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Dritter Teil

I

So leise Lola, ohne Licht zu machen, ihr Schlafzimmer betrat, Mai hörte sie doch, kam zögernd herein – und plötzlich, schluchzend im Dunkeln, hängte sie sich an Lola, die den Atem anhielt und mit schlechtem Gewissen auf dies Schluchzen hörte.

»Werde glücklich!« brachte Mai hervor.

»Darum handelt es sich nicht«, murmelte Lola. »Aber du weißt, man muß vernünftig sein.«

Und sie übte sich in Vernunft und Nachgiebigkeit. Sie durfte jetzt nicht mehr das Damenbad verlassen. Pardis Augenrunzeln begegnete sie, wenn sie, ohne ihn zu erwarten, zu Tisch gegangen war. Er fand es unverschämt, fragte sie nur, wo er mit Mai den halben Tag verbracht habe. Denn sie verschwanden aufs Meer, in das Land ... Dafür machte er aus Lolas Eintritt jedesmal etwas wie das Erscheinen einer Fürstin. Ein Fest, mit Regatta, Ball und Feuerwerk, das er plante, sollte ihm dazu dienen, seine Verlobte mit Größe in die Gesellschaft einzuführen. Lola erklärte aber, wegen ihrer Ausstattung nach Florenz zu müssen. Am Morgen ihrer Abreise, noch bevor der Strand sich belebte, sah sie die Bernabei und sah, daß sie auswich. Lola machte einen Bogen und grüßte: mädchenhaft, mit Unterordnung. Sie schämte sich, zu triumphieren. In diesem Augenblick trat Pardi auf und stellte vor. Seine Geste war blühend, voll des Genusses der Lage. Lola zog die Brauen zusammen. Sie reichte der Bernabei die Hand, mit einer raschen Regung, die sagte: ›Er rühmt Ihnen seine Braut und prahlt vor mir mit seiner Geliebten: muß uns diese brutale Manneseitelkeit nicht zu Verbündeten machen?‹ Und sie erstaunte einfach, als die Hand der andern nicht kam und in dem zusammengedrückten Gesicht die blassen Augen vor Haß dunkler wurden.

In der letzten Minute sagte Pardi:

»Nein, Sie können nicht allein reisen, ich komme mit Ihnen.«

Mai erwiderte:

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich es nicht wünsche.«

Er erklärte Mais Bedenken für lächerlich; Lola selbst gab zu, sie nicht einzusehen. Aber Mai zeigte sich, zum ersten Male, stark; sie trotzte dem drohenden Auftritt.

»Sie werden Lola immer für sich allein haben. Ich werde mich nach Amerika zurückziehen.«

Pardi lief plötzlich davon. Er erschien nicht am Bahnhof.

»Was hat er?« fragte Lola.

Mai weinte schon wieder.

»Oh, mir macht es nichts« – und Lola, zart gestimmt, tröstete. »Mich freut es, daß du erreicht hast, was du wolltest.«

Mai sah sie, durch ihre Tränen, mit rätselhaftem Entsetzen an.

 

Zu der Bossi sagte Lola:

»Jetzt brauchen Sie mir keine Rastaquouèrepreise mehr zu machen: ich werde zu den Damen der Stadt gehören.«

Die Schneiderin riet sofort richtig.

»Contessa Pardi! Da wäre es aber eine Beleidigung, wenn ich meine Preise herabsetzen wollte.«

Das Glück, in Stoffen zu wühlen, sich im Geiste mit ihnen zu schmücken, sie vor dem Spiegel um sich her zu legen, belebte Mai. Sie sprach nicht mehr klagend, sie gestand, Lust nach einem sehr guten Diner zu haben. Am nächsten Morgen ließ Lola sich Paolos ungewöhnlich hohen Scheck auszahlen. Allein spazierte sie durch die helle, feine Stadt, die ihr zulächelte, ihr all ihre Eleganz, all ihre unbesorgte Sonne anbot. ›Die Tosca! Schon jetzt, Anfang September, welch Glück! Also heute abend die Tosca.‹ Ein Romantitel lockte sie an; und auf der Hotelterrasse, zwischen zwei Sitzungen bei der Bossi, las sie. Unter ihr wurden Blumen ausgerufen, und warmer Duft stieg herauf. Der Fluß wiegte sich, hinter den im Dunst zerschmolzenen Brücken, golden und frei, zu glücklichen Hügeln hinaus. Glücklich war doch jener Sommer gewesen, dort zwischen den Hügeln! Straßen, einst fröhlich beschritten, fielen Lola ein; eine mündete plötzlich bei einem Landhause in Fontainebleau, mit einem jungen Menschen, von dem sie geliebt worden war. Der Arme! Wie leidenschaftlich hatte sie selbst eine Woche lang die Giannoli geliebt, nach jenem Abend in Brüssel, als sie die Euridike sang! Sie hatte sie besucht ... Die Blumen, die sie ihr brachte, ähnelten einer, die am Rande eines Abgrunds in den Pyrenäen stand. Ein ganz schmaler Pfad führte hinab, und vor dem letzten Schritt war Lola entsetzt umgekehrt ... Sie lächelte, ohne zu wissen, wo sie war, in die Sonne hinaus. Aufschreckend: ›Aber ich bin wahnsinnig, daß ich heirate! Will ich denn alles, alles aufgeben? Was habe ich heute mit meiner Zeit getan? Ich bin gewohnt, sie zu verschwenden, und künftig soll ich unter Vormundschaft stehen. Es ist so selbstverständlich, daß es schlimm werden muß. Ja, und grade, wenn etwas gar zu selbstverständlich ist, kommt ein Zeitpunkt, wo man davon absieht ... Pardi ist mir bekannt; aus dem, was ich mit ihm schon erlebt habe, kann ich alles Kommende ableiten. Über nichts werde ich mich zu beklagen haben ...‹ Und in Hast: ›noch kann ich mich retten!‹

Aber sie zerriß den begonnenen Absagebrief. Denn wie sie ihm den Irrtum des Geschehenen klarzumachen suchte, fand sie vielmehr auf den unvermeidlichen Weg zurück, der hierher geführt hatte. Da Silva und die vor ihm, waren an diesem Wege die Leidensstationen. Bei dem ersten biß man noch die Zähne zusammen und kam durch. Pardi war grade dort, wo man hinfiel. ›Sein Unglück: auch seins; denn natürlich brauchte er eine Frau, die ihm schmeichelt und ihn betrügt. Aber ich kann ihm nicht helfen. So wenig wie mir. Wirklich, ich gehe sehend in alles hinein. Ich habe mein Blut zu büßen.‹

 

Mai ließ sie zu sich bitten. Es war die flaue Vorabendstunde; man ist vom Tage verbraucht und entbehrt noch die Anregungen des Abends. »Um diese Zeit sollten wir uns in Ruhe lassen. Aber Mai begreift nicht, warum sie sich schlecht fühlt, und muß mit allem heraus.«

Mai lag auf dem Diwan und hatte wieder geweint.

»Ich habe nachgedacht«, sagte sie wichtig, »und gefunden, daß du nicht für ihn paßt. Meine Mutterpflicht will, Lola, daß ich dir von dieser Heirat abrate.«

»Danke für deine gute Absicht, Mai, aber es ist zu spät.«

»Soll ich ihm schreiben?« – ganz rasch; und da Lola stutzte, mit leidender Stimme:

»Ich sehe nämlich voraus, daß ihr beide unglücklich werdet.«

»Das ist wohl niemals ausgeschlossen, Mai.«

»Bei euch aber ist es beinahe sicher ... und –«

Mais Stimme hörte sich plötzlich gereizt an.

»Die Schuld wirst du haben mit deinen modernen Ansichten.«

»Oder er mit seinen veralteten. Aber vielleicht geht es auch gut.«

»Er ist so wie ein Mann sein muß ... Aber du brauchst einen, der sich zu deinem Kameraden hergibt. Denn, nicht wahr, du möchtest seine Kameradin sein? Sage, wie wäre es denn mit jenem Deutschen: du weißt schon, welchen ich meine. Ich bin sehr betrübt, daß ich nicht früher daran gedacht habe.«

»Du kannst sicher sein« – und Lola lächelte, »daß ich auch das bedacht habe. Pardi ist trotz allem der, den ich brauche.«

»Du willst also deinen Entschluß nicht ändern?« – mit flehendem Augenaufschlag und gerungenen Händen: »Ich rede zu deinem Besten. Du verstehst nicht viel. Du hast nicht viel Talent, eine Frau zu sein. Ich rede zu deinem Besten ...«

Aber Mais Ton ward immer rachsüchtiger.

»Du glaubst wohl, in der Ehe erweise man sich Gefälligkeiten. Du weißt also nicht, daß sie ein genaues Geschäft ist, bei dem der Mann sein Vergnügen von uns möglichst billig zu bekommen sucht. Dein Vater hat mich um das Meinige betrogen. Ich hätte von ihm viel, viel mehr Diamanten und Pariser Hüte verlangen sollen. Reisen hätte er mich machen lassen sollen. Ich war unerfahren, und er nutzte mich aus. Jetzt hasse ich ihn: daß du's weißt, ich hasse ihn! Es reut mich, daß ich ihn damals nicht betrogen habe. Er würde verdienen, daß ich ihn noch jetzt betrüge, – mag er mir auch erscheinen.«

Und aus verzerrtem Gesicht, grotesk wie ein böses Kind, stieß Mai mit ihren ganz schwarzen Blicken nach Lola.

»Schade«, sagte Lola und zog sich zurück. »Ich konnte das wohl vermuten; aber daß du es aussprichst, macht mir's noch schwerer, eine Frau zu sein.«

Plötzlich schluchzte Mai krampfhaft in ihre beiden Hände.

»Geh nicht fort! Du ahnst nicht, was ich leide!«

»Was denn, Mai?« – aufzuckend von Mißtrauen. »Was hast du?«

Mai nahm die Hände vom Gesicht, das tief errötet war.

»Du wirst hoffentlich nie erfahren, wie sehr ich leiden muß, weil ich deine Mutter bin.«

Lola prüfte sie, ungläubig. Mais schmerzvolles Nicken fand sie theatralisch und hob leise die Schultern. Mai, die die Liebhaber mit den Badeorten wechselte!

»Der Verzicht sollte dich wirklich so viel kosten?«

»Es gibt etwas, das mich mehr kostet«, sagte Mai, noch rätselhafter.

Und nach einer Pause, sehr bedeutsam und mit Stolz:

»Was ich getan habe, geschah alles für dich, und was du künftig bist, wirst du alles durch mich sein!«

Lola sah zu so viel Feierlichkeit keinen Grund. Sie brach ab.

