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V

Lola fieberte, schon die zweite Nacht. Sie fühlte sich als Kind und auf der Großen Insel. Feenlicht in stiller Runde, über Meer und Garten; und hielt man ihm nur das Gesicht hin, war's einem, man lächele. Weite Blumenkelche schwankten bedächtig, und Lola gab ihnen Namen: jedem einen längst befreundeten Menschennamen. Da tat aber ihr Herz einen Sprung, die schöne Luft ward schwer; Lola wollte laufen, laufen, und blieb stecken in der Luft; wollte schreien und hörte sich nicht. Sie atmete auf: dort saßen um ihren Suppenkessel die Schwarzen. Alles war gut, die Boa war verschwunden, Lola war ihr entronnen. Ein starker Schwarzer hob sie den Kessel hinan, sie tauchte ihren Löffel ein und sah stolz umher, wie alle ihre blonden Locken bewunderten.

Und nun schlug eine Stimme an: oh, jene Stimme, bei der man vor Liebe zitterte und sprang, und aus den Bäumen trat die große, ernste Gestalt. ›Pai! Pai!‹

Sie erwachte, die Hände hingestreckt und auf den Lippen ein Lächeln. Aber ein fremdes Gesicht bewegte sich auf ihres zu; sie schrak zurück: »Claudia!« – und sie bedeckte die Augen und stöhnte.

»Ich erschrecke dich wohl, Lolina? Ach, sieh mich an, ich flehe darum! Wirklich? Ich mache dir Grauen. Oh, du hast recht, ich bin grauenhaft, und ich will gehen.«

Alles war wieder da; nichts half es, die Lider zuzudrücken. Dahinter schimmerte dennoch, wie aus dem Dunkel eines Wagens, Claudias Gesicht mit den von Lust gebrochenen Augen. Und auch er war zurückgekehrt, der unfruchtbar Geliebte. Das Schicksal war zurückgekehrt.

»Du bringst mir Nachricht von ihm?«

Claudia blieb scheu dort hinten gegen die Wand gedrängt, als wollte sie hindurch. Sie stammelte:

»Warum bist du krank geworden? Oh, ich bin eine Verbrecherin. Wollte doch Tullio mich umbringen, mich endlich umbringen! Ich habe dich gesehen, Lola, als eine Erscheinung: ich darf dir nicht sagen, wann. Du erscheinst mir oft: ich darf dir nicht sagen, wann.«

»Bin ich dir erschienen, Claudia? Ach, laß das! Es wird nicht wahr sein: denn ich glaube nicht, daß meine Seele von mir fortschweifen kann. Sie sitzt immer über sich selbst gebeugt. Du verstehst das nicht. Hat er dir Aufträge gegeben?«

»Nur, daß er sich sehr um dich ängstet. Er hat es nicht gesagt: ich sah es. Aber nun wirst du genesen, Lolina. Ich will ihm sagen, wie gut du aussiehst.«

»Tu es nicht! Sage ihm, ich werde sterben ...«

Sie sann müde. ›Er verdient es. Wenn ich tot bin, wird er bereuen. Dann wird er mir alles geben wollen, als lebte ich. Jetzt liebt er mich nur so, wie man eine Tote liebt. Vielleicht gibt es ein Jenseits? Dort sehe ich seiner Liebe zu und freue mich meines Todes.‹

»Ja«, sagte sie, »ich wünsche mir sehr, zu sterben. Niemand weiß, wie gut das wäre.«

Claudia kauerte am Boden und haschte mit den Lippen nach Lolas Hand.

»Du bist weich und unschuldig, meine Claudia; ich habe dich gern. Aber geh nun, ich bitte dich, – und sei unbesorgt. Ich werde wohl nicht sterben: es wäre zu viel Glück. Nur träumen darf ich. Vorhin träumte ich, und da war's, als sei noch nichts geschehen, von allem Schlimmen noch nichts.«

Noch wachte sie, und fühlte sich doch ganz deutlich aus dem Meer steigen: über große flache Steine und auf den Strand. Er war nun leer; und das schwarze Laubdach, unter dem sie hinging, blitzte oben weiß vom Mond. Sie wußte sich allein auf der großen Insel; die Blumen im Mondlicht sahen aus wie Seelen, – und da erinnerte Lola sich, sie sei gestorben. Dies war das Jenseits; und doch lag es auf Erden, und wer sie sehr liebte, konnte sie einholen und es ihr sagen. Sie vermochte nicht zu sprechen, aber sie erriet, was drüben geschah, erriet seine Sehnsucht und lauschte lächelnd übers Meer hin ... Nun war er da. Noch fand er sie nicht, sie aber spähte schon bis in sein Herz und sah es bereit, mit ihrem auch den Tod zu teilen. Sie dachte: Hier bin ich! Komm! – Und da war er unter ihrer Palme; ihre Hände streiften sich, seine Wärme rann ihr ins Herz und erweckte sie. Ein Schrei: sie schrak auf.

Er liebte sie! Das Glück dehnte in ihr seine großen Flügel. Weich ward sie gehoben, schloß wieder die Augen und ließ sich tragen. ›Nun bin ich seiner gewiß, – da er mir bis hierher gefolgt ist. Nun liebt er mich mehr als sein Leben.‹

Träume mußten es ihr beweisen – und sie erhielt sich im Traum von ihm, fand es süß, seiner zu denken und ihn nicht zu sehen. Längst ging sie wieder umher und wollte doch den Brief, den Claudia für ihn verlangte, nicht schreiben. Ihr Traumgespinst wäre durch Worte zerrissen worden. Er hätte sie enttäuscht. Als sie ihn wiedersah, war's Zufall, und sie erschrak. Er begegnete ihr sanft und reuevoll, – und in ihr wallten Tränen auf. Warum schalt er sie nicht? Er mußte wissen, daß sie gestern große Gesellschaft bei sich gehabt hatte. Sie sah alle Welt, nur ihn nicht; er aber blieb gütig.

»Mein Mann ließ mir keine Ruhe«, sagte sie, und da sah sie ihn aufzucken. Also brauchte jetzt nur Pardis Name zu fallen, und er war getroffen und sank in eifersüchtiges Grübeln?

»Er ist ruiniert«, sagte Lola mit Herzklopfen; »um sich zu halten, bleibt ihm nur, daß er sich wählen läßt. Und da die Kammer aufgelöst ist –. Aber du hörst nicht zu?«

Er stammelte. Nein: sein Zorn, sein Haß waren wieder ausgewichen. Die Eifersucht machte ihn nur noch verlegen. Lola sagte gereizt.

»Warum schiltst du nicht? Ich bin schlecht.«

»Du warst krank, Ich habe dich zu lieb ...«

Immer diese Gerechtigkeit. Hätte er den Herrn gezeigt – wie der andere! In ihrem Zimmer träumte sie davon: auch davon. Er befahl ihr, und sie arbeitete für ihn. Denn sie waren arm, waren entflohen und lebten in einer Hütte: sie seine Magd. ›Wie ich dich liebe! Schlage mich!‹ Sie saß, in ihrem Sinn, zu seinen Füßen; und wie sie zu ihm aufsah, schob seinem Gesicht sich, und sie wußte es kaum, Pardis unter. Als sie merkte, vertrieb sie's. Noch oft kehrte es wieder, statt des gerufenen. Und mehrmals erwachte sie und bebte noch davon, daß sie in Armen gelegen hatte, die der Geliebte ihr geöffnet und der Gehaßte um sie geschlossen hatte.

›Warum suche ich nach allem Leiden, das jener mir auferlegt hat, in Arnold doch wieder den anderen? Bin ich denn wirklich unheilbar? Ach, wollte mein Geliebter mich erlösen! Eine Tat! Ein Zugreifen!‹ Sie wußte nicht, wie, wollte es nicht wissen. Es war seine, des Mannes, Sache. Er hätte handeln sollen trotz ihr, und wenn sie selbst ihm auch die Hände festhielt. Sie irrte durchs Zimmer. Vielleicht lag alles daran, daß er sie nicht nahm? Er verstand sie nicht, er war ein schlechter Seelenkenner. Sie sträubte sich, sie hatte Bedenken: welche Frau hatte sie nicht. ›Ich bin eine gewöhnliche Frau!‹ Er ließ sich täuschen, er war lächerlich vor Zartgefühl. Wäre er einen Augenblick ganz Mann gewesen! Es blieb wider die Natur, daß sie, die sich alles gegeben hatten, einander die Körper versagten. Daraus kam diese Sucht, einander zu quälen, diese Feindseligkeit im Sehnen, diese Träume, die ins Irre und Verderbte schweiften. Sie legte Claudia eine zornige Beichte ab.

»Wir Frauen erfinden Gott weiß was zu unserer Verteidigung. Du weißt selbst, daß wir's übelnehmen, wenn man es gelten läßt. Er aber läßt alles gelten. Ich bin noch immer nicht seine Geliebte. Du hast es mir früher nie geglaubt und wirst es auch jetzt nicht glauben: wie könntest du. Aber es ist so.«

Claudia spähte in Lolas Augen, ob dies die Wahrheit sei. Sie war sprachlos. Dann schob sie den Mund vor; die anstürmenden Worte blähten ihn; und plötzlich erbrachen sie ihn. Arnold war ein elender Feigling; er sollte eine Schürze vorbekommen; Lola konnte sich von ihm ihr Schlafzimmer aufräumen lassen. ›Ah, auch dies laß ihn tun, –‹ und Claudia machte eine Gebärde. Vor Entrüstung ward sie unanständig. Übrigens beteuerte sie, sie habe Arnold nie getraut. Er sei kein Mann. Seine Augen mißfielen ihr. Erschreckt griff Lola ein, erklärte und suchte gutzumachen.

»Ich wußte wohl«, gab Claudia zu, »daß ihr anders seid als wir: du eine andere Frau, er ein Mann, nicht wie die unseren. Ich verstehe eure Sachen nicht, ihr müßt selbst zusehen.«

Aber ihre Phantasie war nun umgelenkt. Claudia bewegte langsam ihren kleinen Kopf und verdrehte, vor schmerzlicher Bewunderung, die großen bräunlichweißen Tieraugen.

