechten von Beaune-la-Roland, Villersexel und der Cluze die Feuertaufe empfangen, – selbst zu diesem Neid fühlte er sich nicht mehr berechtigt. Die Auszeichnung war ja doch eine wohlverdiente. Aus den Briefen seines Vaters hatte er von der heldenhaften Weigerung, sich nach der Schweiz hinüberzuretten, von dem Entweichen der beiden Männer durch die Schneefelder des Ostens und von dem Beistand, den der Jüngere dem leidenden Greise geleistet, erfahren.

Dies hatte ihn mit einer Dankbarkeit erfüllt, die, bisher peinlich, nun süß und mit tiefem Mitgefühl für den jetzt so Vereinsamten gemischt war. Ihr Zwist erschien ihm nun, da die Ursache verschwunden, von geringerer Bedeutung. Wahrhaftig, was galt die Verschiedenheit ihrer Charaktere, der Gegensatz ihrer Meinungen in dieser Katastrophe, die über Armee, Regierung und das ganze Land hereingebrochen war? ...

Weshalb hätte er, von der Vergangenheit befreit, ihm noch grollen sollen? Liebend und geliebt, mit dem Ausblick auf eine Zukunft des Glückes, wurde ihm die Großmut leicht. Mit tiefer Wehmut hatte er in all den schrecklichen Monaten den Zauber der ehemaligen männlichen Freundschaft, die Erinnerung an die alte Waffenbrüderschaft in sich nachklingen gefühlt. Hätte er seiner ersten Regung folgen dürfen, er wäre sofort zu dem einsam am Sterbelager Trauernden geeilt ... Die Furcht, mißverstanden und unfreundlich empfangen zu werden, nicht minder eine zarte Scheu, sich dem Schmerze, der ehedem der seine gewesen wäre, aufzudrängen, hatte ihn zurückgehalten.

Selbst als ein eiliges Billet von d'Avol an Bersheim Mitteilung von dem Unglück, dem Datum und der Stunde des Begräbnisses gemacht, hatte er geschwankt, der Geliebten seine Zweifel und Skrupel gestanden und erst auf deren liebevollen Rat sich entschlossen. Errötend hatte sie mit ihrem schlichten Freimut ihm anvertraut, daß d'Avol seit der Rückkehr von Bordeaux um ihre Zukunftshoffnungen wußte, daß er ihr Geständnis mit einer Zurückhaltung aufgenommen hatte, in deren Melancholie sich kein Haß gegen Pierre, nur das schwermütige Gedenken der Vergangenheit mischte.

Was Du Breuil da erfahren, hatte seine Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit Jacques noch gesteigert, und mit tiefer Bewegung hatte er diesen Morgen dem alten Freunde die Hand entgegengestreckt. D'Avols gramgebeugte Haltung weckte augenblicklich in ihm die totgeglaubte Sympathie, die alte Herzlichkeit der Gefühle. D'Avol war erbebt und hatte dann, ihm fest ins Auge blickend, die dargereichte Hand mit krampfhaftem Druck gefaßt, während ein qualvolles Lächeln über seine Lippen glitt. Nichts war zwischen ihnen gesprochen worden, und beim Abschied hatten ihre Hände sich noch einmal in längerem Drucke gefunden, und d'Avol hatte mit gebrochener Stimme einige Worte des Dankes gemurmelt.

So unvollständig und kurz diese Annäherung auch gewesen, Du Breuil gedachte ihrer doch mit Freuden. Und ohne zu wissen, wie fortan ihre Beziehungen sich gestalten würden, empfand er es wie eine Erlösung, an nichts anderes mehr denken zu müssen als an die arbeitsreiche Gegenwart, an die Sorgen für die Zukunft und vor allem an Aninas Liebe, die ihm reichen Trost für alles andere gewährte. Seit wenigen Tagen dem Kriegsministerium zugeteilt, verflogen ihm die Tage in fieberhafter Tätigkeit, die ihn doch über das furchtbare Ziel: den vielleicht morgen schon zum Ausbruch gelangenden Bürgerkrieg, nicht zu täuschen vermochte.

Bersheim und Grandpré sprachen halblaut in jenem gemessenen Tone, in dem die Feierlichkeit der Trauerfeier noch nachbebte. Der Metzer war verdüstert durch all die Ereignisse, die vor seinen Augen sich abspielten. Er sprach von den letzten in fruchtloser Wut und sterilen Diskussionen zersplitterten Sitzungen der Nationalversammlung:

»Das geht über meine Kräfte, das übersteigt meine Begriffe, eins Sitzung wie die vorgestrige, in der man die Zeit damit verbrachte, über die von Gambetta aufgelösten Generalräte zu perorieren – während die Kommune ihre erste Beratung abhält! ... Eine Sitzung wie die von neulich, über die Unauflösbarkeit der von Cremieux aufgehobenen Behörden, während die Bürgermeister die Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt erfüllten und bestrebt waren, den Bürgerkrieg zu verhindern! ... Statt zu versuchen, Paris zurückzubringen, indem man auf der Stelle das Gesetz der munizipalen Wahlen und jenes andere, in so humaner Weise von Millière geforderte, die Mietzinse betreffenden, votierte! ... Vielleicht werden Sie mich der Parteilichkeit zeihen, aber ich denke wie Floquet: ›Diese Männer sind Wahnsinnige!‹... Sie erinnern sich doch an La Rochethulon, der ehrenwerten Männern, deren ganzes Verbrechen darin bestand, eine Aussöhnung herbeizuwünschen, wie Louis Blanc, Schoelcher, Floquet, befahl, ihre ›Kollegen vom Rathaus‹ zu benachrichtigen, daß er sich im Zustande berechtigter Notwehr befand, als er die von den Mauern seines Pariser Hotels abgelösten Papierstreifen:›Zum Niederschießen geeignet!‹ schwenkte.«

Grandpré zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe.

»Vergessen Sie nicht Vaillants denselben Tag im Officiel dieser Herren erschienenen Artikel ... Sie machen Fortschritte, die Tyrannenmörder. ›Die Gesellschaft hat gegen die Fürsten nur eine Pflicht: den Tod ...‹ Diese armen Fürsten!« schloß er sinnend.

»Aber, bester Freund, wenn die Nationalversammlung sich heute solche Absurditäten sagen lassen muß und sich dieser maßlosen Kommune gegenüber befindet, wessen Schuld ist es? Wissen Sie, wer sie gemacht hat oder machen ließ – denn für Regierende ist das ein und dasselbe! – das ist Trochu, Favre und vor allem Ihr Herr Thiers! ... Wenn sich im sozialen Körper ein solches Geschwür bildet, schieben Sie die Schuld auf die Fahrlässigkeit der Ärzte, die es nicht zu verhindern gewußt haben ...«

»Nun dann,« versetzte kalten Tones Herr von Grandpré, »man wird das Geschwür öffnen, damit ist die Sache abgetan.«

Bersheim errötete und wehrte hastig ab:

»Von einem solchen Rettungsmittel sprach ich nicht, das verhüte Gott! Nur zuviel französisches Blut ist schon geflossen ...«

Der wackere Mann gedachte seines Ganges über das grausige Schlachtfeld von Borny, der kleinen Laterne, mit der er über die Haufen der Leichen geleuchtet hatte ... Er suchte in den Gliedern eine Spur von Bewegung, in den Gesichtern einen Hauch von Leben ... Er folgte mit Du Breuil dem mit Verwundeten beladenen, bluttriefenden Wagen. Und der Gedanke an all diese Leichen, denen die Räder nicht auszuweichen vermochten, an diese furchtbare Ernte unter dem Sternenhimmel im Todesschlafe ruhender Menschen, an all die anderen mit Toten besäeten Schlachtfelder Frankreichs erfüllte ihn mit einer Empörung, die er nicht ganz zu verbergen vermochte:

»Und das genügt euch nicht! Ihr habt die Departements zu den Waffen gerufen, Frankreich gegen Paris gehetzt ... Ihr verlangt Freiwillige, um die von euch begangenen Fehler gutzumachen ... Im Blute gutzumachen! ... Wo eine rein republikanische Politik und ein wenig Erbarmen mit den armen Leuten genügt hätte ...«

»Gewiß, die armen Leute!« ... suchte Grandpré auszuweichen ... »Warum aber haben sie sich nicht zuerst des Interesses würdig bewiesen, das ich für meinen Teil den unteren Klassen niemals verweigert habe ... Die Ermordung der Generäle! ... Das Übel verhindern, das ist leicht gesagt ... Als ob irgend etwas imstande wäre, dieses Fieber von Haß und Neid zu heilen, das sie alle verzehrt! Was sie wollen, ist nichts anderes, als sich an Ihren, an meinen Platz zu setzen, gut zu essen, gut zu trinken und die Privilegien zu genießen, deren sie weder durch Bildung, noch durch Intelligenz, noch auch durch den simpelsten gesunden Menschenverstand würdig sind ...«

Er warf einen Blick liebenswürdiger Überlegenheit auf Bersheim, der schwieg, weil er zuviel zu sagen gehabt hätte... Er hatte Arbeiter gehabt, er kannte sie... Nein, so war das Volk nicht! Es standen zuviel berechtigte Bestrebungen und Wünsche zuviel unqualifizierbarem Egoismus gegenüber...

