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Sechsunddreißigstes Kapitel

Wer hätte wohl noch vor einigen Stunden Renzo sagen sollen, daß mitten im stärksten Eifer einer solchen Nachforschung, beim Beginn der zweifelhaftesten, entscheidendsten Augenblicke sein Herz zwischen Lucia und Don Rodrigo geteilt sein würde? Und dennoch war es so; jene Gestalt kam und mischte sich in alle lieben oder erschreckenden Bilder, die die Hoffnung oder Furcht ihm auf diesem Gange abwechselnd vorstellten; die zu den Füßen jenes Lagers gehörten Worte drängten sich zwischen die Bejahungen und Verneinungen ein, von denen sein Gemüt bestürmt wurde, und er vermochte nicht ein Gebet für den glücklichen Ausgang des großen Versuches zu beschließen, ohne damit jenes zu verknüpfen, welches dort begonnen und von dem Glockentone unterbrochen worden war.

Die achteckige Kapelle, die, einige Stufen über dem Erdboden erhaben, inmitten des Lazaretts aufragte, war in ihrem anfänglichen Bau nach allen Seiten offen und ohne andere Stützen als Pfeiler und Säulen, gewissermaßen ein Gebäude von durchbrochener Arbeit, auf jeder Vorderseite zwischen zwei Säulenweiten ein Bogen. Innerhalb ging eine Halle rings um das, was im eigentlichen Sinne Kirche zu nennen war und nur aus acht Bogen bestand, die, von Pfeilern getragen, von einer kleinen Kuppel überdeckt wurden und denen der Hauptseiten entsprachen, so daß der auf dem Mittelpunkt errichtete Altar aus jedem Stubenfenster des Hauses und fast auf jedem Punkte des Platzes gesehen werden konnte. Jetzt, nachdem das Gebäude zu einem ganz anderen Gebrauche verwandt worden, sind die Zwischenräume der Vorderseiten ausgemauert; indessen zeigt das alte, unverletzt stehengebliebene Gerippe deutlich genug den alten Zustand und die alte Bestimmung desselben an.

Renzo war kaum aufgebrochen, so sah er den Pater Felice in der Halle des Kirchleins erscheinen und nach dem mittleren Bogen der der Stadt zugekehrten Seite zuschreiten, vor welchem unten auf dem Gange die Versammlung aufgestellt war, und er entnahm alsbald aus seiner Haltung, daß er die Predigt begonnen hatte.

Er wand und drehte sich die schmalen Wege dergestalt entlang, daß er im Rücken der Zuhörerschaft ankäme, so wie es ihm eingegeben worden war. Daselbst angelangt, blieb er, sich ganz still und ruhig verhaltend, stehen und überflog sie mit dem Blicke; aber er sah von hier aus nichts als eine gedrängte, ich möchte sagen, einem Steinpflaster gleiche Menge von Köpfen. In der Mitte befand sich eine gewisse Anzahl mit Tüchern oder Schleiern bedeckter; hierhin heftete er die Augen am aufmerksamsten; da es ihm aber nicht gelang, darin etwas zu entdecken, so schlug er sie gleichfalls dahin auf, wo alle die ihrigen hingerichtet hielten. Er ward ergriffen und gerührt von der ehrwürdigen Gestalt des Redners, und mit dem, was ihm in einer derartigen Spannung von Aufmerksamkeit übrigbleiben konnte, vernahm er diesen Teil der feierlichen Anrede:

»Seien wir denn auch eingedenk der Tausende und aber Tausende, die dort hinausgegangen sind,« und den Finger über seine Schulter erhebend, deutete er damit hinter sich auf das nach dem sogenannten San Gregorio-Gottesacker führende Tor, der damals, man kann sagen, über und über eine weite Grube war; »werfen wir einen Blick umher auf die Tausende und aber Tausende, die hier zurückbleiben, nur allzu ungewiß, wo hinaus sie gelangen werden; werfen wir einen Blick auf die wenigen, die gerettet von dannen ziehen. Gepriesen sei der Herr! Gepriesen in seiner Gerechtigkeit, gepriesen in seinem Erbarmen! Gepriesen im Tode, gepriesen in der Heilung! Gepriesen in der Auswahl, die er mit uns hat treffen wollen! Ach, warum hat er das doch sonst gewollt, meine Kinder, als um sich ein kleines Häuflein vorzubehalten, das durch Herzeleid gebessert und von der Dankbarkeit begeistert wäre? als damit wir, jetzt lebhafter empfindend, wie das Leben ein Geschenk von ihm ist, dasselbe so hoch achten wie etwas, das er gegeben hat, geachtet zu werden verdient, daß wir es zu Werken anwenden, die ihm dargebracht werden können? als damit die Erinnerung an unsere Leiden uns mitleidig und hilfreich gegen unsere Nächsten mache? Diese indessen, in Gemeinschaft mit denen wir gelitten, gehofft, gefürchtet haben, unter denen wir Freunde, Verwandte zurücklassen und die denn am Ende alle unsere Brüder sind; diejenigen unter diesen, die uns mitten durch sie hinziehen sehen, mögen sie doch, derweil sie vielleicht einigen Trost in dem Gedanken empfangen, daß, wenn auch nur einige geheilt von hinnen gehen, von unserem Betragen erbaut werden. Verhüte Gott, daß sie in uns etwa eine lärmende Freude, eine sinnliche Freude darüber wahrnehmen, daß wir dem Tode entgangen sind, gegen den sie noch ankämpfen. Mögen sie sehen, daß wir für uns dankend und für sie betend scheiden und sagen können: auch wenn sie nicht mehr hier sind, werden diese sich unser erinnern, werden sie fortfahren, für uns Arme zu beten. Beginnen wir mit diesem Gange, mit den ersten Schritten, die wir tun, ein Leben, ganz der Menschenliebe zu eigen. Mögen doch diejenigen, die ihre alten Kräfte wiedergewonnen haben, einen brüderlichen Arm den Schwachen leihen; ihr Jünglinge, unterstützt die Greise; ihr, die ihr keine Kinder mehr behaltet, schaut um euch, wie viele Kinder ohne Eltern geblieben sind! Vertretet Elternstelle an ihnen! Und indem diese Barmherzigkeit eure Sünden zudeckt, wird sie auch eure Schmerzen lindern.«

Hier wurde ein dumpfes Gemurmel von Seufzen und Schluchzen, das in der Versammlung immer mehr anwuchs, plötzlich unterbrochen, als man den Prediger sich einen Strick um den Hals legen und niederknien sah, und in großer Stille erwartete man, was er sagen werde.