»Ihr seid Engel. Wir gewöhnlichen Menschen können euch nicht nachahmen, ihr aber seid Engel. Tröste dich, Lola: deine Leiden werden dir mit himmlischen Freuden vergolten werden, für meine aber bin ich verdammt. Ach! weine nicht, Lolina. Was soll dann ich tun?«

Lola wandte sich ab. Sie erkannte das Leiden anderer nicht mehr: ihr eigenes hatte alles verdunkelt. ›Und wenn es ein Jenseits gäbe‹, dachte sie, ›es wäre dennoch leichter, sich mit allen anderen verdammen zu lassen, als ganz einsam selig zu werden.‹

 

Sie forderte von Arnold:

›Sei ein einziges Mal leichtsinnig! Bist du mir nie untreu gewesen? Hast du dich je geschlagen? Ach nein, – aber so verschwende doch irgend etwas!‹

Er war gar zu sparsam: mit dem Seinen und mit sich. Sie warf ihm, wenn sie grübelte, vor, daß er ihr nie ein Geschenk gemacht habe. Pardi hatte für die Sarrida Hunderttausende fortgeworfen, – ›aber auch für mich war er immer bereit: ich brauchte nur Launen zu zeigen. Ein Gericht zuviel machte ihn wütend; aber er hätte mir eine Jacht gekauft. Wem eine Frau nicht das Geld wert ist, dem ist sie schwerlich das Leben wert. Arnold ist mäßig und vernünftig; seine Tugenden sind sehr bürgerlich ...‹

Und hingen nicht ebenso bürgerliche Untugenden mit ihnen zusammen? ›Seine Kälte und seine Art, Menschen anzusehen! Ach! Er wird niemandem unrecht tun: nicht durch blindes Lob und nicht durch Verleumdung. Er zerlegt und begreift. Er kennt nicht Freund noch Feind: nur das kleine selbstsüchtige Vergnügen des Durchschauens. In dem Gerechtigkeitssinn dieser Schwachen, wieviel kleinliche Bosheit! Pardi: oh, dem wird's heiß, der liebt und haßt, und wen er nicht ersticht, den hält er gradaus für einen Ehrenmann. Bei dem würde man selbst wissen, wer man ist, würde seiner selbst sicher und geborgen sein ...‹

Und sie dachte der Zeit, da sie's war. ›Das einzige Gute war doch das Sinnenglück: damals, wie ich jung war.‹ Das schien Jahrzehnte her. Sie saß in wehmütigen Erinnerungen, wie eine Greisin. Plötzlich eine Wallung, daß die Luft zu flimmern schien, – und sie bebte vom Gefühl abenteuernder Jugend, vom Gefühl des Lebens von damals. Noch immer war's da, ging aus und ein mit dem Mann und war toller als je. Ein Schritt nur! Das andere vergessen können! Pardis Untergang mitmachen! Sein ganz und für immer verwirrtes Schicksal teilen, dies von jeder Verantwortung, allem Denken befreite; lieben und betrügen, sich durchschlagen, Hunger haben wie ein Tier und tafeln wie die Götter, gehetzt werden und atemlos lachen. ›War ich nicht schon früher etwas wie eine Abenteurerin? Ich gehöre zu ihm. Was er mir zu bieten hat, kommt mir zu.‹

Dann fing sie einen Männerblick ab, der sich auf eine Frau niederließ, und ihr ward kalt. Die unkeusche Wirkung dieser Frau, die Unkeuschheit unter ihren Kleidern, hinter ihren Augen, die Unkeuschheit, die ihr Gedanke, ihr Zweck, ihre Funktion war, machte Lola erstarren vor Ekel und Grauen. Sie selbst war, in ihrem Bewußtsein und Willen, diese Frau gewesen! Sie fühlte sich nackt unter allen Menschen und verlor den Kopf.

Der Spalt, der von jeher durch ihr Leben schnitt, war weit aufgerissen, und Flammen schlugen heraus. Ihr verstörtes Innere warf, durcheinander, alle Triebe empor, brachte alle Bilder zurück. Sie hätte auf einem kalten Meer mit Arnold Schiffbruch erleiden mögen. Aber das Polster eines Wagens erschien ihr und zwei Gestalten, die sich umkrampft hielten und zuckten. Sie töten! Ach! dies erlösende Wort. Wie kam es denn, daß diese Claudia noch lebte, daß Lola ihr die Hand reichte, ihr ihren Namen gab – ›Claudia‹ – als dürfe sie leben? Beide töten! Gereinigt war dann alles und still.

Wie sie sich im Qualm ihres blutigen Traumes betraf, fielen ihre Züge zusammen, und sie schloß, sich zu fliehen, die Augen. Sie verachtete ihr Wüten, das Wüten der Ohnmacht, und verachtete die Stunden der Sehnsucht, rein zu sein; denn immer schlugen tierische Dämpfe hinein. Sie litt Abscheu vor jeder ihrer Regungen; alle deuchten ihr uralt, verbraucht und vorauszusehen; die Gedanken abgespielt, die Empfindungen schal und verderbt. Sich los sein! ›Da ich nie wissen werde, wozu ich geboren bin: lieber nichts mehr wissen!‹

Ein Ausweg: sich beschränken, Ansprüche und Gedanken abwerfen, ihre Kraft nur mehr gebrauchen, um zu erhalten, was im Zusammensturz aller Dinge, ihrer Liebe und ihres bürgerlichen Daseins, noch stand. Sie machte sich an eine genaue Beaufsichtigung des Haushaltes, wollte sparen, kleinlich sparen. Was half's, da Pardi die letzte Habe zu Geld machte und es verstreute. Ein Fremder kam ins Haus und verhandelte über den Preis der Verkündigung, draußen an der Fassade. Lola sprach lachend davon zur Tochter des Präfekten und fühlte sich gerettet, als am Abend drunten eine Wache stand. Pardi deklamierte vor den Freunden, die hereinströmten. Ob die Verkündigung sein sei oder der Nation. Warum die Nation, anstatt nur den Verkauf zu verbieten, ihm das Kunstwerk nicht lieber gleich wegnehme. Lola mischte sich heiter ein.

»Was er für Einfälle hat, wie, Meine Herren? Wenn du das Bild nicht sehen magst – auch ich habe es satt –: warum muß dieser Amerikaner es haben? Warum nicht das Museum?«

»Einfalt! Weil es nur die Hälfte dafür gibt. Und meinst du, eine Wahl sei umsonst? Zehntausend Wähler wollen bezahlt sein, jeder mit fünf Lire, und die großen kosten mehr. Aber ich mache es; wir haben gewettet: wie, Marco, Carlino? Ihr sollt sehen, ob ich noch der alte bin.«

Er verbreitete sich, lockeren Herzens, nach allen Seiten, feuerte Sympathien an, zauberte einen ganzen Garten von Leichtsinn und guter Laune aus all diesen Gesichtern. Musik näherte sich, und eine Schar Volkes, vom Fürsten Valdomini geführt, schrie zu den Fenstern herauf, daß Pardi leben solle und daß seine Feinde sterben sollten. Und sie machten sich über die beiden Carabinieri her, die die Verkündigung bewachten. Pardi war schon unten und fiel den Angreifern in den Arm. Er sprang auf die Stufen zum Tor und redete: etwas wesenlos Begeisterndes, wovon die Augen ringsum zu blitzen begannen. Dann, die Hand nach der Hausecke gestreckt: »Dort in meinem Keller wird euch mein Wein für fünf Soldi verkauft. Ihr wißt, daß das wenig ist. Von heute ab aber sollt ihr ihn für drei haben.«

Er war auf einmal in einem Sturm von Händedrücken, ward auf Schultern gehoben und zum Weinkeller getragen. Das Gelage dauerte lange; Lola sah, allein zurückgeblieben, daß auch die Wächter sich hinziehen ließen. Und am Morgen gafften Bürger die nackte Hauswand hinan. Die Verkündigung war fort.

Pardi stand inmitten aller Diener und lachte, daß es ihn bis auf die Knie beugte.

»Ah! Geld wollt ihr?« rief er den aufgeregten Eindringlingen zu. »Ich habe keins: weniger als gestern. Denn meine Madonna hat man mir gestohlen.«

Er hatte keins. Längst waren die Summen, die er noch erraffte, nutzlos dahin, bevor sie eingingen. Pardi focht nur noch, um zu fechten und mit dem Bewußtsein, auch den Fußbreit Boden, worauf er sein Florett führte, werde er aufgeben müssen. Er scheute nicht mehr Ungesetzlichkeiten noch Unzartheiten: blieb ihm nur die furchterregende Gebärde, die große Maske, der alles erschütternde Abgang. Er war dabei, seinen Rest bürgerlicher Ehre abzustreifen, und behauptete um so wuchtiger die des Helden. Wegen eines Hemdes, das er einem Freunde aus der Kommode genommen und sich angezogen hatte, kämpfte er ein Duell. Und am Abend vorher war er bei erhöhter Laune, versprach Lola eine Reise nach Paris und lobte sein Leben. ›Wieviel Tätigkeit! Wieviel Bewegung!‹ Indes er in Versammlungen auftrat, mit dem Waffenkasten vors Tor fuhr und täglich Frauen kraft seines ganzen Feuers, als brenne es nur dafür, in allen Winkeln der Stadt im Dahinstürzen mit sich riß, hatte er durch Laufen, Lungern, Kartenspiel und Drohungen den Sturz seines Hauses hinzufristen, zwölf Stunden noch, und noch zwölf.