Grandpré fuhr fort:

»Die Soziologie beweist uns, daß in chronischen Intervallen ähnliche Krisen unvermeidlich sind ... und die Geschichte bestätigt uns, daß, wenn man nicht strenge Ordnung schafft, dieses von den Generationen so geduldig errichtete Gebäude, in dem gerechterweise, je nach ihren Verdiensten, die einen oben, die anderen unten stehen müssen, in Gefahr ist, zusammenzustürzen... Wir, die wir berufen sind, gerecht zu richten, deren Blick die Ereignisse übersieht, wir haben die Verpflichtung, dieses Werk der Zeit, dieses Vermächtnis unserer Vorfahren aufrecht zu erhalten ... Wer hat die große Revolution herbeigeführt, wenn nicht die Schwäche Ludwigs XVI.? ... Und gestehen Sie, daß es keinen liberaler denkenden Mann gibt, als ich es bin!« ...

Als solcher ergab er sich, mit Bedauern sicherlich, doch als in eine Notwendigkeit, in alle Konsequenzen der Situation.

»Übrigens, glauben Sie denn, daß die Republik, die Paris vielleicht beruhigt hätte, imstande wäre, Frankreich zufrieden zu stellen? Gestatten Sie mir, dies zu bezweifeln. Der geringe Erfolg, welchen die Partei der Kommune, in der Provinz findet, zeigt uns zur Genüge, was der Wunsch des Landes ist ... Das Land! Bei Gott, es verlangt nichts Besseres, als in Frieden seinen Geschäften nachgehen zu können ... Und, gestehen Sie es nur, die Republik hat ihm seit 1793 keinerlei Garantien geboten...«

Er nahm eine diskrete Miene an. Bersheim dachte: vielleicht kommt es daher, weil die Bourbons, die Orléans und die Bonaparte ihr nicht genug Zeit gelassen haben. Doch schon fuhr Grandpré fort:

»Selbst Toulouse, die Hauptstadt der Insurrektion im Languedoc, hat um Gnade gefleht! Und morgen wird Marseille ...«

Die Ereignisse des 18. März hatten in den großen Provinzstädten dröhnende Gegenschläge erzeugt. In Lyon versammelten sich am 24. mehrere hundert Offiziere der Nationalgarde, proklamierten die Kommune und sich selbst zu deren Anhängern und konstituierten eine Gemeindekommission. Den Bemühungen des Bürgermeisters und des Präfekten, sowie der Energie des Generals Crouzat gelang es sogleich, wieder Ordnung und Ruhe in die Nationalgarde zu bringen. Fast ebenso schnell, wie sie entstanden, erlosch die Kommune von Lyon.

In Saint-Etienne erheben sich die längst in die Internationale aufgenommenen sozialistischen Arbeiter gegen den Gemeinderat und den Bürgermeister – sämtlich zögernde Republikaner, – erstürmen am fünfundzwanzigsten das Rathaus und nehmen in der anstoßenden Präfektur den neuen Präfekten, de l'Espée, gefangen. Letzterer weigert sich, den Drohungen trotzend, ebensowohl, sich dem Pariser Aufstand anzuschließen, als abzudanken; von einem Halbnarren, einem ehemaligen Proskribierten namens Fillon, im Saale bewacht, sieht er um sich her die tobende Menge wachsen. Fillon verliert den Kopf, entlädt seinen Revolver, eine oder zwei Personen sinken getroffen zu Boden. Die Gewehre der Menge senken sich, geben Feuer. Gleichzeitig mit Fillon fällt de l'Espée. Das aufständische Komitee bleibt Sieger, doch inmitten des Entsetzens über diese Bluttat isoliert und mit allgemeiner Mißbilligung bedeckt, flüchtet es beim Eintreffen der ersten Truppen aus dem Rathaus. Der ganze Aufstand legte die Waffen nieder.

In Creusot fiel die am zweiten auf dem Rathause gehißte rote Flagge schon den nächsten Tag, beim ersten Ansturm der Soldaten, unter allgemeiner Gleichgültigkeit. – In dem mit dem Präfekten Duportal ganz für die Republik gewonnenen Toulouse hatte die Nationalgarde sich des Kapitols bemächtigt und delegierte eine exekutive Kommission. Der kommandierende General, der sich ins Arsenal zurückgezogen hatte, leistete tapferen Widerstand; endlich, am siebenundzwanzigsten, trifft der neue Präfekt, de Keratry, mit frischen Truppen ein und nimmt ohne Blutvergießen von der Stadt Besitz. Die exekutive Kommission ergibt sich.

Nur in Narbonne und Marseille hielt die Rebellion sich noch aufrecht. In Narbonne hatte am dreiundzwanzigsten der Republikaner Digeon mit zweihundert Mann das Rathaus besetzt; eine Linienkompagnie erhob mit dem Rufe: »Hoch lebe die Kommune!« die Kolben. Der Unterpräfekt flüchtete sich. Digeon ließ, kurz entschlossen, das Straßenpflaster aufreißen und Barrikaden errichten. – In Marseille war der Widerstand noch heftiger; den siebenundzwanzigsten verlas im Club de l'Eldorado Gaston Crémieux in Anwesenheit der bestürzten Republikaner eine Depesche aus Versailles, welche Rouhers Landung in Calais, sowie Marschall Canroberts an Thiers gerichtetes Anerbieten seiner Dienste meldete. Verrat, das Kaisertum stand vor den Toren! Den nächsten Tag wurde der Präfekt von den auf seinen Befehl zu einer Revue versammelten Nationalgardisten verhaftet und Crémieux an die Spitze der provisorischen Regierung gesetzt. General Espivent trat nach Thiers' Vorbild mit Armee und Beamten den Rückzug an und erreichte Aubagne. Sich selbst überlassen, zur Untätigkeit verurteilt, sah Crémieux sich auch von dem Beistand des Stadtrates verlassen, während die Städte der Umgebung ruhig blieben ... Den siebenundzwanzigsten jedoch treffen drei Delegierte aus Paris ein, darunter Landeck und Amouroux, und löschen das Feuer. Man ernennt einen General, man verhaftet als Geiseln den Prokurator, seinen Substituten und den Sohn des Bürgermeisters unter der Drohung, sie beim ersten Befreiungsversuche niederzuschießen ...

»Die Provinz«, sagte Grandpré, »macht uns weniger Sorge, als der Aufstand der Kabylen. Bis auf eine oder zwei Ausnahmen sind die Departements nicht aus ihrer Ruhe herausgetreten oder doch bereits zur Ordnung zurückgekehrt. Ein Aufzucken ohne Sinn und ohne Kraft ... Paris täuscht sich, wenn es glaubt, daß es Nachahmung gefunden hat... Bald wird es dem allgemeinen Schicksal erliegen. Vergeblich ist sein Prahlen, vergeblich träumt es davon, mit den hunderttausend Bajonetten, mit denen der Père Duchene uns bedroht, hierher zu kommen, um mittelst einer allgemeinen Offensive die Anerkennung seiner Wahlen von uns zu erzwingen ... Wir werden ihnen aber, und ohne zu zögern, eine Lektion erteilen ... Thiers ist von der Solidität und der Zahl unserer wackeren Truppen befriedigt ... Doch das ist nur der Anfang ... Fortan wird jeder Tag unseren Sieg befestigen ... Es geht gut, es geht sehr gut! Die teilweise Beschlagnahme der Vorräte der Märkte kommt uns gerade recht, um all diese Leute zu ernähren und zu kräftigen ... Die aus den Häfen gesandten großen Marinegeschütze werden unsere Schultergewehre und Vorwerke bald bewaffnen ... Das Geld, an dem es in den ersten Tagen mangelte, füllt die Kassen. Das Geld wird in Gemeinschaft mit den Kugeln uns die Tore öffnen!« ...