»Wir müssen zur Bossi.«

»Gut«, sagte Mai und schmollte schon wieder; »aber ich begreife nicht, was dies schöne teure Brautkleid soll. Niemand wird es sehen, außer den jungen Leuten, die euch als Zeugen dienen. Warum mit der Hochzeit nicht warten, bis die Gesellschaft wieder in der Stadt ist. Wozu diese Heimlichkeit und Eile.«

»Ich weiß nicht ...«

Lola sah verwirrt umher.

»Vielleicht habe ich genug gewartet?«

 

Sie ward getrieben von der Hast des schlechten Gewissens. Wie sie endlich mit Pardi allein im Schnellzug saß, fürchtete sie, von Bekannten ertappt zu werden, und zugleich forderte sie den Zufall heraus. ›So‹, dachte sie, ›muß einem anständigen jungen Menschen zumut sein, dem es einmal passiert, daß er mit einer Dirne auf Reisen geht.‹ Sie hätte Champagner verlangen, den Mann dort küssen mögen und wagte vor Befangenheit kaum den Kopf zu wenden. Pardi rauchte und lächelte ihr siegesgewiß zu.

Als sie sich von ihm in den Wagen heben ließ, dessen kleines Pferd nicht stehen wollte, schlugen ihr die Zähne aufeinander. Unter dem Mantel des Mannes, in seinem Arm, so jagte sie in die dunkle Campagna hinein. Manchmal flirrte fieberhaft in nächtlichen Gärten ein Haus, von Sternenlicht weiß. Manchmal fiel einen, wie ein Räuber, ein schwüler Duft an und blieb, wie von einem Hufschlag getroffen, um Wege liegen. Jetzt hingen nur noch wenige schwere Gestirne tief herab auf das verödete Land, – dessen ganze wilde und schlaffe Schwüle Lola durchdrang, wie die Lippen des Mannes sich auf ihrem Hals zerdrückten.

Pardi und der Kutscher stiegen ab; ein Büffel lag auf die Straße gewälzt. Dann hallte über ihnen der Bogen eines Aquäduktes und dröhnten unter ihren Rädern die römischen Lavaquadern. Bei einem Brunnen, der seinen geschweiften Giebel, sein Muschelbecken und seine trinkenden Putten, wie ein heroischer Dandy, gegen die Einöde behauptete, rasteten sie. Pardi befahl, das nasse Pferd zu bewegen. Als hinter dem Wagen die Dunkelheit zusammenfiel, fing Lolas Herz zu klopfen an. Sie wartete. Ihre und des Mannes Hände trafen sich und erschraken. Da riß er sie an sich. Lola atmete ungeregelt und lachte, als sie wieder einstiegen.

»Können wir nicht bis ans Meer fahren, Liebling? Jetzt möchte ich das Meer sehen.«

»Ans Meer? Wir sind gleich zu Hause.«

»Zu Hause? Wo?«

Wie durch ein dunkles Abenteuer raste man dahin, liebte einander, ohne einer des anderen Augen erkennen zu können, und hatte in aller Überreiztheit das Gefühl, man schlafe.

Was kam nun? Langsam stieg es in dicke Mauern hinein. Ein Städtchen hängte darüber seine langen, wilden alten Häuser, schickte sie, schlaftrunken und voll Wirrsal, den Berg hinan. Auf einem gewalttätig gewinkelten Platz hielt ihr Wagen; düster wuchtete der Dom herab – und sie stiegen, der Arm des Mannes um Lola, zwischen lagernden Ziegen über die Treppengassen. Aus einem verschlossenen Hause ein Lachen machte, daß sie auseinanderfuhren und, noch fester beisammen, auf der niederen Mauer die Gesichter ins Weinlaub drückten. In schattig erstickten Kissen sahen sie es sich hinabbiegen und zergehen in der heißen und schweren Tiefe, deren Atem mit verhaltenen Stößen an ihre Lippen prallte.

Und ganz oben – der Mann trug sie über die letzten Häuser hinaus – der vergitterte Palast, von Greifen bewacht, in seiner Verwilderung und seinen Wunden. Und jenseits der bröckelnden Schwelle das Echo aus weitem Dunkel, und dahinten am Fuß der Treppe ein Licht, so dünn, daß nur des Alten, der es hielt, magere Halssehne aus dem massigen Schatten sprang. Und über ihren Mosaikböden die leeren Säle, in deren Wänden einmal ein bleiches Gesicht sich entblößte, als heulte es auf; aus deren Decken einmal ein dunkles Gefunkel fiel, wie ein vergangener Dolchstoß. Und, am Ende, das Gemach, eingeengt von mächtigen, ineinander verfleischten Leibern, deren es voll schien, die durch die weiten Fenster und zur Tür hinausquollen und die Wildnis des schwarzen Gartens durchtobten ... Schwindlig von Gesichten, fühlte Lola ihre Kleider gelöst, sich umgewendet, gezogen, hingerafft.

»Laß, daß ich mein Haar öffne!«

»Meine Göttin!«

»Wer sieht uns zu, hinter der Bettsäule, am Spalt des Teppichs?«

»Warum erschrickst du? Ich bin da. Fühlst du mich?«

Aber nach Stunden, jenseits der Traumgrenze, funkelten wieder die gelben Augen der Faune, die mit ihren gespaltenen Hufen über die Schwelle der Gartentür stapften und das Bett umstellten.

 

Sie stand auf, bevor er wach war, wagte nicht das Zimmer zu verlassen, sich nicht zu zeigen, und saß, mit der Schulter nach dem Bett, unbehaglich auf dem zerrissenen Gobelin eines Prunksessels. Ohne darauf zu achten, hatte sie ihre Toilettesachen wieder in die Tasche gelegt und hielt die Hand darauf. Sie sann verstört. Hinter ihr gähnte es und warf sich's herum.

»Komm!« lallte er.

Sie sprang auf und flüchtete in den Garten. In kurzem, sah sie, verlief er auf den kahlen Berg. ›Ich möchte fort‹, dachte sie. Da erinnerte sie sich jener Nacht in Deutschland, als sie, wie spielend, auf und davongegangen war und er sie eingeholt hatte. Sie ging das Haus entlang und betrat durch eine zweite Tür eine Galerie, worin der Alte von gestern den Tisch deckte. Er legte langsam hin, was er hielt, und verneigte sich; und während sein Kopf auf der Brust lag, errötete Lola. Sie nahm einen Korbstuhl, verließ ihn wieder, wechselte mehrmals den Platz. Ihr Kleid, merkte sie plötzlich, bekam einen roten Saum vom Fußboden! Sie wollte sich auf eine der seidenen Bänke setzen, sich an eine der goldenen Konsolen lehnen: und Staub flog auf. Unter dem Sofa drüben sah sie ihn geballt, wie Watte.

»Das Schloß ist wohl sehr alt?« fragte sie den Diener.

Sofort setzte er ein mit einer Aufzählung von Daten, Namen, Gegenständen, als führte er Fremde umher.

»Auch ein römisches Mosaik? Das will ich sehen.«

Sie erreichte nicht die Tür; eine Frau in schwarzem Kleid trat ein, groß und dunkelhaarig, noch schön trotz gelber, müder Haut, und starrte Lola finster an, bevor sie, als besänne sie sich, sehr freundlich ihre Dienste anbot. Lola antwortete, aus Verwirrung, mit entgegenkommendem Lächeln. Durcheinander fragte sie die Frau, wie sich's hier lebe, was denn ihr Mann jage, wie alt ihre Kinder seien ... Da sah sie über dem Kamin, auf der Lockenperücke des bronzenen Reiters, eine ganz in Staub gewickelte Haarnadel. In ihr zuckte es auf. ›Natürlich! Sie gehört zu seinen Geliebten. Eine andere hätte das gleich gesehen.‹

»Nein, ich brauche gar nichts, Sie können gehen.«

Auch der Alte ging, rückwärts, und sah dabei fragend auf Lola. Sie reinigte mit der Serviette einen der Korbsessel, bevor sie sich hineinwagte. Sie hob ein Knie auf das andere, beugte sich darüber, faltete dick die Brauen: ›Da sitze ich nun; das habe ich davon.‹ Wo war die leidenschaftliche Poesie der Nacht? Schmutzig, nüchtern und gemein war's jetzt. Der Garten lag voller Abfälle, die schwerlich von Faunen herrührten.

Pardi stieß die Tür auf.

»Guten Tag, Cesare Augusto«, sagte Lola, mit einem Lächeln aus gesenkten Augen, angewidert und entzückt in einem.

»In Hut und Schleier, als ob sie mir durchgehen wollte! In ihrem großen blauen Schleier, unter dem ihre goldenen Haare schimmern wie ein versenkter Feenschatz.«

Sie blieb regungslos, bis sie seine Hände spürte: da stieß sie, entsetzt, um sich.

»Was gibt's? ... Ach so, auch vorhin bist du mir davongelaufen. Habe ich etwas nicht recht gemacht? Aber mir scheint –«

Er tätschelte, und Lola bebte.

»– daß diese Kleine mit mir ganz wohl zufrieden war.«

»Ich habe lange gewartet. Der Hunger macht mich nervös.«

»Oh! essen wir! Ich meinerseits bin hier auf dem Lande oft den ganzen Vormittag draußen, nur mit einer Tasse Kaffee im Magen. Stört dich's, daß ich rauche?«

»Nein ... Und dann finde ich's hier langweilig.«

»Schon? Wohin möchtest du? Was sollen wir vor Oktober in Florenz?«

»Bleiben wir also! Ich muß das Schloß kennenlernen. Wo hast du als Knabe dein Zimmer gehabt? Denn du warst doch schon als Knabe hier?«

»Nein. Ein Großonkel, der als Kardinal in Rom lebte, hat es gekauft. Ich habe es erst mit zwanzig Jahren betreten, nachdem ich es geerbt hatte.«

»Und das bleiche Bild von gestern abend?«

»Alles fremde Leute. Wir sind jünger; wir sind keine Feudalen. Unser einziger Kardinal war nur ein Snob. Wir sind Florentiner Bürger und durch Fellhandel reich geworden. Glücklicherweise sind es bald hundert Jahre, seit wir das letzte Fell verkauft haben.«

»Aber seither seid ihr Grundbesitzer. Eine Meile im Umkreis, sagtest du gestern, gehört dir?«

»Und meinen Gläubigern.«

»Wie kommt das? Dein Vater –«

»– war ein Geizhals.«

»Also du allein. Und auch in Toskana warst du reich. Sage, was hast du mit alledem getan?«

Da er nur lachte:

»Du hast gespielt?«

»Auch.«

Sie drängte ihre Brust gegen seinen Arm. Mit Kinderstimme:

»Und sonst?«

Sie duldete seine Liebkosungen, sah dabei angestrengt zur Seite. Plötzlich schroff:

»Laß!«

Mit wiedererlangter Verführung:

»Und sonst? Wer hat dein Geld bekommen?«

Er umfaßte sie, mit Armen und Knien, ruhig und fest, küßte sie, wo es ihm beliebte, und lachte in ihre zornigen Augen, die ihren Mund und sein süßes Lächeln verleugneten.