Lola kam, wie sie ihm zusah, in zitternde Bewegung. Sie konnte nicht schlafen, dachte sie an das feurige Leben, das er Tag und Nacht unterhielt. In welchem trüben Grau schlich man mit Arnold dahin! Pardi war bewundernswert. Mit einer todverachtenden Freude sah sie ihn alles, was er war, wie ein Feuerwerk in die Luft schicken. Gleich war das letzte abgebrannt; der Rest war Pulverdampf und Nacht. Inzwischen aber genoß man einen berauschenden Jubel, einen glänzenden Leichtsinn. Und man empfand sich vergrößert und stärker beleuchtet, wie auf einer Bühne. Aus Lola lösten sich, indes sie dies miterlebte, Akzente und Gebärden, die sie in sich nicht gekannt hatte.

»Sie, Botta, unser alter Freund, unterstützen die Kandidatur meines Mannes. Ich habe es nicht anders erwartet, aber werden Sie ihn durchbringen?«

Botta schmatzte; und die Tischnachbarn wandten sich her nach Lolas lauten Worten.

»Contessa, wir haben viel für uns, vor allem seine Gläubiger. Jawohl, das Konsortium seiner Gläubiger, denen wir klargemacht haben, daß nur seine Wahl ihnen zu ihrem Gelde helfen kann. Sie sind von Eifer erfüllt.«

»Warum nicht«, sagte Lola. »Auch niedrige Interessen müssen dienen, damit Hohes erreicht wird.«

Gegenüber begann Nutini:

»Jeder tut das Seine, damit die gute Sache siegt. Wissen Sie schon das von der Linda Vitali? Also, der Vitali hatte, vom Klub her, eine Forderung an Ihren Gatten, Contessa, und bekommt sie durch Scheck vom Juwelier Spontelli. Er geht der Sache nach und entdeckt – niemals raten Sie, was er entdeckt: daß er mit den Juwelen der Linda bezahlt ist, mit den Kolliers seiner eigenen Frau.«

Links und rechts lachte es diskret. Nutini schielte auf seine Nase.

»Und der Vitali schweigt. Was opfert man, als Gatte der Linda, nicht alles, um einen Kandidaten in die Kammer zu bringen, der die Ehescheidung verhindert. Auch Sie, Contessa, werden schwerlich einen größeren Wunsch haben.«

Die anderen wiederholten:

»Jeder tut das Seine, um Pardi durchzubringen.«

Lola hob die Tafel auf, und im Aufstehen, mit großartiger Handbewegung:

»Ich mache kein Hehl daraus, daß ich Geldopfer gering anschlage und das Geld verachte. Die Geschichte hat erhabene Bettler gekannt. Niemand kann dem Conte Pardi ein Opfer bringen, das er ihm nicht im voraus hundertfach bezahlt hätte: als er sich für Italien in Afrika schlug.«

Sie stand aufgerichtet und den Kopf im Nacken, im glitzernden Fluß ihrer Schleppe. Die Gestalten um sie her bückten sich unbewußt ein wenig, die Blicke wurden verehrend. Lola sah, daß es alle antreibe, ihr ›Brava!‹ zuzurufen. Sie biß sich auf die Lippe, und sie fürchtete zu erröten. Gleich darauf war sie um so glücklicher: ganz Heldin, diesem allen gewachsen und verbündet mit Pardi. Er kam herbei. Von drüben hatte er bemerkt, daß sie Wirkung übte: noch eine Wirkung, die sich mitnehmen ließ. Lola sagte »Mein Freund –«, und sie gaben sich die Hand, beide stolz und bewundert.

Sie wußten kaum noch, wie sie es miteinander meinten Was sie der Öffentlichkeit vorführten, spielten sie nun auch unter vier Augen. Erst wenn er fort war, erschrak Lola. ›Habe ich denn keine eigenen Gefühle mehr? Was soll diese Komödie: zwei Schritte vom Abgrund? Ich wollte uns doch aufhalten, ihn aufhalten! – Und jetzt treibe ich ihn vorwärts. Mein Gott, welche Angst! Ich muß etwas tun, ich muß ihn warnen.‹

Sein Schritt war, als er heimkam, schwerer als sonst; sie hörte ihn auf den Sitz fallen. Sie legte die Hand ans Herz, das klopfte; dann trat sie ein.

»Guten Abend, mein Lieber. Stehen unsere Sachen nicht gut?«

»Unsere Sachen?«

»Nicht die Stirn falten!«

Sie berührte sie mit dem Finger.

»Wir haben doch, trotz allem, dieselben Interessen. Laß mich ein wenig für dich denken. Der Trubel, in dem du lebst, erlaubt es dir nicht. Aber wie soll dies alles enden? Magst du gewählt werden oder nicht, – ein Spiel ist auch dies dir nur: nicht wahr? Ich kenn dich. Und was bleibt dir vom Gewinn? Vielleicht ist alles Geld, das in den Spielsälen von Florenz umläuft, schon durch deine Hände geflossen; was aber hast du nun? Und wenn die letzte Frau dir gehört hat, was wirst du noch haben? Werde ruhiger, Freund, widerstehe deinen Wünschen.« Und leiser, mit Zittern: »Wir sind nicht geboren, um glücklich zu sein: gewöhne auch du dich an den Gedanken.«

Er schüttelte ihre Hand von seiner Schulter; er sah sie knirschend an. Erschreckt murmelte sie noch:

»Ich sage es aus Sorge um dich, um mich selbst. Wir haben doch dieselben Interessen.«

Und er brach aus.

»Die Erkenntnis kommt dir also? Sie kommt nicht zu früh! Andern Frauen kommt sie vielleicht ein wenig früher. Ich habe gehört, daß der Untergang eines Hauses durch die Frau verhindert worden ist. Aber wahrscheinlich sah sie etwas anders aus als du. Die Cupola hat ihrem Mann das Trinken und die Weiber abgewöhnt: alles beides. Sie hat ihn sich zurückgeholt, sie hat ihn mit ihren Umschlingungen erweicht, sie hat sich, für ihn, so lasterhaft gemacht, daß sie ihm zwei Laster ersetzte. Vernunft brauchte sie ihm nicht zu predigen: ihre Vernunft war in ihrer Liebe. Aber die hast du nicht. Das ist es: du hast keine Liebe!«

Sie wendete ihm die Flächen ihrer gesenkten Hände zu und hielt seinen von Verachtung schweren Blick aus.

»Ah! Jetzt findet sie Tränen: jetzt, da es auch ihr an den Hals geht. Und doch schien dir an diesem Hause nie viel gelegen. Ich sah dich in diesen Zimmern immer sitzen wie eine Gefangene; wie eine Reisende, die in einem Hafenhotel warten muß, weil der Dampfer beschädigt ist. Als ob du auf deinem Koffer saßest. Wir alle waren dir unheimlich – und du uns. Nie hast du aufgehört, in einer fremden Sprache zu denken, und was du dachtest, war uns fremd: fremd und nicht befreundet. Du warst unsere Feindin: ja, ich hatte eine Feindin im Haus. Was Wunder, wenn ich nicht darin blieb?«

Lolas Brust ging rascher, ihr Blick ward hart; sie stieß hervor:

»Du warst mit allen verbündet gegen mich. Ich war allein – und wäre es überall. Was ich gelitten habe, gibt mir am Ende mehr Recht, darauf stolz zu sein.«

»Ach ja – und selbstgerecht. Du warst immer die Überlegene, weil du die Kalte warst. Ich bin so unbesonnen gewesen, hier eine Fremde einzuführen, die uns in aller Ruhe ausspionieren durfte.«

»Wir waren beide unbesonnen. Aber ich habe nicht spioniert; ich habe vor manchem, was ihr mich sehen ließt, die Augen geschlossen.«

»Mit jenem andern Fremden, deinem Freunde, mußt du sehr geistreich über uns philosophiert haben. Du hast einen Freund, einen Liebhaber gehabt. Du hast ihn vielleicht noch. Ich sehe ihn nicht, aber was beweist das bei euch. Sieht man euch und eure Taten? Ihr treibt gewiß aus der Ferne mit euren Gedanken mehr Unzucht als wir, wenn wir zusammen im Bett liegen. Ich mußte es zulassen. In deinen Kopf hineingreifen zu können, dafür hätte ich manchmal mein Leben gegeben. Man greift nicht in einen Kopf wie den deinen, man kommt dir nicht bei. Da: wenn ich so um dich kreise, gibt es immer einen Strich, über den ich nicht hinweg kann: nicht hinein zu dir und dich totschlagen. Ach! hätte ich dich damals aus dem Fenster fallen lassen! Du wagtest mir ins Gesicht zu sagen, daß du den andern liebtest; du drohtest mir, wenn ich dich anrührte, und du hingst halb hinaus. Wie kam's, daß ich dich nicht ganz hinabwarf? Ich begreife es nicht.«

»Ja, warum nicht. Du hättest es tun sollen.«

Sie nickten beide wild. Sie standen einander entgegengeworfen und hielten sich keuchend ihre Wunden vor. Pardi schrie auf, als seien alle seine Verbände fortgerissen.

»Denke ich an dein geheimes Leben mit dem andern, dann entschuldige ich jeden Verrat, den je eine Frau beging: sehne mich nach jedem. Es gibt Frauen, die im Verrat groß waren. Die Cupola hat, um ihren Mann zu retten, auch das getan; sie hat sich verkauft. Ah! dir hätte deine hohe Selbstachtung das verboten: ich weiß. Wie solltest du dienen? Bist du eine Frau wie die unseren? Ich aber schwöre dir: du hättest, wie die unseren, zehn Liebhaber haben können und mein Weib sein; ich hätte dich gejagt und erlegt; dann aber hätte ich geweint auf deinem Sarg vor Liebe. Und jetzt werde ich darauf speien.«

»Töte mich!«

Sie warf die Hände empor.

»So töte mich doch!«

»Damit ich Mörder bin und durch dich vollends verderbe? Hoffe das nicht! Wir werden zusammen weiterleben. Mein Haus scheint mir nicht mehr meins. Kein Kind ist darin. Du hast mein Geschlecht getötet, wo ist Giovannino? Nun am Haus die Verkündigung fehlt, kommt er nie mehr hinein. Ich fühle mich daraus vertrieben, ich bin wie in Reisehast. Du, eine Heimatlose, hast mich heimatlos gemacht! Und jetzt möchtest du mich allein lassen? Das Schiff räumen, da es sinkt? Hoffe das nicht! Wir sind untrennbar. Weißt du nicht, warum ich gewählt werden will? Aus Haß auf dich! Damit ich das Gesetz der Scheidung verhindern kann! Damit unsere Hölle ewig ist!«

Lola stand, Kopf und Schultern gebeugt. Er wütete.