Seit der Flucht nach Versailles wurde die Regierung, die Präsidentschaft und der Generalstab, das Ministerium des Innern und die Polizeipräfektur von einer Horde von Vaterlandsrettern belagert und mit einer Sintflut von Plänen, Vorschlägen und Angeboten überschwemmt. Überzeugte, Träumer, Intriganten, Selbstlose und Gewinnsüchtige füllten die Bureaus und die Salons; jeder war im Besitze des unfehlbaren Rezeptes, des einzigen Heilsmittels. Manche hatten sich schon abgenutzt, so jener Franzini – ein Neapolitaner, Ex-Sergeant der Ehrenlegion und von der Verteidigungsregierung zum General ernannter Steuereinnehmer, – der am 25. März vor der Estrade seine Reiterkünste hatte spielen lassen. Zuerst unter Garibaldis Namen vom Volke bejubelt und als solcher im Lager auf dem Marsfelde von einem schlauen Stiefelputzer, der seinen Schlaf benutzte, um eine Wand seines Zeltes zu lüften und den Neugierigen ein Eintrittsgeld von fünf Sous per Kopf auszupressen, den Spaziergängern gezeigt, hatte der Italiener sich bald seines Nimbus entkleidet gesehen. Doch für den einen verlorenen Verschwörer fanden sich sogleich zehn andere. Eine Machination jagte die andere, wenn nicht zwei in paralleler Richtung nebeneinander liefen, um sich schließlich gegenseitig zu verschlingen.

Zu den größten dieser Art gehörten diejenigen des Obersten und früheren Marineoffiziers Domalain, der den Feldzug an der Spitze der bretonischen Legion mitgemacht hatte, und des Obersten Charpentier, Kommandanten des 228. Bataillons und getreuen Nationalgardisten. Ersterer rühmte sich, in Paris vier- bis fünftausend Freiwillige zu haben, die bereit wären, mit einem Handstreich, durch Besetzung einiger strategischer Punkte, sich der ganzen Stadt zu bemächtigen. Der andere, im IX. Arrondissement, war beauftragt, die für die Sache der Ordnung gewonnenen Bataillone in einem eventuellen Regiment zu vereinigen. Ein ehemaliger Artillerieoffizier der Nationalgarde von Montmartre, Roy, verpflichtete sich, gemeinsam mit seinem Freunde Frigerio, die Butte wieder zu besetzen und mit den zweitausendfünfhundert Mann, über die sie verfügten, das Tor von Clignancourt den benachrichtigten, gesammelten Truppen zu öffnen. Dann war da noch ein früherer Gerichtsdiener und einfacher Korporal der Nationalgarde, Boudard; als Gläubiger des Obersten Laporte hoffte er den in der Muette installierten Chef der Legion von Passy belehren zu können.

Grandpré strich sich seinen Schnurrbart und schielte auf die aufgezwirbelte Spitze desselben.

»O ja, es gibt noch gute Patrioten! ... Von Minute zu Minute wissen wir, was vorgeht ... Ah, das Geld!« ...

Er wiegte den Kopf wie einer, der dessen Wert zu schätzen weiß.

»Diese gute Bank, die dank der Geschicklichkeit des Herrn von Ploeuc die Herren von Paris so karg bedacht und ihnen erst zwei Millionen siebenhundertundfünfzigtausend Francs gegeben, hat uns durch mit Banknoten ausgefütterte Emissäre bereits fünfzehn Millionen zukommen lassen ... Aber wir brauchen sie auch! Am Tag nach dem Aufstand äußerte sich Thiers zu Rouland: »Wir sind arm wie Kirchenmäuse; umsonst haben wir alle Taschen durchsucht, ich habe nur zehn Millionen gefunden ... Ich brauche jedoch mindestens zweihundert. Verschaffen Sie sie mir.« Und Rouland wird sie verschaffen! Ein Wort an die Sukkursalen, und die Beträge strömen herbei ... Vorige Woche zum Beispiel, welch eine Panik! Sehen Sie, wegen Marseille... Ein mit achtundzwanzig Millionen in Gold beladener Zug konnte auf der Rückkehr von Brest, wohin, wie Sie wissen, die Bank während des Krieges übersiedelt war, infolge der Ereignisse vom 18. März nicht rechtzeitig in die Keller einlaufen und irrte seitdem, Paris umgehend, von einer Richtung in die andere, von der Angst vor der Insurrektion getrieben. Endlich lief er, zuerst aus Lyon, dann Toulouse flüchtend, im Bahnhof von Marseille ein. Pardauz! dort möchte Herr Gaston Crémieux ihn gern kapern ... Und die achtundzwanzig Millionen fahren weiter nach Toulon ... Welch eine Zeit! Wolle Gott, daß wir bald ihr Ende erleben.«

Bersheim ließ den lehrreichen Redestrom über sich ergehen ... Ja, welch eine Zeit, und welch ein Licht, das sie auf Menschen und Dinge warf! Er fühlte sich traurig und allein, trotz der Gegenwart Aninas und Du Breuils, die beide, in Träume versunken, nur für ihr mit tiefer Melancholie umhülltes Glück Sinn und Gedanken hatten.

Der Landauer rollte über das Pflaster, endlose Kavalleriedefilees entlang, durch lange Züge von Munition-, Proviant- und Fouragewagen aufgehalten, die Kreuz und Quer durch enge Gassen, um dem Place d'Armes auszuweichen, der, mit Kanonen bedeckt, in einen großen Park verwandelt war, in dem die unaufhörlich durch die Eisenbahn herbeigebrachten Batterien sich reihten. Man kam am Bahnhof am rechten Ufer vorbei, hinter dessen geschlossenen Gittern es von Infanterie wimmelte.

»Soll ich Sie vor dem Ministerium absetzen, Herr Major?« fragte Grandpré.

An der Ecke der Rue Duplessis und der Rue d'Angivilliers, vor dem Hause, in dem die provisorischen Bureaus untergebracht waren, hielten die Pferde. Du Breuil verabschiedete sich mit einem langen Blick auf Anina.

Unter der tatkräftigen Leitung des zum Unterstaatssekretär im Kriegsministerium ernannten General Letellier-Valazé wurde die Armee neu organisiert. Mit Zustimmung der Deutschen wurde der Effektivstand von vierzigtausend auf achtzigtausend Mann erhöht. Dann wollte man weiter sehen. Diese erfreuliche Nachricht war von Jules Favre aus Rouen gebracht und durch ein den fremden Diplomaten zu Ehren veranstaltetes großes Diner gefeiert. Vor Thiers' Augen öffnete sich mit einem Schlage ein weiter Horizont, von militärischem Ruhm übergoldet. Nun könnte er eine richtige Armee manövrieren lassen Und Eroberungen ausführen, statt wie bisher sie nur zu schreiben. Der Frosch blähte sich zum Ochsen auf.

Die Kriegsgefangenen wurden, da sie auf den von heimkehrenden Deutschen überfüllten Bahnen nicht vorwärts kamen, nach den Häfen von Hannover beordert, von wo sämtliche verfügbaren Schiffe sie abholten. Sie langten in Massen an, von Ducrot in Cherbourg, von Chinehant in Cambrai zentralisiert, in provisorische Regimenter vereinigt, die schlecht und recht weiter expediert wurden und die Regimenter der eiligst einberufenen Provinzarmeen verstärkten.

Kein Tag verging, an dem Du Breuil nicht in den engen, überfüllten Räumen eine Menge ehemalige Kameraden oder Vorgesetzte erscheinen sah, die, aus den preußischen Städten nach Frankreich zurückgekehrt, sofort nach ihrer Ankunft hierher kamen, um ihre Dienste anzubieten. So hatte er mehrere Offiziere vom früheren Großen Generalstab der Rheinarmee wiedergefunden, unter anderen den Obersten Laune, der trockener und eigenwilliger war denn je, den Major Francastel, der von seinem Leichtsinn und seinem lauten Wesen nichts eingebüßt hatte.