»Wie dies Kind neugierig ist!«

»Ich bin kein Kind; ich möchte deine Freundin sein.«

»Glücklicherweise eine Freundin, die kein Glied rühren kann.«

»Ich muß wissen, wie du gelebt hast. Bin ich denn eine Fremde? Bin ich eine Untergebene?«

Sie sah gespannt hin: sein Lachen ward zusehends zu einem stummen Feixen der Verachtung, – das sie begriff. »Ich habe dich gehabt«, sagte er. »Worauf pochst du noch? Was kannst du noch?«

Sie war dunkelrot, und ihr lockendes Lächeln zitterte, aus Verstörtheit, noch immer um die entblößten Zähne. Er küßte sie darauf und ließ sie los. Sie floh in den Kaminwinkel.

»Sie beleidigen mich! Sie verhöhnen mich!«

Sie stand vorgebeugt zum Kampf, das Gesicht verzerrt von Wut. Er verschränkte die Arme.

»Sie haben eine Vergangenheit. Sie haben mit Frauen gelebt. Ich weiß es.«

»Wenn Sie's wissen. Aber ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren.« Sehr höflich und mit nicht nachweisbarer Ironie:

»Sie sind die erste Frau, die ich liebe.«

»Und wenn ich selbst Ihnen manches verheimlicht hätte?«

Er wehrte gelassen ab.

»Oh! Nicht nötig. Ich habe mich überzeugt, daß ich keinen Vorgänger gehabt habe.«

»Sie sind gemein!«

»So liebe ich dich!« – und er kam rasch auf sie zu. Vergebens wand sie sich unter seinem Griff; er schleifte sie aus dem Winkel hervor, stieß sie aufs Sofa. Sie fiel auf die Brust und klammerte sich an die Lehnen.

»Sei artig!« – und er machte, ohne ihr weh zu tun, einen ihrer Arme los.

»Ich will Ihre Vergangenheit wissen«, wiederholte sie, störrisch und ratlos. Er ließ sie.

»Nun, Sie sind schlechter Laune. Also kümmere ich mich jetzt um meine Geschäfte. Auf Wiedersehen.«

Als draußen seine Schritte verhallt waren, richtete Lola sich auf, stützte die Hände auf den Sitz und sah mit Ekel an sich hinunter. ›Wie der Mensch mich zugerichtet hat! Warum führe ich auch eine Lage herbei, in der ich ihm Widerstand leisten muß. Häßlich war ich dabei. Die Frauen macht echter Widerstand häßlich. Nur der geheuchelte steht ihnen. Und ich kann nicht heucheln. Ist es lästig, ein halber Mann zu sein! Wenn man ihm doch nicht mehr damit imponiert. Ich war in gerade solcher Wut wie neulich in Viareggio, als er rückwärts aus der Tür ging. Das fällt ihm jetzt nicht mehr ein, denn er hat sich genau überzeugt, daß ich eine gewöhnliche Frau bin, daß alles in Ordnung ist. Wie sagte er? ›Nicht nötig, ich habe mich überzeugt.‹ Oh, sehr gemein; aber wußte ich's nicht? Den eifersüchtig machen zu wollen mit Gefühlen, aus denen nichts geworden ist! Schläft er denn mit meiner Seele?«

Lässig stand sie auf, strich an ihrem Rock hinunter, ordnete das Haar.

›Er ist stark: er braucht mich gar nicht. Ein anderer wäre mein Freund gewesen. Aber –‹ und sie spähte in sich hinein, nach dem verschwimmenden Bilde eines Gesichtes, ›hätte ich ihn dafür nicht verachtet? ... Oh, wir sind erbärmlich, wir Weiber; wir kennen nur Verachten oder Verachtetwerden. Dies hab ich nun. Fürs erste hänge ich an ihm. Ist das erst vorüber, bleibt nur noch der Haß; und dann werd ich ihn wohl betrügen? So sind wir Weiber doch?‹

Sie verließ die Galerie, schlenderte, die Röcke mit beiden Händen aufgerafft, durch mehrere Säle. Am Ende des letzten sah sie einen Arkadenhof. In einer sonnigen Ecke, an die zierliche Doppelsäule gelehnt und mit hängenden Rosen auf ihrer Nachtjacke, saß eine Alte und spann.

»Guten Tag, wie geht es?« sagte Lola und blieb müßig stehen.

»Ihr seid hübsch, unser Herr hat recht gehabt«, sagte die Alte und fuhr mit ihren wilden schwarzen Augen um Lolas Formen. Lola errötete. Sie bemerkte, daß das trockene weiße Gezottel der Alten so aussah, als hätte sie's gesponnen.

»Das ist eine Handspindel? Wie macht man's?«

»Laßt doch! Ihr seid ungeschickt. Zu anderem werdet Ihr geschickter sein: unser Herr wird schon wissen, wozu.«

Die Alte begann mit tiefer Stimme zu summen, wiegte sich und bewegte spinnend, wie im Reigen, die Arme. Ein wenig ängstlich, als müßte sie nun gleich den Zauber der Hexe wirken fühlen, sah Lola ihr zu. Die Alte brach ab; plötzlich sog sie ihre beiden Lippen ganz ins Innere des zahnlosen Mundes. Dann:

»Ihr seid wahrhaftig die hübscheste seit der allerersten, die er herbrachte.«

»Wann war das?«

»Als er das erstemal kam. Viele Jahre sind's. Mein Sohn hatte noch den Hof von ihm in Pacht, drunten in Spello, bis er am Fieber starb, auch er, der Arme.«

»Ja. Aber jene Erste: wie hieß sie?«

»Ich weiß nicht mehr. Er brachte seither so viele mit.«

»Immer war er mit Frauen hier?«

»Auch mit Freunden. Sie tranken und jagten. Einmal im Winter haben sie droben auf der Akropolis einen Wolf erlegt.«

»War auch damals eine Frau hier?«

»Da sieh! Ihr scheint eifersüchtig!«

Das tiefe Gelächter der Alten klapperte in allen Winkeln nach.

»Ihr liebt ihn wohl sehr, Kleine? Er ist ein Mann, wie? ein tüchtiger. Ah! Das sieht man: Ihr liebt ihn. Da würdet Ihr ihn also nicht betrügen, wie jene Erste tat – verdammt sei ihr Name, der mir nicht einfällt. Denn Ihr müßt wissen, daß ein junger Herr mit ihm hier war, der auch mir gefallen hätte. Als aber er, der unsere, dahinterkam, daß sie jedesmal, wenn er betrunken war, zu jenem ging, da meinten wir draußen, es gebe Mord. Doch einigten sie sich und ließen alles am Mädchen aus. Nackt jagten sie es hier heraus – zu viel Wein hatten alle – und mit erhobenen Peitschen um den Hof herum, viele Male, bis die Knie ihr zitterten und ihr Geschrei rauh klang. Ich war's, die dort aus der Kirchentür lugte und sie ihr aus Mitleid öffnete, daß sie hineinschlüpfen konnte. Da kommt! Da seht!«

Die Alte glitt von der Mauer, packte Lolas Hand und strebte, vorgebeugt, eilig schlürfend, über den Hof.

»Helft mir doch, die Tür zu öffnen! Ich habe nicht mehr genug Kraft. Ach, ach!«

Und Lola: »Oh!«

Von der Schwelle des Hofes voll abgefallener Kalkbrocken sah sie unvermittelt in eine Welt spiegelnden Marmors. Die Stufen zum Hochaltar hielten den Abglanz seiner gelben Wand in ihrer schwarzen Marmorkaskade. Blau, voll goldener Augen, schwangen marmorne Vorhänge ihre Falten um die Pfeiler der Kapellen, um die Balkone.

»Dort auf den Stufen warf sie sich nieder: ja, seht, genau hier; und grub das Gesicht in dieses Silbertuch, das vom Altar hängt. Wie Tolle stürzten jene hinterdrein. Ich konnte die Tür nicht rasch genug schließen, aber ich rief mit erhobenen Armen: Tötet sie nicht! Tötet nicht die schöne Gida! ... Denn ja, jetzt ist's mir einfallen, Brigida hieß sie, wir nannten sie Gida, und er und seine Freunde sagten Gigi ... Da liegt sie nun, seht doch! ganz nackt, mandel- und rosenfarben, hell und rund gekrümmt auf dem schwarzen Stein, und sie wollen über sie herfallen! Mit unserm Herrn ist der schlimmste der, um dessentwillen ihr's so schlecht geht. Gibt es Dank unter den Menschen? Und wäre nicht einer gewesen, der sie am Arm festhielt – Er sagte: Wie ist das schön! Und dann standen sie und betrachteten. Und unser Herr neigte sich ganz zärtlich. Aber was habt Ihr, daß Ihr erbleicht? Fürchtet nichts, solche Dinge können nicht mehr vorkommen; er ist jetzt älter und frömmer. Er betrinkt sich nicht mehr wie die Jungen; auch sagt man, daß er weniger Geld hat. Reichere Herren gibt's in der Gegend. Beim Heraufkommen werdet Ihr die Villa des Herrn Catelli gesehen haben, die unterste, mit den Erdstufen und dem roten Hause. Er ist ein freigebiger Herr. Schon mehreren unserer Mädchen habe ich, indem ich sie zu ihm führte, eine gute Einnahme verschafft; und wenn Ihr wollt –«

»Nein«, sagte Lola, »ich will nicht.«

»Natürlich. Ich vergaß: Ihr liebt zu sehr unsern Herrn.«

»Und ich bin seine Frau.«

Da die Alte ratlos zu ihr auf blinzelte: »Ich bin die Contessa Pardi, und ich verzeihe Ihnen, daß Sie mich nicht kannten.«

Sie wollte gehen, aber die Alte hing ihr an den Röcken; sie weinte:

»O Herrin, gute Herrin, übt Mitleid! Seht, ich arme Alte lebe in jenem Turm allein. Meine Söhne, die Eurem Gemahl dienten, sind nun alle gestorben, ich habe keine Zuflucht als diese. Meine Nudeln koche ich mir, spinne und sehe niemand. Was wußte ich? Übt Mitleid und verratet mich nicht unserm Herrn! Wohin mit mir, wenn er mich vertreibt?«

»Bleiben Sie, bitte, hier«, sagte Lola, höflich und etwas verlegen, wie zu einer Dame, die sich wegen einer Taktlosigkeit entschuldigte. »Ihre Erzählung war sehr unterhaltend.«

In einem der Säle begegnete Lola dem alten Benedetto, ließ sich von ihm das römische Mosaik zeigen und dachte dabei: ›Was ich da gehört habe, konnte ich eigentlich erfinden. Ich fing eben an, es mir so zu denken. Er war mit allen seinen Frauen hier: warum nicht auch mit mir. Wie das stimmt! Die Ehe ist heilig, wie eine Zwingburg, und darf nicht abbröckeln. Das ist Grundsatz und gilt für die andern. Wir selbst aber fühlen uns stark genug, auch die Freiheit zu ertragen, das Leben nicht als Pflicht zu nehmen, sondern als Vergnügen. Ein einzelner verdirbt wohl nichts am Grundsatz ...‹

»Eine Nilüberschwemmung ist es?« fragte sie. Der Diener sah sie verdutzt an; er sprach seit fünf Minuten.