»Für mich«, sprach er, »und für alle meine Gefährten, die wir ohne all unser Verdienst zu dem hohen Vorrechte, Christo in euch zu dienen, auserwählt worden, bitte ich euch demütig um Vergebung, wenn wir ein so großes Amt nicht würdig verwaltet haben. Wenn die Trägheit, die Unwilligkeit des Fleisches uns weniger achtsam auf eure Notdurft, weniger bereit auf euern Ruf gemacht hat; wenn eine unbillige Ungeduld, wenn eine strafwürdige Verdrossenheit uns mitunter ein unwilliges und hartes Gesicht haben zeigen lassen; wenn je zuweilen der elende Gedanke, daß ihr unser bedürftet, uns verleitet hat, euch nicht mit all der gebührenden Demut zu behandeln; wenn unsere Gebrechlichkeit schuld geworden, daß wir eines und das andere begangen haben, was euch ein Ärgernis abgegeben hat; so vergebt uns! Also erlasse euch Gott auch alle eure Schuld und segne euch.«

Und über die Zuhörerschaft hin ein großes Zeichen des Kreuzes machend, erhob er sich.

Wir haben, wo nicht die ausdrücklichen Worte, so doch wenigstens den Sinn und Inhalt derjenigen, die er wirklich sprach, hinterbringen können; aber die Art und Weise, wie sie vorgebracht wurden, ist etwas, das sich nicht beschreiben läßt. Es war die Art und Weise eines Menschen, der es ein Vorrecht nannte, Pestkranken zu dienen, weil er es für ein solches hielt; der da bekannte, ihm nicht nach Würden entsprochen zu haben; weil er fühlte, daß er ihm nach Würden entsprochen habe; der um Vergebung bat, weil er überzeugt war, ihrer zu bedürfen. Aber die Leute, die jene Kapuziner mit nichts anderem um sich beschäftigt gesehen hatten, als ihnen zu dienen, die deren so viele hatten sterben und den, der für alle sprach, immer als den ersten in der Anstrengung wie seinem Ansehen nach gesehen, außer als er selber nahe daran gewesen war, zu sterben; man denke sich, mit welchem Geschluchze, mit welchen Tränen sie auf einen solchen Antrag antworten mußten. Der bewundernswürdige Mönch nahm darauf ein großes Kreuz, das an einem Pfeiler lehnte, pflanzte es vor sich auf, ließ am Rande der äußeren Halle die Sandalen, stieg die Stufen der Kapelle herab und bewegte sich durch die Menge hindurch, die ihm ehrfurchtsvoll Raum gab, um sich an ihre Spitze zu stellen.

Renzo, nicht mehr oder minder weinend, als ob er auch einer von denen gewesen wäre, an die jene seltsame Bitte um Vergebung getan worden, zog sich gleichfalls mehr hinterwärts und stellte sich zur Seite einer Hütte, wo er halb versteckt, mit dem Körper zurückstehend, den Kopf vorgestreckt, die Augen weit geöffnet, mit gewaltigem Herzklopfen, aber zugleich mit einer gewissen neuen und eigentümlichen Zuversicht, die, vermute ich, aus der Rührung entsprungen war, in die die Predigt und der Anblick der allgemeinen Rührung ihn versetzt hatten, erwartungsvoll aufpaßte.

Und siehe, da kam der Pater Felice heran, barfuß, mit dem Strick um den Hals, das lange, gewichtige Kreuz vor sich erhoben; bleich und abgezehrt im Antlitz, in einem Antlitz, das zugleich Zerknirschung und Mut verriet; langsamen aber entschlossenen Schrittes, wie jemand, der anderer Schwäche schonen will, und in allem wie ein Mann, dem Beschwerden und Mühsale die Kraft verliehen, die so vielen notwendigen und von seinem Amte unzertrennlichen zu ertragen. Unmittelbar nach ihm folgten die schon erwachsenen Kinder, großenteils barfuß, nur sehr wenige völlig bekleidet, einige im bloßen Hemde. Darauf kamen die Frauen, von denen fast eine jede ein kleines Kindchen bei der Hand führte, und die abwechselnd das Miserere sangen; und der schwache Klang der Stimmen, die Blässe und Kraftlosigkeit der Gesichter waren Dinge, die die Seele eines jeden mit Mitleid erfüllt haben würden, der sich als einfacher Zuschauer daselbst befunden hätte. Renzo aber betrachtete, prüfte Reihe für Reihe, Gesicht für Gesicht, ohne eines zu übersehen; denn das gemächliche Vorschreiten des Zuges ließ ihm dazu hinlängliche Zeit. Es zieht vorüber und vorüber, er schaut und schaut, immer vergebens; er warf halbe Blicke auf den noch rückständigen Schwarm, der immer mehr abnahm; es sind jetzt nur noch wenige Reihen; er ist bei der letzten, sie sind alle vorüber; es waren lauter unbekannte Gesichter.

Mit niederhängenden Armen und den Kopf auf die eine Schulter gelehnt, ließ er das Auge jener Schar nachfolgen, derweil die der Männer an ihm vorbeizog. Eine neue Spannung, eine neue Hoffnung ward in ihm rege, als er hinter diese drein einige Wagen kommen sah, worauf diejenigen Genesenden waren, die sich noch nicht auf den Füßen erhalten konnten. Hier kamen die Frauen zuletzt; und auch dieser Zug ging so langsam, daß Renzo gleichfalls alle diese Geheilten durchmustern konnte, ohne daß ihm eine entgangen wäre. Aber ach! er durchforscht den ersten Wagen, den zweiten, den dritten und so fort, immer mit dem nämlichen Erfolg, bis zu einem, hinter dem nichts weiter als ein anderer Kapuziner, ernsten Aussehens und mit einem Stocke in der Hand, kam, wie ein Aufseher des Geleites. Es war der Pater Michele, von dem wir gesagt haben, daß er dem Pater Felice in seiner Verwaltung als Gehilfe beigegeben worden.

Also verschwand jene süße Hoffnung ganz und gar und nahm im Verschwinden nicht nur den Trost mit sich hinweg, den sie verliehen hatte, sondern ließ auch, wie es zumeist geschieht, den Menschen in einem noch schlimmeren Zustande als vorher zurück. Nunmehr war der glücklichste Fall der, Lucia krank anzutreffen. Dessenungeachtet, da der Eifer einer vorhandenen Hoffnung auf den der gesteigerten Besorgnis sofort eintrat, hielt er mit allen Kräften seiner Seele an diesem dürftigen, schwachen Faden fest, trat auf die Straße hinaus und bewegte sich in der Richtung fort, wo der Zug hergekommen war. Am Fuße des Kirchleins angelangt, kniete er auf der untersten Stufe nieder und richtete von dort ein Gebet an Gott, oder, besser zu sagen, eine Masse verworrener Worte, abgebrochener Sätze, Ausrufungen, Bitten, Klagen, Verheißungen, eine von den Anreden, die man nicht an die Menschen richtet, weil sie weder Scharfsinn genug haben, sie zu verstehen, noch Geduld, sie anzuhören; sie sind eben nicht groß genug, um darob Mitleid ohne Verachtung zu empfinden.