Eines Morgens erschien Vedel. Beim Wiedersehen mit seinem Cousin, beim schüchternen Druck seiner Hand hatte Du Breuil aufrichtige Freude empfunden. Der Hauptmann bat, nicht von seinen Leuten getrennt zu werden. Mit ihnen hatte er den harten Feldzug mitgemacht, mit ihnen die noch härtere Gefangenschaft erduldet. Sollte das Regiment gegen Paris geführt werden, wohlan! er war bereit, das Schicksal seiner Kompagnie zu teilen, wenn auch dieser Krieg, nach jenem anderen, ihn nicht begeistern konnte. Doch er fühlte, daß er, fern von ihnen, seinen Leuten fehlen würde, wie auch er die Trennung schwer ertragen könnte. »Das ist doch der beste Trost«, sagte er beim Abschied, »das Bewußtsein, ein wenig Gutes getan zu haben ...« Auch der dicke General Chenot kam, dem der Kragen tief in den roten Nacken einschnitt ... Und viele andere ...

So wuchs der Kern der fünf neuen Infanteriedivisionen, die man in Kadres und im Kontingent hatte neu formieren müssen, und die mit den sechs von Anbeginn neu konstituierten Infanterie- und Kavalleriedivisionen die neue Armee auf einen Effektivstand von elf Divisionen erhöhte. Satory isolierte immer noch die am 18. März schwach gewordenen Truppen. Nach einer Rast in den langen Avenuen der Stadt und längs des Teiches der Suisses begaben sich die Neuangekommenen, wieder gestärkt, nach Porchefontaine und Garches, um dort zwei ausgedehnte Lager zu beziehen. Die langen Reihen der grauen Zelte, das rege Treiben der Rothosen bedeckte die Umgebung, das Plateau von Jardy, das Gehege der Marche. Zwei Brigaden überwachten die Straßen nach Chatillon, Sevres und Saint-Cloud.

Den nächsten Morgen unternahm Du Breuil nach gewohnter Weise einen kurzen Spazierritt, der ihm nach der schlaflos verbrachten Nacht Kopf und Herz erfrischte. Er bewohnte noch immer das ungemütliche Chambre garni, da er in dem überfüllten Versailles keine andere Wohnung hatte finden können. Eine seiner wenigen Freuden war gewesen, im Stalle eines benachbarten Hauses eine prachtvolle, goldbraune Vollblutstute einzustellen, die er zur Erinnerung an sein tapferes Metzer Lieblingspferd Eydalise II. getauft hatte.

In flottem Galopp durch die in saftigem Grün prangenden Avenuen atmete er mit tiefen Zügen die Wiederkehr seiner Jugendkraft, seiner Lebensfreude. In manchen Augenblicken öffnete sich seinem Blicke eine freundlich helle Zukunft, jenem Stückchen Azurblau vergleichbar, das dort am Ende der Allee leuchtend durch die Wölbung des dichten Laubwerkes schimmerte. Schnell aber verschwand dieser Lichtblick wieder im Grau der Tage aufreibender Arbeit, von der die Finger ihm steif wurden, und die nur hier und da durch einen Dienstweg, durch den Auftrag, eine Nachricht von einem Ministerium ins andere zu tragen, einige Abwechslung erfuhr.

Die Ministerien waren in den Bildergalerien und in allen Sälen des von zahllosen Posten bewachten Palastes untergebracht. Die Ämter funktionierten in wirrem Durcheinander, mehrere Bureaus in einem Raume, durch spanische Wände getrennt. Die hohen Beamten waren durch Paravents isoliert. Am selben Tische erledigten Divisionschefs und Schreiber die wichtigsten Geschäfte. Bis unter die Plafonds von Lebrun und zwischen die in Marmor und Gold schimmernden Wandverkleidungen, über denen all der Pomp des Zeitalters Ludwigs des Vierzehnten schwebte, und die verwundert die Menge der dem neuen Kaiser und dem alten Kaiserreiche Deutschlands zujubelnden preußischen Höflinge gesehen hatten – bis in das Wunder der kleinen Königsgemächer drang das zum Zerspringen überfüllte Versailles; die verstecktesten, kleinsten Winkel wurden gestürmt und mit wahnsinnigen Preisen gezahlt. Der Präsident der Nationalversammlung und die Minister hatten ihre Zelte im Zimmer des Sonnenkönigs oder im Boudoir Maria-Antoinettes aufgeschlagen. Eine Anzahl Abgeordneter kampierte in der durch Bänke, Tische, mit flatternden Vorhängen umgebene Betten in einen ungeheueren Schlafsaal umgewandelten Spiegelgalerie. Im Marmorhof antichambrierte unter freiem Himmel ein Gewühl von Bittstellern, Beamten und Journalisten; falsche und wahre Nachrichten, Projekte, Unterhandlungen, die Chancen der Prätendenten, die Schmollereien zwischen Thiers und der Nationalversammlung, der letzte Ausweg der provisorischen Republik, die in Feuer und Flamme lodernde Majorität, die Unentschlossenheit der Linken, die Ungewißheit der Zukunft – all das wurde hier besprochen und kommentiert...

Von all diesen Gefühlen das stärkste war jenes, das Du Breuil empfand, als er am linden Spätnachmittag des 1. April aus dem Schlosse zurückkehrte und in der Avenue Saint-Cloud Grandpré begegnete, der ihm ganz fröhlich den Inhalt der zu dieser Stunde von Thiers an die Präfekten gesandten Depesche wiederholte: in Paris plünderte die geteilte Kommune zu aller Entsetzen die öffentlichen Kassen ... Indessen tagte in Versailles friedlich die um die Regierung gedrängte Nationalversammlung und organisierte »eine der schönsten Armeen, die Frankreich je besessen hatte ... Die Krisis wäre schmerzhaft, aber kurz gewesen ...«

Würden diese von so viel unglaublichem Mißgeschick noch ganz entmutigten, von dem stagnierenden Lagerleben und den Gefängnissen Deutschlands an Geist und Körper geschwächten Truppen denn wirklich das von Thiers verheißene Schauspiel bieten? Ja gewiß, die Offiziere würden gehorchen, die einen aus Pflichtgefühl, obgleich die Pflicht ihnen Widerwillen einflößte, andere aus angeborener Sorglosigkeit ... Aber die Vedel waren selten, und das zusammengeknüpfte Bündel konnte immer wieder auseinander fallen. Wie würden sie beim ersten Zusammenstoß sich zeigen? Es stand alles zu befürchten ...

Zwei Tage vorher hatte General Galliffet bei der Nachricht, daß die Föderierten das Rundel von Courbevoie und die Brücke von Neuilly besetzt hielten, sich an die Tete zweier Eskadronen gestellt. Die eine bemächtigte sich des Rundels, aber die andere! ... Man erzählte, daß der General, bereit sich einen Durchbruch auf die Brücke zu bahnen, kommandiert habe: »Säbel in die Faust!« und mit seiner gewohnten Kühnheit den Föderierten entgegengesprengt sei mit dem Rufe: »Waffen nieder!« ... Sie gehorchen. Galliffet wendet sich nach seinen Truppen um und gewahrt, daß sie in vorsichtiger Entfernung zurückgeblieben sind ... Die Föderierten umringen ihn mit seinen Offizieren; er parlamentiert, sie geben ihn frei, und im Schritt kehrt er kalten Blutes zu den Reitern zurück, die ihn im Stich gelassen haben und müßig gaffend auf ihn warten ... Eine solche Tatsache war bezeichnend genug. Ob die Armee marschieren würde? ...

Seit einer halben Stunde saß Du Breuil über seine Arbeit gebeugt, beim Lichte einer Lampe dienstliche Briefe erledigend, als die Tür ihm gegenüber sich öffnete. Ein junger Artillerie-Oberstleutnant, von schlanker Gestalt und ernster Haltung, trat ein und blickte suchend umher. Du Breuil sprang auf.

D'Avol erkannte ihn und errötete; durch seine von tiefster Verzweiflung glühenden Augen glitt ein Ausdruck des Leidens, mit leiser Befangenheit streckte er die Hand aus ... Doch Du Breuil rief, von heißem Mitleid erfaßt:

»Du!«

Und in dem Ton alter Freundschaft, der in diesem Worte lag, gingen urplötzlich all die grausamen Mißverständnisse, alle Bitterkeit ehemaligen Grolles unter und zerschmolzen in einem Gefühl müder Sympathie und inniger Rührung ... In bebenden, sich überstürzenden Worten erleichterte d'Avol sein Herz, sprach von der fürchterlichen Vereinsamung, unter der er seit gestern litt, von der Qual dieser endlosen Nacht in dem leeren Hause... Er konnte es nicht länger ertragen, er brauchte eine Beschäftigung, die ihn völlig in Anspruch nahm, eine rastlose Arbeit, um seine wahnsinnigen Gedanken, seinen herzzerreißenden Jammer zu lindern ... Er war gekommen, sich dem Minister zur Verfügung zu stellen, um irgend eine Stelle zu bitten.