»Also gut. Wenn der Herr kommt, sagen Sie ihm –. Nein, es ist nicht nötig.«

Nicht ausgehen: lieber noch allein durch diese Höfe, diese halb verschütteten Kammern irren, zwischen Wänden mit herabhängenden Lederfetzen. Zu mühsam selbst das. ›Ich bin träge. Auch die anderen, die vorigen werden's hier gewesen sein – nach solcher Nacht. Eigentlich muß er, indes er mich küßt, auch jene, die auf denselben Kissen lagen, unter den Lippen haben. Von jeder das Beste. Es war geschickt, mich hierher zu bringen. Er versteht sein Vergnügen.‹

Beim Betreten des Schlafzimmers sah sie die Frau in Schwarz das Bett machen. Lola ward rot. Die Frau sagte, über das Bett gebeugt, im sachlichen Ton einer Mitwisserin:

»Die gnädige Frau wird viel Vergnügen gehabt haben.«

Lola dachte: ›Mein Gott, was tun?‹

Die andere sagte noch:

»Die Frauen lieben ihn sehr, und der Herr verdient es wohl. Befiehlt die gnädige Frau noch etwas? Die Kleider habe ich dort hineingehängt. Wenn Sie möchten, daß ich helfe, rufen Sie aus der Tür nach Maria. Hier gibt es keine Klingeln. Was wollen Sie, man muß Geduld haben.«

Lola dachte, allein: ›Haßt sie mich nicht? Ist es ihr nicht zuwider, mir von dem zu sprechen, was sie selbst genossen hat? Möchte sie mich durch ihre Schamlosigkeit erniedrigen? Oder ist sie einfach sicher, daß er zu ihr zurückkehrt?‹

Ihr Blick ward starr. Sie sah die starkknochigen Arme der Frau wie matt spiegelnden gelben Marmor um den Mann gelegt und seine Lippen, von brutaler Röte, auf ihr breites, schmachtendes Gesicht zukommen. Die dumpfgeistige Begierde der schweren Augen, in diesem schwarz umsträhnten, halbwelken, blaßlippigen Gesicht machte Lola erschauern. Die beiden Leiber vor ihr bebten, und sie bebte selbst. Sie stieß die Vision fort, wandte sich seufzend ab: ›Ich will nicht!‹ Dann: ›Aber da ich ihn nahm? ... War denn er der Mensch, den ich nicht entbehren konnte? Ach, das ist müßig. Schon hat er gemacht, daß alles, wonach es mich verlangt, in ihm ist. Jetzt habe ich zu machen, daß er gar nicht mehr von mir wegsehen kann. Viele mag er geliebt haben; jetzt aber ist die Reihe an mir.‹

Sie legte Hut und Schleier ab, vertauschte ihr Reisekostüm mit einer Matinee aus Schleierstoff, lockerte ihre Frisur, legte leises Rot auf, half dem Glanz der Augen nach, schminkte die Fingernägel. Sie entblößte die Hand von Ringen und prüfte die Wirkung. Dann bettete sie sich auf den Diwan und wartete.

Zwei Tage lang gingen sie nicht aus. Lola wünschte, in der Galerie die Mahlzeiten hergerichtet zu finden, ohne daß jemand aufwartete. Die Dienerschaft durfte sich nicht an den Fenstern nach dem Garten zeigen. Am dritten Abend beschlossen sie Luft zu schöpfen; und als nach der von Lust durchbebten Stille das Tor vor ihnen aufging, warteten davor vier oder fünf bettelnde Greise. Lolas Blick traf eine Zwergin mit Kropf und Triefaugen. Schaudernd sah sie weg, machte schnellere Schritte, und Tränen des Zorns kamen ihr. Wie durfte in das erlesene Reich der Zärtlichkeiten, worin sie lebte, dies einbrechen! Plötzlich kehrte sie um, und in dem Gefühl, das werde sie der Störung, der Mahnung ledig machen, schüttete sie der Elenden all ihr Geld in die Hände. Dann, an Pardis Arm, mit zugedrückten Lidern:

»Sag ihr, daß sie zurückbleibt!«

Trotzdem folgte ihnen die Verkrüppelte noch bis an die erste Treppe. Mit heulender Stimme betete sie für ihre Wohltäterin. Einige Jungen überrannten sie, schlugen Purzelbäume und streckten schwarze kleine Handflächen hin, Pardi hieb mit dem Stock darauf. Sie lachten. Aus allen Häusern schallten Grüße. In die Türen, aus deren rauchiger Nacht die Kupferkessel blinkten, traten die Weiber mit den Säuglingen, reckten den freien Arm nach den Herren und wünschten Glück. Die Nachbarinnen gellten aus den Fenstern einander Lobsprüche zu auf die Schönheit der jungen Frau. »Zu viel Schmutz für so schöne Füße!« rief ein Mädchen und räumte eilends, mit vollen Armen, einen Haufen leerer Maiskolben von den Stufen, die Lola betreten sollte. Dann blieb sie hocken, den Blick über sich, auf Lolas Gesicht, mit einer leidenschaftlichen Schwärmerei, die Lola kannte: aus dem Blick der kleinen Tini.

Auf dem Platz am Fuß der Treppengassen schrie der bunte Kram der Händler in der letzten Sonne noch einmal bäurisch auf. An der geebneten Straße den Berg hinab, schnatterten in ihrem offenen Waschhaus die Wäscherinnen. Der Himmel war von einem warmen, reichen Blau, und jede der goldenen Weinbeeren in all den Laubnestern trug seinen Abglanz auf ihrer kleinen Kugel. In ihren Augen, die sie aufeinander richteten, fanden die Frau und der Mann wieder ihn. Lola blieb unversehens stehen, öffnete die Arme und küßte den Mann auf den Mund. Gleich darauf begriff sie, sehr rot, nicht mehr, wie sie's vermocht hatte, und sah ängstlich nach Zuschauern umher. Droben am Bergabhang lehnte unter einer Pinie ein junger Hirt, aber er behielt ganz ernste Augen. Pardi zog sie zärtlich von der Hecke fort.

»Du wirst dein Kleid zerreißen.«

»Ich weiß nicht, warum«, sagte Lola, »aber mir ist, als wäre es sehr lächerlich, darauf zu achten. Die Dornen –« sie faltete sinnend die Brauen – »sind so viel wichtiger als mein Kleid.«

Ihre Lust, Tage und Nächte in enge Zimmer zusammengepreßt, breitete sich auf einmal aus. Das Glück ihres Körpers ergriff alle Körper und kam zurück von allen. Das Rund der Baumkronen wiegte ihr Freuden in die Augen, vor deren Unermeßlichkeit sie nur Tränen fand. Das leiseste Lüftchen fühlte sich stark genug an, sie bis in das rote Sonnengestirn zu tragen.

Die Arme einer um des anderen Schulter, durchschritten sie ein stolzes Tor, einen langen Zypressengang, der seine feierlichen Schatten über die hellen Weingärten warf; und am Ende hielten sie vor einem verwahrlosten Bauernhaus. Pardi rief in ein scheibenloses Fenster. Frau und Kinder kamen heraus, eins mußte nach dem Vater laufen. Die Frau legte unter Glückwünschen ein Tuch auf den Tisch. Sie brachte Trauben. Lola sagte, noch bevor sie davon gekostet hatte, sie seien gut. Dann langte der Mann an, reichte dem jungen Paar vertraulich die Hand und setzte sich mit ihnen zum Wein. Lola lächelte fortwährend; sie suchte nach Freundlichkeiten und fühlte doch, daß sie nicht gegenständlich klangen, sich auf kein gemeinsames Ding stützten. Pardi schwatzte breit und von gleich zu gleich; er lag über dem Tisch, einer seiner Arme stand darauf, und er hatte die Wange in der Hand: grade wie drüben der Bauer. Lola betrachtete ihn; sie spürte das Aufstachelnde in der Mischung von Eleganz und Roheit. Sie hielt ihre Ringe gegen das Licht, raschelte auf dem Strohstuhl mit ihrer Seide. Schon auf den schmutzigen Treppen hatte sie, unbemerkt von sich selbst, den Kitzel des eleganten Vergnügens genossen, das aufs Land geht, in Spitzen Schäfer spielt und die Armut des Volkes zum Mitwirkenden macht bei seinem Spiel ... Da hörte sie die Stimmen der Männer anschwellen und verstand, daß es um Geld ging. Der Bauer beteuerte, dies Jahr das Pachtgeld nicht aufzubringen. Pardi schlug auf den Tisch.

»Exzellenz! ich sage die Wahrheit. Der Pächter, den Sie weggejagt haben, hat mir aus Rache die besten Weinstöcke abgeschnitten, heimlich, dicht am Boden. Erst als er längst fort war, habe ich's bemerkt. Sie wissen, was er für ein Rüpel war und daß die Carabinieri kommen mußten, ihn hinauszuschaffen ...«

Die Frau sprach alle Worte des Mannes mit; jedes klappte nach wie ein Echo. Lola sah ihn an: plötzlich entdeckte sie das ganze Elend des fiebergelben Gesichtes mit den tiefen schwarzen Strichen darin; verstand auf dem dürren schwarzen Arm den welken Säugling und im Haufen der größeren Kinder die kranke, glühende Tiefe der Augen. Reue schüttelte sie. Sie haßte sich. Auf diesem Elend als Hintergrund erging sich ihr gepflegtes Glück, und ihm verdankte sie es! So mußte hier gelebt werden, damit alle ihre Sinne blühen und sich sättigen konnten! Der Gedanke an den kleinlich lasterhaften Kitzel, den sie noch eben diesem selben Elend entnommen hatte, schlug sie mit Entsetzen. Sie begriff nicht, wie ein Herz dies hervorbringen konnte, in derselben Stunde, in der es dort draußen sich allen Wesen, ja der Sonne selbst, verbunden gefühlt hatte.