»Vielleicht wirst du mit mir in einem Ministerpalast wohnen, wirst zusehen, wie ich mir die Banken dienstbar mache, Gold in Barren verdiene, gefürchtet und gefeiert, von den Frauen begehrt werde, und wirst von meiner Übermacht erdrückt, dahinleben. Vielleicht auch werde ich mich, ausgepfiffen und als Bettler, in meine letzte schmutzige Kate werfen, nach scharfem Käse stinken, ein Schwein züchten, das ich am nächsten Markt verhandele, und mit der Magd schlafen. Du wirst niedriger sein als sie! Denn du bist dabei: zweifle nicht. Das Gesetz zwingt dich zu mir, wohin ich auch gehe; und ich denke es auszunützen. Nur darauf noch werde ich aus sein, dich, meine Verderberin, zu erniedrigen und mit Schande zu beladen ...«

Stimme und Atem blieben ihm aus; er stand, verzerrt, und würgte. Lola flüsterte:

»Tu's! Ich nehme es hin!«

Er fuchtelte haltlos; er krümmte sich.

»Die Heuchlerin! Die schmutzige Heuchlerin! Wie soll man sie fassen? Könnte ich dich nackt durch die Straßen jagen! Eine solche Schande erfinden, daß du endlich einen Seufzer tätest, der nicht lügt: und wäre es dein letzter!«

Die Faust an der Stirn, taumelte er hinaus. Lola ließ sich mit dem Arm, der die Augen bedeckte, gegen die Wand fallen. Sie dachte, von Schrecken dumpf: ›Es ist, wie er sagt: ich bin schuld. Ich wollte nur mein eigenes Elend fühlen, aber auch seins fällt mir zur Last, – und unter ihrer Wucht werde ich nicht mehr aufstehen. Liegenbleiben und abbüßen! Er sah fahl und alt aus: zum erstenmal, und ich habe das gemacht, ich selbst. O räche dich! Daß du mich leben läßt, ist zu wenig!‹

 

Am Morgen erfuhr sie, daß eine Geliebte ihres Mannes im Hause sei. Die Kammerfrau wußte von Cesco, daß der Herr Graf sie nachts in seinem Zimmer gehabt habe. Jetzt war sie fort; – aber am Nachmittag flog Clotilde, von Neuigkeiten außer Atem, ins Boudoir. Ob die Frau Gräfin nichts höre: das Haus sei in Aufruhr, die Treppe verstellt mit Möbeln. Man schaffe Möbel ins untere Stockwerk; der Herr Graf und jene Frau seien drunten; es scheine, sie solle dort wohnen ... Die Kammerfrau war hinaus und wieder zurück. Cesco hole Stühle aus dem Speisezimmer. Ob das nicht eine Schande sei, der Frau Gräfin ihre Sachen wegzunehmen und sie einer solchen Person zu geben.

»Die Möbel gehören dem Herrn«, sagte Lola.

»Aber wenn die gnädige Frau hinunterginge und jene davonjagen: es wäre nur Ihr Recht; der Herr Graf könnte es nicht hindern. Das Gesetz ist für die Frau Gräfin: der Koch weiß es bestimmt.«

Lola dachte daran, daß einst Claudia sie belehrt hatte, die Konkubine im Hause sei ein Trennungsgrund. Vielleicht war's der einzige. Er brachte sogar die Dienstboten auf ihre Seite, sie, die Pardis Spione gewesen waren. Sie sagte:

»Laß! Der Herr bleibt der Herr.«

Clotilde behielt den Mund offen.

»Die Frau Gräfin ist eine Heilige«, schloß sie dann. Lola fuhr auf.

»Daß du das nie wieder sagst! Mir geschieht recht. An dem, was der Herr jetzt tut, bin ich schuld. Sage das den andern: ich will, daß sie es wissen.«

Die Kammerfrau antwortete nicht; rückwärts und ohne ihre starren, ängstlichen Augen von denen der Herrin zu trennen, ging sie durch die Tür. Am Abend, wie sie Lola das Haar löste, hatte sie die Lippen fest aufeinander, eine streng behutsame Miene und die Art, als bediene sie eine Kranke. Im Spiegel warf sie nach Lola manchmal den traurig überlegenen Blick der Wärterin. Lola hielt die Augen gesenkt und zog unter den Kammstrichen des Mädchens den Kopf in die Schultern. Endlich, leise bittend:

»Sprich doch!«

Clotilde zauderte; dann begann sie im Ton eines schonenden Vorwurfs. Der Herr Graf hatte eine seltsame Frau ins Haus gebracht, eine, die seiner augenscheinlich nicht würdig war. Es sollte eine Französin sein, nun ja. Aber Carlotta hatte ihre Kleider gesehen: und wenn sie seidenes Futter hatten, war doch keins heil und keins recht sauber. Und die Wäsche! Es gab Dinge, die man der Frau Gräfin nicht sagen konnte ... Den Morgen darauf fing Clotilde von selbst an. Inzwischen hatte Leopoldo, der Kutscher, die Frau zu Gesicht bekommen, und alles war erklärt. Sie war eine von jenen, die des Abends auf den Straßen umhergehen. Leopoldo kannte sie; erst vor vierzehn Tagen war er selbst bei ihr gewesen. Cesco, der ihm übelwollte, hatte dies sofort dem Herrn Grafen berichtet, während er ihn rasierte; aber der Herr Graf – es war unbegreiflich – hatte nur gelacht.

»Es ist eine rechte Schande, in ein Haus wie dieses eine solche Frau einzuquartieren. Wer will ihr das Bett machen? Noch ist es nicht gemacht, und es ist in einem schönen Zustand. Der Herr Graf sollte bedenken, daß auch Dienstboten anständige Leute sind, – wenn er schon nicht an die Frau Gräfin denkt. Wir haben in der Küche beraten, ob wir alle sofort kündigen wollten. Cesco wollte es: aber mehr, weil er den Kutscher haßt. Wir anderen haben ihn beredet, dazubleiben, aus Liebe zur Frau Gräfin.«

»Wer gehen will, soll gehen«, sagte Lola.

Und am Abend ließ sie die Fenster offen, um besser den Lärm des Festes zu hören, das Pardi drunten seinen Freunden gab. Sie waren gekommen; sie hatten sich eine Treppe erspart und waren zu der Dirne gekommen, anstatt zu der Hausherrin. Lola unterschied Stimmen. Sie lehnte sich hinaus, horchte, und ihr rauschendes Blut formte aus dem Gelächter der Männer schmutzige Worte, die ihr galten. Schon einmal, in dem Sommer vor ihrer Verlobung, war sie von oben Zeuge gewesen, wie jene sie mit Worten auszogen. Pardi hatte ihnen damals nicht ins Gesicht geschlagen, und jetzt überbot er sie: er war's, der die Dirne zu diesem gellenden Lachen brachte. Er gab seine Frau einer Dirne preis. Zwischen dieser Schändung und jener lag Lolas Ehe. ›Und es ist gut so. Nur weiter! Ganz mit ihm zugrunde gehen und im Elend seine Magd sein! Ich wäre Arnolds Magd gewesen, wenn er gewollt hätte. Aber er läßt mich allein. Dieser hält die Hand auf mir, ihm entrinne ich nicht. So sei es! Ich kenne nun mein Schicksal; und so schlimm es immer werden mag, ich lobe es, darum daß ich's kenne.‹

Sie hatte die Furcht, die Dirne möchte sich von ihr verachtet glauben. Jene hätte erfahren sollen, daß Lola ihre Anwesenheit guthieß, sich ihr unterwarf und nicht Dame noch Märtyrerin sein wollte. Immer, wenn Clotilde um sie war, drängten sich Lola Worte auf die Lippen, die das Mädchen der andern hätte bestellen sollen; und immer riß Lola, im Schrecken, das Geständnis zurück. Zehnmal am Tage trieb es sie, auszugehen, nur um drunten die offene Tür zu streifen und hineinzuspähen. Schon zitterte auf ihrem Gesicht das Lächeln, mit dem sie vor der Dirne den Kopf geneigt hätte ... Da sprang eine Tür auf; Lola drängte sich in den Winkel beim Schrank; und eine Frau mit gelben Haaren lief im Halbdunkel vorbei, drehte sich plötzlich um und fing Nutini auf, der sie küßte. Lola dachte zornig: ›Er hätte mich ihm wegnehmen wollen, und jetzt nimmt er ihm diese!‹ Sie schlich, wie die beiden fort waren, zurück, voll Reue, daß sie gesehen hatte, was Pardi vor ihr demütigte.

