Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil.

I.

Von Stunde zu Stunde mehrte sich auf der Place de la Bastille, wo aus den Boulevards Beaumarchais und Richard-Lenoir, der Rue und dem Faubourg Saint-Antoine, den Quais des Kanals Saint-Martin die Menschenfluten zusammenströmten, das betäubende Gewühl. Man schrieb den 26. Februar 1871.

Seit zwei Tagen scharte sich Paris in einer ungeheuren, unaufhörlich sich erneuernden Kundgebung leidenschaftlich erregt um die Julisäule. Dort strömten sie alle zusammen, die unter der Wucht der Belagerung gelitten hatten, die Arbeiter aus den Vorstädten, Kleinbürger der zwanzig Stadtviertel, entwaffnete Soldaten, ein ganzes von monatelangen Entbehrungen zu halbem Wahnsinn aufgestacheltes Volk. Sonntagsbummler mischten sich mit den untröstlich die Kapitulation Betrauernden, mit den Patrioten, welche den Jahrestag von 1848 feierten, den Jahrestag jener Republik, welcher das Kaiserreich ein Ende gemacht, und die nun, nach dem Septemberaufstand, durch die Nationalversammlung von neuem bedroht wurde.

Durch das dichte Gewühl zogen sich lange Furchen: nahezu hundert Bataillone der Nationalgarde hatten schon defiliert, die Musik an der Spitze, ein Immortellensträußchen im Knopfloch. Sie trugen reichbekränzte Flaggenbündel. An die Gitter festgeklammert, rings um das Piedestal zusammengepfercht, die erzenen Hähne erkletternd, drängten sich die lebendigen Wogen um die Riesensäule, die vom Fuße bis zur Spitze unter der Menge der Blumen verschwand – Blumen der Trauer und der Erinnerung, – unter der Masse der wehenden Banner, der trikoloren und der schwarzen Standarten. So oft ein neues Bataillon erschien, schmetterten an allen vier Ecken schrille Trompetenklänge, denen von der oberen Galerie herab andere Trompeten Antwort gaben. Grünbekränzt schwebte hoch im klaren Himmel der goldene Genius der Freiheit, mit der einen Hand die zerbrochenen Ketten abschüttelnd, in der anderen, fackeltragenden Hand eine rote Flagge haltend, die lustig im Winde sich blähte.

»Chambord wird wohl nicht hinaufklettern, um sie herunterzuholen!« spottete ein dicker, rothaariger Mann, der an dem einen Auge eine Beule hatte.

»Badingue ebensowenig!«

Die frische Stimme einer Arbeiterin ließ ein perlendes Lachen vernehmen. Gekitzelt, wandte sie sich um:

»Herunter mit den Pfoten, Medor!«

»Sagt, was Ihr wollt, Bürger«, – mit diesen Worten klopfte ein Nationalgardist in Bluse dem Rothaarigen auf die Schulter, – »wenn ich den Haufen Advokaten in der Hand hielte, die uns den Preußen ausgeliefert haben ...«

Er machte eine Geste, als wollte er einen Floh zerdrücken. Der Mann mit der Beule stimmte lebhaft bei:

»Und das nennt sich Republikaner! Favre, Picard, Simon, nichts als Gänseleberpasteten ...«

Man lachte. Ein verwegener Humor zerstreute für Augenblicke den allgemeinen Schmerz, den erbitterten Zorn.

»Alle Reaktionen verschwören sich«, entgegnete belehrenden Tons ein Bürger in langem Rock. »An der Spitze der Armee ein Helfershelfer vom zweiten Dezember, ein Senator des Kaiserreichs, der Anstifter der Jännerfüsillade, Vinoy ... An der Spitze der exekutiven Gewalt Thiers, der Orleanist! ... Wenn Paris nicht wachte ...«

Von ferne erhob sich wilder Lärm, laute Zurufe wurden vernehmbar.

»Was gibt's?« fragte eine Arbeiterin mit leidenden Zügen und glänzenden Augen. Ihre Magerkeit entbehrte nicht der Anmut, ihre zusammengezogenen Schultern erzählten von langen, frierenden Stunden traurigen Harrens, in den Queues der Bäckerladen, in Schnee und Kälte ...

»Chasseurs zu Fuß, meine Schönste.«

Schnellen Schritts kamen sie näher und marschierten vorbei, Blau mit Grau gemischt.

Man klatschte Beifall. Sonnverbrannte Marinesoldaten bewegten sich durch die Gruppen. Ein Artillerist hielt einen Quartiermeister am Rocke fest. Die Arbeiterin hielt die Hände an den Mund und rief mit schriller Stimme:

»Es lebe die Armee! Hoch die Kommune!«

Die Kommune! Das war allmählich der Ruf fast der ganzen Nationalgarde geworden. Zu dieser Stunde bereits von der toten Last der Reichen befreit, die sogleich beim Öffnen der Tore zu ihren Familieninteressen oder ihren Geschäften geeilt waren, hatte die Bürgerarmee sich in zwei Klassen geteilt, das Bürgertum und das Volk, die eine passiv: aus Kaufleuten, Beamten, friedfertigen Männern bestehend, die nichts anderes wünschten, als die Wiederaufnahme ihrer alten Gewohnheiten und ruhigen Fortschritt; die andere tätig: aus Arbeitern – den besten und den schlechtesten, – aus Deklassierten, Faulenzern und Widerspenstigen zusammengesetzt, eine feste Masse, vermehrt durch alle durch alle jene, die durch das Wohlleben des Kaiserreiches, Haußmanns umfangreiche Arbeiten angelockt worden waren, und die für sich allein schon eine ganze durch die Teuerung der Lebensmittel zu Boden gedrückte, seit Ausbruch des Krieges arbeitslos gewordene Bevölkerung bildeten.