Er stand ein klein wenig ermutigt wieder auf, schritt um die Kapelle herum, befand sich auf dem anderen Wege, den er noch nicht gesehen hatte und der nach dem andern Tore führte; er war noch nicht lange gegangen, so sah er zur Rechten und zur Linken das Staket, von dem ihm der Mönch gesagt, und zwar ganz durchbrochen und zerfallen, gerade wie er auch gesagt hatte; er drang durch eine der Öffnungen hindurch und befand sich in der Wohnung der Frauen. Fast bei dem ersten Schritte, den er darin vorwärts tat, fiel ihm am Boden, unversehrt mit ihren Schnürbändern, eine der Schellen in die Augen, die die Monatti an den Füßen tragen; es kam ihm in den Sinn, daß ein solches Werkzeug ihm da drinnen gleichsam als Paß dienen könnte; er hob es auf, sah umher ob ihn niemand sähe, und legte es an sich. Und sogleich begann er seine Nachforschung, eine Nachforschung, die schon um der großen Menge der Gegenstände willen ungemein schwierig gewesen sein würde, wenn auch diese Gegenstände ganz andere gewesen wären. Er begann neue Szenen des Jammers, teilweise ebenso ähnlich denen, die er schon gesehen hatte, wie ihnen teilweise unähnlich, mit den Blicken zu überfliegen, ja sogar zu betrachten; denn unter dem nämlichen Drangsale war doch hier gewissermaßen ein anderes Leiden, eine andere Betrübnis, ein anderer Jammer, eine andere Art zu ertragen, eine andere Art, sich gegenseitig zu bemitleiden und beizustehen; es war in dem Zuschauenden sozusagen eine andere Teilnahme und ein anderer Schauder.

Er hatte bereits, ich weiß nicht, was für eine große Strecke fruchtlos und ohne Abenteuer durchmessen, als er hinter seinem Rücken ein: »Heda!« einen Ruf vernahm, der ihm zu gelten schien. Er drehte sich um und sah in einer gewissen Entfernung einen Kommissar, der die Hände in die Höhe hob und in der Tat ihm zuwinkte, indem er ihm zurief: »Dort in den Stuben tut Hilfe not; hier ist ja erst aufgeräumt.«

Renzo begriff unverzüglich, wofür er gehalten ward, und daß die Schelle die Ursache des Mißverständnisses sei; er schalt sich einen Dummkopf, daß er nur an die Ungelegenheiten gedacht, die ihm dies Zeichen ersparen, und nicht an diejenigen, die es ihm zuziehen könnte; jedoch bedachte er in dem nämlichen Augenblicke, wie von demselben loszukommen wäre. Er nickte ihm wiederholt mit dem Kopfe zu, wie um zu besagen, daß er verstanden habe und gehorche, und entzog sich seinem Anblick, indem er sich nach einer Seite hin zwischen die Hütten eindrängte.

Sobald er entfernt genug zu sein meinte, dachte er auch daran, die Ursache des Ärgernisses zu beseitigen, und um damit unbeobachtet zustande zu kommen, begab er sich in einen engen Raum zwischen zwei kleinen Hütten, die mit den Rückseiten gegeneinander standen. Er bückt sich, um die Bänder zu lösen, und indem er sich so mit dem Kopf an die Strohwand der einen Hütte lehnt, trifft ihm daraus eine Stimme in das Ohr ... O Himmel! ist es möglich? Seine ganze Seele ist Ohr; der Atem ist ihm benommen ... Ja, ja! es ist die Stimme! ...

»Was fürchten?« sprach die sanfte Stimme; »wir haben doch ganz andere Dinge als ein Gewitter ausgestanden. Wer uns bis jetzt behütet hat, wird uns auch ferner behüten.«

Wenn Renzo nicht aufschrie, so geschah es nicht aus Furcht, entdeckt zu werden, es geschah, weil er keinen Atem dazu hatte. Die Knie brachen unter ihm zusammen, sein Blick umnebelte sich; aber es war ein erster Augenblick; im zweiten stand er auf den Füßen, munterer, kräftiger als vorher; in drei Sätzen war er um die Hütte, war er am Eingang, sah er die, die gesprochen hatte, sah er sie dastehen, über ein elendes Lager hingebeugt.

Sie wendet sich bei dem Geräusch, blickt hin, glaubt unrecht zu sehen, zu träumen, blickt schärfer hin und schreit: »O heiliger Gott!«

»Lucia! Ich habe dich gefunden! Ich finde dich! Bist du es wirklich! lebst du!« rief Renzo aus und trat über und über zitternd näher.

»O heiliger Gott!« erwiderte Lucia, noch heftiger zitternd, »du? was ist das? auf welche Weise? warum? die Pest!«

»Ich habe sie gehabt. Und du?« ...

»Ach! ich auch. Und von meiner Mutter?« ...

»Ich habe sie nicht gesehen, weil sie in Pasturo ist; ich glaube aber, sie ist wohl. Aber du ... wie blaß bist du doch! Wie matt scheinst du! Aber doch geheilt, du bist geheilt?«

»Der Herr hat mich noch hier unten lassen wollen. Ach, Renzo! warum bist du hier?«

»Warum?« sagte Renzo, immer näher zu ihr herantretend. »Du fragst mich, warum? Warum sollte ich denn wohl hierherkommen! Muß ich es dir erst sagen? An wen habe ich denn auch zu denken? Heiße ich nicht mehr Renzo? Bist du nicht mehr Lucia?«

»Ach, was sagst du! was sagst du da! Hat meine Mutter dir denn nicht schreiben lassen?« ...

»Ja, nur allzuviel hat sie mir schreiben lassen. Gar schöne Dinge, sie einem armen unglücklichen, gequälten, flüchtigen Jungen schreiben zu lassen, der doch wenigstens schlechte Streiche niemals begangen hatte!«

»Aber Renzo! Renzo! da du also weißt ... warum mußt du kommen? warum?«

»Warum ich kommen muß? Ach, Lucia! warum ich kommen muß, fragst du mich? Nach so vielen Versprechungen? Sind wir denn nicht mehr wir? Weißt du denn von gar nichts mehr? Was fehlte noch?«

»Ach, Herr!« rief Lucia schmerzlich aus, faltete die Hände eng ineinander und erhob die Augen gen Himmel; »warum hast du mir nicht die Gnade erwiesen, mich zu dir zu nehmen! ... Ach, Renzo, was hast du getan? Siehe, ich begann zu hoffen, daß ich ... mit der Zeit ... vergessen würde ...«

»Eine schöne Hoffnung! Schöne Dinge, mir so ins Gesicht zu sagen!«

»Ach, was hast du getan? Und an diesem Orte! Unter diesem Elend! Unter diesen Schauspielen! Hier, wo man sonst nichts tut, als daß man stirbt, hast du können! ...«