Ein einziges Opfer brachte sie zaudernd: das Bild drunten im Saal, das Bild jenes Knaben in alter Tracht, mit dem weichen, traurigen Goldgeriesel des Haars; aus dessen weißem Gesicht der Mund feuchtrot hervorstand und fleischig. Aber dies Fleisch, das vom Blute Pardis war, schien zu seufzen über sich selbst. Die braunen, gewölbten Augen betrauerten es, untröstlich. Und die Stirn, die sanfte Wange neigten sich dem Schatten zu, als wollten sie sich ganz von ihm überziehen lassen. Die Augen Pardis in ihn selbst zurückschauend, in eine Seele, die nicht seine, sondern Arnolds war; seine Stirn durch Arnolds Güte und Sehnsucht gereinigt: Das war jener Tote, der Lola ihre mildesten Träume geschenkt hatte. ›In ihm konnte ich beide lieben. Nur bei ihm war ich gestillt. Es ist sehr schwer, zu denken, auf welche Dinge jetzt seine Augen blicken, die zuletzt mich sahen. Pardi weiß nicht, wie gut er sich rächt. Er zerreißt in meinem Herzen den letzten Wohllaut.‹

Oft fuhr sie auf und wollte das Bild fordern. Andere Stunden weinte sie darum. Und jedesmal neu hatte sie sich der darzubringen, die ihr als Henkerin bestimmt war. Sie stellte sich die Dirne kalt und frech vor, voll der Sucht, die Frau, deren Mann sie besaß, mit Füßen zu treten, ihre Erinnerungen zu schänden. Auf der einsamen Folter ihrer Gedanken fühlte Lola dort unter sich einen schmutzentstiegenen Dämon, der erst aus den Trümmern dieses Hauses, gell auflachend, entflattern würde. Und eines Tages traf dies Lachen sie so nahe, daß sie sich verloren glaubte. Sie wollte ihren Wagen besteigen; hinter ihr im Hause rief es, herbeilaufend: »Schön! Der Wagen für mich« – und plötzlich standen sie voreinander. Lola hatte im Schrecken nur grelle Flecken vor Augen: die gelben Haare, das kreidige Gesicht. Da hörte sie stammeln:

»Ich habe mich wohl geirrt, der Wagen ist wohl nicht für mich?«

Lola brachte hervor:

»Ich bitte, bedienen Sie sich!«

Aber die andere tat einen tastenden Schritt rückwärts.

»Ich möchte doch nicht die gnädige Frau –«

Lolas Blick klärte sich; sie entdeckte große blaue Augen, die vor ihr erschrocken waren.

»Ich werde zu Fuß gehen« – und das Mädchen verneigte sich scheu.

»Nein!« sagte Lola. »Fahren Sie mit mir!«

Jene zögerte, senkte die Stirn und gehorchte. Der Kutscher sah sich empört nach ihr um. Lola fiel es ein, daß die beiden sich kannten. Sobald sie das Mädchen neben sich hatte, sagte sie dringend:

»Glauben Sie nicht, ich wolle Sie demütigen! ...«

Sie fürchtete, zu schluchzen, und schwieg. Leopoldo peitschte aus Zorn; sie jagten über die Brücke. Männer starrten zu ihnen herein; die Dirne sah willenlos hin; und dann zuckte sie zurück und tat, mit geducktem Blick, bei Lola Abbitte. Lola roch das unelegante Parfüm, bemerkte unter dem Spitzensaum einen rauhen Schuh und fühlte sich nüchtern und übel werden. Diese Arme hätte nichts verstanden von allem, was vorging; empfand nichts und wollte nichts. Lola hatte den dürftigen Dingen Geist und Phantasie geliehen, hatte Schicksalsgötter gegen sich am Werk geglaubt. ›Das Schwerste ist immer wieder, durch das Unglück nicht hochmütig zu werden. Kein Schicksal, auch meins nicht, darf uns glauben machen, wir seien einzig und erlitten Ungeheures. Sich bücken unters Gewöhnliche!‹ Sie grüßte die alte Marchesa Triborghi, und der Gruß blieb unerwidert. ›Was tue ich auch? Ich weiß nicht mehr, in welcher Welt ich lebe. Nur mir, scheint es, geschehen solche Vergeßlichkeiten.‹ Sie fragte das Mädchen, wo es abzusteigen wünsche. Es hatte, in der Fassungslosigkeit, all sein Italienisch vergessen.

 

Denselben Abend mußte sie im Palazzo Valdomini sein und Anspielungen hören.

»Sie haben Ihr unteres Stockwerk vermietet, meine Liebe?«

»Es werden Verwandte sein?«

»Denn Sie verbringen dort, scheint es, Ihre Abende. Ich fuhr vorbei; und dort war's hell; bei Ihnen droben sah man kein Licht.«

»Ach, die Belfatti will Sie mit einer noch unbekannten Kusine im Wagen gesehen haben ...«

Die Männer lächelten und sahen weg. Claudia entfernte sich.

»Du weichst mir aus, Claudia?«

»Wozu brauchst du noch mich? Hast du nicht eine neue Freundin? Ich muß dir sagen, Lola, daß du entsetzlich taktlos bist. Es scheint, ihr Fremden seid es nun einmal. Aber ein Kind kann wissen, daß uns die Maitressen unserer Männer nichts angehen.«

Noch beim Sprechen fiel ihr ein, was sie selbst sei; und sie ward rot. Immer zorniger, stieß sie hervor:

»Aber du bist schlecht und willst ihm schaden. Vielleicht hast du jetzt erreicht, daß er nicht gewählt wird.«

Lola murmelte, erblaßt: »Ich hatte nur den Kopf verloren.«

Aber Claudia ließ sie stehen. Lola sah sich nach Hilfe um; sie ertrug diese Vereinsamung nicht. Unvermittelt zeigte sie sich gegen die Männer liebenswürdig, ließ sich umringen, erweckte Hoffnungen. Dabei dachte sie krampfhaft: ›Ich bin feige; er darf nicht wissen, was geschehen ist.‹

Das letzte fühlte sie dahingehen: ihre Selbstachtung. Nichts blieb, als ein Tumult von Stimmungen und Gedanken, ganz unnütz, ganz machtlos im Wirrwarr der Ereignisse, der Gesichter, der offenen Türen. Der Wahltag war da; das Haus gehörte jedem, der eine Stimme hatte. Sie standen, kauend und mit schaukelnden Weingläsern, bis in Lolas Zimmer hinein. Pardi drückte alle Hände. Seine Augen, seine Gesten beherrschten die Menschenflut, schienen sie zu beherrschen bis ans Ende der Stadt. Lola sah ihn bleich – aber jung und gefährlich, wie einst. Sie zeigte sich zuvorkommend, schmeichelte denen, die er bevorzugt hatte, erriet demütig seinen Willen. Gegen Mittag lichteten sich die Haufen. Mit dem letzten entfernte Pardi sich selbst.

Lola stand einen Augenblick und atmete schwer. Plötzlich schmeckte sie den Dunst und den Qualm, die von der Menge übriggeblieben waren; sah den Schmutz und das Drunterunddrüber. Sie fürchtete zur Besinnung zu kommen. Nur nicht denken, nicht voraussehen! Heute war ein guter Tag, ein leichter Tag: man trieb so fort in Gedränge und Lärm; man trug nicht mehr an sich, fühlte sich nicht mehr. Zurück in die Menge! Hinaus: gleichviel, wohin!

An den Mauern klebten riesige Zettel, weiße, rote und gelbe; dahinten auf dem Platz vor der Brücke drängte es sich, unter Fahnen, bei einer Schenke. Und wie vor Lola die Gasse sich öffnete, deuchten Brücke und Ufer ihr munterer, weiter und heller als sonst: als sei der erste Frühlingstag aufgegangen.

Die bei der Schenke fuchtelten vor roten Plakaten und schrien jedem, der kam, den Namen des Sozialisten Ricchetti ins Gesicht. Zwei Arbeiter sahen Lola entgegen, und wie sie vorbeiging, seufzte der eine:

»Ah! die Frauen.«

Sie war erkannt; Rufe stiegen aus dem Haufen:

»Nieder mit Pardi!«

»Aber es lebe die Contessa!« schrie der Arbeiter.

Die Brücke entlang dufteten Veilchenkörbe in der Sonne. Drüben am Fluß hin, zwischen den Wagen und den Plakaten, über den Köpfen derer, die, Zeitungsblätter in den Händen, aufeinander einredeten, schwankten die Veilchen. Mädchen mit Veilchen am Hals störten im Vorbeigehen mit ihrem Duft aus Frau und Blume ganze Rotten Politisierender auseinander, und der Eifer der Gesichter zerteilte sich zum Lächeln.

Die lange offene Säulenhalle der Uffizien toste von Volk. Es spritzte seine Wellen die Säulen hinan: auf den Sockeln, den Schranken wiegten sich stürmisch junge Leute, streckten die Arme über die heraufgewendeten Gesichter aus und redeten. Andere Studenten, Kokarden an den Hüten und die Taschen voll Zeitungen, legten Hand an die Wähler, hängten sich in den Arm ländlicher Bürger, die noch abwarteten, setzten mit dem Feuer ihrer Mienen endlich auch die der Männer in Bewegung, – und die weißen Hände lagen in den braunen. Plötzlich flogen alle auf, um zu klatschen. Von da vorn stürmte Händeklatschen beflügelt herbei. Hinten klatschte man im Galopp und strebte hervor: was es sei, das man beklatschte. Der Alte Palast der Republik schob seinen Turm ins Blaue hinaus, als reckte sich der Hals eines großen alten Wächters voll drohender Ruhe, und auf seinem greisen Profil erblaßte die Sonne. Gegenüber, unter dem Bogen der Bilderhalle, sah Judith, klein und furchtbar, auf den Kopf dessen, an dem sie ihr Volk gerächt hatte. Und zwischen dem Wächter und der Heldin leuchteten auf einmal drei rote Mützen auf. »Garibaldiner!« Die Menge schlug ihnen entgegen, eine einzige Woge. Man führte die drei Alten ihr zu, ihren tausend Armen zu, ihren tausend zum Jubeln offenen Gesichtern. An allen Festtagen begegnete man ihnen: heute aber wollte jeder das rote Wollhemd dieser armen Leute berühren, als gäbe es Kraft; und ihre altersbleichen, altersernsten Mienen waren umsprüht von Liebesblicken. Eine Frau küßte den einen. Das Volk klatschte. Es klatschte, als die drei vor ihm ihre Köpfe entblößten. Man sah sich an, man sah einander weinen.