»Wir werden etwas finden!« sagte Du Breuil, nachdem er ihn durch Laune dem General Letellier-Valazé hatte vorstellen lassen.

Sie gingen mitsammen fort, um in einem kleinen, abseits gelegenen, möglichst ruhigen Restaurant zu dinieren... D'Avol gestand dem Freunde seine Ungeduld, die Situation entwirrt, die Ordnung in Paris, selbst um den Preis eines energischen Krieges, wiederhergestellt zu sehen. Es mußte ein schnelles und gründliches Ende gemacht werden mit dieser albernen Revolte, dieser Demagogenzunft, deren erstes Resultat die Festankerung der Deutschen in französischem Boden wäre, der Deutschen, die sich unserer Zwietracht freuen und als Bürgschaft für das sichere Einlaufen der Kriegsentschädigung in ihre Kassen darauf warten, daß der Stärkere den Schwächeren verschlingt... Diese Bloßstellung der schamlosen Anarchie, diese Forderungen eines ketzerischen Egoismus, unter den Augen des Feindes, zu solcher Stunde, da alle Franzosen nur den einen Gedanken haben sollten, das Vaterland wieder aufzurichten und geduldig, mit rastlosem Eifer an der Neuorganisierung der Armee der Revanche zu arbeiten ... Eine ganze Welt dringendster Reformen: die Rekrutierung, die Instruktionsmethoden ...

Und, von Zweifeln gequält, mußte Du Breuil, halb gegen seinen Willen, die unerschütterliche Festigkeit dieser Seele bewundern, diese Unbeugsamkeit des Urteils, diese Entschlossenheit im Wählen und im Handeln.


In seinem Atelier der Rue Soufflot hatte Martial, von einem frühen Sonnenstrahl, der sich durchs Fenster gestohlen und freundlich das Bett umspielte, geweckt, sich unfroh erhoben mit der freudlosen Aussicht auf einen langen Tag. Es war Palmsonntag und seine Stimmung um so verdrießlicher, als der Himmel in lachender Bläue strahlte ... Wie schön mußte es auf dem Lande sein, in den Wäldern, vor den geschlossenen Toren der von neuem einem Gefängnis gleichenden Stadt! ... Denn man fühlte, wie zur Zeit der Belagerung, einen schweren Druck auf sich lasten. Nur die Herren hatten gewechselt, sonst nichts ... Und, bei Gott, diese Herren waren noch weniger sympathisch! ...

Schon war die Ernüchterung gekommen ... Die städtischen Freiheiten, nicht übel ... Doch wie weit war man davon entfernt! ... Das Dekret, das einerseits die Konskription abschaffte und andererseits jeden gesunden Mann der Nationalgarde einverleibte, dünkte ihn übertrieben. Im Prinzip mochte es noch gelten: keine Ausnahme mehr, jeder Soldat. Gegen den Fremden war diese Maßregel gewiß vortrefflich ... Doch freien, von dem Gedanken, sich untereinander schlagen zu sollen, wenig erbauten Bürgern mit Gewalt die Waffen in die Hand drücken ... Nein, das war unnatürlich... Und für die Freiheit – welch seltsame Art von Freiheit! ... Er steckte sich für eine solche Sache nicht in die Uniform ...

Wütend schlüpfte er in seine Arbeitsbluse und ließ seine schlechte Laune an der Tonskizze aus, die er mit nervösem Druck des rechten Daumens – sein linker Arm war immer noch steif – bearbeitete. Die Skizze stellte eine allegorische Frauengestalt dar, in der unwillkürlich Ninis Züge mit der neuen Inspiration verschmolzen: die Allegorie des Gedankens mit zitternden Schwingen und gefesselten Füßen ... Als er die Tür öffnete, um mehr Licht einzulassen und ein klareres Urteil über das Ganze zu erhalten, stand er Thédenat gegenüber, der eintrat und schweigend bewunderte.

»Ich wollte Sie entführen, aber wenn Sie bei der Arbeit sind ...«

»O Gott nein!« sagte Martial, sich die Finger trocknend.

»Wir hätten zum Frühstück zu Ihrem Vater gehen können ... Auch eine Art, den Sonntag auf dem Lande zuzubringen ... In dem Gärtchen der Rue Sainte-Scolastique könnte man sich in einem verlorenen Winkel glauben ...«

»Ah!« rief Martial, »auch Sie finden die Luft hier eng und drückend?«

Während er sich umkleidete, folgte ihm der Greis mit seinen klugen und milden Augen.

»Ja, all das geht nicht ohne Willkür ... Die Kommune zahnt ... Beweis dafür die etwas lärmende Zeremonie von vorgestern ... Sainte-Genevieve für den Kultus geschlossen, der Pantheon den großen Männern wieder geöffnet, alles unter dem Lärm und Getöse der Reden und der Salven, während man die Arme des Kreuzes absägte und an der zum Schaft umgewandelten Spitze die rote Flagge befestigte... Und der allgemeine Nachlaß der Mietzinse! Die Maßregel ist gut, insofern sie die Armen entlastet, aber schlecht, weil sie den Reichen ein neues Vorrecht gewährt, und ungerecht, weil sie ohne Unterschied alles unbewegliche Eigentum schädigt ... Und die fünf Sicherheitskompagnien überwältigt, ihre Kassen gepfändet ... (Allerdings wurden die Siegel den nächsten Tag schon wieder entfernt) ... Das ist genug Mißbrauch der Amtsbefugnis! Da nützt kein Leugnen, wir stehen einer wirklichen Regierung gegenüber! ... Doch ich irre ... Zwei wirklichen Regierungen! Und beide sind kampfgerüstet ... Die legalere von beiden ist die Feindin aller meiner Überzeugungen ... Die andere, die ihnen teilweise entspricht, beunruhigt mich durch die Verschiedenheit derer, die ich an ihrer Spitze sehe, überdies drängt sie sich mit einer Gewaltsamkeit auf, die in Anbetracht der Verhältnisse, der Gegenwart der Deutschen, zum mindesten opportun ist ...«

»Die Deutschen«, warf Martial ein, »wer denkt denn an die?«

»Und doch sollte der Gedanke an sie allen anderen vorangehen«, sprach Thédenat. »Ihre Gegenwart hätte beiden Parteien Waffenstillstand und Schweigen gebieten sollen... Ja, müßten meine Ideen sozialer Gerechtigkeit auch noch länger unter der Erde keimen, ich hätte doch lieber gesehen, wenn man einzig daran dächte, die Schuld zu zahlen und den Augenblick zu beschleunigen, da der letzte Preuße unser Land verläßt. Dann erst wäre es an der Zeit gewesen, sich unter Franzosen auseinanderzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, den Feind sich als Friedensstifter aufspielen zu sehen, oder, wenn er neutral bleibt, es zu riskieren, daß eine ganze Zukunft des Fortschritts durch unfähige, zu früh erhobene Verteidiger aufs Spiel gesetzt werde ... Denn sie werden geschlagen werden, das ist gewiß, und im Namen des Gesetzes, und mit ihnen, vielleicht auf Jahre hinaus, das Volk, das ihnen folgt, die legale Republik... Ach! die Legalität! ebenso gut könnte man sagen: das Recht des Stärkeren! ... Und mag dieses Recht des Stärkeren auch immerhin das schlimmere sein, in den Augen der Masse ist es doch immer das bessere! Hat nicht das Land seit einem Jahrhundert die legalen Regierungen des Soldaten des Brumaire, der in den Fourgons aus der Fremde zurückgebrachten Emigranten, eines die Bourbons verratenden Orleans, der Theoretiker von 1848, der ausgehungerten Verschwörer vom 2. Dezember sich ablösen gesehen?«

»Gleichwohl«, entgegnete Martial, »Sie werden mich für einen Bourgeois halten und vielleicht ist es mein Künstlersinn, der sich dagegen sträubt, aber mir erscheint diese Art und Weise der Achtzig – und wie viele darunter haben die genügende Befähigung? – sich auf Paris wie auf eine Beute zu stürzen, unverdaulich!«

Er nahm eine auf dem Tische liegende Zeitung und las:

»Exekutive, militärische Kommission, Kommission der Finanzen, der Justiz, der allgemeinen Sicherheit, der Arbeit (Industrie und Wechsel), der Lebensmittel, des Unterrichts und ... ist das nicht zum Lachen? der äußeren Beziehungen ... Während unsere Briefe nicht einmal ankommen und wir vom Lande abgeschnitten sind!« ...