»Die da sterben, für die muß man Gott bitten, und von denen muß man hoffen, daß sie an einen guten Ort kommen; aber es wäre nicht recht, und auch schon deswegen nicht, wenn die, die leben, wie Verzweifelnde leben sollten ...«

»Aber Renzo! Renzo! Du bedenkst nicht, was du sagst. Ein Versprechen, der Madonna abgelegt! ... Ein Gelübde!«

»Und ich sage dir, daß das Versprechen sind, die gar nicht gelten.«

»Oh, Herr! Was sagst du? Wo bist du die Zeit über gewesen? Mit wem bist du umgegangen? Wie sprichst du?«

»Ich spreche wie ein guter Christ, und von der Madonna denke ich besser als du; denn ich glaube, daß sie Versprechungen nicht haben will, die dem Nächsten Schaden zufügen. Wenn die Madonna gesprochen hätte, ja dann! Aber was ist's gewesen? Eine Einbildung von dir. Weißt du wohl, was du der heiligen Jungfrau versprechen mußtest? Versprich ihr, daß wir die erste Tochter, die wir haben werden, Maria nennen wollen; denn das will ich ihr hier gleich auf der Stelle mit versprechen; so etwas macht der Madonna gar bei weitem mehr Ehre; solche Andachtsübungen haben viel mehr Sinn und fügen niemand Schaden zu.«

»Nein, nein, sprich nicht so; du weißt nicht, was du sprichst; du weißt nicht, was es heißt, ein Gelübde ablegen; du bist nicht in der Lage gewesen, du hast es nicht erfahren. Laß mich, laß mich, um des Himmels willen.«

Und sie entfernte sich ungestüm von ihm und kehrte zu dem Lager zurück.

»Lucia!« sagte er, ohne sich zu rühren, »sage mir wenigstens, sage mir, wenn es nicht aus dem Grunde wäre ... würdest du dann noch die nämliche für mich sein?«

»Herzloser Mensch!« entgegnete Lucia, sich abwendend und nur mit Mühe der Tränen enthaltend; »wenn du mich hättest unnütze Worte sagen lassen, Worte, die mir weh täten, Worte, die vielleicht sündhaft waren, würdest du dann zufrieden sein? Geh, ach geh! Vergiß mein; wir waren einander nicht bestimmt. Wir werden uns dort oben wiedersehen, wir haben ja so nicht lange auf dieser Welt zu leben. Geh, sieh, daß du meiner Mutter zu wissen tun kannst, daß ich geheilt bin, daß mir auch hier Gott immer beigestanden hat, daß ich eine gute Seele gefunden habe, diese brave Frau, die Mutterstelle an mir vertritt; sage ihr, ich hoffe, daß sie von diesem Übel befreit bleiben werde und daß wir uns wiedersehen, wenn Gott wolle, und wie er wolle. Geh, um des Himmels willen, und erinnere dich meiner nicht mehr ... als wenn du zu dem Herrn betest.«

Und wie jemand, der nichts weiter zu sagen hat und auch nichts weiter hören will, wie jemand, der sich einer Gefahr entziehen will, drängte sie sich noch dichter an das Bett, worauf die Frau lag, von der sie gesprochen hatte.

»Höre, Lucia, höre«, sagte Renzo, ohne ihr jedoch näher zu treten.

»Nein, nein, geh, aus Barmherzigkeit!«

»Höre: Pater Cristoforo ...«

»Was?«

»Ist hier.«

»Hier! wo? woher weißt du das?«

»Ich habe eben erst mit ihm gesprochen, ich bin eine Weile bei ihm gewesen, und ein Geistlicher, so wie er, denke ich ...«

»Er ist hier! Ganz gewiß, um den Kranken beizustehen. Aber er? hat er die Pest gehabt?«

»Ach, Lucia! ich fürchte, ich fürchte nur allzusehr ...« und derweil er zauderte, das ihm schmerzhafte Wort, das es auch so sehr für Lucia sein mußte, auszusprechen, hatte sich diese aufs neue von dem Lager entfernt und näherte sich ihm. »Ich fürchte, er hat sie jetzt!«

»Ach, der arme, heilige Mann! Aber was sage ich, der arme Mann? Arm sind wir! Wie geht es ihm? Ist er zu Bett? Hat er Beistand?«

»Er ist auf den Füßen, geht umher, steht den anderen bei, aber wenn du ihn sähest, wie er aussieht, wie mühsam er sich aufrecht erhält! Man hat so viele, viele gesehen, die nur allzusehr ... Man täuscht sich nicht!«

»Ach, er ist hier!«

»Hier! und nicht weit; nicht viel weiter als von deinem Hause zu meinem ... wenn du dich noch entsinnst!« ...

»Oh, heiligste Jungfrau!«

»Nun gut denn, nicht viel weiter. Und du kannst denken, ob wir von dir gesprochen haben! Er hat mir Dinge gesagt ... Und wenn du wüßtest, was er mich hat sehen lassen! Du sollst es hören; aber jetzt will ich damit anfangen, daß ich dir sage, was er mir zuerst gesagt hat, er mit seinem eigenen Munde. Er hat mir gesagt, ich täte wohl daran, daß ich dich aufsuchte, und der Herr hätte es gern, wenn ein Jüngling so handelte, und er würde mir beistehen, dich aufzufinden, wie es denn in Wahrheit geschehen ist; aber er ist auch ein Heiliger. Du siehst also!«

»Aber wenn er so gesprochen hat, ist es ja, weil er nicht weiß ...«

»Was willst du, daß er von dem verkehrten Wesen wissen soll, das du dir in deinem Kopfe ausgedacht hast, ohne jemand darum zu fragen? Ein wackrer Mann, ein verständiger Mann, so wie er einer ist, wird doch auf so etwas nicht kommen. Aber was er mich hat sehen lassen! ...« Und hier erzählte er von dem Besuch in jener Hütte? Lucia war von Entsetzen und Mitleid ganz ergriffen, trotzdem, daß ihre Sinne und ihr Gemüt sich in diesem Aufenthalt an die allerstärksten Eindrücke hatten gewöhnen müssen.