Lola spürte Tränen – und da traf sie die Augen eines berußten Menschen und fand sie voll Stolz. Welche Feier! Ein Volk rief sich, irgendwie dazu eingeladen, die Größe seiner Väter zurück, besann sich, beim Anblick der Größe von Niederen, auf sich selbst. Bis in die ältesten Tage erkannte es an den Wahrzeichen sich selbst, und seine eigene Unendlichkeit erschütterte es. Lola atmete tiefer in dieser bewegten Luft: bewegt von der ungeheuren Güte der Demokratie, ihrer Kraft, Würde zu wecken, Menschlichkeit zu reifen, Frieden zu verbreiten. Sie fühlte es wie eine Hand, die sie befreien wollte: auch sie. Allem Volk sollte sie gleich werden, sollte erlöst sein. Ringsum sahen alle sie frei und derb an, ohne Vorbehalt, ohne jene höfliche Fremdheit. Sie war keine Fremde; sie war eine Frau wie die anderen; wie die Mädchen mit den Veilchen unter der Wange, konnte jeder sie begehren.

Da erinnerte sie sich, wie einst, vor Jahren, Arnold in seiner Einsamkeit und auszehrenden Geistigkeit ihr von Menschennähe, vom warmen und tätigen Bündnis mit Menschen vorgeschwärmt hatte – und ihr innerer Flug brach ab, und sie fühlte sich zu Boden geschlagen. Was er erlebt hatte, erlebte auch sie. Nur ihm glich sie, und sie konnten einander nicht helfen, und sie schleppten einander nach. Stand er nicht dort im Hintergrunde der Halle? Eine Sekunde hatte sich der Wald von Köpfen vor seinem Gesicht geöffnet. Dort schwärmte er nun wohl, wie sie geschwärmt hatte. Aber er ließ sie des anderen willenlose Sache sein und mit dem anderen untergehen. Sie sah bitter fort. Er konnte nichts für sie tun; denn er sah zu tief – gleich ihr selbst. Sie kannten einander, so sehr, daß sie sich fast schon verloren hatten. ›Habe ich diese ganze letzte Zeit je an ihn gedacht? Wir lebten zusammen immer nur wie auf einem anderen Stern, und ich stecke jetzt so angstvoll tief im Irdischen. Habe ich neulich seinen Brief gelesen? Vielleicht; aber ich weiß nicht mehr, was er schrieb. Es war keine Zeit dafür ...‹

Der volle Platz machte ihr Widerwillen; sie schob sich bis in die Gasse nach dem Neuen Markt. Ein Wagen hielt festgerannt im Gedränge.

»Lola!«

Claudia stieg aus.

»Ich gehe mit dir. Bist du mir noch böse, Lolina? Ich war so unglücklich, als ich dich wegen der Französin schalt. Es war Eifersucht. Vergiß es! Nimm diese Veilchen und vergiß es! Willst du?«

Sie drängte sich kindlich an Lolas Arm.

»Du verzeihst mir? Auch das noch? Ach, du bist unbegreiflich gut, Lolina. Ich zweifle nicht, daß uns drüben die Madonna erwartet; denn von dir bis zu ihr ist's nicht mehr weit.«

»Wohin gehst du, Claudia?«

»Ich weiß nicht.«

Ihre Tränen blinkten noch, und schon lachte sie.

»Es ist gleich. Welch schöner, schöner Tag! Nun ist's Frühling: darum steigen alle auf die Straße hinab. Sieh, die Nase dort! Sieh, jene Frau: sie hat einen Liebhaber, man sieht es ihr an ... Aber hier sind schrecklich viel Leute: was haben sie?«

»Sie wählen!«

»Ach ja! Ich dachte nicht daran. Er läßt sich wählen: gerade heute. Und doch, und doch –«

Sie jauchzte leise – und plötzlich nachdenklich und spöttisch:

»Da sieh, wie sie diese Papiere anstarren, die Männer! Es scheint, daß sie das interessiert, was daraufsteht. Sind diese beiden aufgeregt! Ach nein, man darf sie nicht beachten: gleich fangen sie an, sich mit uns zu beschäftigen.«

Und sie sah unbeteiligt gradaus. Auf dem Domplatz trieben Gruppen umher. Die beiden Frauen steuerten hindurch. Manchmal folgte ihnen ein Blick. Wohin gingen sie? An was dachten sie, – da alles Feuer, das die Welt der Männer hervorwarf, sie nicht wärmer machte, an der ruhigen Blässe ihrer Gesichter nichts änderte?

»Dorthinein müssen wir«, sagte Claudia, und sie nickte hinüber nach der engsten der Straßen. Plötzlich zuckte sie zurück.

»Was hast du?« – aber Lola hatte schon die fiebrig Lauernden bemerkt, dort an der Hausecke. Er war bleich; die eine Hälfte seines Gesichts verzerrte sich jede Sekunde. Er fingerte am Kragen, am Bart, tat zwei Schritte vorwärts und zwei zurück. Eine Hand hielt er in der Tasche; und sein Blick brannte unauslöschlich auf Claudia.

»Dein Mann«, murmelte Lola.

»Ja, er«, und Claudia sah ihn unverwandt an. »Er ist schlimm heute, er hat, glaube ich, einen Brief bekommen.«

»Laß uns in ein Café treten, Claudia.«

Claudia atmete auf.

»Siehst du? Er ist weg, zurück in die Gasse, verschwunden in der Menge. Ich wußte es.«

Sie lachte erregt.

»Er wird nichts tun. Warum heute? Da er noch nie etwas getan hat ...«

Sie mußte stehenbleiben, um ihre Lustigkeit zu dämpfen.

»Ah, der kleine Konditor. Er macht die süßesten Kuchen von allen. Ich möchte wieder von seinen Kuchen essen.«

Und drinnen:

»Du bist so ernst, Lolina. Bist du besorgt um mich? Dann liebst du mich also wirklich? Ja, du liebst mich.«

Claudia seufzte schwer auf. Sie kaute; dann, mit Flüstern, tief feierlich:

»Dich hätte ich gehaßt, wärst du eine der unseren gewesen. Ich weiß es gewiß, ich hätte dich getötet. Nun aber sind wir Freundinnen gewesen. Denn du bist so edel, daß man dich nicht fürchtet. Ach, und dennoch liebt er nur dich. Er hat mir's gesagt: nicht länger als acht Tage ist's her, und ich war in Wut gegen ihn wegen der Französin. Er hob nur die Schultern; und dann sagte er, dich allein liebe er. Mich aber verachtet er so sehr, daß er mir das sagt.«

»Aber du bist durch ihn glücklich gewesen, und ich unglücklich.«

»Er sagte auch, nur du könntest ihn retten.«

»Mit ihm zugrunde gehen kann ich: sonst nichts.«

Draußen strich Claudia sich mit dem Finger über die Stirn.

»Was reden wir da? Was gestehe ich dir alles? Oh, ich schäme mich! Aber mir ist, als sei es das letzte, das ich zu dir spreche. Warum? Ich bin abergläubisch, und mir scheint irgend etwas Großes bevorzustehen. Ich werde ihn verlieren! Er hat mir gesagt, wenn er nicht gewählt werde, wolle er sich mit dir auf dem Lande vergraben. Lolina, sei gut mit ihm! Du, die du so gut bist! ... Gott! Das ist wieder jener.«

»Laß uns umkehren!«

»Nein, nein! Er würde uns nachlaufen.«

Sie mußte die Augen, die sich vergrößerten, auf ihm haben, mußte ihm entgegengehen. Er stand jetzt vor dem Café Bottegone, war noch bleicher, noch fratzenhafter, öffnete und schloß unaufhörlich über der Brust die Knöpfe und schien zu keuchen, als sei er gelaufen.

»Ich habe Angst, ich habe furchtbare Angst«, jammerte Claudia. »Warum hält er die Hand in der Tasche? ... Und nun wir näher kommen, sieht er weg. Er müßte uns doch begrüßen ...«

»Kein Wagen hier: es ist Wahltag. Fürchte dich nicht, arme Claudia! Ich bin bei dir. Er wendet sich zur Ecke; er ist nicht mehr zu sehen. Machen wir, daß wir fortkommen!«

Sie hasteten die breite Straße hinauf: fast liefen sie. Junge Leute zogen daher und wechselten, angeregt lächelnd, ihre Meinung über diese beiden eleganten und hübschen Frauen, die inmitten des Männergetriebes auf ihren klappenden hohen Absätzen irgendeinem süßen Ziel zustrebten.

»Die Kleine ist die Schönste«, sagte einer, und lächelte dringlicher in Claudias Augen. Sie streiften ihn, mit ihren schweren, feuchten Pupillen im bräunlichen Weiß – und glitten weiter. ›Du kannst mir nicht helfen.‹ Er wendete sich noch, um die von ihr durchschrittene Luft einzuatmen, die nach Veilchen roch.

»Soll ich sie ansprechen?« fragte Lola, ratlos, und blieb stehen.

Da erhob sich Geschrei und Singen. Aus der Seitengasse vor ihnen brachen Laufende; geballt wälzte sich's hinterher; und die Pferde der Gendarmen stiegen und sanken über der Menge wie Schiffe im Sturm. Er brauste gegen die beiden Frauen heran; sie sahen in schwarz geöffnete Münder, in Gesichter, die von nichts wußten, als von dem Schrei, den sie ausstießen. Sie schrien:

»Es lebe Ricchetti!«

Und Claudia, in ein Tor gedrückt, mit ihrer kleinen gellen Vogelstimme:

»Nein! Es lebe Pardi!«

Vorüber. Betäubt kehrten die Frauen auf die Straße zurück: sie lag breit und leer, mit dem Dreimaster eines Carabiniere mitten auf dem Pflaster.

»Ich höre einen Wagen«, sagte Lola. »Komm rasch!«

Aber Claudia entgegnete starr:

»Es ist unnötig. Dort steht er.«

Und Lola stammelte:

»Wie ist er dort hingekommen? Ich begreife nicht ...«

»Es soll sein«, sagte Claudia. »Heute früh sind sechs Haarnadeln von meinem Tisch gefallen, und alle lagen kreuzweise. Also hier.«

»Halte doch an, Claudia! Wer weiß, was er vorhat.«

»Ich weiß es. Sein Gesicht hat nie so gezuckt; es ist schrecklich, wie das Zucken ihm die Zähne entblößt, auf der einen Seite nur ...«

»Du sprichst, als schliefst du. Empöre dich doch! Was wir immer getan haben, wir sind Menschen. Darf man uns jagen wie ein Tier? Oh, ich hasse sie alle, ich will nicht dabeisein. Du kommst mit mir, Claudia: oder ich lasse dich allein.«

»Adieu, Lola. Und sage ihm – du weißt wem –, ich wäre so gern, so gern noch –. Oh, der dort zieht die Hand aus der Tasche.«

»Er sieht aus wie ein Verrückter. Warum sind wir ihm so nahe gekommen? Hilfe! Kutscher! Hilfe!«

Da krachte schon der Schuß, und Claudia taumelte gegen das Haus.