Der Chef des Postwesens, Rampont, hatte sich zwei Tage vorher mit einem Teil des Personals nach Versailles zurückgezogen und den Postdienst in einer Verwirrung zurückgelassen, die Theiß trotz geschickter Bemühungen noch nicht hatte beseitigen können.

»O auch das noch!« seufzte Thédenat, ... »Man muß die Maschine gut in Gang bringen ... Kann man die verlassenen Administrationen und die Ministerien den Passanten auf Gnade und Ungnade ausliefern?«

»Und kann man die Beamten zwingen, ihren Dienst weiter zu erfüllen?« versetzte Martial.

»Glauben Sie«, fragte Thédenat, »daß man die Zurückbleibenden erst zwingen muß? Wie viele kleine Leute sind des Broterwerbs halber an ihren Platz gebunden! ... Man muß leben ...«

Martial schüttelte den Kopf.

»Und nicht zufrieden damit, die Rosinen aus dem Kuchen geklaubt zu haben, zerschneiden sie ihn auch noch in zwanzig Stücke und setzen sich selbst als Könige in ihre Arrondissements. Die Zivilakten, die Erledigung der Geschäfte, alles haben sie an sich gerissen. Ich für mein Teil bin nicht besonders stolz darauf, die Herren Régère, Jourde, Tridon, Blanchet und Ledroit zu Monarchen zu haben ...«

»Louchard und Tinet nicht zu vergessen!« bemerkte Thédenat.

Plötzlich erhob sich draußen wüster Lärm. Als Thédenat und Martial die Tür öffneten, um fortzugehen, sahen sie eine Gruppe heulender und heftig gestikulierender Männer die Stiege herabkommen.

»Wieder eine Mietzinsgeschichte!« dachten sie.

Seit dem Dekret der Kommune befand sich das ganze Haus in Aufruhr. Zwischen seiner Abhängigkeit vom Hausbesitzer und seiner politischen Größe geteilt – er war zum Bataillonschef ernannt und in die Munizipalkommission des V. Arrondissements gewählt worden, – gab Louchard vor, »das Gesetz auf die der republikanischen Billigkeit am meisten entsprechende Weise« anzuwenden; auch hatte er Tinet, den Freund eines Freundes des Generals Endes, sich durchdrücken lassen. Zukünftige Schwierigkeiten befürchtend, war der Buchbindergehilfe gleich anfangs mit Mélie fortgezogen, ihre Möbel auf einem Handwagen mit sich schleppend.

Thédenat und Delourmel hatten ihre Beträge redlich gezahlt, und Lauchard war insgeheim froh darüber, denn beide mußten schonend behandelt werden, Thédenat als Freund Jacquelines, Delourmel als Cousin eines zum Bureauchef bei der Polizeipräfektur avancierten kleinen Beamten: Nur die geizigen Du Noyers hatten, ihre Abwesenheit während der Belagerung und den von der Bande Pacauds, Tieren und Menschen, ihnen angerichteten Schaden sich zu nutze machend, sich, ebenso wie Blacourt, geweigert, die drei fälligen Zinstermine zu entrichten. Unablässig verfolgte Louchard sie mit Drohungen und Bitten, indem er für den Gutsbesitzer auf die Wache zog – jene hatten gefüllte Säckel, sie konnten zahlen.

Blacourt, den er früher protegiert hatte, flößte ihm jetzt, da kein Sou mehr aus ihm herauszupressen war, einen patriotischen Widerwillen ein. Du Noyer war ein Wucherer; nie auch nur das schofelste Trinkgeld! Doch der Stadtrat berief sich, energisch seine weißen Bartkoteletten schüttelnd, auf dasselbe Dekret, das ihm heimliches Grauen einflößte, indem er sich feierlich »unter die Ägide der Kommune« stellte – bis die Gelegenheit sich ihm bieten würde, zu fliehen, ohne den Beutel öffnen zu müssen. Blacourt, der im Arbeiterviertel zwei Häuser besaß, hielt es für selbstverständlich, daß er, seiner Einnahmen beraubt, nicht durch Zahlung seiner Schuld seine Kasse noch mehr schwächte. Man zahlte ihm nicht, und er sollte zahlen! Nein, das konnte man von ihm nicht Verlangen ...

Der Narr hatte gehofft, beim Regierungsantritt der Kommune irgend eine fette Sinekure für sich einzuheimsen; was war jedoch von einer Regierung zu hoffen, die ihre Diener so schlecht belohnte und als höchsten Gehalt nur 6000 Francs jährlich bewilligte, und auch dies nur ihren eigenen Mitgliedern! Es war ein Jammer.

Bisher hatte Blacourt sein lustiges Boulevarddasein noch ziemlich ungeschmälert genießen können, nun aber waren fast alle Genossen seiner Freuden fortgereist, und wenn die Nachtrestaurants auch noch ihre Kundschaft an hübschen Mädchen behielten, so hatten diese doch nur noch Blicke und Lächeln für den Schwarm von improvisierten Offizieren in verschnürten Röcken, die ihre Säbel mit solch frechem Selbstbewußtsein über den Asphalt rasseln ließen. Hätten ein garibaldischer Offizier, ein Pole namens Malonsky, und seine Maitresse, ein herrliches Geschöpf, das sich Maddalena nannte, ihn nicht unter ihre Protektion genommen, Blacourt hätte längst schon diese seiner unwürdige Gesellschaft gemieden, um in Versailles, wieder mit seinen Freunden vereint, von neuem in Lust und Vergnügen zu schwelgen.

Aber Malonsky war ein Typus, mit seinem kaltblütigen Rausch, seiner elegischen Manie, Verse in seinem Kauderwelsch zu deklamieren, seinen jähen Zornanfällen, in denen er sogleich zum Säbel griff ... Seine Taschen waren stets mit Gold gefüllt, und welch bequemer Spieler war er! Er verlor immer ... Und auch mit Maddalena konnte man stets gewinnen. Allein schon der Gedanke an ihre schneeige Haut und ihre Feueraugen brachten sein Blut in Wallung ...

»Aber sehen Sie doch nur«, sagte Thédenat ... »Tinet! Ist denn jetzt Karneval?«

Von Louchard unterstützt, stieß der Buchbindergehilfe unter Schmähungen und Schimpfworten Blacourt vor sich her:

»Wenn Sie nicht gleich die Pferde hergeben, laß ich Sie verhaften, Sie Schwindler, Sie elender Kerl!«

Tinet, bleicher und verschlagener denn je, schüttelte die Faust. Er tat sich nicht wenig zugute auf seine prächtige, funkelnagelneue Uniform, das verwegen aufs Ohr gesetzte Käppi, die hohen Stiefel, den rasselnden Säbel und die klirrenden Sporen; auf seinem mit roten Aufschlägen und zwei Litzen geschmückten Rocke prangten goldene Achselschnüre.

Louchard gab in hochmütigem Ton zu bedenken:

»Die Requisition geschieht in aller Form. Die Pferde gehören dem Bürger Leutnant. Staatsdienst!« ...

Und herablassend setzte er hinzu:

»Sie werden sich doch nicht die Unzufriedenheit eines Offiziers aus dem militärischen Hause Seiner Exzellenz des Generals Eudes, der seit gestern Kriegsdelegierter ist, zuziehen wollen?« ...

Doch schon hatte Tinet die Stalltür geöffnet und weidete sich am Anblicke der glänzend gestriegelten Tiere. Welchen Effekt er damit erzielen würde! Sie gehörten nun ihm. Oft genug hatte Blacourt ihn von seinem Phaeton herab mit Kot bespritzt ... Er winkte einem Spahi, einem Prachtkerl von Ebenholzfarbe, dessen Augen und Zähne vor Rauflust funkelten, und beide machten sich an die Arbeit, die Pferde von der Kette zu lösen.

»Nimm die Sättel, Negro!« befahl Tinet.