Für alle jene, die sich am 4. September vereinigt hatten, um das Kaiserreich zu stürzen und die Republik aufzurichten, war die Ankündigung der munizipalen Wahlen eine große Freude, ihre Vertagung eine grausame Enttäuschung gewesen. Paris forderte sein gutes Recht, sich selbst zu verwalten, seinen Magistrat, seine Kommune zu ernennen. Verschieden klingende Worte, gleicher Sinn. Die meisten sahen in letzterer nur ein Synonym; viele einen unklaren Ausdruck, der gut klang und den Begriff der Republik vorteilhaft vervollständigte; einige erweiterten den Sinn des Wortes je nach der Höhe ihrer ehrgeizigen Wünsche oder der Größe ihres Grolles.

»Hoch die Kommune!« pflanzte der Ruf sich fort.

Plötzlich entstand ein Gedränge. Hunderte von Fäusten streckten sich einem Individuum entgegen, das unter Stößen und Schlägen und dem Geschrei: »Das ist ein Spion! Er hat die Nummern der Bataillone in ein Taschenbuch eingetragen! Nieder mit ihm! Ins Wasser!« von zwei Chasseurs zu Fuß vorübergeschleppt wurde. Wilde Empörung bemächtigte sich der Nerven aller: der Magnetismus der Menge, die durch die viermonatelange Belagerung aufgestachelte Erregung, der alte Haß der Vorstädte gegen die Profoßen des Kaiserreiches, all das machte die Hände dieser Wütenden erbeben. Der Mann mit der Beule, der kalten Blutes keiner Fliege ein Leid zugefügt hätte, und der Nationalgardist in der Bluse liefen herbei. Sie langten gerade in dem Augenblicke an, da die Meute auf einen Posten eindrang und ein Offizier vergeblich auf die Menge einredete und schwur, den Spion der Justiz ausliefern zu wollen.

»Nein! Nein! ... Ins Wasser mit ihm! ... Nieder mit dem Elenden! Er hat einen geladenen Revolver bei sich! Man hat eine Polizeiinspektionskarte bei ihm gefunden! Ins Wasser, Vicenzini!«

Ein »Ah! Ah!« der Befriedigung war die Antwort. Die Beute wurde von neuem gefaßt, hin und her gerissen und zum Boulevard Bourdon geschleppt. Über dem Ufer des Quais hängend, schrie der Unglückliche in Todesangst: »Laßt mich erschießen!« Schon waren die Soldaten auf eine Bank gestiegen und zielten. Die Stimmen heulten: »Nein, nein, da könnte er auf uns schießen!« Gefesselt, sprang er von Pinasse zu Pinasse, von seinen Henkern gestoßen und geworfen: eins, zwei, drei, stürzte er ins Wasser, mitten in den Kanal. Wildes Beifallsgeschrei begleitete das Aufspritzen des Wassers. Als lebendes Strandgut, von Schimpf und Spott und einem Hagel von Steinwürfen verfolgt, trieb der Mann blutend der Seine zu.

Auf dem Platze, wo niemand sich um das Verschwinden dieses Menschenlebens mehr kümmerte, als um dasjenige eines ertrunkenen Hundes, ergötzte sich die leidenschaftlich erregte, gegen Tod und Leiden abgestumpfte Menge an dem ständig wechselnden Schauspiel. Semmelverkäufer und Embleme feilbietende Händler bewegten sich von Gruppe zu Gruppe. Zur Erinnerung an die sechshundertfünfzehn Julihelden befestigten schwarzgekleidete Frauen am Fuß der Säule ein Banner mit der Inschrift: »Den Märtyrern die republikanischen Frauen.« Innerhalb der Gitter ordneten mit der roten Rosette geschmückte Kommissare die Kränze. Von einer Gasleiter herab hielt ein Major in Uniform eine Rede. Franctireurs, Liniensoldaten, Zuaven, Mobilgardisten, Freimaurer mit ihren Abzeichen lösten einander ab. Das sich entfernende Bataillon erntete allgemeine Zustimmung; seine Fahne verkündete: »Die Republik oder den Tod!«

Bald jedoch wandten aller Augen sich ab. Durch das Dämmerlicht des sinkenden Tages erklang eine Fanfare, das Nahen eines Bataillons verkündend, dessen Trommler von der Rue Saint-Antoine her ihre Wirbel erklingen ließen.

»Man kommt!« sagte der Vater ernsten Tons. »Sieh her ...«

Im Glied, wo er Seite an Seite mit seinem Sohne Louis auf der Stelle trat, hob der alte Schuhmachermeister Pierre Simon den Kopf. Seine eigenwillige, von einem Gewirr grauer Haare umrahmte Stirn leuchtete. Den Arm schwenkend, grüßte er mit seinem Käppi die durch die Schatten des Abends winkende Säule, den goldenen Genius, der erlösend und segnend seine Hände über die Stadt und die Welt breitete, die rote Flagge von der Farbe des für die Republik vergossenen Blutes. Er fühlte an seinem nachschleppenden Bein nicht mehr die durch die im Juni empfangene Kugel verursachte Steifheit.

»Siehst Du, Louis, dort war die Barrikade. Dort bin ich mit unserem Ältesten gefallen.«

Er deutete auf die Stufen der St. Pauls-Kirche. Sein Gesicht trug das Gepräge trotziger Offenheit; die schwarzen, stolzen, von buschigen Brauen beschatteten Augen, der von einem dichten Bart halbverdeckte spöttische Mund verliehen seinen Zügen einen zugleich sanften, ehrlichen und rauhen Ausdruck. Wie eine knorrige Eiche gewachsen, atmete er kraftvoll, seinen gedrungenen, von der Arbeit gebeugten Körper straff aufrichtend. Er reichte seinem Sohne Louis kaum bis zur Schulter und blickte ihn voll freudigen Stolzes an; in ihn hatte er all seine Hoffnungen auf eine Entschädigung durch eine bessere Zukunft gesetzt, in ihm verkörperte sich sein Streben nach einer Besserung der sozialen Zustände.

Louis, ein hochgewachsener, schöner Bursche, dessen Haltung und Wesen eine gewisse Vornehmheit bekundeten, lächelte, von der Begeisterung seines Vaters mitgerissen. Trotz des Leders, das die Hände schwärzt, trotz des schmutzigen Pechs sah er sehr nett und reinlich aus; Haar und Bart waren lichtblond, die Augen blau, die Zähne so weiß und die Haut des Halses so zart, daß manches Mädchen ihn darum beneidete.