Die Frau antwortete Lolas entsetztem Blick.

»Ja, wir haben alle das Fieber. Es ist nicht wie im Winter, da lebt man. Aber der Sommer war hart, und wir hatten kein Geld, in die Berge zu gehen.«

»Exzellenz« schrie der Bauer in seiner ungebärdigen Art. »Sie sollen mit Ihren Augen die abgeschnittenen Weinstöcke sehen. Sie werden nicht sagen, daß ich es selbst getan habe.«

»Ach was«, machte Pardi. »Ich kenne euch, ihr seid Spaßvögel.«

»Ich bitte dich«, wagte Lola: mit feuchter Stimme und ganz leise, damit niemand höre, daß sie sich ihres Mannes schämte. Er erwiderte barsch:

»In was mengst du dich?«

Zu dem Bauern:

»Sonntag bringst du mir den Rest; sonst wehe!«

Und zu Lola:

»Komm!«

»Sprechen Sie für uns!« jammerte die Frau ihr nach. Lola ging gesenkten Kopfes einen halben Schritt hinter Pardi; sie dachte: ›Warum kann ich ihnen nicht sagen, daß ich sie liebe? Mein Bestes bleibt immer ganz stumm.‹ Pardi kehrte unversehens um, rief einen Scherz, schlug dem Bauern, der lachte, auf die Schulter und gab der Frau die Hand. »Es ist doch ein guter Herr«, sagte sie. Pardi wiederholte zum Abschied noch:

»Also Sonntag. Sonst habt ihr's mit dem Gericht zu tun.«

»Sie werden bedient werden«, sagte die Frau. Und Pardi schob, voll mitteilsamer guter Laune seinen Arm in Lolas.

Sobald man sie nicht mehr sehen konnte, machte sie sich los ...

»Gekränkt?« fragte er, mit ironischer Zärtlichkeit. »Ich habe dich angeschrien: ich weiß, es ist infam. Aber was willst du, du warst im Begriff, mir das Geschäft zu verderben. Jetzt hast du gesehen, wie man die Leute nehmen muß. Also komm, sei lieb!«

Bei seiner Berührung fuhr sie auf:

»Laß mich!«

Er pfiff durch die Zähne. Kurze Zeit hielt er ihren Arm gepackt, der sich wand; dann ließ er ihn mit einem kleinen Ruck fahren und ging weiter. Lola atmete kürzer vor Wut. Der Weg zwischen den Hecken war lang und schwül. Er deuchte einem dunkel; und jenseits der Himmel blendete mit seinem dick und glatt aufgetragenen Gold. Sie gerieten in den Staub und das Getrappel einer Schafherde. Das kindliche Geplärr der Lämmer, der gute, friedliche Geruch all dieser langwolligen Leiber feuchtete Lolas Augen. Rasch gab sie ihren Arm hin; und sehr sanft:

»Lieber, diese Leute sind arm.«

»Teufel, auch wir brauchen Geld.«

»Die kleine Summe, die sie uns schulden, nützt uns wenig.«

»Wenn wir das bei jedem Schuldner sagen wollen –. Außerdem lügen sie.«

»Aber sie bezahlen mit ihrer Gesundheit.«

»Dafür sind sie römische Campagnabauern.«

»Ist nicht jeder zuerst Mensch? Erlaß ihnen die Pacht!«

»Nein, meine Liebe; ich habe Grundsätze ... Guten Abend, Advokat!«

Der beleibte, aufgewichste Herr in Schwalbenschwanz und weißen Gamaschen wartete bei dem geschwärzten, rauhen Stadttor. Er machte Kratzfüße und sagte der jungen Gräfin mit heiserer Flüsterstimme Artigkeiten. Auf dem Platz, vor dem Café, erhoben sich der Apotheker und der Brigadier der Gendarmen und grüßten. Pardi bestellte Vermouth, machte Lola mit allen Honoratioren bekannt und brachte die belebteste Stimmung hervor. Nachdem sie sich verabschiedet hatten:

»Aber wenn man so menschenfreundlich ist, darf man nicht so steif sein.«

»Verzeih! Ich kann oft nicht, wie ich möchte. Aber du: habe jetzt Nachsicht mit jenen armen Leuten. Mir zuliebe.«

»Was täte ich nicht dir zuliebe?«

»Also du erläßt ihnen die Pacht?«

»Wir werden sehen. Wenn du sehr artig bist.«

»Was soll ich tun?«

Er lachte. Über die letzte Treppe trug er sie, wie das erstemal. Eine Frau, die auf ihrer Schwelle dem Kinde das Haar durchsuchte, rief fröhlich hinterdrein. Lola zerrte an seinem Arm, damit er sie niedersetze. Aber sie konnte nichts dagegen, daß die Stärke des Mannes, seine Unempfindlichkeit selbst und seine Unverführbarkeit zum Weichmut, sie begehrlich erregten. Oben strichen Fledermäuse, stießen eckig aus dem Dunkel, und mit üblem Zwitschern vergruben sie sich wieder darin. Wirr abwärts entwich die Schar der Dächer; und im kahlen Nachtblau behauptete sich, allein und ungeheuer, der Palast. Mit verwischten Rändern breitete er in die Dämmerung seine geschweiften Drachenflügel. Sein schwarzes, leeres Tor schnappte ins Ungewisse. Alles fühlte sich hungrig, atemlos und voll Reiz an. Die Hände, an denen sie einander hineinführten, waren heiß und trocken.

 

Plötzlich ging der Mond auf. Lola löste ihre Zähne aus seinen Lippen und sagte lockend:

»Du erläßt ihnen die Pacht?«

Er fuhr auf.

»Daß ich verrückt wäre!«

Ihre Münder rangen von neuem miteinander: all ihr Fleisch. Er, endlich:

»Mach mich müde, dann erlaß ich ihnen die Pacht.«

Als er am Morgen, zum Ausgehen bereit, vor ihr, die noch dalag, seine Zigarette anzündete:

»Bin ich müde? Nein? Dann werden sie also bezahlen.«

Das Zimmer ward ihnen schwüler mit jeder Nacht. Sie trugen ihre Decken in den Garten hinaus. Das feuchte Gras löschte ihr Fieber. In der Hand, die sich, nach dem Geliebten schmachtend, aufreckte, blieb eine Granatfrucht zurück. Ein unsichtbarer Zweig mischte sich in ihre Umarmung. Aus dem schwarzen Dickicht funkelten wilde, grüne Augen und strömte strenger, erbitternder Duft.

Schlaff verdehnte Lola die Stunden, die er draußen war, in der kühlen Galerie, ließ die Zigarette herabhängen und genoß ein langsames Lächeln der Erinnerung. Unter ihren Augen der Alkoven und der Garten: das war die Welt; sie mochte nicht hinausdenken und faßte nicht, was jenseits sie hätte heiß oder kalt machen können. War sie selbst es, die lange gekämpft, gelitten hatte, bis sie dies Glück, gleich einer Schande, sich abgewandten Gesichtes gewährt hatte? Jetzt erwies sich das Sinnenglück als das allein vollkommene, als das einzige ungetrübte, mühelose, immer erreichbare. Kein quälender Gedanke, an Schicksal und Zukunft keiner, unterbrach es. Man hatte keine andere Bestimmung und erwartete nichts, als das Beben der letzten Lust.

Mit Zuneigung gedachte sie des jungen Hirten, der ernst auf sie herabgesehen hatte, als sie, an der Straße, den Mann auf den Mund küßte. Die ernste Schamlosigkeit der Natur füllte ihr die Augen mit Tränen der Zärtlichkeit. Zum erstenmal fühlte sie sich, kraft der Lust, allen Wesen gleich und nahe. Maria, die am ersten Morgen, über ihr Bett gebeugt, nach dem Vergnügen der Nacht gefragt hatte, war ihr kein Rätsel mehr. Lola redete die Frau an, wenn sie eintrat, behielt sie bei sich und plauderte. Sie brachte Maria zum Geständnis ihrer Liebe mit Pardi. Zwei Jahre war's her, und ihr jüngstes Kind war von ihm. Ihr Mann wußte es; sie hatte zu büßen. Aber sie bereute nichts, denn viel hatte sie genossen. Schwachrote Wolken zogen auf der Höhe ihrer mürben Wangen zusammen, unter den schweren Augen, die erwachten. Die Arme auf den Knien verschränkt und die Büste darübergebeugt, kraftvoll bei ihrer Welkheit, saß sie vor Lola, die lässig lehnte in ihrer auf den Stacheln der Lust über sich selbst erhobenen Schwäche. Und sie sprachen einander von dem Manne, der sie beide erweckt und erfüllt hatte: genußsüchtige, nachschmeckende, hellseherische Worte, unter deren Tasten plötzlich der Schauer selbst wieder auflebte; die manchmal auffuhren zu einem Schrei der Eifersucht, und nun hinabsanken in ein Geflüster, das die Augen erweiterte. Maria hatte mehr erfahren, und sie flüsterte davon ... Aber draußen klappte der Schritt des Mannes, und die Dienerin verschwand ohne Laut.

Sie hatte den Auftrag, die Bettler vor dem Tor täglich zu bewirten und zu beschenken. Oft überzeugte Lola selbst sich, ob es geschah. Nur die eine Sorge fand zu ihr hin. Aus einem brennenden Traum schrak sie empor, ging hinaus und legte sich dem Anblick der triefäugigen Zwergin wie eine Buße auf, die den Bestand ihres Glückes verbürgte. Sie lebte im Sinnenrausch wie in einem Garten roter, abenteuerlicher Kelche, deren Duft die Vernunft betäubte. Abergläubisch durch die Fülle des Glücks, gab Lola der Verführung Marias nach und ließ sich von der Zwergin wahrsagen. Die Zwergin ward ins Zimmer gelassen. Die entzückenden Visionen, von denen es voll war, durchbrach ihr Kropf, und ihre entzündeten Augen hefteten sich an alle ... War das nicht genug? Lola überließ ihr auch noch ihre Hand. Indes sie das Scheusal kichern hörte, bedrängte ein Gedanke sie. ›Wenn ich's nicht tue, bin ich verloren!‹ Da schnellte sie vor und küßte die Zwergin gerade auf den überfließenden Mund.