»Und auch dort«, fuhr Renzo fort, »hat er wie ein Heiliger gesprochen; er hat gesagt, daß der Herr vielleicht verhängt habe, dem Armen – jetzt könnte ich ihm keinen anderen Namen geben – noch Gnade angedeihen zu lassen ... daß er hoffe, ihn auf einem lichten Augenblick zu betreffen ... aber er will, daß wir miteinander für ihn beten ... Miteinander! Hast du verstanden?«

»Ja, ja, wir werden für ihn beten, ein jedes wo der Herr es hinführt; die Gebete weiß er schon zu vereinigen.«

»Aber wenn ich dir seine Worte sage! ...«

»Aber, Renzo, er weiß nicht ...«

»Aber begreifst du denn nicht, daß, wenn es ein Heiliger ist, der spricht, der Herr es ist, der ihn sprechen läßt? Und daß er nicht so gesprochen haben würde, wenn dem nicht eben so sein sollte ... Und die Seele des Armen? Ich habe wohl für ihn gebetet und werde für ihn beten; ich habe von Herzen gebetet, gerade als ob es für meinen Bruder gewesen wäre. Aber wie willst du, daß es in jener Welt dort oben mit dem Armen stehe, wenn diese Sache hier unten nicht ausgeglichen, wenn das Böse, das er angestiftet, nicht wieder gutgemacht wird? Wenn du nun also Vernunft annimmst, so ist alles wieder wie vorher, was geschehen ist, ist geschehen; er hat seine Strafe hier unten weg ...«

»Nein, Renzo, nein; Gott will nicht, daß wir unrecht tun, damit er Barmherzigkeit ausübe; was das anlangt, so laß ihn nur machen, uns kommt es nur zu, unsere Pflicht ist es, zu ihm zu beten. Wenn ich nun in dieser Nacht gestorben wäre, so hätte Gott ihm also nicht verzeihen können? Und wenn ich nicht gestorben, wenn ich errettet worden bin ...«

»Und deine Mutter, die arme Agnes, die mir immer so wohlgewollt hat, und die sich so danach sehnte, uns als Mann und Frau zu sehen, hat sie dir nicht auch gesagt, daß das ein verkehrter Einfall ist! Sie, die dich auch schon andere Male zur Vernunft gebracht hat, weil sie in gewissen Dingen richtiger denkt als du ...«

»Meine Mutter! willst du, daß meine Mutter mir den Rat geben soll, ein Gelübde zu brechen! Renzo, du bist nicht bei dir.«

»Oh, wenn ich es dir denn sagen soll! Ihr Weiber könnt solche Sachen nicht verstehen. Pater Cristoforo hat mir gesagt, ich sollte wieder zu ihm kommen und ihm erzählen, ob ich dich gefunden hätte. Ich gehe hin, wir werden ihn hören, was er sagen wird ...«

»Ja, ja, geh zu dem heiligen Mann, sage ihm, daß ich für ihn bete, und daß er für mich beten möge, daß ich dessen so sehr, so sehr nötig habe! Aber um des Himmels willen, um deiner, um meiner Seele willen, komm nicht wieder hierher, um mir wehe zu tun, um mich ... zu versuchen. Der Pater Cristoforo, der wird dir die Sachen zu erklären und dich wieder zu dir zu bringen wissen; er wird machen, daß sich dein Herz zufriedengibt.«

»Daß sich mein Herz zufriedengibt! Oh! das setze dir schon gar nicht in den Kopf. Auch schon schreiben lassen hast du mir das garstige Wort, und was ich darum gelitten habe, das weiß ich, und hast jetzt nun noch gar das Herz, es mir zu sagen. Ich, ich sage dir aber gerade und rund heraus, daß ich mein Herz nun und nimmermehr zufrieden geben werde. Du willst mich vergessen, ich will dich aber nicht vergessen. Und ich beteuere dir, siehst du, daß, wenn du mich um den Verstand bringst, ich ihn niemals wiederfinde. Zum Teufel mit dem Gewerbe, zum Teufel mit der Ordentlichkeit. Du willst mich dazu verdammen, all mein Lebtage rasend zu sein; und wie ein Rasender will ich lebe ... Und der Arme! Weiß der Herr, ob ich ihm nicht von Herzen vergeben habe; aber du ... du willst also, daß ich, solange ich lebe, denken soll, daß, wenn er nicht gewesen wäre? ... Lucia! Du hast gesagt, ich solle dich vergessen. Ich dich vergessen! wie soll ich das anfangen? An wen glaubst du, daß ich all die Zeit über gedacht habe? ... Und nach so vielen Dingen, nach so vielen Versprechungen! Was habe ich dir denn getan, seitdem wir uns verlassen haben? Behandelst du mich so, weil ich gelitten? weil ich Unglücksfälle erlebt habe? weil mich die Welt verfolgt hat? weil ich so lange Zeit weg von Hause, traurig, fern von dir gelebt? weil ich im ersten Augenblick, wo ich gekonnt habe, gekommen bin, dich aufzusuchen?«

Sobald Lucia vor Weinen zu Worte kommen konnte, rief sie, von neuem die Hände faltend und die in Tränen schwimmenden Augen gen Himmel erhebend, aus: »Oh, heilige Jungfrau, steh mir bei! Du weißt, daß ich seit jener Nacht nicht einen Augenblick wie diesen erlebt habe. Du hast mir damals geholfen, hilf mir auch jetzt!«

»Ja, Lucia; du tust wohl daran, die Madonna anzurufen; aber warum willst du doch glauben, daß sie, die so gut, die die Mutter des Erbarmens ist. Gefallen daran finden könne, uns ... mich wenigstens ... um eines Wortes willen leiden zu lassen, das dir in einem Augenblicke entschlüpft, da du nicht wußtest, was du sagtest? Willst du glauben, daß sie dir damals geholfen habe, um uns hinterdrein in der Not zu lassen? ... Wenn das aber etwa nur eine Ausflucht wäre; wenn es der Fall ist, daß ich dir verhaßt geworden bin ... so sage es mir ... so erkläre dich deutlich.«

»Barmherzigkeit, Renzo, Barmherzigkeit, um deiner armen Toten willen, höre auf, höre auf, bringe mich nicht um ... Es wäre nicht gut getan. Geh zum Pater Cristoforo, empfiehl mich ihm, komm nicht wieder hierher, komm nicht wieder her.«

»Ich gehe; aber denke ja nicht, daß ich nicht wieder, kommen will! Ich käme wieder, und wenn er an der Welt Ende wäre, ich käme wieder.« Und er verschwand.

Lucia ging und setzte sich, oder ließ sich vielmehr neben das Bett hin zu Boden fallen, indem sie, den Kopf daran lehnend, fortfuhr bitterlich zu weinen. Die Frau, die bisher Augen und Ohren aufgesperrt gehalten, ohne zu atmen, fragte, was es mit dieser Erscheinung, mit diesem Streite, mit diesem Weinen auf sich habe. Aber vielleicht fragt wieder der Leser seinerseits, wer denn sie war; und um ihn zu befriedigen, werden wir auch hier nicht allzuvieler Worte nötig haben.