Schlecht und recht marschierten die Kompagnien in Reih und Glied, ein Amalgam von Männern aller Stände, aller Trachten, Alten, Jungen, Kahlköpfigen, Bärtigen, Bürgern, Gewerbetreibenden, Arbeitern; das ganze Pantheon-Viertel vereinigt, um, wenn auch ohne Waffen, der Gedenksäule seine Ehrfurcht zu erweisen. Man entsprach damit dem zwei Tage vorher in der Versammlung in Vaux-Hall ausgesprochenen Wunsche. Zweitausend Delegierte der Bataillone hatten dort den Beschluß gefaßt, daß die zur Verteidigung des Landes und zur Aufrechterhaltung der Republik vereinigte Nationalgarde um jeden Preis, und wäre es selbst mit Gewalt, jedem Versuch der Entwaffnung sich widersetzen und beim ersten Anzeichen des Einzuges der Preußen dem Feind entgegenmarschieren sollte.

»Achtung!« brüllte plötzlich, an der Spitze der dritten Kompagnie, ein kleiner Hauptmann, dessen Kreuz an der Brust grell gegen das fahle Gesicht mit dem schurkischen Ausdruck abstach. Er warf sich voll ostentativer Würde in die Brust. Um die Beine schlug ihm ein unverhältnismäßig langer Säbel.

»He, Bürger Leutnant«, sprach Simon einen jungen Mann mit intelligenten und traurigen Augen an, »Louchard hat also nicht mehr seinen Rheumatismus!«

»Der war gut für die Zeit der Ausfälle!« spottete Louis.

Martial Poncet lächelte, angewidert durch die Erinnerung an den im Keller vergrabenen Portier, an dessen famose Wunde, die ihm das rote Bändchen eingetragen hatte, verursacht durch den Holzsplitter eines Speckfasses, das der Feigling in Buzenval eingeschlagen hatte, während die anderen im Kampfe standen.

Er versuchte, dies häßliche Bild los zu werden und senkte die Stirn unter der traurigen Last der Erinnerungen... Wie fern seine Kunst! In dem verstaubten Atelier der Meißel verlassen, die Tonskizzen in ihre Leichentücher gehüllt. Und die ganze Zeit der Belagerung lebte vor seinem Geiste wieder auf, die düsteren Tage, die vergebliche Sehnsucht nach einem frischen, wirklichen Kampf, die enttäuschte Hoffnung ... sein Schmerz und seine Ohnmacht beim Tode seiner Freundin. Arme Nini! Kleines, zartes, liebliches Wesen, in dem die Heldenseele von Paris geatmet hatte! Noch einmal durchlebte er die schrecklichen Stunden der Kapitulation in Schnee und Kot ... Ach! diese Regierung von Unfähigen, die ihre Pflicht verkannt, verraten, die unerschöpflichen Kräfte von Paris verachtet, sein feuriges, von Patriotismus glühendes Volk mit beständigen Lügen genährt – und die vor diesem selben Volk jetzt die Furcht ergriff! Wie er sie haßte! ...

Und er war nicht der einzige, der ihnen fluchte, diesen Unseligen, die unter der allgemeinen Verachtung zermalmt wurden ... Bei den Wahlen war ihnen ihr Recht geschehen: die Bürgerschaft hatte nur Jules Favre wiederzuwählen gewagt ... Martial teilte beinahe Theroulds wütende Erbitterung. Sein Blick suchte den Maler, der, schlotterig und zerfetzt, Schritt zu halten suchte; die durch Ninis Tod gerissene Lücke hatte ihre Kameradschaft nur noch enger geknüpft ... Und diesen Groll gegen die ehemaligen Herren, die sich hinter die Nationalversammlung verschanzten, gegen die jetzigen Gewalthaber: empfanden, teilten ihn nicht selbst die Gemäßigtesten, wie zum Beispiel dieser wackere Delourmel, der alte, friedliebende Bürger, der dort mit gebeugtem Rücken in Reih und Glied marschierte?

Diejenigen aber, denen Martial sich am nächsten fühlte, mit denen sein Herz sich in vollster Übereinstimmung wußte, das waren – gerade Gegensätze – der Gefährte seines Vaters, sein berühmter Freund Thédenat, der Historiker, dessen edler Geist die Gegenwart erhellte wie er die Vergangenheit neu erstehen ließ, und diese beiden schlichten Männer, die an seiner Seite marschierten, diese Simons mit den schwieligen Händen und dem ehrlich offenen Blick.

Er kannte sie erst seit kurzem, seitdem er einmal in ihrem Laden mit Thédenat zusammengetroffen war, der in ihnen den gesunden Sinn des Volkes schätzte, ihnen gerne Arbeit verschaffte und es liebte, hie und da ein vertrautes Gespräch mit ihnen zu führen, in dem der Scharfsinn des feingebildeten Geistes der Intuition des schlichten Handwerkers begegnete.

Ja, es waren wackere Menschen, diese Arbeiter, die er immer bei der Arbeit fand, im trüben Licht ihrer Werkstatt oder beim Schein der armseligen Lampe, die mit ihrem gelben Licht die ganze versammelte Familie umfaßte: Simon und Louis hämmernd, Anatole, der jüngste mit lauter Stimme vorlesend, die Mutter, das Abendbrot bereitend, und, die flinke Nadel in der rastlos fleißigen Hand, ein anmutiges junges Mädchenantlitz, über die Arbeit gebeugt ... Rose, eine von den Simons an Kindesstatt angenommene Nichte ... Merkwürdig, wie sehr sie in manchen Augenblicken an Nini erinnerte. Biedere Menschen, diese Simons!