» Chouïa, chouïa« ...

Ohne sich zu beeilen, gleichgültig gegen das Geschrei Blacourts, auf den diese Ruhe und diese Muskeln einschüchternd wirkten, begann er, die Pferde zu zäumen, die Sättel festzuschnallen und die Steigbügel zu richten.

»Morgen komme ich wieder, um das Sattelzeug und die Wagen abzuholen«, erklärte Tinet. Und zu Louchard gewandt, setzte er hinzu:

»Kommandant, ich setze Sie zum Hüter dieses nationalen Gutes ein.«

Majestätisch kletterte er mit Hilfe des Spahi, der selbst sich in den Sattel schwang, aufs Pferd und in Schritt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und sich an der Mähne festhaltend, ritt er fort, blaß aber stolz, ohne umzublicken.

Niedergeschmettert und nur mit Mühe seine Wut verbeißend, stand Blacourt da. Er hatte nicht gewagt, Einspruch zu erheben, er fürchtete das Schicksal mehrerer Bewohner des Viertels, die unter irgend einem Vorwand in diesen letzten Tagen eingesteckt worden waren. Eine Zelle im Polizeigefängnis, nein, dafür dankte er! ... Und, Tränen in den Augen, sah er diese beiden Pferde verschwinden, die er während der Belagerung mit solcher Mühe sich erhalten hatte! Er murrte:

»Auch ich habe Freunde in der Kommune! Das bleibt nicht ungestraft!«

Und in würdevoller Haltung zog er sich zurück.

Schweigend gingen Thédenat und Martial an Louchard vorüber, der aus ihren Gesichtern ihre Mißbilligung las.

»Was wollen Sie, Herr Thédenat? Man muß eben der Obrigkeit gehorchen!«

Verstohlen folgte er ihnen mit dem Blicke. Die Vorwürfe, die er von den Fanatikern des Bataillons zu hören bekam wegen der Desertion des Bildhauers und dessen offener Weigerung, neulich, als die Kompagnie kommandiert worden war, um die die Niederlagen der Kommune in der Provinz meldenden Plakate Picards abzureißen, stachelten seinen Groll gegen den jungen Mann. Nur Geduld! Eines schönen Tages eine nette anonyme Denunziation! ... Wie man es mit dem Buchhändler nebenan gemacht hatte! ... Mit Freuden entsprach der Portier der kürzlich an die Nationalgardisten ergangenen Aufforderung der Kommission der allgemeinen Sicherheit, ihr in geschlossenem Kuvert alle nützlichen Benachrichtigungen zukommen zu lassen.

Im Haustor stießen Thédenat und Martial auf Poncet, der, von dem herrlichen Morgen verlockt, denselben Einfall gehabt hatte, wie sie und kam, um sie zum Frühstück einzuladen. Es war zehn Uhr, man hatte noch Zeit genug, den Weg in aller Gemächlichkeit zu Fuß zurückzulegen. Er nahm den Arm des alten Freundes unter den seinen und begann von einer Idee zu sprechen, an deren Verwirklichung er seit dem Rückzug der Regierung mit mehreren angesehenen Mitgliedern der Partei, wie Ranc, Clemenceau, Floquet, Lockroy, Rochefort, André Lefèvre arbeitete ... Eine Versöhnungsliga, die als Pfropfen zwischen Versailles und Paris dienen sollte, indem sie zwischen diese beiden Narrheiten das Bindemittel der Vernunft, des gesunden Verstandes setzte. Thedenat mußte dabei sein, der nächsten Versammlung, in der der Grundstein gelegt werden sollte, beiwohnen und ein Manifest verfassen. Er setzte hinzu:

»Die Zeit drängt. Ich weiß, daß die Legionchefs gestern abend auf den Vendômeplatz zu einem Kriegsrat einberufen wurden. Die Militärpartei rührt sich, sie will gegen Versailles marschieren und den Fehler vom 19. wieder gut machen. Die drei Generäle, die nicht mehr als Chefs kommandieren – da Titel und Ämter aufgehoben sind – und von denen Bergeret dem Generalstab der Nationalgarde, Duval dem Kommando der Polizeipräfektur, Eudes der Kriegsdelegation zugeteilt sind, – wollen ihre Beute nicht loslassen. Sie haben einen Operationsplan entworfen und sind imstande, der Kommune die Hände zu binden! Sie ist nicht die alleinige Herrin der Situation. Beweis dafür sind die täglichen Zwistigkeiten mit dem Zentralkomitee. Dieses hat nur zum Schein abgedankt und behält sich die Verfügung über die Bataillone vor. Nennt es sich auch nur den »großen Familienrat«, es drängt sich doch überall auf, will überall schulmeistern. Hat es nicht, um die gesamte Nationalgarde wieder unter ihre Leitung zu bekommen, Cluseret in die Kriegsdelegation bringen wollen? Die Kommune hat die Zähne gewiesen und, um ihre Sicherheit besorgt, Duval aufgefordert, den Kommandanten des Rathauses zu wechseln. Pindy hat Assis Stelle eingenommen. Das Komitee hat den Ansturm wiederholt und die Intendanz, das Recht, den Generalstabschef zu ernennen, die Bataillone zu rekonstruieren, für sich in Anspruch genommen. So weit ist es gekommen ... Es ist ein latenter Krieg. Indessen hat die Kommune sich das offizielle Privilegium der weißen Zettel vorbehalten. Das Komitee hat nur zur Hälfte nachgegeben, indem es in das Weiß einen roten Streifen setzte ...«

Thédenat zuckte die Achseln:

»Sie haben recht, man muß sich ins Mittel legen. Im Interesse aller, besonders aber jener Unklugen, die trotz ihrer anscheinenden Kraft die Schwächsten sind ...«

Da unterbrach ihn Martial:

»Hören sie nur!«

Seitdem sein Vater sprach, horchte er auf ferne Geräusche. Es war wie dumpfes Gewittergrollen. Alle drei schwiegen angstvoll.

»Das kommt aus der Richtung von Courbevoie«, sprach Thédenat.

»Das sind ja die Kanonen!« schrie Martial.

Sie erkannten den unseligen Lärm der Belagerung, die dumpfen, eiligen Schläge und jene undeutlichen Tonstöße, die im Geknatter des Gewehrfeuers ihren Widerhall finden.

Sie waren blaß geworden und sahen sich bestürzt an:

»Man schlägt sich!«

Um sie her sammelten sich auf dem Rondel Medicis die Vorübergehenden an und tauschten ihre Vermutungen.

»Man feiert bei den Deutschen einen Geburtstag, so wie neulich... Es ist eine Ehrensalve vom Montmartre ...«

Nationalgardisten stürzten aus ihren Häusern, aus den Weinstuben; Leute eilten auf die Mairie. Die von den Wällen aus wie ein Lauffeuer sich verbreitende Nachricht dünkte der bestürzten Menge kaum glaubbar. Die Versailler griffen an! Empörung malte sich auf den Gesichtern. Am tiefsten entrüstet waren die Frauen.

»Simon!« rief Thédenat.

Barhaupt rannte der Schuster vorbei, um Erkundigungen einzuziehen. Er blieb stehen. Aus seinen Augen sprühte der Zorn, auf der Stirn stand eine harte Falte.

»Jetzt schießen sie also auf uns! Ganz wie die Preußen!«

Er lachte bitter auf:

»Herr Thédenat! ... Wir also, die armen Leute, sind die Feinde!«

Dem Gelehrten schnürte sich das Herz zusammen:

»Beruhigen Sie sich! ... Es ist vielleicht nur ein Mißverständnis ... Wir fahren nach Versailles, um mit Thiers zu sprechen ... Es darf kein Blut fließen!«

Doch Simon schüttelte den Kopf. Der Zorn färbte seine Wangen mit tiefer Röte.

»Blut! ... Was gilt ihnen das, wenn sie aufs Volk schießen! ... Nein, Herr Thédenat, diese Leute werden Sie nicht zur Vernunft bringen! ... Es gibt nur eines. Ich nehme meine Flinte, die Jungens die ihren, und wir gehen mit nach Versailles.«

Ohne einen Blick auf Martial eilte er weiter. Von allen Seiten wurde der Generalmarsch geschlagen. Zwischendurch donnerte unheilkündend das dumpfe Gewittergrollen. Drei Stunden dauerte es an, verfolgte sie durch die aufgeregten Straßen. Schleunigst einberufene Bataillone beratschlagten. Der Montmartre hatte wieder sein kriegerisches Aussehen. Nationalgardisten scharten sich um die Geschütze. In dem Gärtchen, dessen Fliederbüsche sich mit ihren Blütentrauben bedeckten, unter dem seine breiten Blätter entfaltenden Kastanienbaum setzten sie sich zu Tische, doch der Appetit war ihnen vergangen. Über dem in heißer Erregung gärenden Paris lauschten sie auf das schwächer werdende Getöse. Was ging dort unten vor?