Sie war eine wohlhabende Kaufmannsfrau von etwa dreißig Jahren. In einem Zeiträume von wenigen Tagen hatte sie zu Hause ihren Gatten und alle ihre Kinder sterben sehen; kurz darauf selbst von der allgemeinen Krankheit ergriffen, war sie in das Lazarett geschafft und in jener Hütte gerade zur Zeit untergebracht worden, als Lucia, nachdem sie, ohne sich dessen zu versehen, die Heftigkeit der Krankheit überstanden und auch unversehens wiederholt andere Genossinnen erhalten hatte, anfing sich wieder zu erholen, und ihr gleich, noch im Hause Don Ferrantes, beim erste» Anfall der Seuche verlorenes Bewußtsein wiederzufinden. Unter dem kleinen Obdach hatten nicht mehr als zwei Gäste Platz; und zwischen diesen beiden Betrübten, Verlassenen, Eingeschüchterten, Einsamen in solcher Menge war alsbald eine Innigkeit, eine Zuneigung entstanden, wie sie kaum aus einem langen Umgange hätte erfolgen können. Nicht lange, so war Lucia imstande, der anderen, die sich äußerst schlimm befunden hatte, behilflich zu sein. Nunmehr, da für tiefe ebenfalls die Gefahr vorüber war, leisteten sie sich gegenseitig Gesellschaft, ermutigten und bewachten sich wechselseitig und hatten sich versprochen, nicht anders als zusammen aus dem Lazarett zu gehen; ja und hatten auch fernere Abrede genommen, sich nachher ebensowenig zu trennen. Die Kaufmannsfrau, die unter der Obhut eines Bruders, der Kommissar des Gesundheitsamtes war, Haus, Laden und Kasse, alles wohl ausgestattet, verlassen hatte, und die alleinige traurige Besitzerin von weit mehr, als sie bedurfte um bequem zu leben, verblieben war, wollte Lucia wie eine Tochter oder Schwester bei sich behalten; worauf diese, der Vorsehung dankbar, eingegangen war; allerdings nur auf so lange, bis sie von ihrer Mutter Nachrichten haben und deren Willen, wie sie hoffte, erfahren könnte. Übrigens hatte sie, zurückhaltend wie sie war, weder von dem Eheversprechen noch von ihren anderen außerordentlichen Schicksalen niemals ein Wort verlauten lassen. Jetzt aber, in einer solchen Aufregung der Gefühle, hatte sie wenigstens ein ebenso großes Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten als die andere ein Verlangen, etwas zu hören. Und so drückte sie denn mit ihren beiden Händen deren Rechte und schickte sich gleich an, ihrer Nachfrage ohne anderen Rückhalt zu genügen, als den ihr Schluchzen ihren schmerzlichen Worten tat.

Renzo trabte mittlerweile in großer Eile dem Aufenthaltsorte des guten Mönches zu. Mit ein wenig Mühe und nicht ohne einige vergebene Schritte gelangte er endlich dorthin. Er fand die Hütte; ihn fand er nicht darin; aber in der Nähe herumstreifend und spähend, traf er ihn in einem Zelte, wie er niedergebeugt und gleichsam vornüberliegend, einem Sterbenden tröstend zusprach. Er blieb in Schweigen verharrend stehen. Nicht lange, so sah er ihn dem Armen die Augen zudrücken, sich auf die Knie erheben, einen Augenblick beten und aufstehen. Nunmehr trat er vor und schritt auf ihn zu.

»Ach!« sagte der Mönch, da er ihn kommen sah; »nun?«

»Sie ist da; ich habe sie gefunden!«

»In welchem Zustande?«

»Geheilt, oder wenigstens außer Bett.«

»Gelobt sei der Herr!«

»Aber ...« sprach Renzo, als er ihm so nahe war, daß er leise mit ihm reden konnte; »es gibt wieder einen anderen Wirrwarr.«

»Was willst du sagen?«

»Ich will sagen, daß ... Sie wissen ja wohl, wie gut das arme Mädchen ist; aber zuweilen besteht sie ein wenig zu eigensinnig auf ihren Gedanken. Nach so vielen Versprechungen, nach alledem was Sie wissen, sagt sie da nun jetzt, sie könne mich nicht heiraten, weil sie sagt, was weiß ich? was ihr in jener Nacht der Angst den Kopf heiß gemacht hat, sie habe sich, was man sagt, der Madonna geweiht. Ungereimte Dinge, nicht wahr? Dinge, die schon gut für den, der das Geschick und das Zeug dazu hat, sie auszuführen; aber für uns gemeine Leute, die wir uns nicht recht darauf verstehen ... ist es nicht wahr, sind das Dinge, die sich nicht passen?«

»Ist sie sehr weit von hier?«

»Ach nein; wenige Schritte jenseits der Kirche.«

»Warte hier einen Augenblick auf mich,« sagte der Mönch; »hernach wollen wir zusammen gehen.«

»Das will sagen, Sie wollen ihr begreiflich machen ...«

»Ich weiß nichts, mein Sohn; ich muß erst hören, was sie mir wird zu sagen haben.«

»Ich verstehe«, sagte Renzo und stand mit niedergeschlagenen Augen und mit über der Brust verschränkten Armen da, seine unvermindert gebliebene Ungewißheit verwindend.

Der Mönch suchte abermals jenen Pater Vittore auf, ersuchte ihn, ihn aufs neue zu vertreten, ging in seine Hütte, kam mit dem Korbe am Arme wieder heraus, kehrte zu dem Wartenden zurück, sagte ihm: »Laß uns gehen,« und schritt selber voran, jener gewissen Hütte zu, in die sie vor einer Weile zusammen eingetreten waren. Diesmal ließ er Renzo außen; er begab sich hinein, und einen Augenblick später erschien er wieder und sagte: »Nichts! Laß uns beten; laß uns beten.« Sodann hob er an: »Jetzt führe du mich.«

Und ohne weiteres machten sie sich auf den Weg.

Das Wetter war seitdem immer trüber geworden und kündigte den Sturm jetzt als gewiß und nahe bevorstehend an. Häufige Blitze durchbrachen die zunehmende Dunkelheit und beleuchteten mit augenblicklichem Glänze die langen Dächer und die Bogen der Hallen, die Kuppel des Kirchleins, die niederen Giebel der Hütten, und der Donner brach mit plötzlichem Krachen los und rollte laut von einer Himmelsgegend zur anderen.

Der Jüngling schritt, achtsam auf den Weg und die Seele voll unruhiger Erwartung, immer voran und hemmte gewaltsam seine Schritte, um sie den Kräften dessen anzumessen, der ihm nachfolgte, und der, von den Beschwerden ermüdet, an der Seuche immer mehr erkrankend, von der Schwüle belästigt, nur mit Anstrengung weitergelangt und einmal übers andere das abgezehrte Antlitz gen Himmel hob, gleich als ob er freier aufzuatmen suchte.