Ihr Beispiel machte ihm die Daseinsberechtigung, die Rechte dieser Republik, für die er bisher, trotz der Lehren seines Vaters, in der Gleichgültigkeit des Künstlers nur eine platonische Sympathie empfunden hatte, leichter verständlich. Die vorstädtische Anmut seiner verstorbenen Geliebten, die Teilnahme, die er in seiner Trauer, seiner Verzweiflung bei diesen schlichten Leuten gefunden, die Gemeinsamkeit der Stunden der Ermattung und der Angst, hatte ihn diesen Niedrigergeborenen näher gebracht, ihn zum erstenmal gelehrt, sie als seinesgleichen zu betrachten. Durch sie lernte er, Paris zu lieben, für das sie alle gelitten und das mit ihnen gelitten; er lernte, seine bedrohten Freiheiten verteidigen und vor allem die Republik schützen zu wollen, die durch den heldenhaften Widerstand der Stadt und durch Gambettas verzweifelte Anstrengungen das Land zu galvanisieren versucht hatte. Welch ein Sturz, welche Erniedrigung! Thédenat hatte recht und die Simons in ihrem dunklen Instinkt hatten nur zu gut das Wahre gewittert.

Nein, fürwahr, diese an einem Unglückstag gewählte Volksversammlung, die von Bordeaux aus mürrischen Blicks nach Paris hin lauerte, sie war nicht das Abbild Frankreichs! Sie hatte vor ihrem Entstehen schon die elende Schwäche der Landbevölkerung, die Uneinigkeit und Erschlaffung der Städte ausgebeutet. Fossile Krautjunker, feige Bürger, all die Trümmer früherer Regierungen waren aus ihren Schlupfwinkeln hervorgekrochen, um den Kreuzzug für den Frieden zu predigen, die Begriffe von Krieg und Republik identifizierend, um mit einem Schlag sie beide zu vernichten. Und jetzt, nach beschlossenem Frieden, – denn dieser Schmach ging man entgegen –, war es nicht mehr der preußische Erbfeind, sondern die Republik, die man als ersten Akt des neuen Regimes in Frage stellte, als ob sie gar nicht existierte! Es war Paris, das man beschuldigte, durch seine hartnäckige Belagerung sie unterstützt und verlängert zu haben ... Paris, das zum Lohn für seine Hingebung die tiefste Demütigung erleiden sollte, den gefürchteten unmittelbar bevorstehenden Einzug der Deutschen...

Indessen übertönten diese Gespenster mit ihrem Geschrei die Stimme Garibaldis als Dank dafür, daß er, alt und krank, seinen glorreichen Degen in den Dienst der Verteidigung gestellt hatte. Sie beschimpften die Nationalgarde in dem vor Paris verwundeten Oberst Langlois. Sie hatten Thiers nur in Hoffnung auf seine Bereitwilligkeit gegenüber ihren Kniffen und Winkelzügen zum Präsidenten gewählt. Ein Pakt band sie alle: einmütig wollten sie den geeigneten Augenblick erwarten, um auf Grund neuer Institutionen jeder nach seinem persönlichen Interesse Orléans oder Chambord, ja, wenn man es nur gewagt hätte, selbst Napoleon wieder einzusetzen ...

Das Bataillon erreichte den menschenwimmelnden Platz, wo das Geschrei, die Reden und die Bravorufe zu einem einzigen, stets wachsenden Getöse anwuchsen. Martial hatte die Empfindung, als risse eine Woge ihn hinweg, als gerate er in ein stürmisch bewegtes menschliches Meer. Dicht neben ihm, Schulter an Schulter, marschierte zu seiner Rechten Louis, vor ihnen Simon, der sich fröhlich umwandte, auf das von Begeisterung und patriotischem Vertrauen belebte Gewirr von Soldaten, Nationalgardisten und Spaziergängern deutend.

Dem Schuster lebten die bewegtesten Stunden seines Lebens wieder auf, der Sturmwind der Julirevolution, die Februartage von 1348, die Morgenröte der Freiheit, die in dem Blut der Junitage, in Greueln des 2. September erloschen war. Doch wie war seine Freude, nach dem Schweigen von achtzehn unter dem Drucke des Kaiserreiches seufzenden Jahren von neuem das Herz des Volkes schlagen zu sehen, – wie war diese Freude durch demütigende Verzweiflung vergiftet, wenn er bedachte, daß man dieses Wiedererwachen freiheitlicher Begeisterung der Niederlage, dem Eindringling, dieser Horde verdankte, die Paris in dem Gürtel seiner Forts erwürgte und dessen von Siegestaumel glühenden Atem, dessen beleidigendes Hohnlachen man im Nacken spürte. Nur um so heißer, mit heiligerem Ernst liebte er diese Republik, der man hier zujubelte, diese so oft getäuschte Hoffnung, die er nun doch vor seinem Tode noch erfüllt sehen sollte, die gütige Fee, die geduldig die Wunden heilen und über den rauchenden Trümmern eine bessere Gesellschaft auferbauen würde. All das klang aus seinem rauhen »Vivat!« mit solch hinreißender Kraft, daß es in der Kompagnie, dem Bataillon, einem Teil der Menge lauten Widerhall fand.

Einige Meter weiter hielt ein Mann in bauschiger blauer Samthose und schwarzer, von einem Gürtel zusammengehaltener Bluse in seiner Rede inne und trat auf Simon zu, ihm die Hand reichend. Martial erkannte in ihm ein Mitglied des provisorischen Zentralkomitees, den Zimmermann Fernol, Toulousaner mit dröhnender Baßstimme. Der in den Klubs bekannte Redner deutete mit großartiger Handbewegung auf die Menschenmenge, den Platz, die Säule:

»Was sagt ihr dazu?«

Zur Zeit der Wahlen in die Nationalversammlung hatte die Nationalgarde sich, auf die Initiative einiger Bürger von Baugirard hin, zusammengeschlossen, um eine Anzahl Republikaner in die Versammlung zu wählen. Während der Belagerung hatten Familienräte und zahllose Komitees für Bekleidung, Bewaffnung, Wachdienst sie in ihrer Zerstückelung wieder vereinigt und aus ihren Reihen Delegierte gewählt, deren Rat den Titel eines Zentralkomitees der zwanzig Arrondissements angenommen hatte. Diese Gewalt jedoch, die von Oktober bis Januar die Untätigkeit der Regierung so oft mit ihren Forderungen, Vorwürfen und Ratschlägen aufgestachelt, war seit der Kapitulation gleich den beiden anderen, neben ihr auf der Place de la Corderie tagenden Assoziationen, der Internationalen Verbindung und der Föderation der Arbeiterkammern, in Auflösung geraten...