Auch die Bitten um das Pachtgeld jener Bauern stieß sie unter dem Brennen einer Sucht aus; sie weckte den Mann dazu auf. »Was soll ich tun, damit du es ihnen zurückgibst?«

Seine Nachsicht gegen diese Armen verlockte sie in dem Taumel, der sie dahinraffte, wie eine letzte Erfüllung, wie der Sieg im Zweikampf der Liebe, der äußerste Gipfel der Lust. »Was soll ich noch tun?« – verheißend, mit geheimer Begierde, zu erfahren, was sie verhieß. Maria hatte davon angedeutet. Er weihte sie ein.

»Ich dachte nicht, daß ihr dahinten zu solchen Sachen zu brauchen seid. Das war sogar der Hauptgrund, weshalb ich einige Zeit zögerte, dich zu heiraten.«

Sie hatte sich zu den letzten Würzen des Vergnügens herbeigelassen. Ob eine andere ihm so gefällig gewesen sei?

›Vielleicht Gigi?‹

Sie gestand nicht, was sie wisse. Aber sie machte sich, in seinen Armen, hinter ihren geschlossenen Augen zu dem Mädchen, das nackt in der Kirche, auf den Stufen des Altars, den Mann erwartet.

»Nenne mich Gigi!«

Dann:

»Was hast du mich noch zu lehren? Nichts mehr? Gar nichts? So gib mir das Pachtgeld!«

Aber er brach lachend sein Wort. Auch ihre erbitterten Vorwürfe verlachte er.

»Gegen euch Weiber ist alles erlaubt.«

Dies Unerreichbare ließ ihr einen Durst und eine Unruhe zurück, als sei die süßeste Frucht des Gartens nicht in ihren Mund geflossen, als stehe irgendwo im Palast ein unzugängliches Zimmer voller Seltsamkeiten. Sie hatte, sobald er fort war, den Kopf in Bilder verstrickt, in zehrende, nie ganz vollendete. Auf unbestimmter Suche machte sie manchmal einige Schritte allein vors Haus. Am Ende der Schloßterrasse das Kloster lockte sie an: dies Frauenkloster mit seinem vergitterten Schalter. In der Sonne stand sie und schmachtete mit Haß zu der dunkeln, kühlen Mauer hinauf. Einmal fand sie daneben die Kirche offen. Hinten sangen im Halbkreis die Nonnen. Von fern betrachtete Lola sie mit Hohn. Wenn jetzt eine kam, wollte sie ihr im Vorüberstreifen solche Dinge ins Ohr sagen, daß sie für den Rest ihrer Tage ihren kläglichen Frieden verlieren sollte.

Vor dem Palasttor lungerten schon wieder die Bettler. Die Zwergin zerrte die anderen weg, drängte sich vor.

»Laßt sie, ihr Pack, meine Herrin ist's. Mich kennt sie, und sie liebt mich, denn ich leiste ihr nützliche Dienste.«

Lola ging kalt an ihr vorbei. Sie sah noch die Verkrüppelte von ihren Gefährten unter Spott zu Boden gestoßen, und es befriedigte sie. Ihre Gelüste verkehrten sich ins Böse. Der Schmerz der anderen barg vielleicht noch unbekannte Genüsse? Sie stritt mit der Versuchung, Marias Kinder, die in den Gängen lärmten, vom Diener schlagen zu lassen. Jene Bauernfamilie, der ihr Mann das Pachtgeld abgepreßt hatte, hungerte jetzt wohl? Lola dachte sich das verfallene Gesicht der Frau, einen Kreis fiebriger Kinderaugen um einen leeren Tisch. Als das nächstemal die Zwergin sich an sie hängte, rief sie einem Jungen zu: »Hol den Gendarmen dort!« Beim Geklirr des Säbels und dem Zetern der Zwergin zauderte sie noch, abgewandt, auf der Schwelle; Scham nur hielt sie ab, den Befehl zurückzunehmen. Aber dann ging sie weiter. ›Dafür ist sie eine Bettlerin!‹ Pardi, fiel ihr ein, hatte gesagt: ›Dafür sind sie römische Campagnabauern.‹ ›Jetzt bin ich selbst dort angelangt! ... Und wennschon, jeder leidet das Seine. Auch das Genießen führt, ganz in der Tiefe, zum Leiden ...‹

Der erste, schwüle Herbstregen fiel, als sie die Abreise beschlossen. Lola atmete schwer in der Luft, die braun durchs Land schlich. Sie hatte mit dem Manne allein, eng beisammen, unter dem Lederdach des zweirädrigen Wägelchens, hinabgewollt. ›Rascher!‹ Mit zugedrückten Lidern, in wonnigem Schwindel. Als sie sie einmal öffnete, hockte dort unten bei einem Busch die Zwergin. Sie schloß sie wieder, lächelnd. Da, gelles Hennengeschrei, der Fall von Steinen, Pardis wütende Drohungen und das Krachen und Schwanken des Wagens, den das Pferd, gestreckt, dahinriß. Auf einmal Stille.

»Bist du verletzt?« fragte der Mann unter ihr.

Lola antwortete nicht. Dies war fast der Tod gewesen. Und die Angst selbst seines Vorüberstreifens war zu Wollust geworden. Sie lebte in so tiefen Schauern, daß keiner mehr sie schreckte.

Er hob sie aus dem Graben. Er wollte der Übeltäterin nach; Lola hielt ihn zurück.

»Du hast den Wagen umgeworfen? Hast gemacht, daß ich auf dich fiel, und dein Leben für mich gewagt?«

Sie gedachte dessen, was Nutini von ihm geflüstert hatte: er habe die Chiarini, als sie von ihm in anderen Umständen gewesen sei, mit dem Wagen umgeworfen, habe sie getötet ... Vielleicht war die glücklicher gewesen? Denn sicher: der Gipfel der Lust war hier gewesen. Und im Weiterfahren sah sie beklommen rückwärts.

›Schade!‹

 

Auf der Fahrt vom Bahnhof, aus dem Wagen des Hauses Pardi, sah Lola mit nachdenklicher Geringschätzung die Rücken der Leute an, die durch den Regen trabten und nicht wußten. Denn die Abgründe, in denen Lola heimisch war, hatten jene nie berührt. Mit dem Manne zusammen war sie in eine eigene Luft geschlossen, in eine stärkere, durch die man höher atmete und rascher verbrannte. Sie hatte keinen Blick für das Haus, in das sie einzog, für die Diener, die sie begrüßten. Wozu standen sie noch da? Schickte er sie nicht weg? Endlich: die Arme durften sich öffnen.

Aber Pardi bemerkte Blumen mit Karten, der Haushofmeister meldete das Diner, und wie sie sich setzten, kam ein Fremder.

»Mein Freund Valdomini«, sagte Pardi.

Lola erstaunte: ›Sein Freund?‹ Glückwünsche und Komplimente nahm sie hin und dachte: ›Also gut, das ist abgemacht. Was noch?‹ Der Fremde setzte sich mit zu Tische, man mußte ihm zuhören, sich an eine Menge verschollener Personen, dahinten gebliebener Angelegenheiten erinnern lassen. Was konnte dieser auch wissen? Doch sprach er gut. Lola lachte mehrmals; unwillkürlich trat sie einige Schritte aus ihrer Welt heraus.

Wie er dann in Pardis Begleitung fort war, besann sie sich auf die Wirklichkeit, auf das einzige Wirkliche. In zwei Minuten hatte sie das Kostüm gewechselt, und die Hände verschränkt im Nacken, während die Schleierfalten um sie her schaukelten, ließ sie sich auf die Ottomane fallen. Bereit. Jetzt schloß das Tor sich hinter dem Fremden, Pardi war schon auf der Treppe, schon vor der Schwelle. Sie war bereit. Sie lächelte. Horch! ... Nein, noch nicht ... Immer noch nicht? Das Kammermädchen gab Antwort:

»Der Herr Graf ist mit dem Herrn Fürsten fortgegangen.«

»Ach so, ich weiß ...«

Sie überlegte. ›Er muß ihn eine Straße weit begleiten ... Der andere sagte, seine Frau sei leidend. Er wird ihm in seinem Hause eine Viertelstunde Gesellschaft leisten.‹ Eine halbe Stunde war vorbei. ›Das Tor geht! Ah!‹

»Sagen Sie dem Herrn, ich sei im Schlafzimmer.«

»Der Herr Graf ist noch nicht zurück.«

Wieder allein: verwunderlich allein. So waren sie wohl an Valdominis Haus vorbeigegangen. Jener hatte gesagt: ›Meine Frau ist krank, ich langweile mich, machen wir einen Rundgang.‹ Aber eine Stunde dauerte der Rundgang? Wohin konnten sie spazieren? Lola folgte ihnen im Geiste. Vor dem Klub der Via Tornabuoni standen Herren; sie hatte sie oft dort stehen gesehen. Sie verdauten, überlegten, ob sich's noch lohne, in ein Theater zu gehen, und wenn fremde Damen vorüberkamen, sagten sie ›der Hut‹ oder ›die Schuhe‹, um bekanntzugeben, was ihrem Geschmack nicht genüge. Gesellte sich Pardi zu diesen? Vermochte er, den Klub zu ertragen, die Reden, die Gesichter? ›In seinem Kopf bin doch ich, so wie ich hier liege, die Arme nach den Schultern hingebogen, und ihn erwarte!‹ ›Zwei Stunden! Das ist unmöglich, ein Unglück muß geschehen sein.‹ Und sie sprang auf. In der Sekunde, da sie sich bewegt und nicht hingehorcht hatte, konnte das Tor gegangen sein. Ja? Ja! Rasch sich wieder hingelegt und gelächelt! ... Nein, nichts. Aber natürlich hielten sie ihn fest. Die von Viareggio waren dabei, er mußte ihnen die Geschichte seiner Verlobung geben. ›Er denkt nur an mich!‹ Lola schloß die Augen, in ihre Lippen drückten sich seine. Sie seufzte und sah sich allein.

Auf einmal hörte sie ihn laut, mit seiner schleierlosen, sicheren Stimme, ein sehr schmutziges Wort sagen, und wußte, es galt ihr. Sie zuckte zusammen, lauschte entsetzt. Die anderen lachten. Pardi berichtete weiter von ihr. Er zergliederte, ganz sachlich, ihren Körper, rühmte ihre Gelehrigkeit. Lola fühlte ihr Gesicht brennen und versteckte es; sie warf sich umher und stöhnte; – aber Pardis unerbittliche Stimme ging weiter. Hatte er damals, als Nutini sie zur Lauscherin gemacht hatte, etwa geschwiegen?