Sobald Renzo die kleine Hütte vor sich hatte, blieb er stehen, drehte sich um, sagte mit bebender Stimme: »Hier ist sie!«

Sie treten ein ... »Da sind sie!« ruft die Frau vom Bette her. Lucia wendet sich, erhebt sich hastig, eilt dem Greise entgegen und ruft aus: »Ach, wen sehe ich! Ach, Pater Cristoforo!«

»Nun denn, Lucia! aus was für Nöten hat euch doch der Herr erlöst! Du mußt recht zufrieden sein, immer auf ihn gehofft zu haben.«

»O ja! Aber Sie, Pater? Ach, weh mir Armen, wie verändert sind Sie! Wie geht es Ihnen, sagen Sie, wie geht es Ihnen denn?«

»Wie Gott will, und wie, durch seien Gnade, auch ich will«, erwiderte heiteren Angesichts der Mönch. Und nachdem er sie in eine Ecke gezogen, fügte er hinzu: »Höre, ich kann nur wenige Augenblicke hier sein. Ist es deine Gesinnung, mir noch ebenso zu vertrauen als wie sonst?«

»Ach! sind Sie denn nicht immerdar mein Vater?«

»Meine Tochter also; was ist das für ein Gelübde, von dem Renzo mir gesagt hat?«

»Es ist ein Gelübde, das ich der heiligen Jungfrau getan, mich nicht zu verheiraten.«

»Aber hast du damals nicht bedacht, daß du durch ein Versprechen gebunden warst?«

»Da von dem Herrn und von der heiligen Jungfrau die Rede war! ... habe ich das nicht bedacht.«

»Dem Herrn, meine Tochter, sind Opfer und Gaben wohlgefällig, sobald wir sie von dem darbringen, was unser ist. Es ist das Herz, was er will, der Wille, aber du konntest ihm nicht den Willen eines anderen darbringen, dem du dich schon versprochen hattest.«

»Habe ich unrecht daran getan?«

»Nein, armes Mädchen, denke das nicht; ich glaube auch, daß die heilige Jungfrau die Absicht deines betrübten Herzens gnädig aufgenommen und für dich Gott dargebracht haben wird. Aber sage mir: hast du hierüber niemals jemand zu Rate gezogen?«

»Ich dachte nicht, daß es ein Unrecht wäre, um es zu beichten; man weiß ja doch, daß das wenige Gute, das man tun kann, nicht in Anschlag zu bringen ist.«

»Hast du sonst keinen Beweggrund, der dich abhält, das Renzo gegebene Versprechen zu erfüllen?«

»Was das anlangt ... ich meinerseits ... was für einen Beweggrund? ... nicht daß ich sagen könnte ... keinen sonst«, versetzte Lucia mit einem Zaudern, das etwas ganz anderes als eine Unschlüssigkeit des Gedankens ankündigte, und ihr noch von der Krankheit entfärbtes Antlitz blühte auf einmal in der lebhaftesten Röte auf.

»Glaubst du,« hob der Greis, den Blick senkend, wieder an, »daß Gott seiner Kirche die Gewalt verliehen hat, je nachdem es zu größerem Heile gereicht, die Schulden und Verpflichtungen, die die Menschen gegen ihn eingegangen sein können, zu erlassen und aufzuheben?«

»Ja, das glaube ich.«

»Nun, so wisse denn, daß uns, die wir zu der Sorge für die Seelen an diesem Orte bestellt sind, in betreff derer, die ihre Zuflucht zu uns nehmen, die allerausgedehnteste Vollmacht der Kirche gegeben ist, und daß ich demzufolge, wenn du es verlangst, dich von jeglicher Verpflichtung entbinden kann, die du mit dem besagten Gelübde eingegangen sein magst.«

»Aber ist es nicht Sünde, wieder zurückzutreten, ein Versprechen zu bereuen, das man der Madonna gegeben hat? Es ist mir damals recht von Herzen gegangen ...« sagte Lucia, heftig bewegt von dem Andränge einer so unerwarteten, man muß doch sagen, Hoffnung und von einer sich dagegen auflehnenden und durch all die Gedanken erhöhten Angst, die seit so langer Zeit die Hauptbeschäftigung ihrer Seele waren.

»Sünde, meine Tochter?« sagte der Pater, »Sünde, sich an die Kirche zu wenden und ihren Diener aufzufordern, daß er die Gewalt ausübe, die er von ihr und die sie von Gott empfangen hat? Ich habe gesehen, wie ihr zwei dahingeführt worden seid, euch miteinander zu verbinden; und gewiß, wenn es mir jemals hat so scheinen können, daß zwei durch Gott miteinander verbunden worden, so wäret es ihr, so seid ihr diese; jetzt sehe ich denn nun nicht ein, weshalb Gott euch sollte getrennt haben wollen. Und ich lobpreise ihn, daß er mir, unwürdig wie ich bin, die Macht gegeben hat, in seinem Namen zu sprechen und dir dein Wort zurückzugeben. Und wenn du von mir verlangst, ich solle dich von jenem Gelübde lossprechen, so werde ich nicht anstehen, es zu tun, und ich wünsche sogar, daß du es verlangen mögest.«

»Nun dann! ... Nun dann! ... verlange ich es«, sagte Lucia mit einem nur noch von Scham verwirrten Angesicht.

Der Mönch winkte den Jüngling zu sich, der im entferntesten Winkel stand und unverwandt – denn er konnte nicht anders – dem Gespräch zusah, das ihn so nahe anging, und sobald er ihm nahe stand, sagte er mit klarer und deutlicher Stimme zu Lucia: »Kraft der Gewalt, die mir die Kirche verliehen hat, erkläre ich dich des Gelübdes der Jungfräulichkeit für entbunden, hebe alles auf, was darin Unbedachtes liegen konnte, und befreie dich von jeder Verpflichtung, die du damit irgend eingegangen.«

Der Leser stelle sich vor, wie solche Worte in Renzos Ohr erklangen. Er dankte mit den Augen lebhaft dem, der sie ausgesprochen hatte und suchte sogleich, wiewohl vergebens, die Luciens auf.

»Wende dich mit Sicherheit und in Frieden wieder zu deinen früheren Gedanken,« sprach der Kapuziner ferner; »bitte den Herrn aufs neue um die Gnade, um die du ihn batest, dich ein frommes Weib werden zu lassen; vertraue, daß er sie dir nach solchem Leiden in noch reichlicherem Maße gewähren wird. Und du,« sagte er, sich an Renzo wendend, »erinnere dich, daß, wenn die Kirche dir diese Gefährtin wiedergibt, sie es nicht tut, um dir einen zeitlichen und weltlichen Trost zu verschaffen, der, wenn er auch vollständig und mit keinerlei Mißvergnügen vermischt wäre, doch mit einem großen Schmerz in dem Augenblicke enden würde, da ihr euch verließet; wohl aber tut sie es, um euch beide auf den Weg des Trostes zu geleiten, der kein Ende nehmen wird. Liebt euch wie Reisegefährten, mit dem Gedanken, daß ihr euch verlassen müßt, und mit der Hoffnung, euch für immer wiederzufinden. Danket dem Himmel, der euch nicht mitten durch unruhige, vergängliche Freuden, sondern mit Leiden und durch Elend bis so weit geführt hat, um euch zu einer ruhigen andächtigen Freudigkeit vorzubereiten. Wenn Gott euch Kinder schenkt, so habt vor Augen, sie für ihn zu erziehen, ihnen die Liebe zu ihm und allen Menschen einzuflößen, und also werdet ihr sie in allem übrigen wohl anleiten. Lucia! hat er dir gesagt,« und er wies auf Renzo, »wen er hier gesehen hat?«