Sich selbst überlassen, in einer Stadt, deren Garnison nur noch zwölftausend Mann zählte, während durch die Straßen, der Waffen beraubt, eine unzufriedene Menge von zweimalhunderttausend Mobilgardisten und Liniensoldaten zog, allein sich aufrecht erhaltend, hatte die Nationalgarde, diese ungeheuere Masse von dreimalhunderttausend Kombattanten durch ihre lange Untätigkeit und die Verachtung ihrer Macht aufgereizt, angesichts der aus Bordeaux in die Hauptstadt dringenden Drohungen, das Bedürfnis gefühlt, sich zu verbinden. Ein provisorisches Zentral-Komitee war im Begriffe, die Bundesstatuten auszuarbeiten. Schon hatte die Regierung auf Grund allgemeinen Geldmangels den Sold auf die Allerärmsten beschränkt; die totale Einstellung der Löhne stand nahe bevor. Und dies, während Handel und Industrie darniederlagen und es an Arbeit, und damit an Brot, gebrach ... Und der Einstellung des Soldes würde wohl bald auch die Wegnahme der Waffen folgen ... Ausgehungert, machtlos, blieb Paris dann nichts anderes übrig, als sich dem schmählichen Joche einer monarchischen Volksversammlung zu beugen... Nein, man ließ sich seiner Rechte nicht berauben, während die Preußen vor den Toren standen und die Republik in Gefahr war!

Martial horchte auf die Perioden Fernols, die in Fragmenten an sein Ohr drangen.

Plötzlich verbreitete sich, man wußte nicht, woher? ein Gerücht, das gleich einer Springflut das Menschengewühl überschwemmte: »Der Waffenstillstand geht zu Ende, die Preußen ziehen heute abend ein!«

Eine Furche entstand in dem Menschenmeer, ein gewaltiger Windstoß fegte die Straße neben Martial leer. Louchard machte sich wichtig, teilte Befehle aus. Die Offiziere hatten Mühe, die Kompagnie beisammen zu halten. In atemlosem Galopp – war es die Erregung des Triumphs oder die Hast der Panik? – schweißbedeckt und mit fieberhaft geröteten Gesichtern, stürmte eine Anzahl Männer, scheu gewordene Pferde zügelnd, heran; an den Rädern stießen sie Kanonen vorwärts, deren blankes Metall blitzende Reflexe warf.

Fragen flogen hin und her. Man schrie: »Unsere Kanonen! Die Kanonen der Nationalgarde! Vinoy wollte sie den Preußen ausliefern...« Einer der Läufer, der sich mit dem nackten Arm die Stirn trocknete, erklärte: »Es sind die Geschütze aus dem Park Magram. Hätten wir sie nicht fortgeschleppt, so hätten die Preußen sie in Beschlag genommen... Aber alle Bataillone dort beeilen sich, sie zu retten ... Von überall werden sie weggeführt ... Jeder rettet sich die seinen...«

Tiefe Empörung ergriff die Simons, Thérould, Martial. Der alte Delourmel schrie mit seiner zerbrochenen Stimme:

»Die Kanonen gehören uns. Wir haben sie mit unserem Geld, unseren Ersparnissen bezahlt ...«

Ein Nachbar, der jedem, der es lesen wollte, ein Abendblatt reichte, verkündete:

»Sehn Sie nur her. Sie werden heute um Mitternacht einziehen!«

Martial wandte sich an Fernol:

»Ihr im Zentral-Komitee wußtet also nichts davon?«

Der Toulousaner schlug sich auf die Brust und berichtete:

»Es heißt, die Regierung stehe in Unterhandlung wegen Unterzeichnung der Präliminarien ... Mehr weiß ich nicht ...«

Bei Fernols Worten wandte ein Vorübergehender sich um. Martial grüßte. Es war Jacquenne; in seinem hageren Wolfsgesicht glühten und funkelten die Augen. Die von dem kurzen, steifen, ergrauenden Bart umstarrten Kinnbacken schienen wie zum Beißen bereit. Der Geächtete von 1852, der Angeklagte vom 31. Oktober hielt sich nicht länger versteckt. Ein Prozeß-Niederschlagungsbefehl hatte ihm die volle Bewegungsfreiheit wiedergegeben. Er benutzte sie, um sich überall dort zu zeigen, wo sich ihm Gelegenheit bot, über die Regierung zu schimpfen und ihr Hindernisse in den Weg zu stellen. Das am 22. Jänner vergossene Blut hatte einen unversöhnlichen Haß gegen diese schießenden Bürger in ihm erzeugt.

Er gehörte zu den wenigen, die in diesen Stunden der Verwirrung und der Unklarheit weiter sahen, als nur den gegenwärtigen Augenblick. Mit aller Inbrunst sehnte er die – wennmöglich friedliche, wenn es sein mußte, blutige, Revolution herbei. Hatte es nicht an einem Haar gehangen, als er am 31. Oktober mit Blanqui und Flourens ins Rathaus eingedrungen war und davon Besitz ergriffen hatte? ... Wie richtig sie damals doch gesehen hatten! Mit einem energischen Schlag hatte man die Republik noch retten können, indem man die Lebensmittel rationell verteilte, die Mannschaft anzufeuern suchte ... Jetzt rollte man unaufhaltsam dem Abgrund zu. Ganz Frankreich galt es jetzt zu retten. Der Versuch mußte gemacht werden.