Sie wanderte durch das Zimmer. ›Mein elendes Mißtrauen! Heute liebt er mich. Überdies, sobald wir verlobt waren, fing er an, mich zu achten. Alles, was ich soeben phantasiert habe, ist bare Unmöglichkeit, da ich seine Frau bin. Man muß die Männer kennen ...‹ Aber sie litt, weil sie ihn zu prüfen hatte. Als ihre Gedanken sich endlich verlangsamten, merkte sie, daß es sie fror. Die Uhr zeigte drei. Lola ging zu Bett.

Sie erwachte, es war hell, und neben ihr schlief Pardi. Sie richtete sich auf und betrachtete sein unbewegtes, schönes Gesicht. Der Mund, leicht offen, stand fleischig und feuchtrot aus der kraftvollen Blässe hervor ... Die Mundwinkel beleidigten sie mit ihrer satten Senkung. Aber bevor sie es sich gestanden hatte, war ihr Blick auf seinen Lidern, auf seiner breiten Stirn. Dahinter weilten nun Gesichte, die nicht auch ihre waren, Erinnerungen, die ihre gemeinsamen zu verschütten drohten. Sie überlegte, in Angst, wie sie ihn ausfragen solle. ›Schweigen und ihn zurückholen‹, stellte sie schließlich fest.

Er verlangte, daß sie zur Promenade führen. In den Cascine stellte er sie vor. Die Bernabei winkte aus ihrem Wagen; sie mußten den Abend bei ihr verbringen. Als Pardi ihr zu Hause den Pelz abnahm, hatte Lola noch seine Lippen auf der Schulter gespürt; und wie sie sich umwandte, war er fort. Seine Rückkehr weckte sie. Er kam mit zusammengebissenen Zähnen auf sie zu; das Düstere, Gewalttätige seiner Begierde machte ihr solche Furcht, daß sie über den Bettrand zurückwich und er sie auffangen mußte. Die folgenden Tage ging er über ihre Zärtlichkeiten leicht hin. Er schien den Kopf bei anderem zu haben, sie fragte nicht wo. Sie hatte beschlossen, das Haus so wohnlich zu machen, daß es ihn keinen Abend mehr fortverlangte. Bei ihrem Einzug hatte sie es nicht angesehen, es war nur für die Zuflucht und den Verschluß ihrer Liebe bestimmt. Jetzt ließ sie es säubern, ordnete eigenhändig die Sitze an, die alle, wie in Schlössern oder Wartezimmern, die Wände entlang prangten, entfernte den Überfluß an schlechten Bildern, verstaubten Festons und Teppichen, samt den großen venetianischen Mohren aus bemaltem Blech und den Pfauenfedern hinter den Spiegeln. Diese plunderhafte Pracht mochte das untere Stockwerk verschönen, das aus der engen Gasse noch weniger Licht und von hinten, wo steil der Garten nach der Hügelstraße anstieg, schon im Oktober keine Sonne mehr traf. Oben sollte es hell und luftig werden. Pardi spottete über das Schlafzimmer, worin kaum mehr anderes als das Bett übrigblieb. Als ob nicht Raum für seine ausgestopften Vögel, seine Säbel und seine Schuhsammlung gewesen wäre! Der Vermehrung der elektrischen Lampen sah er schweigend zu, herrschte die Arbeiter, die die Wände hell bekleideten, unvermittelt an, drehte ihnen aber gleich wieder den Rücken – und erst als er eines Abends Lola in einem ganz fremden Zimmer fand, brach er los. Sie verschwende seine Einkünfte. Zweitausend Francs diese paar grauen Lackmöbel?

»Damit spiele ich eine Woche!«

Er biß sich auf die Lippen und setzte hinzu:

»Und verdoppele sie, verzehnfache sie!«

»Aber ich hatte kein Boudoir«, sagte Lola. »Und mein Bruder schickt doch schon wieder zweitausend Francs.«

»Und da habe ich die unbezahlte Rechnung der Bossi.«

»Du willst, daß ich mir immer neue Toiletten anschaffe.«

»Werfe ich's dir vor? Eine Dame muß angezogen sein: ein Boudoir braucht sie nicht. Das ist für jene Frauen dahinten in Deutschland, in ihren lächerlichen Phantasiegewändern: die können sich auf der Straße nicht sehen lassen.«

»Auch ich verbringe mein Leben nicht auf der Straße.«

»Zu Hause hast du genug in deinem Ankleidezimmer zu tun.«

»Ich brauche auch einen Raum, um zu lesen.«

»Das ist unnötig! Das ist schuld an deinem ganzen verrückten Wesen! Wie ich dies Zeug hasse!«

Er hielt ein Buch in der Hand und warf die Augen leidenschaftlich umher. Da flog es in den Kamin. Durch die Tat erleichtert, sprach er mit Wohlwollen weiter.

»Siehst du, wir sind dem Gesellschaftsleben bestimmt. Von unserer Wohnung sind nur die Räume wichtig, die die Leute zu sehen bekommen. Und die müssen nicht wie bei Bürgern sein, sondern unserm Range entsprechen. Ich werde die Decke im Saal neu vergolden lassen. Auch die Fresken lasse ich restaurieren, – wenn ich Geld habe. Diese Künstler können nie warten.«

»Die Fresken werden verlieren, sie sind von Luca Giordano.«

»Aber sie müssen wieder glänzen.«

Lola fügte sich. Ihre von Menschen freien Stunden verloren sich im Ankleideraum der Schneiderin und in ihrem eigenen. Die Mahlzeiten ohne Gäste wurden so einfach, wie er sie wünschte. Sie hatte seine Miene gedeutet und seinen Kammerdiener befragt. Wenn sie nach dem Theater, Lola in großer Toilette, im »Gambrinus« soupierten oder Valdomini mitbrachten, kosteten die Getränke mehr, als die Einkäufe zum Diner betragen hatten. Was tat es? Es galt, mit ihm einig zu sein. Es galt festzuhalten, was entgleiten wollte, die Zeit zusammenzuraffen, damit sie nicht weiterströmte; galt, zu machen, daß auf einer selben Straße, unter dem Verdeck eines Wägelchens, sie und der Mann ohne Ende dahinjagten. Denn in jene Fahrt, das letzte ganz enge Beieinander, träumte sie sich oft zurück und wünschte sich, sie wäre nie ausgestiegen. Nun kreischte die Zwergin, nun fühlte sie sich dahingerissen, ins Ungewisse fliegen und, nochmals vereinigt mit dem Geliebten, an ihm vergehen. Welch gutes Ende es gewesen wäre, das Ende in jenem Straßengraben! Dem Kommenden wagte sie manchmal kaum die Augen zu öffnen ... Aber Pardis Schritt ward hörbar, und von Dankbarkeit heiß, schoß ihr das Blut zum Herzen. Ihr schien es sein Blut. Ihr schien's, er habe sie mit seinem Blut erfüllt, sie lebensstärker, zuversichtlicher gemacht, daß jetzt auch sie sein mutiges Leben ohne Selbstüberwachung würde leben können. Auf dem großen Ball im Casino Borghese fühlte sie's ganz deutlich, wie ihr Körper und ihr Wesen geschliffener und glänzender waren durch eine neue Anmut, von ihm ihr eingetränkt; daß sie gefallen müsse dank ihm. Die Verführungen ihres Geistes sah sie weich zusammenfließen mit denen ihres Anzuges; ihre Augen wußten zu spielen wie ihre Antworten; und umringt und in aller königlichen Lässigkeit bis zu den Fingerspitzen durchpulst von Sieg, suchte sie dahinten ihn und liebte, schien ihr's, zum erstenmal das Frauenleben, zu dem er sie erweckt hatte.

Sie war reich. Dieser eine Mensch hatte sie so mit Liebe beschenkt, daß sie davon der Menschheit mitteilen konnte. Auf der Promenade, unter huldigenden Blicken, bemerkte sie plötzlich das Gesicht des Elends, verließ ihren Wagen, winkte das Geschöpf in eine Seitengasse, fragte aus, half, verschaffte Verdienst: Alles mit Heiterkeit, in Sicherheit, ohne das zweifelhafte Gewissen des Gebenden, aus einfacher Wärme, fern von dem düsteren, menschenfeindlichen Bewußtsein der Vergeblichkeit, das sonst ihre hingestreckte Hand erkältet hatte. Durch Valdomini lernte sie einen sozialistischen Abgeordneten kennen. Zum Schluß des Gespräches sagte er ihr:

»Sie sind die erste und einzige Dame von Florenz, die nicht im Mittelalter lebt.«

Sie lachte: ein so übermütiges Vertrauen war in ihr. Der Bernabei hatte sie schon einen Beitrag zur Volksuniversität abgerungen. Die beiden kleinen Niccoli wollten sogar in die Vorlesungen. Und Claudia Grilli nahm an allem teil, was sie selbst bewegte. Claudia war eine Freundin! Sie brachte Lola Blumen mit. Welch rasche Stunden, wenn ihre eigenen liebsten Wünsche und Gedanken aus Claudias großen, bräunlich weißen Tieraugen in weicherem Glanz zurückglänzten; wenn Claudia mit ihrer gewandten Hand, die gleitend, leicht und fest war wie ihr Schritt, wie ihr Lächeln, über ihre schwarzen Bandeaus strich; wenn sie die einfach und sanft gebogenen Lippen leise von den kleinen Zähnen zog und aus den Winkeln nach Pardi aussah: was er nun noch vorbringen werde. Er verließ, solange die Freundinnen sich unterredeten, nicht das Haus, lief, die Schultern schüttelnd, vor ihnen auf und ab, hielt plötzlich an und rief sie, mit Gesten, als wollte er sie überwältigen, auf die bewährten Standpunkte zurück. Konnten sie wirklich vergessen, daß sie ohne den Mann keinen Zweck auf der Welt hatten? Er griff sich an die Schläfen, wie in einem Traum, worin eine Schar Puppen ihn anfiele. Lola redete, vor Verlangen stürmisch, auf ihn ein. Welche Vereinigung, welche Umarmung, wenn sie ihn gewänne! Claudia lächelte zu ihm auf; sie wiederholte Lolas Gründe in spitzbübischem Neapolitanisch, und ihre beweglichen kleinen Mienen überkugelten sich vor Spott. Er traf ihre Augen, blieb darin haften und brach seine Widerrede ab. Lola sprach eine Zeitlang allein. Plötzlich, ein wenig zerstreut trotz seiner Heftigkeit, fing er wieder zu streiten an.