»Ich bin getroffen. Noch lebe ich. Aber er ist nicht zufrieden; er kommt, er will's fertigmachen. Seine Zähne!«

Aufschreiend:

»Nein! Ich will nicht sterben. Rette mich, Lola! Ich muß zu ihm: du weißt, zu wem. Er hat mich bestellt, er wartet schon. Wenn ich zurückkomme, will ich sterben: nicht jetzt ... Gib mir doch Zeit!«

Sie krümmte sich, und sie spreizte die Hand gegen den, der mit ausgestrecktem Arm und schwankend herbeikam. Lola stürzte vor, sie packte die Waffe. Er drückte wild zu; Lola sah ihre Hand voll Blut und sah Claudia sinken. Claudia wand sich empor und lief, ohne einen Laut, davon. Sie lief mitten auf der Straße, mit ungleichmäßigen Schritten und mit Händen, die durch die Luft tasteten: als liefe sie über Wurzeln und Steine, in einem halbdunklen Wald. Drei Schüsse noch folgten ihr. Aus den Seitengassen links und rechts rannten gleichzeitig vier Sicherheitswächter, versperrten die Straße und griffen Claudia auf. Sie wies hinter sich; darauf ließen alle sie los, daß sie hinfiel, und warfen sich auf den Mann. Er lehnte an der Mauer; neben seinem Fuß lag der Revolver; und er hatte die Augen geschlossen.

Lola kniete, über Claudia gebeugt.

»Sage etwas, Claudia, nur ein Wort: ich bitte dich, ich bitte dich!«

Claudias kleine weiß bekleidete Hand regte sich leise in dem Kot, in den sie gegriffen hatte.

»Ach, du weinst. Nicht wahr, du weinst noch?« – und Lola haschte mit den Lippen nach der Träne an Claudias Lid. Aber die Träne war kühl, und Claudias Augen erstarrten schon.

»Contessa! Was ist geschehen? Atmet sie noch? ... Lassen Sie doch mich, Contessa!«

Lola erkannte Guidaccis kellerigen Atem und richtete sich auf. Der kleine Priester war aufs äußerste belebt. Seine Hundeaugen fieberten von dem Hochgefühl, an einem Ereignis teilzunehmen.

»Eine furchtbare Sache! Ich trete aus San Lorenzo und höre schießen. Ich laufe; nur durch jene Straße brauche ich zu laufen, und da bin ich. Laßt mich machen!« – er wehrte den Polizisten mit seinem erregten gelben Händchen –, »ich kenne die Dame.«

Und er raffte die Soutane, kniete hin und legte das Ohr an Claudias Herz. Alle bückten sich; die Herbeigelaufenen ringsum hielten den Atem an.

»Tot«, entschied der Priester, mit einer abschneidenden Geste. Lola bedeckte mit der Linken die Augen. Die Rechte stieß sie unsicher ins Leere.

»Ich will fort. Den Wagen!«

Man hatte darin den Mörder fortgeschafft. Guidacci schickte nach einem andern. Inzwischen nahten Eilschritte; und wie Lola die Hand von den Augen nahm, schrak sie zusammen vor den Vermummten der Misericordia. Sie hoben die Tote geräuschlos auf ihren federnden Karren, und schon machten die beiden hohen gelben Räder die erste Drehung. Lola wollte sich nachstürzen, aber Guidacci hielt sie nervig zurück.

»Nur einmal unter das Verdeck sehen! Waren denn ihre Augen geschlossen? Sicher?«

Sie hatte vor sich immer Claudias erstarrtes Auge und an seinem Rande die letzte Träne, die es hatte weinen dürfen.

 

Ein Wagen war da. Guidacci setzte sich zu ihr. Er zappelte noch und sah und hörte nur sich.

»Wäre ich bei Ihnen gewesen: Ah! Contessa, Ihre unglückliche Freundin lebte noch. Mein Freund hier« – und er griff in die Tasche – »hätte sie beschützt. Und zu denken, daß es hätte sein können. Denn ich ging ernstlich mit der Absicht um, heute die Kirche schon um halb ein Uhr zu verlassen! Fragen Sie Bussoletti, unsern dicken Erzpriester!«

»Lassen Sie sehen!« sagte Lola, und nahm den Revolver in die Hand. Sie spielte mit der Sicherung, sah nach den Patronen.

»Den also muß man gebrauchen, damit nicht der andere ihn gebraucht.«

Erst kurz vor der Ankunft gab sie, aufschreckend, die Waffe zurück.

»Bleiben Sie hier! Danke: ich brauche keine Hilfe. Das Blut an meiner Hand? Es ist nicht der Rede wert. Aber ich möchte ruhen.«

Sie verband sich selbst; nur niemand sehen! – und fand nun, ausgestreckt, hinter ihren Lidern alles wieder, und ihre Adern pochten unaufhörlich die Worte: ›Den also muß man gebrauchen, damit nicht der andere ihn gebraucht.‹

Sie warf sich auf dem Polster umher.

›Claudia hat ihm gehört, wie seine Sache; und weil sie sich widersetzte, hat er sie zerbrochen. Er durfte es; er geht dafür mit ihr unter. Und so werde auch ich mit dem untergehen, dessen Sache ich bin ... Ich will nicht! Wer hat auf mich ein Recht? Alles ist Lüge. Ich bin als mein eigen geboren, und kein Mensch konnte je auf mich ein Recht erwerben. Ich bin in seiner Schuld? Ich habe gewußt, was mir mit ihm bevorstand? Ich habe ihn unglücklich gemacht? Ach, das alles zählt nicht, wenn es um mich selbst geht. Ich will nicht so gerecht sein! Mag er zusehen! Er hat mir schlimme Jahre gemacht, wir sind quitt. Ich will nicht in die Tiefe denken, wo seine Schuld aufhört und alles Schicksal wird, das man stumm weiterschleppt. Ich will leben! Ich habe Claudias Tod gesehen: er war schimpflich. Ich will leben!‹

Ihr war schwindlig von dem ungeheuren Flügelrauschen in ihr. Plötzlich fuhr sie empor, und aufgestützt, die Lippen geöffnet, mit einem irren Lächeln lauschte sie.

Nein. Schwer seufzend sank sie zurück. Es war Pardi.

Er trat ein; sein Schritt war lastend, und er ging, ohne sie anzusehen, zum Fenster. Mit dem Rücken nach dem Zimmer:

»Es steht schlecht: ich fühle, daß ich heute kein Glück habe. Bereite dich auf das Landleben vor.«

Er wanderte umher und murmelte zwischen den Zähnen. Anhaltend, mit einem scharfen Blick:

»War Claudia nicht hier?«

Lola schwieg. Er kam unruhig näher. Sie richtete sich auf; sie sagte ihm in die Augen, langsam und stark:

»Claudia ist tot. Um deinetwillen ist sie umgekommen und auf dem Wege zu dir.«

Er schwankte, er griff sich ins Haar.

»Es ist nicht wahr!«

Da ihre Wimpern sich nicht bewegten, schlug er die Augen nieder. Er sah plötzlich kleiner aus und alt, zerzaust, übernächtig: fahl von zahllosen Nächten.

Und er wanderte weiter: den Kopf auf der Brust, mit stammelnden Bewegungen der Lippen und, von Zeit zu Zeit, einem unfreiwilligen Stöhnen. Lola wendete das Gesicht, wohin er immer ging. Sie fühlte ihren Mund gekrampft vom Haß. Sie haßte ihn! Er hatte Claudia dort hinten in irgendein Rendezvouszimmer bestellt. Claudia war durch die Stadt gegangen, in der an jeder Ecke der Tod lauerte: durch eine Hecke von Mördern. Er hatte sie kommen lassen: denn die Umarmung einer Frau konnte ihm Glück bringen zur Wahl. Ganz Florenz schrie seinen Namen, kämpfte um ihn: und er pfiff darauf und umarmte, abseits vom Lärm, eine Frau. Das war reizvoll; es war eine starke, verachtende Geste. Für sie war Claudia gestorben. Und ihr Tod traf ihn peinlich, denn er brachte vielleicht Unglück. ›Oh, ich hasse ihn, ich hasse ihn! Da schleicht er hin, weiß sich verloren und wird nie mehr aufkommen. Ich freue mich. Ich will es nie bereuen, mich jetzt gefreut zu haben. Zu allem wäre ich in diesem Augenblick stark genug: zu allem.‹ Sie suchte seufzend. ›Eine Waffe! In diesem Augenblick eine Waffe!‹

Aber der Augenblick verstrich! Das leblose Schweigen des Hauses machte ihr Fieber. Pardi richtete sich auf. Er sprach rauh.

»Also retten, was zu retten ist. Auf die Quästur. Den Zeitungen muß gedroht werden, falls sie in den Bericht meinen Namen mischen.«

Er nahm seinen Hut.

»Wie lange ist's her? Ist ihr Mann verhaftet?«

Nach einer Stille:

»Wirst du antworten, Hündin?«

Lola lag da, und die Wange in der Hand, sah sie ihn an, mit Augen, die leise hin und her rückend, im Haß grübelten. Sein Blick irrte ab; er zerdrückte den Hut, er machte kehrt ... Ein stürmender Schritt kam über die Treppe und durch den Vorsaal; die Tür flog auf; Lola verhielt ihren Schrei: da stand Arnold. Er atmete rasch; sein Blick traf sicher, erst Pardi, dann sie; und mit wachem, festem Schritt trat er vor ihr Lager.