Er erklärte:

»Binoy hat, in Voraussicht des Einzugs der Preußen, den 6. Sektor räumen lassen. Er hat dabei nur die Artillerieparks vergessen.«

Fernol wandte ein:

»Da aber die Nationalgarde ihre Waffen behält ... Unsere Kanonen haben nichts zu befürchten.«

Achselzuckend versetzte Jacquenne:

»Wollt ihr, daß der Feind sich angesichts dieser jungfräulichen Kanonen, die man uns niemals gegen sie hatte richten lassen, triumphierend in die Brust werfe? Sollen wir unsere Geschütze, mit den Nummern unserer Bataillone, mit dem Datum der Belagerung, von preußischen Soldaten bewacht sehn?«

Unter lautem Beifallsgemurmel hob er die Stimme:

»Zu den Kanonen, Bürger! Alle guten Franzosen auf den Platz Magram!«

Seit Stunden befand sich die Stadt, die sich nur zu einer Bürger-Manifestation erhoben hatte, in einem Sturm der Erregung. Seit Mittag durchzogen Bataillone der hochgelegenen Viertel unter Trommelwirbel die Straßen innerhalb der Fortifikationen, an jedem Tore forderten die Wächter die Aufziehung der Zugbrücken. Mit Gewalt wollte man sich der Profanation des Einzugs widersetzen! Die Bürgerbataillone von Passy und Auteuil bemächtigten sich auf dem Vendômeplatz ihrer Geschütze und brachten sie in Sicherheit. Im Park Magram wurden die zweihundertsiebenundzwanzig Kanonen von allen Seiten ergriffen und rasselten durch die Straßen, die Wogen des Schmerzes und der Empörung noch wilder aufpeitschend: Paris ausgeliefert, Paris geschändet ... !

Von Tausenden von Lippen fortgepflanzt, prasselte diese Nachricht gleich einem Regenguß auf den Platz nieder, die Menschenwogen aufrührend und stürmischen Tumult entfesselnd. Man löste sich bei den im Dämmerlicht funkelnden Kanonen ab; andere Arme schleppten sie mit frischer Kraft fort, alles strömte dem Place du Trone zu. Von der anderen Seite jedoch ertönte fernes Geschrei, eine Erschütterung ging durch die Massen, immer näher und näher, kam der Lärm.

Wildes Gedränge entstand, Jammerrufe und Klagegeschrei ließen sich vernehmen.

Man rief: »Die Truppen kommen!« »Was wollen sie tun? Was fordert man? Nieder mit Vinoy! Es lebe die Armee! ...« Zur Herstellung der Ordnung abgesandt, drangen vier Infanteriebataillone, das Chassepot auf der Schulter, auf die Menge ein.

Ein kurzer Moment der Unruhe; dann entrang sich ein einstimmiger Schrei aller Lippen. Die Bataillone wurden gesprengt, Soldaten und Manifestanten verschmolzen in eine Masse. »Wozu die Gewehre?« fragte eine alte Frau einen jungen Sergeanten. »Seid ruhig, Mutter, heute geschieht Euch kein Leid!« Und das frische Gesicht einer Modistin erblickend, die neugierig seine Patrontasche befühlte, umfaßte er die üppige Gestalt. »Nicht wahr, Bürgerin, heute abend wird geküßt?« Sie erwiderte den Kuß. Ein Gefühl unendlicher Brüderlichkeit vereinigte all diese Pariser, die, jeder auf seine Weise, und nach seinen Kräften, auf den Vorpostens, den Wällen, am häuslichen Herde, der Stadt gedient, die, alle gemeinsam, die Leiden der Belagerung erduldet hatten.

Die Simons, Thérould und Delourmel hatten sich anderen Nationalgardisten ihres Viertels angeschlossen. Diese, um die Kanone besorgt, die sie auf Inskription hatten schmelzen lassen, wollten zum Park Magram eilen, vielleicht, daß sie sie dort noch fanden. Fernol, Jacquenne verschwunden... Martial sollte die Führung übernehmen. Ein Trommler gesellte sich zu ihnen. »Heda, Kerl, rühr die Schläger!« Das Bewußtsein ihrer Rechte, der Instinkt der Verteidigung riß sie fort. »Vorwärts!« kommandierte Martial. Und mit glühender Stirn, keiner Müdigkeit achtend, hochklopfenden Herzens, setzten sie sich in Bewegung.

Am Mitternacht erst fanden Martial, Delourmel und die Simons eine kurze Ruhe. Vier Stunden lang waren sie marschiert. Die Petroleumlampen, die die Stelle der Gaskandelaber vertraten, erhellten nur schwach die Straßenecken, die Kreuzungen, die Plätze, auf denen ununterbrochen Ansammlungen sich bildeten und wieder auflösten, wo Gruppen in lebhaften Debatten beisammen standen und Truppen defilierten. Man hätte sich in die aufgeregtesten Stunden der Belagerung versetzt glauben können. Von allen Kirchen läuteten die Sturmglocken; in den reichen Stadtvierteln ließ die Regierung zum Sammeln blasen. Vergeblich erklangen die Trommelwirbel. Vereinzelte Einwohner, die bei dem Lärm herbeigeeilt waren, zerstreuten sich bald wieder. Sofort nach Unterzeichnung des Waffenstillstands hatten Tausende von Nationalgardisten der wohlhabenden Klassen die Bataillone in Stich gelassen und Paris verlassen. Anderwärts hingegen, wo die Trommeln der niederen Stände dröhnten, mehrten sich die Reihen von Minute zu Minute.

Auf dem Platz Magram hatten Martial und seine Genossen nur noch wenige, jetzt von der Truppe bewachte Geschütze gefunden. Das ihre war nicht mehr darunter. Wohin war sie gebracht worden, auf den Platz des Bosges, auf den Boulevard Ornano, den Platz Saint-Pierre, nach Belleville oder nach Montrouge? Wo die Soldaten vorüberkamen, schrie die Menge Verrat. Weiber, Kinder, ganze Straßen hielten sie auf, überschütteten sie mit Schmähungen... Die Armee nahm die Kanonen der Nationalgarde in Beschlag! ... Ein Offizier kommandierte: »Platz machen!« Eine Arbeiterin zeigte ihm die Faust: »Schämst du dich nicht?« Auf den Schwellen der Häuser standen schimpfend halbbekleidete Bewohner.