»Ach, Pater, er hat es mir gesagt!«

»Du wirst für ihn beten! Ermüde nicht darin. Und auch für mich wirst du beten! ... Meine Kinder! ich will, daß ihr ein Angedenken von dem armen Mönche habt.«

Und hier langte er aus dem Korbe eine Dose, von gemeinem Holze zwar, aber mit einer gewissen kapuzinermäßigen Vollendung gedrechselt und glatt gehobelt, und fuhr fort: »Hierin ist der Überrest jenes Brotes ... des ersten, das ich der Barmherzigkeit abverlangt; jenes Brotes, von dem ihr reden gehört habt! Ich hinterlasse es euch; bewahrt es auf; zeigt es euern Kindern! Sie werden in eine trübselige Welt, in ein kummervolles Zeitalter, mitten unter Hoch- und Übermütige kommen; sagt ihnen, daß sie immer vergeben, immer! Alles, alles! und daß sie für den armen Mönch beten!«

Und er reichte die Dose Lucia, von der sie mit Ehrfurcht, gleich wie eine Reliquie, in Empfang genommen ward. Darauf hob er mit ruhigerem Tone wieder an: »Jetzt sagt mir, was für Stützen habt ihr hier in Mailand? Wohin meint ihr eure Zuflucht nehmen zu können, wenn ihr von hinnen geht? Und wer wird dich zu deiner Mutter bringen, die Gott möge gesund erhalten haben?«

»Diese gute Frau vertritt einstweilen Mutterstelle an mir; wir werden zusammen hier weggehen, und sie wird dann auf alles bedacht sein.«

»Gott segne Sie,« sagte der Mönch, sich dem Lager nähernd.

»Ich danke Ihnen auch«, sprach die Witwe, »für den Trost, den Sie diesen armen Geschöpfen verliehen haben; wiewohl ich darauf gerechnet hatte, diese arme Lucia immer bei mir zu behalten. Aber ich behalte sie denn doch unterdessen; ich begleite sie nach ihrem Dorfe, ich bringe sie ihrer Mutter und,« fügte sie mit leiser Stimme hinzu, »ihre Ausstattung will ich besorgen. Ich habe Geld und Gut genug, und von denen, die es mit mir genießen sollten, habe ich niemand mehr.«

»Also,« erwiderte der Mönch, »können Sie dem Herrn ein großes Opfer darbringen und Ihrem Nächsten eine Wohltat erzeigen. Ich befehle Ihnen dieses Mädchen nicht an, denn ich sehe schon, wie sie zu der Ihrigen geworden ist; wir haben nur Gott zu preisen, der auch, wenn er züchtigt, sich als Vater zu bezeigen weiß und, indem er sie einander zusammenfinden ließ, dem einen wie dem anderen ein so augenscheinliches Liebeszeichen gegeben hat.«

»Wohlan denn,« begann er wieder, indem er sich zu Renzo wandte und ihn bei der Hand nahm: »Wir beide haben hier nichts weiter zu schaffen, und wir sind schon zu lange hier geblieben. Laß uns gehen.«

»Ach, Pater!« sagte Lucia; »werde ich Sie wiedersehen? Ich bin geheilt, ich, die ich nichts Gutes auf dieser Welt tue; und Sie! ...«

»Schon seit langer Zeit«, antwortete der Greis mit ernstem milden Tone, »bitte ich den Herrn um eine allerdings große Gnade, meine Tage im Dienste des Nächsten zu enden. Wenn er sie mir jetzt gewähren wollte, so müssen alle, die Erbarmen mit mir tragen, mir ihm Dank sagen helfen. Hinweg denn; gib Renzo deine Aufträge an deine Mutter.«

»Erzähle ihr, was du gesehen hast,« sagte Lucia zu ihrem Verlobten, »daß ich hier eine andere Mutter gefunden habe, daß ich mit der sobald als möglich kommen werde und daß ich hoffe, hoffe, sie gesund anzutreffen.«

»Wenn du Geld brauchst,« sagte Renzo, »ich habe hier bei mir alles, was du mir geschickt hast und ...«

»Nein, nein,« fiel die Witwe ein. »Ich habe übergenug.«

»So laß uns gehen«, hob der Mönch wieder an.

»Auf Wiedersehen! Lucia ... und auch Sie, Sie gute Frau,« sagte Renzo, der keine Worte fand, um das auszudrücken, was er in einem solchen Augenblick fühlte.

»Wer weiß, ob uns der Herr die Gnade erzeigt, uns einander noch alle wiedersehen zu lassen!« rief Lucia aus.

»Der Herr sei immerdar mit euch und segne euch«, sagte Bruder Cristoforo zu den beiden Genossinnen und verließ mit Renzo die Hütte.

Der Abend war nicht fern und die Krisis des Wetters stand noch näher bevor. Der Kapuziner bot dem obdachlosen Jüngling wiederholt an, ihn in seiner armseligen Behausung für diese Nacht zu beherbergen. »Gesellschaft würde ich dir nicht leisten können,« fügte er hinzu, »aber du würdest doch im Trocknen sein.«

Renzo fühlte jedoch einen unwiderstehlichen Drang zu wandern in sich und mochte nicht länger an einem solchen Orte bleiben, da es ihm weder vergönnt war, hier Lucia wiederzusehen, noch sogar ein wenig bei seinem guten Mönch zu verweilen. Was Zeit und Wetter anlangt, so kann man sagen, daß ihm in diesem Augenblick Tag und Nacht, Sonnenschein und Regen, Zephyr oder Nord, alles eins war. Er dankte also und sagte, er wollte ehemöglichst zu Agnes eilen.

Als sie auf der Straße standen, drückte ihm der Mönch die Hand und sagte: »Wenn du sie findest, was Gott wolle! die gute Agnes, so grüße sie auch in meinem Namen, sie und alle, die noch da sind und Bruder Cristoforos gedenken; sage ihnen, sie sollen für ihn beten. Gott sei mit dir und segne dich immerdar.«

»Ach, lieber Pater! ... werden wir uns wiedersehen? werden wir uns wiedersehen?«

»Dort oben, hoffe ich.«

Und mit diesen Worten schied er von Renzo, der stehenblieb, um ihm nachzusehen, bis er verschwand und dann rasch dem Tore zueilte, indem er nach rechts und links die letzten Blicke des Mitleids auf das Feld des Jammers warf. Es war eine außerordentliche Regsamkeit; Wagen wurden fortgezogen, Monatti rannten hin und wieder, die Vorhänge der Zelte wurden geschlossen, Entkräftete schwankten nach diesen und nach den Hallen, um sich vor dem bevorstehenden Regenguß zu schützen.


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