»Sie sind verwundet?«

Er bemerkte ihre Hand und zuckte auf. Halb gewendet:

»Sie haben sie töten wollen: ich verlange Ihr Leben.«

Pardi setzte die Fäuste an die Brust.

»Sie sind verrückt; aber da Sie sich endlich zeigen, da Sie endlich aus dem Nebel tauchen, sollen Sie haben, was Sie sich wünschen.«

Er lachte auf. Arnold machte zwei schlanke, kühne Schritte. Lola sah ihn jung und gespannt, wie einen Knaben, der zum erstenmal aus dem Jugendgehege und vor den ersten Feind hintritt; der die Spiele hinter sich gelassen hat und vor Ernst bebt. Er sagte hell:

»Sie haben die Waffe zu wählen; aber wählen Sie nicht die Pistole, sind Sie ein Feigling. Und bestehen Sie nicht mit mir darauf, daß einer von uns am Platze bleibt, sind Sie ein Feigling.«

»Sie hoffen, mich dazu zu machen?« sagte Pardi, die Zähne entblößend.

Arnold verbeugte sich vor Lola und ging.

»Erwarten Sie mich!« sagte sie laut, und sie stand auf. Ihr Hut, ihr Jackett lagen noch da; sie machte sich fertig. Arnold öffnete ihr die Tür.

»Träume ich?« sagte Pardi. Lola kam zurück. Dicht vor ihm:

»Claudia hat dir Sieg gewünscht: es war ihr letzter Ausruf. Aber sie ist nicht die Tote, die dir Glück bringt.«

Und sie wandte sich langsam.

 

»Soll ich dem Kutscher winken?« fragte Arnold.

»Nein.«

»Wozu auch, da wir nicht fliehen, sondern frei dahingehen.«

Lola sah vor sich nieder.

»Nicht er hat mich verwundet. Claudias Mann tat es, als er sie tötete.«

Da er schwieg:

»Ändert das deinen Sinn?«

»Nein.« Sie hob die Stirn; beglückt sah sie ihn an. »O nein!« wiederholte er. »Hat er's nicht getan? So hätte er's doch tun können. Ich habe dein Blut gesehen. Man sprach mir von deiner Verwundung; Guidacci sprach – ich weiß nicht was. Kaum hörte ich, dein Blut sei geflossen, da betäubte meins mich mit seiner Wallung. Ich fühlte, daß der, der dich anrühren könne, nicht länger leben dürfe. Du bist mein. Ich habe genug um dich gelitten.«

»Wir haben genug umeinander gelitten«; und sie nahm seinen Arm.

»Laß uns langsam gehen: jetzt, da wir immer, immer denselben Weg gehen werden.«

Diese armen Straßen links vom Fluß waren voll Volks, das wimmelnd, zur Harmonika, Gitarre und dem Fettgeruch aus den Pfannen der Gassenköche, das Fest der Wahl beging. Ihr Kandidat war so gut wie gewählt. In den engen Schaufenstern stand sein Bild; sie stellten Kerzen davor; die Schenkwirte hängten Lampions hinaus. Die Glocken läuteten das Ave, als feierten sie den Sieg der Armen.

»Wie?« sagte Arnold. »Längst ist mein ganzes Leben auf dich zusammengezogen. Alles hab ich an dich gewendet, alles Denken, alles Leiden, dessen ich fähig bin. Das soll irgendeiner mir wegtragen, es aus dem Leben schaffen dürfen? Wozu habe ich gelebt, wenn du verschwunden bist? Alles konnten Geschick und Menschen uns auferlegen, jeden Verzicht, das ganze gehetzte Dasein, das wir gehabt haben: aber wir müssen leben. Zusammen leben oder zusammen sterben.«

»Zusammen leben«, sagte Lola, mit rascher Zuversicht.

»Durch mein Herz fließt längst nur noch dein Blut. Mit deinen Stimmungen, die mich unbewußt mitergreifen, deiner Unruhe, die auch mich verzehrt, und deiner süßen Liebe, an der ich trage, fließt mir stündlich dein Blut zum Herzen. Wer dich trifft, trifft mich; und ich will leben. Heute hab ich erfahren, daß ich's will.«

»Auch ich. Wärst du nicht gekommen, ich hätte ihn getötet! ... Aber du bist gekommen. Zum zweitenmal hast du mich aus der Ferne gehört, als ich dich beschwor. Und diesmal brachtest du die Tat mit!«

Sie sann: ›Die Tat an die ich nicht glaubte, die ich von mir wies und nach der mich im Grunde immer verlangt hat. Die verachtete Tat, die alles löst.‹

Da sagte er:

»Mir ist es nun, als hätte ich mich längst nach dieser Tat gesehnt.«

… Sie langten an. Der leere Platz mit seinen kleinen alten Häusern, um den riesigen, bröckelnden Kirchengiebel geschart, stand fahlblau in Dämmerung. Sie gingen die geschweifte Mauer zu Ende; schon neigten sich über Lola die stillen Bäume ihres Geliebten. Arnold schob die Pforte zurück – da entstürzte der Gasse drüben eine schreiende Fratze.

»Gewählt ist Pardi!«

Der Schreier wütete an den schläfrigen Häuschen hin, zwang ihnen, mit Läuten und Stampfen, seine Zeitungsblätter auf, zog aus den letzten Winkeln alles, was lebte, an sich, um sich her, und teilte seine Kunde aus.

»Gewählt ist Pardi!«

Sie schlossen sich hinter die Pforte. Zwischen den Steinbildern in ihren schwarzen Laubnischen gingen sie auf das Haus zu. Es lag am Ende dieses Schattenganges rosig in Abendluft und umstanden von seiner Wache steiler blauer Schwertlilien. Lola brach das Schweigen.

»Er wird das Parlament nicht betreten. Oh! Ich habe den Mut, es zu wollen und auszusprechen. Er soll sterben, damit wir leben können. Wir wollen nicht länger schlecht, als seine Knechte leben. Denn das waren wir. Denken und Zweifeln hatten uns rechtlos gemacht. Durch Verstehen waren wir unfähig geworden, eine Hand zu erheben, sei es nur, um uns vor Schmutz zu behüten. Wir glaubten uns edel kraft unserer Reinheit und wurden doch von ihr durch Verwirrung in Niedrigkeit geführt. Allzu gerecht, wird man Sklave. Ein Volk von Würde und Menschlichkeit ist ungerecht gegen seine Herren und befreit sich.«

Der Blick jenes berußten Menschen erschien ihr, der in der Säulenhalle der Uffizien, stolz auf sein Volk, ihr in die Augen gesehen hatte. In ihr zitterte sein Stolz. Sie sah ein Aufleuchten von tausend Gesichtern, die Geste der Denkmäler, die klatschenden Hände, den Ruhm eines Volkes. Und plötzlich ein anderes Auge: bräunlich weiß, schon starr, und an seinem Rande die tote Träne.

»Was erschreckt dich, Lola? Du bist bleich. Dir wird schwach?«

»Claudia ist tot. Ich hatte sie lieb. Warum mußte sie schimpflich sterben?«

»Lehne dich an mich! Nimm einen tiefen Atemzug aus dieser Luft; der Abend hat so viel Ruhe und Kraft. Sieh, wie stark um uns her die Schwertlilien stehen!«

»Du bist stark! Ich breche nachträglich zusammen. Ja, stütze mich! Ich weiß nicht, was mich mehr ängstigt von allem Erlebten: der Freiheitsstolz so vieler, oder der Tod einer armen kleinen Sklavin.«

»Laß dich über die Stufen heben, meine Lola. Wir sind frei und ruhig. Bleibe in Ruhe auf dieser Terrasse, die uns lieb ist, stütze deinen schönen Kopf an das Haus, das uns kennt, und warte, bis ich zurück bin.«

»Du gehst?«

Da er schwieg.

»Nun weiß ich's wieder.«

Tränen entstürzten ihr.

»Das Schwerste steht noch bevor, und ich versage schon.«

Er sah zu Boden.

»Wenn ich ausbleibe –«

Da sprang sie auf. »Du kannst zweifeln? Nein! Du weißt: in derselben Stunde stürbe auch ich.«

Sie sanken, die Augen geschlossen, gegeneinander.

Lola schob ihn sanft zurück.

»Laß, ich habe meine Kraft wieder. Du wirst siegen!«

»Deine Augen entzünden so meinen Geist und mein Blut, daß ich alles glaube, allem vertraue.«

»Du wirst siegen, weil er gerichtet ist. Er hat es gefühlt: hätte er mich sonst gehen lassen?«

»Welch Leben, Lola! Wir sind gemeinsam wiedergeboren.«

Sie reckte sich, breitete die Arme aus. Den Kopf im Nacken:

»Nimm mich! Ich bin frei ... Nein: warte! Du bist zu stürmisch: ganz Held. Ich bewundere dich; auch das habe ich von dir gewollt. Aber ich will auch das andere nicht verlieren, das du warst.«

Er kniete hin. Sie lehnte auf seinem Kopf ihre Hände aneinander und beugte sich sanft, bis ihr Mund seine Stirn traf. Mit kleiner, süßer Traumstimme redete sie.

»So bleibe noch! Ich sehe über dich hinweg in das Dunkel, das heranschwillt. Die Steige waren blau und sind nun schwarz. Das Leuchten der Gartengötter ist vergangen, zugleich mit den Vogelstimmen. Das Leben ist tief, fühlst du's? Ich höre Schattenfüße auf dem Rasen. Ein letzter Strahl biegt sich um deinen Kopf. Du gehst nun und kämpfst um mich. So brauche ich dich; denn ich bin nur eine Frau. Dann kehrt mein Held heim zu mir, legt seine Stirn in meine Hände und ist sanft und mein Gefährte. So brauche ich dich; denn ich bin nur eine Frau ... Wirst du Geduld mit mir haben, Lieber?«

Er flüsterte:

»Die Prüfung liegt hinter uns. Jeder von uns weiß, was er sagt, wenn er sagt: Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich«, sagte Lola.

 


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