»Die Preußen sind da! Genug gezaudert! Jetzt ist's nicht mehr Trochu, der den Weihwedel führt! Jetzt gilt's für die Männer von Mut und Herz!«

Erschöpft, mit leeren Händen, kehrten die Simons und Martial zurück. Als sie die Brücke de la Concorde hinter sich hatten, und beim Korps legislativ um die Ecke bogen, stieß der Schuster Martial mit dem Ellbogen an. Beim Schein einer hochgehobenen Fackel las eine Gruppe von Leuten ein frisch angeklebtes Plakat. »Laßt sehn«, sagte Louis. Und mit lauter Stimme las er die Worte: »Die Friedenspräliminarien sind heute unterzeichnet worden ... Ungeachtet aller Bemühungen war es unmöglich, den Einzug eines Teiles der deutschen Armee in gewissen Vierteln von Paris zu verhindern ...« Sie vermochten einen Aufschrei nicht zu unterdrücken: »Also doch wahr. Die Preußen ziehen ein!« Der Atem stockte ihnen, und doch konnten sie die Blicke nicht von dem Plakat abwenden. Die Augen des alten Simon füllten sich mit schweren Tränen. Martial murmelte niedergeschmettert, wie um sich zu überzeugen: »Unterzeichnet: der Minister des Innern, E. Picard.«

Da begannen sie zu laufen. Sie hatten nur noch einen Gedanken: das Viertel zu alarmieren, die Bataillone des Pantheon zu sammeln. Man mußte den Siegern, die ohne Sieg die Stadt betreten wollten, entgegenziehen, mußte ihnen zeigen, daß Trochu nicht in Paris war; daß man zwar kein Brot mehr, aber immer noch Kugeln hatte ...! Am Eingang der Rue Soufflot angelangt, sprach der alte Simon:

»Louis, du gehst zur Mairie. Sieh, ob dort Befehle erlassen worden, und hole uns dann im Laden ab! Sie werden doch einen Bissen essen, Herr Poncet?«

Nun erst fühlte Martial, der seit dem Morgen nichts zu sich genommen hatte, daß der Hunger in ihm wühlte. Er wollte, rücksichtsvoll, in die »Rote Kuh« eintreten, doch der Milchladen war leer, kein Stück Brot darin zurückgeblieben. Schlecht verproviantiert, vermochte Paris nicht mehr seinen Hunger zu stillen, und indem es mehr trank, als aß, erhitzte es noch sein Fieber.

»Kommen Sie doch zu uns«, sagte Simon, »genieren Sie sich doch nicht.«

Und gerührt war Martial ihm gefolgt.

Auf der Schwelle der Werkstatt stand wartend eine grauhaarige Frau. Sie faßte die Näherkommenden ins Auge und rief:

»Bist du's, Mann?«

Ihr sorgenvolles Gesicht hellte sich auf; als sie Martials ansichtig wurde, fragte sie:

»Wo ist Louis?«

»Er kommt«, erwiderte Simon. »Ist noch etwas für uns da? Der Herr Leutnant wird unser Abendbrot teilen.«

»Treten Sie nur ein, gnädiger Herr«, sagte sie höflich.

Und tiefergriffen, Simon voll Zärtlichkeit anblickend, seufzte sie:

»Was war das für ein Tag! Ich habe schon geglaubt, ihr werdet nicht mehr heimkehren!«

Ihre etwas zu starke Gestalt und ihr verwelktes Gesicht verrieten einstige Schönheit; der Ausdruck von Güte nahm für sie ein. Ihre sehr hellblauen Augen verliehen ihren festen Zügen das Gepräge der Ehrlichkeit. Während sie einen Topf mit Kartoffeln vom Feuer zog, fragte sie:

»Ist es wahr, was man sich erzählt? Die Preußen ...?«

Bei dem Laute der Stimmen erbebte ein junges Mädchen, das in einem Winkel des Raumes zusammengekauert gesessen war. Martial verneigte sich. Es war Rose, die Nichte der Simons. Ihr Blick glitt suchend über die Anwesenden, und richtete sich, als sie den Gesuchten nicht fand, mit ängstlicher Frage auf Vater Simon, der, am Tische stehend, das Brot schnitt und ein Stück davon Martial reichte. Da öffnete sich die Tür, Louis trat ein, Rose lächelte, als wäre sie erst jetzt völlig erwacht ... Und wieder klirrte der Türriegel. Die Flinte seines älteren Bruders tragend, den er vor der Mairie getroffen, glitt Anatole mit affenartiger Behendigkeit ins Zimmer. Und mit ihnen drang, alles beherrschend, in die schlichte, von dem Lampenlicht und dem Duft des Abendbrots behaglich durchwärmte Werkstatt der gigantische Lärm der Außenwelt, aufregend, das Blut erhitzend.

»Hörst du, Therese!« sagte Simon ... »Die Preußen ziehen ein. Wir sind bereit, sie zu empfangen.«

Sie erblaßte, ohne zu antworten. Schon hatte sie das Ende ihrer Leidenszeit gekommen geglaubt. Wie oft hatte sie in diesen Winternächten sie unter Trompetengeschmetter und Trommelschlag ausrücken sehen, ihre Säbel umschnallend, ihre Gewehre ergreifend. Ihn, den Mann und Louis, den sie gleich Anatole als ihre Söhne betrachtete, obgleich sie ihnen nur eine Pflegemutter war; die andere, die wirkliche Mutter, war eines Tages mit einem Geliebten verschwunden, alles mit sich nehmend, auch den Namen, mit dem sie, Therese, sich niemals nennen durfte, eine Gattin ohne Rechtstitel, doch nicht ohne Rechte.

Tiefes Schweigen herrschte. Die Männer aßen in Eile und vermieden dabei, die resignierten und verstörten Gesichter der Frauen anzublicken. Sie alle lauschten dem furchtbaren Donner, in dem das Sturmgeläute der Glocken, der abgehackte Rythmus der Trommeln und Trompeten, der betäubende Lärm der Straßen die Empörung und die Verzweiflung von Paris ausströmten.

»Auf Wiedersehen, Frau«, sagte Simon.