Folgendes:

Am sechs Uhr morgens hatten die Division Bruat und die Brigade Daudel, dem tags vorher im Kriegsrat von Thiers beschlossenen Angriffsplan gemäß, ihre Lager verlassen und waren, die eine über Ville-d'Avray und Montretout, die andere über Bougival und Rueil, vorgerückt; Galliffets Reiter rekognoszierten zur Linken, General Du Barail bewachte zur Rechten die Straße nach Chatillon, die Vorposten, die seit einigen Tagen auf dieser Seite scharmützelten. Der Zweck dieser Operationen war, die Föderierten, welche Courbevoie und die Brücke von Neuilly bewachten, aus ihren Positionen zu verdrängen.

Bevor noch das gegenseitige Feuer eröffnet war, entschied ein unerwartetes Opfer teilweise über die Haltung der regelrechten Truppen und machte ihrem Zögern ein Ende. Der Chefarzt Pasquier, der in Uniform in Schußweite der Gewehre der Föderierten vorüberritt und für einen Gendarmerieoberst gehalten wurde, stürzte, zu Tode getroffen, vom Pferd. »Man tötet eure Ärzte!« sagte man zu den Soldaten. Und da die Soldaten die Gendarmen, die man ihrer größeren Stärke halber ins Vordertreffen gestellt hatte, schießen sahen, schossen sie selbst. Der Kampf war eröffnet.

Das 74. Infanterieregiment, gegen das große Rondel der Statue gedrängt, weicht und ergreift die Flucht. Vinoy und Bruat treten selbst ins Treffen und schicken die Marinetruppen vor. Gewaltige Schüsse krachen, und die Mitrailleusen vertreiben die Föderierten aus der Kaserne von Courbevoie. Da sammeln sich auf der mit Kugeln und Granaten bedeckten Avenue von Neuilly die Nationalgardetruppen zum Rückzug, der denn auch mit Hilfe dreier frischer Bataillone schleunigst bewerkstelligt wird. Die Versailler machen erst hundert Meter vor den Wällen Halt; wenig fehlte, und sie wären in die Stadt gedrungen.

Doch Thiers hatte diesmal die Armee nur auf die Probe stellen wollen. Er atmet auf. Man wird auch Größeres wagen können! Und am Abend kehrten die Truppen, ohne auch nur einen Mann in den eroberten Positionen zurückzulassen, ruhig in ihre Lager zurück. Die Gendarmen entledigten sich, als sie Poteaux wieder betraten, der fünf gefangenen Nationalgardisten, indem sie sie auf der Stelle, ohne gerichtliche Verurteilung, erschossen.

So begann, vom ersten Tage an mit mehr Grausamkeit geführt, als der Krieg gegen den Fremden, der Bürgerkrieg ...

Der Ungewißheit und der Untätigkeit müde, hatten Thédenat und Poncet sofort nach beendeter Mahlzeit sich wieder auf den Weg gemacht; sie wollten Erkundigungen einziehen und sich womöglich mit einigen Freunden vereinigen, um unverzüglich die nötigen Schritte zu versuchen. Martial hatte in trauriger Stimmung den Heimweg angetreten. Nach dem Aufatmen der letzten Woche, wo mit der Wiederaufnahme seiner Arbeit auch die Freude am Leben ihm wiedergekehrt war, fühlte er sich jetzt in die schlimmsten Tage der Belagerung zurückgeschleudert.

Er durchschritt halbverödete Straßen, unwillkürlich in die Richtung hingezogen, wo der Kampf stattgefunden hatte, vielleicht noch stattfand. Bataillone zogen in voller Ordnung vorüber. Verwundert sah er, daß sie nicht nur aus den hohläugigen Gesichtern des Elends bestanden. In ihren Reihen marschierten unternehmungslustigen Schrittes und in den Mienen glühende Überzeugung Kleinbürger und Nationalgardisten mit weißen Händen. Dem Palmsonntag zu Ehren trugen viele ein Buchsbaumzweiglein am Käppi oder am Gewehr.

Je mehr er sich den Champs-Elysees näherte, je lärmender wurden die Straßen. Eine Menge von Neugierigen und Sonntagsspaziergängern wanderte der großen Arterie zu, durch die in gedrängten Reihen die Volksbataillone strömten. Der Hanswurst spielte seine gewohnten Stücke. Von dem wolkenumzogenen Himmel hob sich düster der Triumphbogen ab, dessen Basreliefs mit müßigen Gaffern bedeckt waren. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte Martial, ob er nicht noch einen Widerhall des Kampfgetöses vernähme. Seine Nerven bebten unter der Pein, zu fühlen, daß etwas Schreckliches sich ereignet hat, ohne zu wissen, was es gewesen sei ... In den Gruppen wiederholte man sich voll Bestürzung. »Sie haben attakiert«, während von der Landstraße her, wie im Jahre 1789, von Zeit zu Zeit der Schrei herüberdrang: »Nach Versailles!«

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Bataillon marschierte an ihm vorbei. Er erblickte bekannte Gesichter, die ihn an die brüderliche Kameradschaft der Tage von Le Bourget, von Buzenval gemahnten. Es dünkte ihn seltsam, seine ehemaligen Kameraden ohne sich marschieren zu sehen ... Doch als er daran dachte, welch einer Schlacht sie entgegenzogen, wallte heiße Empörung in ihm auf ... Nein, eine solche Greueltat konnte er nicht fassen! ... Das dumpfe Geräusch dieser rhythmischen Schritte klang ihm gleich entsetzlich, wie das Dröhnen der Kanonen von Versailles heute morgen ... Nicht hier, nicht dort! Um nichts in der Welt...

Seine Kompagnie hatte ihn erreicht. Er gewahrte den Ausdruck düsterer Begeisterung auf den Gesichtern vieler. Zufällig blickte die Reihe der Simons nach ihm herüber. Um Louis' Lippen glitt ein Lächeln trauriger Ironie. Anatole rief ihm spottend zu: »Kommen Sie nicht mit?«

Der Vater wandte mit mürrischer Verachtung den Kopf hinweg. Martial fühlte sich peinlich davon berührt. Vorbei war es mit der einstigen Kameradschaft, mit der Solidarität gemeinsamer Leiden! Mit Unbehagen erfüllte ihn der stumme Vorwurf, und wie eine Demütigung empfand er es, daß er nun, da die Stunde der Gefahr für sie gekommen, sie im Stiche lassen wollte, diese Arbeiter, die er als ehrenhaft und aufrichtig erkannt hatte. Immer neue Reihen drängten vorwärts. Woge um Woge stieg die Menschenflut unter dem anschwellenden Rufe: »Nach Versailles!«

Martial gedachte der Stunde, da er, trunken vor Erschöpfung und Verzweiflung, am Tage der Bastille, dem Abend der Kanonen, Seite an Seite mit den Simons hier vorbeimarschiert war. Eine Aufwallung der Begeisterung hatte Paris ergriffen und trieb es der deutschen Armee entgegen. Jetzt war es ein anderer Feind, der den Angriff unternahm. Und es war doch dieselbe Menge, die, eine furchtbare, blinde Macht, in einem unglaublichen Taumel von Haß und Wut sich Franzosen entgegenstürzte.

Das seit Monaten angehäufte Blut, dieses Blut, das mit Freuden fürs Vaterland geflossen wäre und das die Untätigkeit in den Adern erhitzt hatte, es kochte jetzt mit unwiderstehlicher Gewalt. Die geladenen Gewehre brannten in den Fingern. Der Kampf mußte losbrechen, die zurückgedrängte Wut und Verzweiflung mußte sich Luft machen. Von dem natürlichen Feinde hinweg stürzte sich Paris auf jenen anderen, der durch eigene Schuld den entflammten Zorn erbte. Lange Zeit eingedämmt, Tag für Tag durch Groll und Leiden genährt, brach der Aufstand mit elementarer Gewalt endlich los.


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