Er würde gewonnen werden! Er war seelisch ein Kind; sie spürte, stritt sie mit ihm, Regungen von Mutterzärtlichkeit. Er verspielte Tausende, und dann machte er ihr einen Auftritt, weil sie die Wäscherin um einige Pfennige zu teuer entlohnt hatte. Seine Härte gegen die Dienstboten glich ganz dem Hochmut eines verwöhnten Kindes. Sie gab ihm das Beispiel, die Leute mit Güte anzusprechen, ihre Dienste zu erbitten und ihnen dafür zu danken.

»Wozu unsere zufällig günstigere Stellung mißbrauchen? So viel wie sie für uns, leisten wir niemals für sie; ein ›danke‹ ist nicht zuviel.«

Er behauptete die strenge Zucht.

»Das ist eine andere Gattung Menschen: sie verstehen nur die volle Ausnutzung der Gewalt; sobald wir nachlassen, sind wir verloren. Wenn wir die Herren nicht mehr zeigen, sind wir's nicht mehr.«

Lola meinte:

»Das ist wohl allen Menschen gemeinsam: nicht mehr zu geben, als gefordert wird. Aber warum mehr fordern, als wir brauchen? Wozu überhaupt herrschen? Mich verletzt die Demütigung anderer in meiner eigenen Menschenwürde.«

Er nannte das sträflichen Unsinn. Als ihr eine Spange fehlte, mußten, trotz Lolas Widerspruch, Gepäck und Kleidung der Dienerschaft durchsucht werden. Es blieb umsonst – und Pardi bestand nun darauf, Germaine verantwortlich zu machen. Sie allein betrete das Schlafzimmer; ob sie die Spange habe oder nicht, sie müsse fort. Lola sah, daß vor allem seine Herrschsucht ihn aufbrachte. Sie selbst, die sich ihre Untergebenen zu Freunden wünschte, sollte gestraft werden in der, die ihr am nächsten war. Germaine hatte nicht mit Mai nach Amerika gewollt, sie war Lola gefolgt. Sie drohte, den Herrn Grafen wegen Verleumdung zu verklagen. Lola zuliebe stand sie davon ab; sie willigte sogar ein, das Ende des Monats im Hause abzuwarten. Inzwischen bat und kämpfte Lola täglich für sie. Pardis Antwort war:

»Ich bin der Herr.«

Lola lebte in Angst um der Ungerechtigkeit willen, die er ihr auflud. Unvorsichtig aus Erregung, setzte sie sich eines Abends in der Pergola für den Schutz der unverheirateten Mütter ein. Ihre Loge war voll Menschen. Botta war darunter und vertrat in seiner schmatzenden Art die Ansprüche der Gesellschaft. Lola versteifte sich. Zwei Herren sahen sich an und lächelten. Pardi, der eintrat, warf einen Blick über die Lage und sprang Lola bei. Er trumpfte mit den ritterlichsten Gründen. Er arbeitete sich ab in verzweifelter Donquichotterie, vor den anderen, die ruhig wie die dumpfe Mauer des Vorurteils selbst, ihm lächelnd zusahen. Seine Tigermiene und eine Anspielung auf seinen Degen wischten das Lächeln weg. Lola hatte gesiegt. Er hatte sich mit ihr durchgefochten. Sie atmete schwer und glücklich, als habe er sie wirklich auf seinen Armen durch Feinde hindurchgetragen. Er war bei ihr: oh, sie hatte gewußt, sie werde ihn gewinnen! Wie wäre es möglich gewesen, daß in zwei Körpern, die kraft so vieler Umarmungen fast zu Zwillingskörpern geworden waren, nicht auch die Seelen sich verstehen lernten, sich umarmten!

Sie hatte Tränen in den Augen und nahm, indes alle nach der Bühne sahen, seine Hand. Er entzog sie ihr. Im Wagen verbot er ihr zu sprechen; es dringe Nebel ein – und dann kam er plötzlich aufgereckt, entschlossen durch das Ankleidekabinett herbei. Auf der Schwelle des Schlafzimmers hielt er an, die Hand an der Brust. Sie erschrak über sein Gesicht. Auf ihn zu:

»Was hast du? Lieber?«

»Keine Komödie! Wir wissen, woran wir miteinander sind. Madame, ich erkläre Ihnen, daß Sie mich nicht länger kompromittieren werden!«

»Ich – dich? Ich wollte dir danken, dich so liebhaben wie noch nie. Du hast meine Partei genommen!«

»Jawohl: ich habe Ihre Partei genommen! Was weiter? Sie sind meine Frau: Sie könnten gestohlen haben, und ich würde Sie freilügen. Aber merken Sie sich, daß ich Sie darum nicht weniger verachten würde!«

»Ich habe unsere Freunde um ein wenig Menschlichkeit gebeten für gewisse Ausgestoßene. Ich verdanke dir so viel Liebe, daß ich kein Wesen ganz ungeliebt sehen kann.«

»Schwelgen Sie in Ihren unpassenden Utopien, solange wir allein sind. Aber hüten Sie sich, die Ehre meines Hauses den Leuten zum Spiel hinzuwerfen!«

»Ich begreife nicht, was die Ehre Ihres Hauses –«

»Sie stellen mein Haus auf den Kopf, moralisch noch mehr als materiell, und ich habe zu lange zugesehen. Sie suchen den beiden kleinen Niccoli den Glauben an die Hölle auszureden: gottlob umsonst. Meine Dienerschaft verliert den Respekt. Sie dulden eine Diebin im Hause ...«

»Germaine ist keine Diebin!«

»Sie dulden eine Diebin! Und dank Ihnen hat einer dieser infamen Sozialisten hier Zutritt gefunden.«

»Der arme Ricchetti! Er leidet unter der Gewißheit, daß in diesem Lande seine Ideen niemals Wurzel fassen werden. Mag sein, daß er sich durch Gewalthandlungen manchmal darüber hinwegtäuscht. Doch weiß ich von ihm, daß er den Generalstreik nur zugelassen hat, weil er mußte, und hoffnungslos. Ein unglücklicher Messias – vielleicht. Und, wie man sagt, ein armer Epileptiker ...«

»Ein schwächlicher Halunke, ganz einfach«, entschied Pardi – und schnitt Lola die prüfenden Gedanken ab. Da er sie durch sein entschlossenes Urteil eingeschüchtert sah:

»Du hast ihn für morgen eingeladen: du wirst ihm abschreiben.«

»Geht denn das?« murmelte sie. »Überlege es dir, bitte!«

»Ich soll überlegen?« Er schäumte wieder auf. »Du mißverstehst die Lage: ich habe nicht zu überlegen und nicht zu bitten. Ich verbiete dem Ricchetti mein Haus. Wer hat dich übrigens berechtigt, dem Cesco monatlich fünf Frank mehr zu versprechen?«

»Unsere Empfänge erschweren ihm den Dienst ...«

»Du wirfst mein Geld hinaus!«

»Besinne dich! Sieh deine Hand an und denke dir, du habest fünf Francs darin. Was tust du damit? Du gibst sie irgendwem als Trinkgeld ... Sei gut!«

Er schüttelte sie ab, getroffen und erbittert.

»Zu solcher Wirtschaft habe ich dich nicht hergebracht. Woher kommst du überhaupt? Gehorche, sonst magst du in Gesellschaft deines Kammermädchens zu dem Stadttor wieder hinausgehen, durch das du hereingekommen bist!«

Mit Schrecken erkannte sie in seiner Miene den Haß. Es konnte nicht sein, sie wollte nicht glauben: er irrte sich, er war krank! Eindringlich und mütterlich, mit einem Lächeln, als habe er gescherzt, und doch mit leise beschwörenden Händen:

»Im Ernst, du schickst mich fort? Also dann bitte ich den hartherzigen Mann für zwei, statt einer. Laß mich bleiben, und erlaube, daß auch Germaine bleibt!«

»Erlaube, daß Germaine bleibt! Das ist der Refrain: wenn ich ihn höre, gehe ich. Adieu. ›Erlaube, daß Germaine bleibt!‹ Das ist wie: Erlaß dem Bauern das Pachtgeld. Wir wissen auch, welche schönen Dinge du mir statt des Pachtgeldes gewährtest. Auch Germaines Entlassung möchtest du mir gewiß mit diesen Späßen abkaufen? Also komm, Gigi!«

Sie taumelte zurück. Er lachte auf und war fort. Lola blieb ans Bett gestützt und hörte dies Lachen im leeren Zimmer weiterlachen. ›Er verachtet mich!‹ Sie sah starr, aus geröteten Augen vor sich hin, hatte die Hand am Herzen und dachte: ›Er verachtet mich!‹ Die Knie zitterten ihr; sie ließ sich, am Fleck, wo sie stand, zu Boden gleiten. Kauernd dachte sie: ›Daß ich mir's nicht gesagt habe! Ein Mann sollte von einer Frau solche Bilder im Kopf tragen, wie er von mir, und sie noch achten? Wie darf sie, die so tief mit ihm durch Schmutz ging, irgendeine reine Sache berühren wollen! Es ist wahr: das Mitleid selbst habe ich damals mißbraucht zum Dienst der Lust. Ich bin unrein für immer. Nicht er dürfte mir's vorwerfen: Alle, nur er nicht, mein Mitschuldiger; aber die Wahrheit ist's, und meine Sehnsucht, ihn dem zu gewinnen, was ich als höheres Menschentum empfinde, steht doch mit beiden Füßen im mehr als Tierischen, und seine Seele zu umarmen, drängt es mich nur darum so sehr, weil ich bis in Verirrungen und ohne meine letzte Scham zu hüten, seinen Körper geliebt habe!'

Immer neue Blutwellen stürzten ihr in die Wangen. Zitternd hob sie sich vom Boden, voll Bangens danach, ihre Schande zu betrachten und ganz zu ermessen, durch ihren Anblick sich zu kasteien. Sie warf sich, mit gierigem Ekel, dem Spiegel entgegen. Da waren diese Augen, die endlose Züge unzüchtiger Träume erblickt hatten: da waren sie! Da war dieser entweihte Mund! ... Plötzlich hielt sie ihre beiden Hände vor sich hin, wie etwas Neuentdecktes, Furchtbares. Ihre Hände zuckten zusammen, als sie einen heißen Tropfen empfingen. Lola erkannte:

›Was habe ich getan! Ich habe mich selbst verraten an das Fleisch! Jetzt hält es mich, ich bin seine Gefangene, ich darf nicht mehr aus ihm hinausdenken. Nichts weiter mehr, solange ich leben mag, liegt vor mir, als die düstere Wut dieser hoffnungslosen Umarmungen. Ich hasse mich und werde von ihm, der sie genießt, verachtet für meine Dienste, wie eine schmutzige Magd.‹

Sie setzte sich auf den Bettrand.

›Mein Gott! ich bin verloren.‹


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