»Auf Wiedersehen, Mutter«, sagten die Söhne.

Sie umarmten sie. Als sie Anatole bereit sah, mitzugehen, überlief sie ein Schauder. Mit fünfzehn Jahren! Stumm lehnte sie sich an den Werktisch und während Rose, die ihren Schmerz nicht länger zu beherrschen vermochte, in Tränen ausbrach, folgte sie den Abziehenden mit einem langen, verstehenden Blick.

Wieder sahen die Männer sich von dem Orkan fortgerissen, der unter dem sternenklaren Himmel die Leidenschaft der ganzen Stadt entfesselte. Das Sammelsignal ertönte ohne Unterlaß. Von Sainte-Geneviere du Pantheon und der Sorbonne dröhnten die gewaltigen Trauerklänge der schweren Glocken, denen jene von Saint-Jacques und von Saint-Etienne-du-Mont antworteten. Aus den Biwakfeuern der Straßenkreuzungen zuckten die Flammen empor, die Häuser mit rotem Schein färbend.

Unaussprechliche Angst und Bangigkeit hatte das schlummerlose Paris umklammert und hielt die im Ministerium des Äußeren versammelte Regierung in Atem. In düsterster Stimmung waren Thiers und Favre am Abend aus Versailles zurückgekehrt, wo sie die Friedenspräliminarien unterzeichnet und ihre Namen unter Bismarcks mit goldener Feder gefertigte Unterschrift gesetzt hatten. Jeden Augenblick empfingen sie von dem Polizeipräfekten Depeschen mit der Ankündigung ihres unfehlbar für die Nacht bevorstehenden Sturzes. Vinoy hatte zu ihrem Schutze nur einige, nicht allzu verläßliche, Kompagnien von Chasseurs zu Fuß und Liniensoldaten aufzubieten vermocht. Angstvoll forschend blickten das Haupt der Regierung und seine Minister in das Dunkel hinaus, in das Getöse dieses uferlosen Stromes, der alles fortzureißen drohte.

In der Rue Soufflot rannten Martial und die Simons mit Delourmel zusammen, der aus seiner friedlichen Wohnung kam, wo seine Frau sich in Angst und Verzweiflung verzehrte. Louchard, seit langem bettlägerig, erholte sich von seinen oratorischen Mühen. Aus dem Hintergrunde seiner Loge hatte er ihnen zugerufen: »Kann unmöglich kommen. Eine Kanone hat mir den Fuß überfahren ...« »Soll heißen: durch die Kehle gelaufen«, höhnte Anatole, der gesehen hatte, wie die Hausmeisterin schnell eine auf dem Nachttisch neben einem tüchtigen Stück Schinken stehende Literflasche hatte verschwinden lassen ...

Vor der Sorbonne wimmelte es von Haufen von Nationalgardisten. Fernol ordnete mit wichtiger Miene die Reihen, erteilte den Bataillonschefs mit leiser Stimme seine Befehle. Dem allgemeinen Drange folgend, konstituierte sich das Zentralkomitee in Permanenz. Ohne Führung und ohne Kommando setzten tausend Männer sich in Bewegung, mit ihrer Wucht die Boulevards Saint-Michel und Saint-Germain reinfegend. Aus den Hauptstraßen strömten andere Bataillone herzu und vermischten sich mit ihnen. Auf der Place de la Concorde angelangt, waren es ihrer schon dreitausend, die sich mit den aus Belleville herbeigeeilten Kombattanten vereinigten. Und in endlosen Reihen zogen über die äußeren Boulevards immer noch neue Bataillone hinzu. Die Champs-Elysees verwandelten sich in eine wogende Flut.

Woge auf Woge, verbreitete sie sich mit elementarer Gewalt, ein ganzes fieberglühendes, verdüstertes Volk in ihre Tiefe reißend, über der, dem unvermeidlichen Schaume gleich, hie und da ein paar Dirnen, einige Betrunkene auftauchten. Halbwüchsige Knaben schleppten singend etliche kurze Haubitzen. Der Schein der Fackeln übergoß die Gesichter mit blutiger Röte. Mehr als vierzigtausend Menschen zogen dem Arc de Triomphe zu.

Stumm schritt Martial neben den Simons hin. Und doch tat es ihm wohl, wenn hie und da die Schulter des Alten an die seine stieß, die Berührung dieser rauhen Knochen zu fühlen. Ihre Kräfte verschmolzen miteinander, sie fanden sich in der gleichen Wut der Erniedrigung, der gleichen Verzweiflung. Und all die bitteren Leiden der Belagerung, ihre Enttäuschung über die Kämpfe an der Marne, die Unbeweglichkeit von Le Bourget, das fruchtlose Blutbad bei Buzenval, all die auf Posten verbrachten Nächte, die tödliche Kälte, das faule Brot, die die Stadt zermalmenden Granaten, all ihr nutzloser guter Wille, ihr verkannter, verachteter Mut, all ihr Schmerz und ihr Zorn stieg ihnen in die Kehle empor und berauschte sie wie ein Trunk blutigen Weines. In der Trunkenheit der Mordlust und der Selbstzerstörungswut marschierten sie dahin. Nur über ihre Leichen hinweg sollten die Preußen von Paris Besitz ergreifen! Der bald gedämpfte, bald mit verstärkter Gewalt losbrechende Tumult, der Lärm der Sturmglocken und des Generalmarsches umhüllte sie mit einem Wirbelsturm von Unheil und Trümmern: flammend, drohend schwarz in all der Feuersbrunst, erhob sich – ein neues Moskau – Paris in den Händen der Barbaren ... Sein Ende sollte ein seiner würdiges sein!

Bis in die Tiefe ihres Herzens drang ihnen das Dröhnen der zahllosen Schritte der brüderlich geeinten, vor Erschöpfung trunkenen Menge, die wie in einem wüsten Traum befangen, sich weiterwälzte, – den Preußen entgegen, von ihrem erhabenen Wahnsinn getrieben, auf die verödeten Wälle zogen sie im Dunkel der linden Nacht.


 << zurück weiter >>